14. November.
Auch Italien ist einst vom Hauche der Reformation angeweht worden. In den Dreißigerjahren des sechzehnten Jahrhunderts finden wir in den meisten bedeutenderen Städten Italiens kleine evangelische Gemeinden. Nicht bloß die Verachtung der Hierarchie und der Reichtum an weltlicher Bildung trugen zu ihrer Entstehung bei, sondern auch bei einer Anzahl von Einzelnen in verschiedenen Gegenden ernste Regungen des wahrhaft evangelischen Lebens. Als Beispiel und als vorzüglicher Zeuge davon steht vor uns Peter Martyr Vermili. Er ward geboren den 8. September 1500, als der Sohn eines reichen und angesehenen Edlen in Florenz, welches damals ein Hauptsitz der klassischen Bildung war und kurz zuvor der Schauplatz gewesen, auf dem Savonarolas Buß- und Reformationspredigten so großen Anklang gefunden hatten. Peter Martyr ist sein Taufname, sein Geschlechtsname Vermili (Vermiglio). Seine Mutter, eine Frau von hoher Bildung, las mit ihm und seiner Zwillingsschwester schon von seiner zarten Jugend an lateinische Schriftsteller, doch ein früher Tod entriss sie den Ihrigen. Den weitern Unterricht empfing er sodann unter den vortrefflichsten Lehrern in Gemeinschaft mit den Söhnen der ersten florentinischen Familien. Schon hier zeichnete er sich durch vorzügliche Talente wie durch Eifer und Reinheit des Wandels aus, und gewann zugleich durch seine Liebenswürdigkeit die Herzen Aller.
Es winkte ihm nun auf der einen Seite die glänzende Laufbahn des Staatsmanns, gepaart mit dem Ruhme der feinen Weltbildung und den Genüssen der Kunst; auf der anderen Seite stand die Entsagung und der Ernst eines gottgeheiligten Lebens. Er wandte sich ab von der glänzenden fast heidnischen Üppigkeit, von der damals seine Vaterstadt beherrscht war und entschied sich für die andere Lebensrichtung – ein Mal für immer; diesem Entschlusse blieb er treu sein Leben lang. Daher trat er in seinem 16. Jahre in den Orden der regulierten Augustiner-Chorherren, eine Gemeinschaft, welche zu jener Zeit vor den anderen Orden durch größere Strenge sich auszeichnete und eben so durch hohe Wissenschaftlichkeit. Seine Schwester tat den nämlichen Schritt. Der Vater aber gab seinen Unwillen dadurch kund, dass er ihn enterbte. –
Nahe bei Florenz in Fiesole brachte er nun drei Jahre zu; eine reiche Bibliothek kam hier seinen Studien zu Statten, welche sich vorzüglich auf Redekunst und auf die heiligen Schriften richteten. Weitere Gelegenheit zu seiner Fortbildung bot ihm hierauf Padua dar, woselbst er acht Jahre im Augustinerkloster zubrachte. Auf dieser blühenden Universität widmete er sich mit dem lebendigsten Eifer den philosophischen und theologischen Studien; mit großer Beharrlichkeit betrieb er auch das Studium des griechischen Altertums.
In seinem sechs- und zwanzigsten Jahre trat er dann als Prediger auf, indem er in einer Reihe von Städten Ober-Italiens nach italienischer Sitte die Fastenpredigten hielt; er erntete sehr großen Beifall. Daneben hielt er an verschiedenen Orten Vorlesungen über klassische Literatur und Philosophie; auch die genaue Kenntnis der hebräischen Sprache eignete er sich an, um desto gründlicher die Schrift zu kennen und ihr gemäß zu predigen. Eine Erhöhung seines Ranges trat nun dadurch ein, dass seine Ordensbrüder ihn zum Abte von Spoleto wählten. Hier stellte er mit großem Eifer die Zucht des Klosters her; auch wusste er den Hader der beiden in dieser Stadt oft blutig sich bekämpfenden Fraktionen zu beschwichtigen.
Nach fast drei Jahren kam er an die Spitze des Augustinerklosters in Neapel, und hier sollte ihm nun das Licht evangelischer Erkenntnis aufgehen; die Bibel selbst spendete ihm dieses Licht, zudem erhielt er einzelne Schriften der Reformatoren wie von Zwingli, Melanchthon, Bucer, und er fand Freunde, die dasselbe mit ihm ersehnt und gefunden hatten, dasselbe liebten und im Stillen pflegten. Eine wundersame Erscheinung ist jene evangelische Gemeinde in Neapel, wie sie damals bestand aus einer überraschend großen Zahl von hochbegabten, zum Teil in der Gesellschaft hochgestellten Männern und Frauen, voll Sehnens, Hoffens und Glaubens, und wie sie still allmählig nach innen und außen immerfort wuchs. Da wurde für Vermili ein Führer zum Leben vorzüglich der spanische Ritter Valdez (Val d’Esso), Geheimschreiber des Vizekönigs Don Pedro de Toledo, ein feuriger Anhänger der evangelischen Lehre, ein Mann von tiefem inneren Leben; im Begleit des Kaisers Karl V. hatte er in Deutschland die Reformatoren gesehen und fühlte sich gedrungen, was seine Seele erfasst hatte, wenn gleich mit Zurückhaltung, auch Andern mitzuteilen; er und Vermili fanden sich. Hier traf Vermili auch mit Bernhard Occhino zusammen, dem gewaltigen Prediger, in welchem damals auch erst die Wahrheit aufdämmerte, welche ihn auf dieselben Schmerzenswege führen sollte; mehrmals hielt Occhino in dieser Zeit seine erschütternden Fastenpredigten in Neapel; selbst Karl V. empfand ihre ungewohnte Kraft, so dass er ganz erstaunt bezeugte: „Wahrhaftig, der Mann könnte Steine zu Tränen rühren!“ Hier hielt Vermili Vorlesungen über den ersten Brief Pauli an die Korinther unter solchem Zulaufe, dass, wie ein neapolitanischer Geschichtsschreiber selbst sagt, jeder der nicht hinging für einen schlechten Christen angesehen wurde. Seine Auslegung der Stelle 1 Kor. 3,13-15, die er nicht vom Fegfeuer verstand, zog für ihn das Verbot nach sich, Vorlesungen zu halten. Er aber wandte sich nach Rom an die ihm befreundeten Kardinäle Bembo, Fregoso, Contarini, Poole, und merkwürdig, so sehr hatte das Bedürfnis einer tiefgreifenden Erneuerung der Kirche sich fühlbar gemacht, so empfänglich war man damals noch in Rom für solche Bestrebungen, so wenig war man verhärtet und abgeschlossen gegenüber der evangelischen Wahrheit, dass Paul III. alsbald ihm die Erlaubnis erteilte, seine Vorlesungen fortzusetzen.
Doch nach einer heftigen Krankheit machte seine Gesundheit ihm wünschbar, Neapel zu verlassen. Nunmehr zum General-Visitator seines Ordens erhoben, zeigte er seinen heiligen Ernst und seine Unerschrockenheit in der durchgreifenden Strenge, womit er den ausschweifenden Leben der Ordensglieder entgegentrat. Eben deshalb traf ihn auch der Hass Vieler, so dass er dann zum Abt von St. Fridian in Lucca erwählt wurde; diese Stelle war zwar höchst ehrenvoll; sie gab bischöfliche Rechte über einen Teil der Stadt. Allein für einen Florentiner schien sie unerträglich, bei der Feindseligkeit der Lucceser gegen die mächtigere Nachbarstadt. Nicht nur überwand er aber diese Stimmung völlig durch seine Würde und Gerechtigkeit, sondern er erwarb sich vielmehr große und allgemeine Anhänglichkeit. Hier ordnete er die im Kloster befindliche höhere Unterrichtsanstalt seiner reformatorischen Gesinnung und seiner Sorge von Kirche und Wissenschaft gemäß so trefflich, dass keine andere in ganz Italien ihr an die Seite gesetzt werden konnte; es war gleichsam eine evangelische Universität. Der Reichtum klassischer und humanistischer Bildung verband sich hier mit dem unausgesetzten gründlichen Studium der heiligen Schrift; er verschaffte sich dafür die Unterstützung ausgezeichneter Männer der Wissenschaft. Daneben setzte er seine Predigten fort.
Doch nicht lange sollte diese glückliche Zeit vielversprechenden Wirkens dauern. Die Zusammenkunft des Papstes Paul III. mit Kaiser Karl V. in Lucca 1541 schien seinen Gegnern eine günstige Gelegenheit für ihre Anschläge darzubieten. Vorerst wurde ein Schüler Vermilis einer freimütigen evangelischen Predigt wegen ins Gefängnis geworfen; da sich aber hierbei der starke Unwille der Bevölkerung Luccas kund gab, blieb Vermili selbst noch verschont. Doch wurde durch eine geheime Anklage gegen ihn in Rom seine Verdammung eingeleitet; seine Gegner unter den Mitgliedern seines Ordens veranstalteten eine Versammlung von Ordensgliedern in Genua, dorthin zitierten sie ihn, um ihn dem Schutze des luccesischen Adels und Volkes zu entziehen. Doch klar genug durchschaute Vermili die Plane seiner Feinde; den Umschwung der Dinge in Italien und besonders am päpstlichen Hofe in Bezug auf die vorher von der Kurie selbst als notwendig empfundene Reformation erkannte er völlig; zur Verheimlichung seiner wahren Gesinnung gleich vielen Andern sich zu bequemen, hatte er vorher schon in freundschaftlichen Gesprächen mit dem Kardinal Contarini seinem geraden Charakter gemäß ganz entschieden abgelehnt. Er erkannte, dass es nur noch eine Ausgleichung gebe zwischen seiner äußeren Lage und seiner Gesinnung, nur Ein Mittel um wirksam zu bleiben für die Herstellung der Kirche; nämlich seinen Feinden zuvor zu kommen und den letzten Augenblick, da sie ihm die Freiheit noch gönnen mussten, anzuwenden, um diese für seine fernere Lebenszeit sich zu sichern. Er erkannte, dass er seine hohe Stellung, seine ergebenen Schüler (von denen in den folgenden Jahren 18 ihm ins Ausland nachfolgten), sein liebes Italien verlassen müsse, fasste voll edler Entsagung den schweren Entschluss und führte ihn mit aller Umsicht und Besonnenheit rechtzeitig aus.
Nachdem er das Seine geordnet, reiste er 1542 mit zwei ausgezeichneten Gelehrten, seinen bisherigen Mitarbeitern, und einem treu ergebenen Diener heimlich ab und gelangte nach Pisa. Nachdem er hier mit seinen Begleitern und einigen reformatorisch gesinnten Pisanern das heilige Abendmahl gehalten hatte, ging er nach Florenz. Merkwürdiger Weise traf er hier mit einem Schicksalsgefährten zusammen, der eben im Begriff war nach Rom zu reisen, wohin er beschieden war, mit Bernhard Occhino. Von Vermili gewarnt beschloss auch dieser ungesäumt Italien zu verlassen; er reiste über Herrara nach Zürich und Genf. Vermili folgte ihm zwei Tage später; überall von alten Freunden gefördert, gelangte auch er glücklich nach Zürich und Basel. Da aber an keinem der beiden Orte eine Lehrstelle offen stand, so folgte er mit Freuden dem Rufe Bucers nach Straßburg, der ihm die durch Capitos Tod erledigte Professur der alttestamentlichen Schriftauslegung anbot. Er freute sich, inmitten einer hergestellten Christengemeinde zu leben; und hier leuchtet nun seine Sprach- und Sachkenntnis, seine Klarheit und Genauigkeit in der Auslegung, seine Einsicht in den Sinn und Umfang der christlichen Glaubenslehren, seine Feinheit und Geschicklichkeit im Disputieren und in der Leitung der Disputationen vorzüglich hervor. Wie sehr er Bucers ungemeine Tätigkeit bewunderte und in schönster Eintracht mit ihm lebte, so unterschied er sich doch dadurch bestimmt von ihm, dass er keiner zweideutigen oder dunklen Worte sich bedienen mochte. Fünf Jahre verlebte Vermili in unausgesetzter akademischer Tätigkeit in Straßburg; als aber in Deutschland die Maßnahmen Karls V. immer bedenklicher sich entwickelten, Occhino von Augsburg flüchtig nach Straßburg gekommen war, und auch diese Stadt keine Zufluchtsstätte mehr darbot, da folgte er im November 1547 dem dringenden Rufe Cranmers, des Erzbischofs von Canterbury, der unter dem hoffnungsvollen Eduard VI. eben um die Erneuerung der Kirche Englands eifrig bemüht war, und hierfür so wie namentlich für Heranbildung tüchtiger Kräfte unter den trübseligen und verworrenen Zustanden des Landes die Hilfe ausländischer Gelehrten sehr bedurfte. So hatte der Herr schon wieder dafür gesorgt unserm Vermili in fernem Lande sofort einen neuen Schauplatz seiner Wirksamkeit zu eröffnen.
Oxford ward die Stätte für sein Wirken, hier widmete er seine Kräfte wiederum den akademischen Vorlesungen, anfangs selbst von den päpstlich Gesinnten gerne gehört. Doch bald entflammte sich ihr Hass. Als sie einst arglistiger Weise ihn zu einer ungeordneten Disputation zu bringen suchten und ihn selbst in Gefahr brachten, da hatte der milde und sanfte Mann Anlass, seine Unerschrockenheit und Standhaftigkeit glanzvoll zu bewähren; die hernach erfolgende große Disputation über das Abendmahl gab ihm Gelegenheit seine Geistesschärfe zu zeigen. An Gefahren, Verunglimpfungen und rohen Anfeindungen fehlte es ihm indes in Oxford nie, obgleich er feierlich zum Doktor der Theologie erklärt und Dekan des Kollegiums an der Christkirche wurde. An den wichtigsten kirchlichen Arbeiten, namentlich an der Bearbeitung der Kirchengesetze für die erneuerte englische Kirche hatte er den größten Anteil. In Oxford starb ihm seine treue Gattin, Catharina Dammartin aus Metz, mit der er sich in Straßburg vermählt hatte. Durch ihre Sorge für die Armen, durch ihre weise Hilfeleistung bei Krankheiten, besonders auch bei Geburten, erwarb sie sich solche Liebe, dass sie von den Dürftigen fast wie ein höheres Wesen verehrt wurde. Ihre Gebeine, von den Katholiken ausgegraben, wurden unter Elisabeth ehrenvoll beigesetzt. –
Während aber Cranmer heftig und nicht ohne Gewaltsamkeit in der Erneuerung der Kirche fortschritt, starb Eduard VI. noch als Jüngling, die blutige Maria folgte ihm auf dem Throne, und alsbald sah Vermili seine Schüler wieder dem Rufe der Messglocke folgen. Er erfuhr wieder einmal den größten Glückswechsel. Kaum hatte er mit großer Gefahr Oxford verlassen, so eilte er zu Cranmer; als dieser von aller Welt verlassen ward, trat er ihm mutvoll zur Seite und machte sich anheischig mit Cranmer die unter Eduard VI. angeordnete Gestaltung der kirchlichen Dinge öffentlich zu verteidigen. Als die Königin Maria durch die Verhaftung Cranmers und seiner Gefährten darauf antwortete, bat Vermili um seinen Abschied. Er selbst schwebte in der größten Gefahr, nicht nur ehe er seine Entlassung erhielt, sondern selbst nachher. Über Antwerpen gelangte er mitten durch das Gebiet heftiger Gegner wunderbar wohlbehalten nach Straßburg, wo die alten Freunde ihn mit freudigem Erstaunen aufnahmen; auch der Rat war ihm aufs Neue gewogen.
Inzwischen hatte sich auch in Straßburg Vieles verändert, Bucer war längst in England gestorben; man hatte sich schon gewöhnt Alles nach den stehenden Formeln der Bekenntnisse zu messen; man war der Zeit des Orthodoxismus um ein Bedeutendes näher gerückt; in Straßburg hatten heftige Lutheraner Ehre und Ansehen gewonnen. Der Rat erklärte sich zwar durch die von Vermili abgegebene Erklärung befriedigt. Doch ließ man ihm keine Ruhe, er fühlte sich stets von neuen Verdächtigungen umringt. Einen Ruf nach Genf an die Predigerstelle bei der italienischen Gemeinde lehnte er zwar ab; als aber seine Gegner einen Studierenden veranlassten die reformierte Lehre aufs heftigste öffentlich zu schmähen, behielt er zwar seine friedfertige Sanftmut bei; doch war ihm nun der Ruf nach Zürich an die Stelle Pelikans sehr erwünscht. Ungern ließ ihn der Straßburger Rat, im Juni 1556, abreisen.
Während er nun bei Bullinger vorerst seine Herberge fand, knüpfte sich zwischen diesen beiden Männern die auf wahre gegenseitige Hochachtung und gemeinsames einmütiges Streben gegründete Freundschaft immer fester und schloss sie unauflöslich zusammen. Während Bullinger den ganzen äußeren Stand und Gang der kirchlichen Angelegenheiten leitete sowie den Verkehr nach außen hin, fand er sich durch Vermili von der wissenschaftlichen Seite her durch Gelehrsamkeit, Schärfe des Gedankens, Präzision im Ausdruck aufs trefflichste ergänzt und unterstützt. Vermilis friedliebender, echt humaner Charakter trat auch hier wieder überall aufs wohltuendste hervor; die Zürcher Theologen lebten damals in der schönsten Einstimmigkeit. Hier fand nun Vermili Muße und namentlich auch Freiheit, seine gelehrten Werke auszuarbeiten und herauszugeben, sowohl Auslegungsschriften von reichem Gehalt als namentlich auch sein großes Werk über das Abendmahl; eine Gelehrsamkeit bewährte sich darin, welche selbst Calvin gerne über seine eigene setzte. Vermilis Verdienste fanden in Zürich so große Anerkennung, dass er, selbst entgegen einem kurz zuvor gefassten Beschlusse, ins Bürgerrecht aufgenommen wurde. Hier trat er mit der italienischen Gemeinde in Zürich, deren Prediger damals Bernhard Occhino war, als Freund und Ratgeber in nahe Verbindung und leistete ihr die größten Dienste; er wurde von ihr außerordentlicher Weise zum Mitgliede ihrer Vorsteherschaft erwählt; eine Angehörige derselben, Catharina Merende aus Brescia, wurde seine zweite Gattin; sie gebar ihm eine Tochter und einen Sohn, welche beide früh starben, und nach seinem Ableben noch eine Tochter, welche das reifere Alter erreichte. Die italienische Gemeinde in Genf, welche viele vornehme Mitglieder zählte und manche ehemalige Schüler Vermilis, wählte ihn nach dem Tode ihres Predigers des Grafen Martinengho zu ihrem Prediger; unterstützt wie früher von Calvins Bitten drang sie aufs angelegenste in ihn den Ruf anzunehmen; Vermili aber hing so sehr an Zürich, dass er die Sache dem Rat in Zürich anheimstellte, und dieser entließ ihn nicht. Dasselbe war der Fall, als seine Freunde in England, die in steter Verbindung mit ihm blieben, unter den glänzendsten Anerbietungen, die sie im Namen der Königin Elisabeth ihm machten, ihn dorthin zurückriefen. Voll froher Teilnahme aber an dem Aufschwung der Reformation in England war er stets bereit mit seinen oft erbetenen Ratschlagen beizustehen. Nach einer anderen Seite hin aber sollte sich ihm gegen Ende seines Lebens noch eine Gelegenheit zu einer vorübergehenden Mitwirkung eröffnen, nämlich in Frankreich.
Seit 40 Jahren waren hier die Protestanten verfolgt worden, und doch hatte ihr Wachstum nicht gehindert werden können, vielmehr war die Lage des Reiches nur immer verwickelter geworden. Unter dem unmündigen Carl IX. seit Dezember 1560 herrschte dessen Mutter, die schlaue Catharina von Medici, während die beiden Parteien der Guisen und Bourbons sich um den Einfluss stritten und die furchtbarsten Zerrüttungen drohten. Noch schien ein letzter Augenblick zur Ausgleichung vorhanden, zumal der weise und edle Kanzler l’Hopital ernstlich strebte, anstatt des bisherigen Verfahrens gegen die Protestanten einen mildern Weg einzuschlagen, um endlich einmal den Zerwürfnissen hinsichtlich der Religion ein Ende zu machen; und so wurde im September 1561 ein öffentliches Gespräch in der Abtei Poissy nicht weit von St. Germain bei Paris veranstaltet. Da gelangte nun sowohl von Seiten der Protestanten namentlich Calvin und Theodor Beza, welcher Letztere selbst Teil nehmen sollte, als auch von Seiten der Katholiken das dringende Begehren nach Zürich, dass Vermili sich dazu einfinde. Katharina von Medici insbesondere schien sehr den Wunsch zu hegen, ihn, ihren Landsmann, entsprossen aus einer der edelsten Familien ihres Vaterlandes, dabei zu sehen. Doch nur unter den genauesten Vorsichtsmaßnahmen ließ der Rat von Zürich Vermilis Abreise zu. Am französischen Hofe angelangt, nachdem bereits eine öffentliche Sitzung stattgefunden hatte, wurde er aufs ehrenvollste empfangen. Über den Wert solcher Höflichkeit, wie über den der Religionsgespräche überhaupt, täuschte er sich zwar nicht; indes benutzte er gerne die ihm zu Teil werdenden Audienzen, um sowohl der Catarina, welche damals noch als geistvolle und weise Fürstin, noch nicht als Muster der Falschheit erschien, als dem König Anton von Navarra eine gemäßigte Reformation und milde Behandlung der Protestanten als das rechte Mittel zur Beilegung der religiosen Zerwürfnisse anzuempfehlen. Mit Sicherheit wusste er den verfänglichen Fragen, die mehr aus List als aus Unwissenheit an ihn getan wurden, zu begegnen. Sodann wohnte er der Sitzung bei, in welcher der Kardinal von Lothringen (Carl v. Guise) eine glänzende Rede hielt gegen die Protestanten. In einer folgenden Sitzung entgegnete ihm Vermili auf besondere Erlaubnis Catarinas, zuerst in italienischer, dann in lateinischer Sprache, und überführte den Cardinal mehrerer Irrtümer. Bei diesem Anlass war es, dass auch der Jesuiten-General Lainez sich ins Gespräch mischte, indem er die Reformirten, freilich mit Bibelstellen, Affen, Wölfe, Füchse und Ungeheuer schalt. Besonders schwierig ward dann die Sache, als die Beratung der streitigen Punkte einem Ausschuss überwiesen wurde; hier unterstützte Vermili den Beza und die übrigen Protestanten besonders durch Abweisung aller täuschenden und zweideutigen Formeln; auch während des öffentlichen Gesprächs war seine große Gelehrsamkeit und Geistesgegenwart dem Beza öfter sehr zu Statten gekommen. Sobald er dann sah, dass die Besprechungen durch den Einfluss der päpstlichen Gesandten und der gegnerischen Partei überhaupt vereitelt seien, bat er um seinen Abschied und erhielt ihn huldvoll. Die Häupter der Protestanten Frankreichs, der Prinz Condé und der Admiral Coligny), ließen ihn durch zwei ihrer Edelleute bis nach Zürich begleiten. Unterwegs fand er in Troyes den Bischof Carracioli mit dem größten Teile seiner Umgebung der Reformation zugetan; derselbe hatte die Vorsteher der Reformierten seiner Diözese bei sich versammelt, um sie zu bewegen, ihn auch in ihrer Kirche als Bischof anzuerkennen; Vermili dem dies von England her nichts fremdartiges war – unterstützte durch sein Ansehen das Begehren des Bischofs und sie entsprachen ihm; doch musste dieser das einzige Beispiel eines französisch-reformirten Bischofs auf Befehl der Regentin alsbald sein Bistum aufgeben.
Diese Reise ward für Vermili der Anfang seines Endes; die Anstrengung, welche sie mit sich brachte, bei der schon rauen Jahreszeit, hatte seine Gesundheit so sehr angegriffen, dass er sich nicht wieder erholte. Dazu kam zweierlei, was sein letztes Lebensjahr verbitterte. Einerseits die Heftigkeit mit der Johannes Brenz gegen seine milde Verteidigung der reformirten Abendmahlslehre auftrat. Anderseits der Fortgang der Dinge in Frankreich. Zwar wurde im Januar 1562 wenigstens ein beschränktes Recht des öffentlichen Gottesdienstes den Reformirten zugestanden; die Bemühungen des edlen Kanzlers l’Hopital schienen mit Erfolg gekrönt. Allein nur zu bald fing das Morden und Brennen wieder an; die beiden großen Parteien stießen immer heftiger an einander, der langjährige grauenvolle Bürger- und Religionskrieg kam zum Ausbruch.
Mit der größten Pünktlichkeit erfüllte Vermili bis in seine letzten Tage die Pflichten seines Berufes. Als aber die Fieberanfälle überhand nahmen, traf er ruhig seine letzten Verfügungen zur Obsorge für seine Gattin, die ihrer Niederkunft entgegen sah. Während dieser ganzen letzten Krankheit trat seine wahre Frömmigkeit aufs Klarste hervor. Mit großer Geduld und Sanftmut ertrug er die mancherlei sich häufenden Leiden seines Sterbelagers, bezeugte seine Glaubensfreudigkeit vor den Anwesenden und nahm herzlichen Abschied. Besonders rührend war sein Abschiednehmen von der Vorsteherschaft und dem Prediger der italienischen Gemeinde. An seinem Sterbelager stand Bullinger, dessen treuer Gefährte er gewesen, und der berühmte Naturforscher Conrad Gessner, sein vertrauter Freund. Raum merklich hauchte er sein Leben aus.
Suchen wir die Eigentümlichkeit dieses Mannes zusammen zu fassen, so finden wir als die hervorstechenden Züge seines Charakters Friedensliebe und Sanftmut, aber eine Friedfertigkeit, die mit dem reinsten Wahrheitssinne gepaart, nie der Wahrheit vergeben mochte um des bloß scheinbaren Friedens willen, und eine Sanftmut, die aus ihrer inneren Stille gerade in den entscheidenden Momenten seines Lebens im Angesicht der Gefahr eine heldenmütige Standhaftigkeit hervorbrachte. Dabei zeichnete sich sein Umgang stets durch Würde und Anmut aus. Besondere Zuneigung hatte er daher zu Melanchthon. Calvin, dem er an theologischer Gelehrsamkeit noch überlegen war und dessen höchste Achtung er stets genoss, pflegte ihn das „Wunder Italiens“ zu nennen, wohl darum besonders, weil er die Vorzüge der Begabtesten unter seinen Landsleuten in sich trug, ohne die Fehler, die man ihnen beilegte „Scharfsinn ohne Spitzfindigkeit, Feuer ohne Schwärmerei, Gewandtheit ohne Hinterlist,“ bei ihm daher seine allgemein humane, philosophische Bildung sich nicht mit dem Christentum entzweite, sondern vielmehr beides in vollem Einklange stand, und er so die gesunde rechte Stellung zur Kirche gefunden hatte. Er, der die beiden Momente, die auch bei unseren Zeitgenossen so oft auseinander geben wollen, das Positive und das allgemein Humane so in sich einigte, dass er mit all seiner Bildung nur Christo die Ehre gab, und deren Durchdringung in einem feinen Christenherzen pflegte, möge daher uns Allen in gesegnetem Andenken bleiben als ein rechter Wahrheitszeuge.
C. Pestalozzi, Geistl. in Zürich.