Bonifatius

Übersicht von Bonifatius Leben.

Der berühmteste Apostel der Deutschen ist aus einer vornehmen angelsächsischen Familie entsprossen und im Jahre 684 zu Kirton in der englischen Grafschaft Devonshire geboren. Seinen ersten Unterricht empfing er voin sechsten Lebensjahr an in der Klosterschule zu Exester unter dem Abt Wolfhard, der seinen ausgezeichneten Geistesgaben, verbunden mit der lebendigsten Wissbegierde, eine wohlwollende Aufmerksamkeit widmete.

Die Nachrichten von Männern, welche das Evangelium in die Welt getragen hatten, erweckten in dem Jünglinge den Entschluss, sein Leben diesem heiligen Beruf zu widmen, von welchem ihn auch keinerlei Vorstellungen seines Vaters abzubringen vermochten. Er begab sich daher in die gelehrte Schule von Nuscell in der Grafschaft Southampton, wo ihn der gelehrte Abt Winbert vornehmlich zum Studium der heiligen Schrift anleitete, so dass er bald selbst als Lehrer zu wirken vermochte und viele junge Männer zum Besuch des Klosters und seiner Schule veranlasste, je mehr seine Gelehrsamkeit auch mit einer feurigen Beredsamkeit vereinigt war. Nachdem er das dreißigste Jahr zurückgelegt, erhielt er die Priesterweihe mit dem Namen Bonifatius und entfaltete als Prediger eine immer steigende Wirksamkeit.

So gerne ihn Winbert als die Krone des Konvents in der Nähe behalten hätte, so konnte er ihn doch von der Ausführung des Plans nicht abhalten und entließ ihn im Jahre 715 mit seinem väterlichen Segen. Bonifatius schiffte mit einigen Ordensbrüdern, welche er für sein Unternehmen gewonnen hatte, von London nach Westfriesland über, um zunächst Willibrord, Bischof von Utrecht, zu unterstützen, welcher sich mit der Bekehrung der Friesen beschäftigte. Da jedoch der König Ratbod die ihm von den Franken entrissenen Teile von Friesland von Carl Martell wieder eroberte und, ein Feind des Christentums, eben dasselbe wieder verdrängte: so ging Bonifatius vor der Hand nach England zurück. Die Ordensbrüder wählten ihn an die Stelle des bald nachher verstorbenen Abtes, Winbert; aber er schlug die Würde aus, um zu seinem Beruf in Deutschland zurückzukehren. Mit den Empfehlungen des Abtes Daniel von Winchester versehen, begab er sich 718 zuerst nach Rom, wo ihm der Papst Gregor II Ratschläge und Anweisungen gab und ihn veranlasste, sich zunächst nach Thüringen zu wenden. Nach einer kurzen Wirksamkeit in diesem Land erhielt Bonifatius die Nachricht von Ratbods Tod, welche ihn veranlasste, wieder nach Friesland zu gehen, wo er Willibrord in dem Bekehrungs-Geschäft kräftigst unterstützte, so dass dieser die bischöfliche Würde auf ihn zu übertragen wünschte. Bonifatius aber wandte sich wieder nach dem Innern von Deutschland und kam nach Hessen, wo das Christentum, von Lubentius im vierten Jahrhunderte zuerst gepredigt, noch wenig befestigt und sogar mit Heidentum vermischt war. Bonifatius bekehrte besonders zwei Gutsbesitzer an der Ohm, Detdic und Dierolf, welchen Tausende folgten, so dass er 722 zu Ohmeneburg oder Amöneburg ein Kloster gründen konnte.

Im Jahr 723 reiste er zum zweiten Mal nach Rom und eilte, von Gregor II zum Bischof ernannt, 724 nach Deutschland zurück, wo er von dem Herzog der Franken, Karl Martell, anerkannt und unterstützt wurde, um das Christentum in allen Teilen des Frankenreichs zu verbreiten.

Er ging nach Hessen zurück, wo er zu einem sinnlichen Beweis, dass Donar, der deutsche Donnergott, eine leere Einbildung sei, einen demselben geweihten, mächtigen Eichbaum bei dem Dorf Geismar fällte und zu Erbauung eines Gotteshauses verwandte. Andere Kirchen wurden in Folge seiner Wirksamkeit zu Fritzlar, Buraburg, Christenberg, Otterau, Holzhausen, später zu Eschwege, Wanfried usw. erbaut.

Bonifatius reiste 732 zum dritten Mal nach Rom, wo das Jahr vorher Gregor II gestorben und Gregor III sein Nachfolger geworden war. Von dem selben zum Erzbischof der deutschen Kirchen und zum Legaten des römischen Stuhles ernannt, wandte er sich wieder nach Thüringen und baute zunächst auf dem alten Berg bei dem Dorf gleiches Namens im Amt Tenneberg eine Kirche, zu deren Andenken im Jahre 1811 ein dreißig Fuß hoher Kandelaber errichtet und durch drei Repräsentanten der drei allgemeinen deutschen Kirchengemeinschaften dazu geweiht wurde.

Eine Pflanzstätte des Christentums in Thüringen gründete der Heiden-Apostel ferner durch Erbauung eines Klosters an der Ora, woraus Ohrdorf oder Ohrdruf hervorgegangen. Diese Stiftungen wurden sehr wohltätig für Erhaltung und Verbreitung des Christentums, auch die Frauenklöster, in welchen besonders Chunehild, Thecla, Lioba und Chunitrud als Lehrerinnen genannt werden.

Im Jahr 738 unternahm Bonifatius seine vierte Reise nach Rom, um die weitere Verbreitung und Befestigung der deutschen Kirche zu beraten, und ordnete nach seiner Rückkehr die Verhältnisse der Kirche in Bayern, die in vier Bistümer, nämlich zu Salzburg, Regensburg, Freising und Passau, geteilt wurde. Nachdem Carl Martell 741 gestorben war und seine Söhne Pippin und Karlmann zu Nachfolgern erhalten hatte, wurde auf Bonifatius Veranlassung und mit Genehmigung des Papstes, Zacharias, welcher 741 Gregor III gefolgt war, eine Kirchenversammlung zu Salzburg in Franken gehalten, auf welcher Wyz oder Witta (Albinus) zu Buraburg, Willibald zu Erfurt, Burchard zu Würzburg als Bischöfe ernannt wurden. Unter Bonifatius erzbischöflicher Wirksamkeit sind überhaupt sechs Kirchenversammlungen gehalten worden.

Für Fulda ging durch den treuen Knecht Jesu Christi im Jahr 744 ein folgereicher Frühling auf, indem der Glaubensheld an einem Orte zwischen den vier Völkern, welche er belehrt, seine spätern Tage zuzubringen und einst in Gott zu ruhen wünschte. Sein Freund Sturmius fand zuerst das Fulda-Tal bei Hersfeld zur Anlegung des beabsichtigten Klosters geeignet, aber Bonifatius hielt die Nähe der noch heidnischen Sachsen für zu unsicher und wählte, weiter in das Buchenland nach den Quellen der Fulda aufsteigend, den gegenwärtigen Platz des Doms mit den Konvents-Gebäuden, welchen ihm Carlmann als Herzog von Austrasien überwies.

Bonifatius leitete den Bau selbst, nachdem er sich vorläufig eine Wohnung auf dem Frauenberg eingerichtet hatte, und bestimmte im Gefühl zunehmender Altersschwache seinen Freund Sturmius zum ersten Abt hierelbst, so wie Lullus zu seinem Nachfolger in Mainz. Aber der siebenzigjährige Greis fühlte kaum. seine Kräfte wieder einigermaßen hergestellt, da konnte er nicht länger ruhen, sondern das große Wort des Herrn: ich muss wirken, so lange es Tag ist, ergreift ihn um so mächtiger, je näher er die Nacht, da er nicht mehr wirken kann, herankommen sieht. Wo er angefangen, da will er enden, zu den Friesen treibt ihn der Geist. Wie Paulus, von den Ältesten zu Ephesus scheidet, so reißt sich der Greis mit jugendlichem Heldenmut von den Herzen der Seinen los und nimmt Abschied von seinem Lullus. Der Glaubensheld hat ein Vorgefühl, dass sie einander hienieden nicht wieder sehen, indem er spricht: die Zeit meines Abschiedes ist vorhanden, wenn ich sterbe, so lass meine Gebeine an der Fulda ruhen. Der Rhein trägt den Streiter Gottes hinab nach Friesland. Es war Pfingsten, als er in Begleitung Eobans, welcher Willibrords Nachfolger geworden, bei Dockum in Westfriesland eine Christenweihe vornehmen wollte, wozu sich eine große Menge Menschen eingefunden, unter welchen die größere Zahl noch Heiden waren. Je, andächtiger sie die Christen sahen, desto wütender stürzten sie, um die Ehre ihrer Götzen zu retten, mit Mordgewehren auf den Glaubensboten und sein Gefolge, und Bonifatius fiel, zugleich mit seinen Begleitern, Eoban und den Andern unter ihren Dolchen am 5. Juni 755.

Nachdem sich die Christen gesammelt, wurden die Heiden zurückgeschlagen, und die entseelten Leiber der Märtyrer nach Utrecht gebracht. Bonifatius Gebeine aber ließ Lullus nach Mainz abholen, von wo sie demnächst nach Fulda gebracht und in einem steinernen Sarg in der Kirche seiner Stiftung beigesetzt wurden. Zu den Reliquien seiner Gebeine, welche zu größerer Sicherung nicht mehr in dem jetzigen marmornen Sarkophag selbst, sondern im Innern der Kirche aufbewahrt werden, gehört noch sein geistlicher Hirtenstab von Elfenbein und ein Evangelien-Buch, in welchem ein Blatt mit seinem Blut gefärbt ist.

Hundert Tausend Menschen werden gerechnet, die durch den auserwählten Herold des Herrn zum Christentum bekehrt worden, wie die damalige Gestaltung der deutschen Kirche sein Werk ist.

Portrait Franz Heinrich Härter

Bilder aus dem Leben von Franz Heinrich Härter

Vorwort

Diese kurzen Notizen kommen zehn Jahre zu spät. In der Mitte dieses Jahrhunderts war F. Härter der bekannteste Mann unserer elsässischen Kirche, viel geliebt und viel gehasst. Tausende dankten es ihm, dass er ihnen Wegweiser war zur Seligkeit in Jesu Christo, und an allen christlichen Werken unseres Ländchens war er beteiligt. Seitdem ist aber ein neues Geschlecht aufgekommen, das wenig mehr weiß von den früheren Kämpfen und Siegen des Evangeliums in unserer Stadt, das den ehrwürdigen Gründer unseres Diakonissenhauses kaum dem Namen nach kennt, ja vielleicht eine ganz irrige Meinung über ihn hat. Deshalb entschließen wir uns, auf vielfach ausgesprochene Aufforderung unserer Freunde, diese Gedenkblätter der Öffentlichkeit zu übergeben, damit diejenigen, die ihn gekannt und geliebt, sich an den alten, vergangenen Geschichten erfreuen, die andern aber ihn ein wenig besser kennen lernen, und ihnen was er durchgekämpft und errungen auch zum Segen werde.

Es ist nicht eine Biographie, die wir schreiben, sondern nur Züge aus seiner meist unbekannten Jugend und seiner innern Entfaltung, welche zeigen, wie der Herr selbst seinen Diener erzogen und ausgerüstet hat. Entspricht unser Beginnen auch nicht dem Wunsch des Entschlafenen, der gerne vergessen sein wollte, so glauben wir dennoch eine Pflicht der Dankbarkeit zu erfüllen, indem wir das Bild des teuren Gottesmannes unserer elsässischen Kirche zu erhalten uns bestreben.

Kinder- und Jugendjahre.

Franz Härter stammte aus einer alten Straßburger Bürgerfamilie. Einer seiner Vorfahren war der Hauptmann, der das Fähnlein Straßburger den Eidgenossen gegen Karl den Kühnen zu Hilfe führte, welches ihnen die Siege von Murten und Nanzig erfechten half. Franz ward geboren zu Straßburg am 1. August 1797. Er war der einzige Sohn eines Zuckerbäckers, der in einem der vielen Gässlein des ältesten und winkeligsten Stadtteils, „die Heiligenlichtergasse 1“, sein Haus und Geschäft hatte. Dort lebte noch der Großvater, der lange Jahre hindurch der Bäckerherberge als Herbergsvater vorgestanden hatte, und von dem der Enkel noch in späten Jahren rühmte, mit welcher Kraft er seinen Gesellen und die bei ihm wohnenden Burschen in Zucht und Ordnung zu halten gewusst, und wie gottesfürchtig er seinem Haus und Amt vorgestanden hatte. Von ihm und der leider früh schon verstorbenen frommen Mutter hatte das Kind die ersteren tieferen religiösen Eindrücke erhalten, die es sein Leben lang begleiteten und die den Jüngling vor mancher Versuchung bewahrten. – Ein Ereignis, dessen sich Härter noch in spätem Alter dankbar erinnerte, fesselte ihn besonders an seinen Großvater. Kaum zwei Jahre alt, wurde er von einer schweren Krankheit befallen, die ihn in wenig Tagen scheinbar dem Tode zuführte. Das Knäblein lag in der kalten Kammer auf dem Totenbett in seinem weißen Kleide; der Sarg war schon bestellt. Drunter saßen in tiefster Betrübnis die Eltern und der Großvater beim Abendbrot; und die große Traurigkeit über den Verlust des einzigen Kindes lag schwer auf ihnen. Da steht der Großvater auf und sagt: „Ich muss noch einmal das Kind sehen, ehe sie es in den Sarg legen.“ Er beugt sich über dasselbe, er drückt es an sein Herz; plötzlich ist es ihm, als fühle er eine Bewegung in des Knaben Körper. Er ruft die Eltern herbei, Belebungsversuche werden gemacht, und siehe, der Starrkrampf, in dem er lag, löst sich und das Bewusstsein kehrt zurück.

Die Krankheit war gebrochen und die Genesung erfolgte auffallend schnell. Oft noch wurde das Leben des Kindes bedroht, doch so lange die treue Mutter lebte, wachte ihre zärtliche Sorgfalt über ihm. Einst, beim Umwerken eines Wagens, hatte sie die Geistesgegenwart, ihn in ein Fruchtfeld zu werken, während sie selbst schwere Verlegungen davontrug. Später wurde er an den Pocken so krank, dass er erblindete; doch gelang es ihr mit Gottes Hilfe, ihm durch unaufhörliches Auflegen nasser Kompressen das Augenlicht zu erhalten.

Doch nur zu schnell wurde sie ihm entrissen, und nun verdüsterte sich das Leben des stillen, friedliebenden Knaben. Der Vater, der leider keine Gottesfurcht besaß, lebte in stetem Unfrieden mit der alten Großmutter, die ihm den Haushalt führte, und Franz litt unsäglich darunter. Auch auf dem Geschäft ruhte kein Segen, und sehr jung schon musste der Sohn neben seinen Schularbeiten dem Vater an die Hand gehen, Holz spalten, im Laden dienen, ja sogar im Theater, dessen Cournisseur der Vater war, Pastetchen und Zuckerwerk anbieten. Selbst die Not lernte er früh kennen und noch als vorgerückter Gymnasialschüler trug er so verwachsene Kleider, dass seine Mitschüler darüber spotteten. Schon damals hatte der blasse, hoch aufgeschossene Knabe jenen eigentümlichen tiefen Blick, der auch in späteren Jahren auffiel und ihn befähigte, zahlreiche Schüler mit dem Auge zu leiten. Eine seiner treuesten Freundinnen erzählte, dass wenn ihre Mutter, die Wirtin im Rebstöckchen war, sie schicken wollte Zuckerwerk zu holen, sie antwortete: „Ich fürchte mich, denn in dem Laden ist ein Bube, der einen so ernst ansieht.“ Kameraden hatte er keine; seine einzige Erholung war die Freude an der Natur. Oft ging er in den Neuhöfler Wald, zuweilen mit seinem Vater. Bald kannte er alle Vögel an ihrem Gesang und freute sich, wenn sie nicht scheu wegflogen; er hatte einen offenen Sinn für alles Liebliche und Schöne. Trotz seiner schweren Lage im elterlichen Haus war er ein ausgezeichneter Schüler und seine Familie besitzt noch das ehrenvolle Zeugnis womit er im sechzehnten Jahr aus dem Gymnasium entlassen wurde. Sein Hauptlehrer, der noch wohlbekannte Dr. C. Timotheus Emmerich, schrieb: Härter hat mich nie betrübt.

Warum Härter Pfarrer wurde?

Als für Fr. Härter die Zeit kam, sich für einen Beruf zu entscheiden, stand er an einem wichtigen Scheideweg. Einerseits hatte er große Vorliebe zu den mathematischen Wissenschaften; ja, er war schon auf dem Punkt, sich zur Aufnahme in die polytechnische Schule zu melden, um nach beendigten Studien entweder Ingenieur zu werden oder dem Waffenhandwerk sich zu widmen; andererseits äußerte sein Vater in der letzten Stunde der Entscheidung: er habe immer gehofft, dass sein Sohn Pfarrer würde, damit er, der Vater, oft krank und schwächlich, und seine noch lebende alte Mutter, bei ihm in einem ländlichen Pfarrhaus ihr Leben beschließen könnten.

Dieser Wunsch des Vaters genügte. So schwer auch dem Sohn das Opfer war, es wurde gebracht. Gegen seine eigene Neigung trat er in die Theologie ein, dazu erbeten in seinem Kindesalter von seiner frommen, für ihn zu früh geschiedenen Mutter, die den Knaben in ihren tiefsten Herzenswünschen zum Geistlichen bestimmt hatte.

Nur mit Widerwillen betrat Härter seine theologische Laufbahn, wenn er gleich die ehrenvollsten Zeugnisse über seinen Fleiß und sein Betragen in seinem 16. Jahre aus dem Gymnasium mitbrachte. Sein junger Verstand war schon mit Zweifeln an den Grundwahrheiten des Evangeliums erfüllt, welche in seinem Vaterhaus durch völligen Unglauben und Spott alles Heiligen fruchtbaren Boden und Nahrung hatten. Härter erkannte seine Zweifel wohl, hoffte aber durch das Studium der Theologie von denselben erlöst zu werden. Doch auch diese Hoffnung erfüllte sich nicht, denn auch das Wenige von Glauben, das er besaß, wurde ihm mehr und mehr genommen. Was er in den Jahren seines akademischen Trienniums1Zeitraum von drei Jahren 1816-1819 in den Hörsälen der theologischen Fakultät zu Straßburg vernahm, war nicht dazu angetan, die Liebe zum geistlichen Amt in ihm zu erwecken und zu fördern, noch weniger die Bande zu lösen, in welchen seine zweifelnde Seele gefangen lag. Die große Erweckung, welche nach den Freiheitskriegen ganz Deutschland ergriffen hatte, war beinahe spurlos an dem Elsass und an dessen Hauptstadt, dem ehemaligen Forte evangelischen Glaubenslebens, vorübergegangen. Nicht durch Zollgesetze, sondern durch Druck auf die einzige, deutsche Schriften führende Buchhandlung in Straßburg, wurde den Erzeugnissen der neueren geistlichen Literatur, selbst den neu ans Licht gezogenen Bekenntnissen alter Gottesmänner, der Eingang in das Land versperrt und dadurch den hungernden Seelen das Brot des Lebens vorenthalten.

Das Kirchenregiment lag in Händen, die wohl das Äußere am Heiligtum wieder aufzurichten, nicht aber die innersten Güter desselben, die ihnen anvertraut waren, zu pflegen vermochten. Da, wo die zukünftigen Diener am Wort zu ihrem heiligen Amt sollten herangebildet werden, befanden sich, mit wenigen Ausnahmen, solche Lehrer, die dem draußen bereits hinsterbenden Rationalismus huldigten und dessen welke Grundsätze in die Herzen der Studierenden einpflanzten.

Dennoch betrieb Härter fleißig seine theologischen Studien. Während derselben legte sich die Sorge um sein zerrüttetes väterliches Hauswesen schwer auf seine Schultern. Den Tag über gab er in seinen Freistunden Unterricht an junge Schüler, um seinen Vater unterstützen zu können, die Nächte brachte er größtenteils hinter seinen Büchern und am Krankenbett seines Vaters zu. Dieser war verbittert durch Körperleiden und Nahrungssorgen, stand zugleich mit seiner eigenen Mutter in fortwährendem häuslichen Zwist und wendete seinem sich ihm aufopfernden Sohn wenig Dank und Liebe zu, was diesen jedoch in seiner kindlichen Liebesarbeit nicht entmutigte. Gegen das Ende der Studienzeit nahm das Leiden des Kranken immer mehr überhand, die letzten Nächte vor seinem Examen wachte der treue Sohn und studierte am Schmerzenslager, und am Tag, da er sein Diplom als Kandidat der Theologie erhielt, starb der Vater. Es war dem Sohn nicht vergönnt, ihn, seinem oft ausgesprochenen Wunsche gemäß, in einem ländlichen Pfarrhaus zu pflegen. Die alte kranke Großmutter nahm er dagegen später, nachdem er ein eigenes Hauswesen gegründet, zu sich, pflegte sie mit kindlicher Liebe und obgleich er und seine junge Gattin von der mürrischen Frau wenig gute Worte der Anerkennung erhielten, ermüdeten sie dennoch nicht, bis endlich im tiefen Leidenstiegel die harte Seele geläutert und mürbe wurde, danken lernte für alle Liebe und Treue, welche sie erfuhr und milde gestimmt, im Frieden abscheiden konnte. Diese häuslichen Zerwürfnisse und Notstände waren wohl nicht geeignet, den Sohn in seinem Beruf aufzumuntern und ihn zu stärken. Je tiefer Härter in das Studium der Theologie sich einlebte, um so mehr wurde er diesem Berufe entfremdet, um so düsterer und verhängnisvoller erschien ihm die Stunde, wo er in die Lage kommen würde zu predigen und einer Gemeinde die gute Botschaft zu verkündigen, die zu glauben er leider auf der theologischen Hochschule nicht gelernt hatte. Die weitern Studien fielen seinem nach Wahrheit verlangenden Gemüt sehr schwer. Mit Zweifeln war er eingetreten und statt Klarheit zu finden wurde es immer finsterer in seiner Seele. O wie gerne hätte er geglaubt, aber einige seiner Lehrer knüpften nur noch fester die Binde seines Geistesauges und nahmen ihm Alles, was ihm zum Leben und zur freudigen Berufsarbeit Kraft verleihen konnte. Es war ihm oft, als könnte er sich nicht entschließen, ein Prediger des Evangeliums zu werden, da ihm das Amt eines Mannes, dessen Wort nicht mit der Herzensüberzeugung im Einklang war, verwerflich schien. Oft geriet der glaubensbedürftige und nach Klarheit dürstende Jüngling nah an Verzweiflung; aber die Hand des Herrn hielt über ihm und sandte ihm Hilfe in der Not, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden.

Wie Härter zum Glauben kam.

In dieser Not, welche ihn erfüllte, steckte der Herr dem Zagenden eine Leuchte auf, welche sein ganzes Leben hindurch seines Fußes Licht und sein Leitstern wurde. Härter fand einen Retter in einem seiner Lehrer, Dr. Carl Timotheus Emmerich, welchem er auch bis an sein Ende die tiefste Erkenntlichkeit bewahrt hat.

Zu ihm ging Härter and teilte ihm seinen Entschluss mit, der Theologie zu entsagen, um irgend einen andern Beruf zu ergreifen, so schwer ihm, dem 21jährigen Jüngling, nach soeben glänzend bestandenem Examen, solches werden mochte.

Emmerich aber hielt ihn fest. „Mein Freund,“ sagte er, „verzagen Sie nicht; ich bin durch dieselben Zweifel und Kämpfe gegangen, in welchen Sie jetzt stehen. Damals war ich in Göttingen und verzweifelte beinahe daran, jemals die Wahrheit finden zu können und dadurch das tiefe Bedürfnis meiner Seele nach Licht gestillt zu sehn. Da wurde ich durch die Betrachtung der Natur aufmerksam gemacht auf die Fülle, womit Gottes Güte für die Befriedigung unserer mannigfachen leiblichen Bedürfnisse gesorgt hat. Wie reichlich gibt er uns das tägliche Brot und hängt die köstlichsten Früchte für uns an den Bäumen auf! Und nun musste ich mir sagen: wenn für den Leib so gesorgt wird, der doch sterblich ist, sollte Gott nicht auch für das tiefste Bedürfnis meines Geistes, für den Hunger und Durst nach Wahrheit gesorgt haben? Ich kam zur Überzeugung, dass Gott gewisslich solches getan. Nur wusste ich noch nicht, wo ich meinen Hunger nach Wahrheit befriedigen könnte. Da wurde ich durch das Studium der Kirchengeschichte auf das geschriebene Wort hingewiesen. Denn alle jene ehrwürdigen Männer der Vorzeit, die Apostel, die Kirchenväter und die Reformatoren, sie waren ja sämtlich davon überzeugt, die Heilige Schrift sei Gottes Wort. So entschloss ich mich denn, ohne menschliche Erklärung, wie ein einfacher Bauer, bloß mit Gebet um göttliche Erleuchtung, die Bibel zu lesen. Und siehe, je mehr ich darin las, desto lichter wurde es in meinem Innern. Viele Zweifel wurden durch das bloße Besen gelöst, andere schwanden durch die Erfahrungen des Lebens, die mir das Wort verständlich machten, und so kam ich zur tröstlichen Gewissheit, dass auch die noch übrigen Dunkelheiten gleichfalls völlig schwinden werden und dass ich einst die vollkommene Wahrheit, die droben liegt, mein Eigentum werde nennen dürfen.“

Der Lehrer umarmte hierauf seinen Schüler und nahm ihm das Versprechen ab, es in Gottes Namen zu versuchen, ob es ihm gelingen möchte, auf demselben Wege, wie er, Frieden zu finden.

Härter blieb bei der Theologie und befolgte von Stunde an den Rat des treuen Freundes Emmerich, die Heilige Schrift, die ihm bis dahin ein so gut wie verschlossenes Buch gewesen war, mit Gebet um Erleuchtung durch den heiligen Geist zu durchforschen. Er selbst erzählt, wie er sich Jahre lang hineingelesen und hineingebetet habe und wie schon damals, obwohl ihm noch Vieles dunkel blieb, immer herrlicher die Eine Gestalt aus derselben hervorgetreten sei, Jesus Christus, im Alten Testament angekündigt, im Neuen erschienen als das Licht der Welt. Obgleich er das eigentliche Evangelium noch nicht in seiner ganzen Fülle verstand, wurde er doch je mehr und mehr durchdrungen von tiefer Ehrfurcht vor der Bibel, als vor Gottes Wort.

Aber dieses Studium verschaffte ihm nicht sobald Lebensfreudigkeit, im Gegenteil, er war abgespannt und müde. Ein Blatt in seinem damals geschriebenen Tagebuch lässt uns einen tiefen Blick in sein bekümmertes Herz tun. Unterm 18. Sept. 1820 schrieb er: „Vor einigen Jahren waren die Studien und die Sorge für meinen Vater meine einzige Beschäftigung. Ich liebte die ganze Menschheit und lebte doch abgeschieden von der Welt; ich hatte keinen andern Wunsch als den, im Stande zu sein für das Wohl meiner Mitbrüder sorgen zu können, und doch fühlte ich mich zu schwach, zu verlassen, ohne Anleitung, ohne Ratgeber. Da fasste mich tiefer Gram, ich sah mich als unnütz, als verloren für die Menschheit an, mein Wunsch war zu sterben, um frei von den Banden des schwachen Körpers, wirksamer und wohltätiger für das Ganze zu werden. Es war mir in meinem leidenden Zustand ein tröstender Gedanke, als Genius die armen verlassenen Menschen zu umschweben und sanften Balsam in ihre verwundeten Herzen einzuflößen. Meine Freunde sahen, dass ich schwärmte; wider meinen Willen zogen sie mich in ihre frohen Kreise. Ich war heiter, wenn ich frohe Gesichter sah, und nahm Teil an den Freuden Anderer, um dieselben nicht zu stören. Jeden, den ich für gut hielt, kam ich mit Liebe entgegen; doch nach und nach wurde ich schüchtern, ich zog mich wieder zurück, ängstlicher als zuvor und mit noch weniger Selbstvertrauen. Mit dem Tode meines Vaters hatte ich das Letzte verloren, für das ich noch mit Liebe sorgen konnte, und lebte nur noch auf, wenn ich unter meinen Schülern war, welche größtenteils meine Mühe durch Anhänglichkeit belohnten.“

Härters Reisen.

Ein Aufenthalt im Schwarzwald im Jahr 1820 gab dem Frühmüden bald neue Lebenskraft und stärkte seine wankende Gesundheit, auch fand er dorten im freundlichen Hub-Bad, das der angesehenen Familie Kampmann aus Straßburg gehörte, einen größeren Schatz, der ihm mehr wert wurde als Gesundheit und Leben, in der ältesten Tochter, Elise Kampmann, seine zukünftige Lebensgefährtin, welche wir später noch näher werden kennen lernen. Im Frühjahr 1821 unternahm dann Härter mit einem Freunde eine Fußreise durch Krankreich, auf welcher er Paris, Havre, Reims und andere Orte Nordkrankreichs kennen lernte. Bei seiner Rückkehr trieb es ihn, im Oktober 1821, über Mainz, Kassel und Göttingen, nach der damals berühmten Universität Halle, wo er bis zum Mai des folgenden Jahres blieb.

Daselbst arbeitete er fleißig an seiner theologischen Ausbildung und hatte selbst Gelegenheit, einem Professoren gegenüber, in einem Religionsgespräch, dessen Einwürfe gegen das Christentum zu widerlegen und dieselben verstummen zu machen, indem er kräftig auf die Notwendigkeit einer Offenbarung hinwies und dartat, wie dieselbe in Gottes Wort, und darin allein, vorhanden sei. Es ward ihm dabei gegeben, so freudig und mächtig Zeugnis abzulegen von dieser Gewissheit, die nur dem Glauben eigen ist, der sich auf Gottes Wort stützt, dass in ihm selbst in jener Stunde der letzte Zweifel an der Wahrheit der Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift niedergeschlagen wurde und er mit um so größerem Eifer bei seinem ernsten Vorhaben beharrte, immer wieder betend sich in das Studium der ganzen Bibel zu versenken.

Ein andermal stellte ein Professor die Frage auf: ob nicht das Christentum sich überlebt habe und ob es nicht an der Zeit sei, es durch eine vernunftgemäßere, geistvollere Religion zu ersetzen? Ein Student, dem die Beantwortung dieser Frage übertragen war, bejahte sie auf das entschiedenste in einem längeren Vortrag
und alle Studenten, nebst dem gelehrten Herrn Professor, stimmten ihm bei. Härter, um seine Meinung gefragt, erwiderte: „Meine Herren, was würden Sie einem Bauern antworten, der Ihnen behauptete, dass diese Bibel, die in Ihren Augen ein Buch voller Irrtümer und Fabeln ist, dennoch, meiner unerschütterlichen Überzeugung nach, Gottes heiliges Wort ist?“ Alle blieben ihm die Antwort schuldig und in seinem Herzen befestigte sich die Gewissheit, dass Niemand ihn überwinden könne, so lange er auf der Bibel als auf der göttlichen Offenbarung stehe.

In Halle brachte ihn eine Krankheit dem Tode nahe. Nach den Befreiungskriegen in dem zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, waren Freiheitsgedanken auch in die Studentenwelt eingedrungen und hatten eine Verstimmung zwischen derselben und dem Universitätssenat zuwege gebracht. Verschärfte Gesetze sollten derselben entgegenwirken, welche die Studenten sich nicht wollten gefallen lassen und darauf einen allgemeinen Auszug beschlossen, welchen sie auch ausführten und sich an einen zwei Stunden entfernten Ort begaben. Die Regierung sandte Militär gegen sie, die Professoren erschraken, wie auch die vernünftigeren Studenten.

Härter, der als fertiger Kandidat und als Ausländer nicht mit den unruhigen Köpfen auszuziehen hatte, wurde als Vermittler zu den Aufrührern gesandt. Er eilte zur Stadt hinaus in das Lager der Studenten, verhandelte mit dem Seniorenconvent, welchen sie gebildet hatten, indem er demselben die bedenklichen Folgen des übereilten Schrittes vorstellte, und es gelang ihm, die Studenten zur Nachgiebigkeit zu bewegen. Diese stellten einzelne Bedingungen, unter welchen sie die Rückkehr versprachen und Härter eilte damit in die Stadt, denn es war hohe Zeit, schon nahten die Truppen. In Schweiß gebadet kam er zurück, eilte zu dem Rektor der Universität, wo die Professoren versammelt waren, musste aber zwei Stunden lang im ungewärmten Vorzimmer warten, bis er hineingerufen wurde. Da hatte er wohl die Freude, dass er einen für beide Teile annehmbaren Frieden vermitteln konnte, aber dagegen war eine heftige Halsentzündung die Folge der Erkältung, die ihn an den Rand des Grabes brachte und den Grund zu einem spätern chronischen Halsübel legte. Wohl besuchte ihn während seiner Krankheit der eine und der andere der Professoren, lasen ihm auch fleißig die Zeitungen vor, aber keinem wäre es eingefallen mit ihm zu beten, das Wort Gottes zu lesen oder von der Vorbereitung auf eine selige Ewigkeit mit ihm, der zwischen Tod und Leben lag, zu sprechen. Härter fühlte wohl seinen gefährlichen Zustand, Todesgedanken füllten seine Seele und schon hatte er seiner Braut einen letzten Gruß gesandt, als er wieder genesen durfte.

Von Halle aus besuchte Härter noch einige wichtige Städte Deutschlands, den Ranzen auf dem Rücken und zu Fuß. Früh Morgens machte er vor dem Frühstück einige Stunden Wegs; ging weiter bis Mittag, bestellte dann sein Essen auf 1 Uhr und legte sich bis dahin auf die Ofenbank, den Tornister unter dem Kopf und suchte zu schlafen. Während er einmal mit geschlossenen Augen da lag, stand die behäbige Wirtin neben ihm, schaute mitleidsvoll den jungen Menschen an und sagte zu den andern Gästen: „Wie kümmerlich muss doch Mancher sich durchs Leben schleppen!“

Härter zog nun mit vier Straßburger Freunden über Berlin, Dresden, Jena und Göttingen, ohne Aufenthalt nach seiner Vaterstadt zurück; reich an Erfahrungen aller Art, gestärkt in seinem Glauben und fröhlich in seinem Gott. Die Reise geschah zu Fuß, jene Zeit kannte keine Beförderungsmittel heutiger Art; Eilwagen waren für einen Kandidatenbeutel zu teuer; aber zwei der Gefährten kamen nur bis Krankfurt, der dritte musste von Karlsruhe aus Fahrgelegenheit nehmen, Härter allein konnte das Wagnis vollenden und kam auch wohlbehalten nach Straßburg zurück.

Härter hatte sich auf das Fußreisen verstanden. Sein Freund Schweighäuser, nachheriger Gymnasiumsprofessor, hatte ihn begleitet. Beide waren wie Handwerksburschen gekleidet, waren in wollenen Kleidern warm angezogen und hatten über dem Tuchrock ein Staubhemd angezogen; der schwere Ranzen auf dem Rücken drückte sie wohl, aber sie waren die Last bald gewohnt und als treue Kumpane zogen sie ihre Straße. Nur einmal waren sie uneins; Härter hatte aus Fürsorge auf seinen Tornister einen Wachstuchmantel geschnallt. Als nun einmal ein feiner durchdringender Regen fiel, bot er seinem Kameraden, der zu frieren anfing, denselben an. Der aber antwortete: wer ihn getragen hat, solle ihn auch benützen. Auf dies hin riss Härter, im Unmut seine gute Absicht verschmäht zu sehen, den Mantel in zwei Stücke und bot die Hälfte dem Freunde an; dieser ebenfalls unwillig, warf diese weg und Härter, der es nicht besser haben wollte, warf die andere Hälfte der ersten nach und trostmütig wanderten beide im Regen weiter, ohne dass ihre Freundschaft dadurch erkältet ward.

Bald nach seiner Rückkehr hielt Härter in Straßburg seine erste Predigt über Joh. 8,12: „Ich bin das Licht der Welt!“ Obgleich er mit großem Bangen die Kanzel betrat, also dass ihm die ganze Predigt wie entschwunden war und alles vor seinen Augen flunkerte, so gab doch der Herr ihm mit dem ersten Worte die ganze Rede wieder und ein freudiges Auftun des Mundes vor der Gemeinde.

Härters Eintritt ins Pfarramt und erste Ehe.

Nach seiner Rückkehr blieb Härter einige Monate lang ruhig in Straßburg, trieb mathematische Studien und gab Unterricht in den Naturwissenschaften. Mitten in diesen ihm lieben Beschäftigungen kam ihm über einmal die Ernennung an die Pfarrstelle in Ittenheim, durch das Konsistorium von Wolfisheim, welchem die Gemeinde angehört. Härter nahm die Berufung an, als aus Gottes Hand, schloss seufzend seine mathematischen Bücher, um sie nie mehr zu öffnen und gab sich willenlos seinem neuen Beruf hin. Es war den 14. März 1823. Bei den Glückwünschen der Freunde schaute er finster drein und fühlte in diesem Augenblicke die ganze Last, die dadurch auf seine Schulter gelegt wurde, ob er sie wohl auch werde tragen können?

Härter wurde in eine Sitzung des Konsistoriums gerufen und sah da viele weltliche Geschäfte, viel Gezänke, viele unedle Gesinnung selbst. Sein Herz wurde deswegen noch trauriger; doch da er es für seine Pflicht erkannte, nahm er die Stelle an und fuhr an einem Nachmittag mit einem Kirchenältesten hinaus ins Dorf, wo er von nun an wirken und sein Amt verrichten sollte.

Der Zustand des Pfarrhauses machte aber auf ihn keinen günstigen Eindruck. Es hatte feuchte, verrauchte Zimmer, das Dach war durchlöchert, die Gartenmauer eine Ruine, überall herrschte Unordnung und Verwahrlosung; die Bäume des verwilderten Gartens waren bis an die obersten Zweige mit Moos überzogen. Der Kirchenrat, der am andern Morgen zusammentrat, gab den schlechten Zustand wohl zu, zuckte aber die Achseln und erklärte, dass weder die Kirchen- noch die Gemeinde-Kassen Geld hätten, und dass die notwendigen Reparaturen wohl sechshundert Kranken kosten würden. Die Herren hofften dadurch es hinzubringen, dass wie in Fürdenheim, Pfulgriesheim, Lingolsheim der Pfarrer vorziehen würde, in der Stadt zu wohnen und nur am Sonntag seines Amtes im Dorf zu warten. Aber Härter erklärte, dass er die sechshundert Kranken aus seiner Tasche liefern wolle, wenn sie von ihrer Seite mithelfen würden. Der junge Pfarrer gewann durch dieses Anerbieten die Achtung seiner zukünftigen Pflegebefohlenen; er opferte wohl dabei alle seine Ersparnisse, die er durch Stundengeben sich erworben hatte, bewirkte aber dadurch, dass auch die Bauern in der Herbeischaffung der Materialien wetteiferten, wodurch aus einer unfreundlichen Wohnung ein gastliches, gesundes Pfarrhaus wurde, in welches Härter, am 21. August 1823, feierlich von der Gemeinde eingeholt, seine ihm seit drei Jahren verlobte Braut, Fräulein Elise Kampmann, einer angesehenen Straßburger Familie angehörend, als junge Pfarrfrau einführte.

Henriette Elise Kampmann war am 27. Januar 1799, die zweite von acht Kindern, geboren, und den 5. März durch Pfarrer Eissen getauft worden. Der Großvater, Heinrich Gottfried Kampmann, von Waltenheit (1728-1776) war seiner Zeit Lehrer am Gymnasium gewesen. Der Vater, Friedrich Gottfried, geboren den 5. März 1771, seit 1796 verheiratet, hatte Güter in Rheinbischofsheim und war Besitzer des Hubbades. Im Jahre 1811 trat die Tochter in die Pension der Frl. Barbeues ein und am 15. Mai 1814 wurde sie durch Prof. I. Haffner konfirmiert, nachdem sie den Religionsunterricht in der Pension bei Herrn Himly befolgt hatte. Als die teure Mutter, Friederike Magdalene, geborene Haug, am 7. Februar 1819, entschlafen war und am 10. ihre sterbliche Hülle auf dem Friedhof zu Ottersweyer ihr letztes Plätzchen gefunden hatte, übernahm Elise mit ihrem Bruder Theodor die Leitung des Geschäfts. In Monat Juli 1820 fand die Verlobung mit Härter statt, wozu der Vater von Herzen Einwilligung und Segen gab. Der Brautstand der jungen Leute war ein überaus glücklicher. Der romantische Zug, der jenen Zeiten eigen ist, verlieh ihm einen besondern Reiz. Wenn der Bräutigam von Straßburg in die Hub hinüberritt, so ließ er von ferne schon das Waldhorn friedlich durch die Dämmerung ertönen. Die Braut eilte ihm entgegen, und das Pferd am Zügel führend langten beide, das liebliche Tal durchstreifend, am Bestimmungsort an. Auch von einer Lebensrettung weiß jene Zeit zu berichten. Einst machten die Brautleute mit einer größeren Gesellschaft eine Wasserfahrt auf der Ill. Da erhob sich ein gewaltiger Sturm, und sie wären alle unfehlbar verloren gewesen, wenn es nicht den Männern geglückt wäre, die beiden Schiffe, in denen sie fuhren, fest zusammen zu binden.

Überhaupt waren jene zwanziger Jahre, nach den Stürmen der Revolution, weit friedlicher als unsere Zeit. Jenes Geschlecht kannte noch nicht die fieberhafte, raschlebige, aufgeregte, vom großen Weltverkehr mitgerissene, von politischen und sozialen Fragen wild bewegte, in aufreibendem Strudel unaufhaltsam sich fortdrängende Lebensweise der Jetztzeit. Man lebte eingezogener, einfacher und gewiss auch glücklicher, als es heutzutage meist der Fall ist.

Wie der Brautstand, so war auch die Ehe, von Gott geschlossen und am 18. August 1823, im Hause, durch Herrn Pfarrer Kreiß, Vater, eingesegnet, sehr glücklich. Härter war 26, die Gattin 23 Jahre alt; beide waren ideale und gefühlvolle Naturen, Eines fand in dem Andern die Verwirklichung dessen, was zuvor das Ziel ihrer Wünsche war. Er fand in ihr ein tief weibliches Gemüt, sie sah in ihm den „Mann“, was Verstand, Frömmigkeit und Tatkraft betrifft und so waren beide im Aufblick auf den Herrn auf das innigste verbunden.

Die junge Frau war im vollen Sinne des Wortes die Gehilfin ihres Mannes. Sie führte ein musterhaftes Hauswesen, arbeitete rüstig in Stall und Garten und nahm sich zugleich der Armen und Kranken der Gemeinde mütterlich an. Auf sie fand die Schilderung Salomos eines tugendhaften Weibes ihre volle Anwendung. Sie hatte ihrem Manne kein irdisches Gut mitgebracht, denn die ihr versprochene Mitgift war vor ihrer Verehelichung verloren gegangen; Härters Vermögen war nicht in Anschlag zu bringen; für ihren Mann aber war die Gattin viel edler denn die köstlichste Perle und er konnte mit Freuden sagen: „Lieblich und schön sein, ist nichts; ein Weib, das den Herrn fürchtet, soll man loben.“ Beide wussten, dass man nicht von Geld und Gut lebt, sondern von Gottes Segen und dass das eheliche Glück nicht auf Kapitalien ruht, welche Rost und Motten fressen, sondern auf gegenseitiger Tüchtigkeit in Allem, was vor Gott recht ist, auf Einfachheit der Sitte und vor Allem auf inniger, dem Herrn geweihter Liebe.

Sobald die junge Frau in ihrem Hauswesen eingerichtet war, kam sie dem heimlichen Wunsch ihres Gatten zuvor und erklärte demselben, dass sie dessen hochbetagte, kränkliche Großmutter zu sich nehmen wolle. Sie holte sie selber in Straßburg ab, verpflegte sie wie nur die treueste Wärterin und hatte die Freude, die harte Seele mürbe und geläutert, im Frieden mit ihrem Gott abscheiden zu sehen (30. Sept. 1823).

Der Herr schenkte dieser glücklichen Ehe zwei Kinder, eine Tochter, welche als treue Diakonissin heimgehen durfte, und einen Sohn, den wir als Nachfolger seines Vaters lieben und schätzen.

Aber, leider wurde dieses liebliche Familienleben plötzlich und unerwartet gestört. Mehrere Personen der Gemeinde waren vom weißen Friesel2Fieber mit Hautausschlag, Miliaria befallen, zuletzt auch die Frau des Bürgermeisters. Härter, welcher vor keinem Krankenbett sich fürchtete, und an dem ärmsten und ekelhaftesten sein Amt als Seelsorger waltete, hatte die ganze Nacht im Haus der Kranken zugebracht. Seine Frau war auf seine Bitte zu Hause geblieben; doch als sie am frühen Morgen erfuhr, dass die, mit welcher sie innig befreundet war, sterbend sei, eilte sie hinüber und kam im Augenblick des letzten Atemzugs an das Sterbelager. Dieser Anblick ergriff die Pfarrfrau so sehr, dass sie nach Hause ging, sich niederlegte und nach zwei Tagen selbst eine Leiche war. Die böse Krankheit hatte auch sie der Liebe der Ihrigen entrissen, und zwar an Karfreitag 1828, im Augenblick, da man zum Gottesdienst zusammenläutete. Härter bestieg die Kanzel wie gewöhnlich. Noch Niemand wusste, dass im Pfarrhaus der Todesengel eingekehrt. Als er aber mit den Worten begann: „So eben ist meine liebe Frau gestorben,“ da ergriff der Schmerz über diesen Verlust die ganze Versammlung, Alle brachen in lautes Weinen aus und gingen, nachdem am Altar nur ein kurzes Gebet gesprochen und der Segen des Herrn erteilt, tief ergriffen nach Hause. Es war eine ernste Karfreitagfeier für die ganze Gemeinde.

Am Ostersonntag wurde die teure Heimgegangene der Erde übergeben, unter großer Beteiligung von Leidtragenden und heute noch, nach 60 Jahren, ist das Grab in Ehren gehalten und geschmückt von der dankbaren und ihr Andenken ehrenden Gemeinde. Auf dem Leichenstein ist das Wort zu lesen: „Ich komme dir entgegen!“ Es war das letzte Wort der Entschlafenen.

Ihres Gatten Herz aber war gebrochen. Er sehnte sich nur, seiner teuren Hälfte bald nachfolgen zu dürfen und auf die letzte Seite seines Tagebuches schrieb er: „Wer diese Blätter einst findet, der füge das Datum meines Todestages hinzu, als der glücklichste Tag meines Lebens.“

Härter im Dienste der Gemeinde Ittenheim.

Härter widmete sich mit voller Kraft seinem Berufe als Seelsorger der ihm anvertrauten Gemeinde. Alle Zweifel waren bei ihm entschwunden. Er hatte sich demütig und aufrichtig in die Heilige Schrift hineingelesen und war gleich die tiefste Tiefe des Heilswegs ihm noch verschleiert und das Wort Gottes noch mehr ein Gesetz als eine Friedensbotschaft an den Sünder, so entwickelte er doch in diesem seinem ersten Wirkungskreise eine reich gesegnete Tätigkeit, welche, so kurz dieselbe war, wohltätig auf die zuvor verwahrloste Gemeinde einwirkte. Er nahm es ernst mit seinem Amte als Prediger, als Seelsorger und als Schulmann; in alle Verhältnisse griff er mit voller Entschiedenheit ein und bald gab es rings umher im Lande keine Gemeinde, in welcher nach allen Seiten hin eine solche Zucht und Ordnung in Kirche, Schule und Häusern herrschte, als in dem schönen Dorf Ittenheim, zu welchem oft viele Land- und Stadtleute von nah und fern pilgerten, um den beredten jungen Pfarrer predigen zu hören.

Härters Bemühungen galten vorerst der Schule, welche in jeder Beziehung in jämmerlichen Zustand sich befand. Zur Besserung der Notstände hatte er eine besondere Schulkasse gebildet, aus welcher das schadhafte Mobiliar ausgebessert, teils auch Neues angeschafft wurde. Auch dem Gehalt des Lehrers wusste er durch bessere Vermietung der Schuläcker und durch den Ertrag einer vierteljährigen Kirchensteuer aufzuhelfen, wenn gleich der Lehrer, sehr mangelhaft gebildet und ein starker Trinker, dessen unwürdig war und keine Achtung bei den Alten und den Kindern des Dorfes genoss.

Härter besuchte deswegen täglich die Schule, besprach mit dem Lehrer die verschiedenen Missstände, suchte diesen in den Augen der Gemeinde zu heben, machte ihm Mut, gegen sein Laster anzukämpfen und bat die besseren Familien, sich des armen Mannes anzunehmen.

Härter gründete auch mit allen Schullehrern der Umgegend einen Lehrerbund zu gegenseitiger Aufmunterung und Fortbildung.

Wohl lohnte ihm der Lehrer seines Dorfes durch arge Verleumdungen und suchte ihm in der Gemeinde durch mancherlei Gerede zu schaden. Doch Härter schwieg dazu, damit die Schule nicht noch größeren Schaden erleide, und als Bürgermeister und Kirchenrat den Lehrer absetzen wollten, bat Härter für den Verleumder, welcher gelobte, einen geordneten Lebenswandel zu führen, aber bald wieder zurückfiel, zum Ärgernis der Schuljugend, worauf die Gemeinde auf seine Absetzung antrug, welche auch an dem armen Manne vollzogen wurde.

Der Kirche galt Härters Hauptbemühung. Der Gottesdienst lag ebenso darnieder wie die Schule; kaum dass einige Frauen und die Schuljugend denselben besuchten. Die Wenigen, welche etwas Besseres begehrten, gingen anderthalb Stunden weit, um den Versammlungen eines Reisepredigers beizuwohnen. Härter wurde von Gemeindegliedern angegangen, gegen diese Auswanderung von der Kanzel herab zu eifern. Er aber antwortete den Verklägern: „Es ist schön, dass diese Leute solch ein Verlangen haben nach Gottes Wort, wenn ich einen Wagen hätte, so würde ich sie hinüberführen lassen.“ Er besuchte diese Familien dann freundlich, drückte seine Freude darüber aus, das: sie, trotz des Spottes der Leute, den weiten Weg nicht scheuten, um etwas Gutes zu hören und lud sie ein, doch hie und da auch seinen Gottesdienst zu besuchen. Sie kamen und sahen. bald, dass es überflüssige Mühe sei, weit zu gehen und in der Ferne zu suchen, was man in der Nähe haben könne und in der Folge wurden sie die fleißigsten Kirchgänger und treuesten Pfarrgenossen.

Die Gemeinde fühlte immer mehr, dass ihr junger Pfarrer von ganzem Herzen sein Amt zu ihrem Besten verwaltete. Auch füllte sich das Gotteshaus, Sonntag für Sonntag, mit andächtigen, regelmäßig kommenden Zuhörern. Er predigte eindringlich, nach sorgfältiger Vorbereitung und so wie seine Leute es verstehen und anwenden konnten.

Der Gemeindegesang lag ebenfalls im Argen. Die Frauen schrien ihr Lied in näselndem Trompetenton, der Rest brüllte mit so gut es ging, je lauter, desto schöner. Härter fing mit der Jugend in der Schule an; als diese hinlänglich eingeübt war, musste sie in Gottesdienst die erste Strophe des Liedes vorsingen, worauf die Alten eingeladen waren, sanft nachzusingen. Der Gesang hob sich dadurch zusehends, zur Freude Aller, die nun noch lieber die Kirche besuchten.

Härter, so jung er war, hatte bald die Gemeinde in seiner Hand, so dass sie sich willig von ihm leiten ließ. Alle fühlten, mit welcher Liebe und Treue er seines Amtes wartete und dabei nicht sich selbst, sondern nur das Wohl der Andern suchte. Ebenso sahen sie der jungen Frau Pfarrerin Tun und Schaffen mit großem Wohlgefallen und wenn sie irgendwo ihres Pfarrers mit Lob besprachen, so erhielt seine treue Gehilfin ihr gutes, wohlverdientes Teil davon. Oft sammelte sie die jungen Mädchen, auch Frauen in ihrem Hause, gab ihnen Unterricht im Stricken und Nähen, lehrte sie fröhliche Lieder, erzählte anmutige Geschichten und half auch in den Häusern, besonders an Krankenbetten, mit Rat und Tat. Sie war eine treue Martha mit Mariensinn und was sie angriff, wurde mit Segen belohnt.

Den moralischen Zustand der Gemeinde nahm sich Härter sehr zu Herzen. Er tröstete sich nicht damit, dass dies oder jenes Hergebrachte Dorfsitte, an welcher der Pfarrer nicht von ferne rütteln dürfe, und dass es in anderen Gemeinden nicht besser hierin bestellt sei; auch nicht mit dem Sprüchlein: Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen. Er suchte nicht nur durch Belehrung und Ermahnung die bösen Gewohnheiten zu bekämpfen, sondern er griff auch den nächtlichen Unfug auf den Straßen mit Erfolg an. Oft ging der Pfarrer in einen Mantel gehüllt und eine geschlossene Laterne in der Hand in die Kunkelstuben3Spinnstuben oder an die Stelldicheinplätze, leuchtete unversehens hinein und hieß die jungen Leute auseinander und nach Hause gehen. An dem Bürgermeister hatte er dabei eine gute Stütze, dieser ließ bessere Wache halten und verbot die Kunkelstuben. Zugleich drohte der Pfarrer von der Kanzel mit Ausschließung aus der Kinderlehre und wehrte jedem Zuwiderhandelnden in öffentlicher Gemeinde bei Taufen Patenstelle zu vertreten, was den betreffenden Familien eine Schande gewesen wäre. Diese Maßregel wirkte und wenn Härter später den Rundgang durch die Dorfgassen machte, sah er selten etwas Verdächtiges auf denselben; nur einmal hörte er aus einem Hause spottende Rufe. Die große Mehrheit der Gemeinde war ihrem beherzten Pfarrer dankbar für die eingeführte Ordnung, die Bürgerwache wurde wieder ordentlich bezogen, der Besuch der Spinnstuben hatte ein Ende und auch die in Wegfall gekommenen Wirtshausordnungen wurden von dem Bürgermeister strenge gehandhabt.

Seine medizinischen Kenntnisse wusste Härter ebenfalls in Sttenheim zu verwerten. In dringenden Notfällen achtete er weder Mühe noch Anstrengung, wenn es galt, in Abwesenheit des weit entfernt wohnenden Arztes den ersten Rat zu erteilen und dann die Pflege des Kranken zu leiten. Manche Nacht verbrachte er an Krankenbetten. Sein Scharfblick, seine praktische Tätigkeit und Ausdauer erzielten manche ärztliche Erfolge. Er heilte selbst einem jungen Mädchen den schwarzen Star. Als 1874 Vater Härter zu Grabe getragen werden sollte, kam eine 70jährige Bäuerin und erzählte, dass sie es sei, welche dem Heimgegangenen das Tageslicht wieder verdankte. Wie viel geistig Blinden hat er, durch Gottes Gnade, später den Star stechen dürfen! Auch bei einem taubstummen Knaben brachte er es mit unendlicher Geduld dahin, dass er nach und nach deutliche Töne hervorbringen und wohl schwach lesen und schreiben erlernen konnte.

Alle diese verschiedenartigen Dienstleistungen, welche er unentgeltlich tat, gewannen ihn auch die feindlichsten Gemüter und die ganze Gemeinde erkannte, dass ihr Pfarrer, dem Beispiel seines Herrn und Heilandes folgend, zu ihnen gekommen war, nicht dass er sich dienen lasse, sondern dass er Allen, Reich und Arm, in herzlicher Liebe diene.

Härter an der Neuen Kirche.

Am 31. Mai 1829 wurde Härter der zahlreich versammelten Neukirch-Gemeinde als ihr nunmehriger Seelsorger vorgestellt und eingesegnet. Seine Antrittspredigt behandelte die Schriftstelle Joh. 15,26.27. Das Konsistorium dieser Kirche hatte ihn ohne sein Wissen und Willen ernannt und die Oberbehörde diese Wahl bestätigt. Härters Wunsch war nie nach einer Stelle in der Stadt, ihn gelüstete nicht nach dem, was man Ansehen in den Augen der Menschen nennen kann, er wollte draußen in seiner Gemeinde, welche er liebte und die ihn auch liebte, ein verborgenes Leben führen in treuer Pflichterfüllung und mit der Sehnsucht, bald mit seiner Gattin wieder vereinigt zu werden. Doch in Gottes Rat war es anders beschlossen. Er musste aus seiner ruhigen Stellung, in welche er eingewöhnt war, hinaus in ein viel bewegtes Leben, in einen Kampf, der für manchen andern verderblich hätte werden können, aber ihm selber und der protestantischen Christenheit Straßburgs und weit über dessen Grenzen hinaus zum Segen ward. Härter betrachtete den Ruf nach Straßburg als eine göttliche Fügung, ohne zu ahnen, welche Wendung derselbe seinem ganzen Leben geben werde. Wohl fürchtete er, wegen einer fortwährenden Heiserkeit der Gemeinde nur eine Last, statt eine Hilfe zu werden, aber auf den Rat treuer Freunde, welche hofften, dass er in der Nähe von ärztlicher Behandlung werde genesen können, hatte er die Stelle angenommen, und als der neue Wirkungskreis ihm geöffnet war, griff er mit der Treue und dem Eifer, welche bisher sein Tun geleitet, zur Arbeit und fühlte sich auch bald in seiner Gesundheit gestärkt und gekräftigt.

Seine ersten Predigten in der Neuen Kirche erwarben ihm bald das allgemeine Zutrauen, und viele Familien begehrten ihn zu ihrem Seelsorger, zum großen Verdruss länger im Amte stehender Kollegen, im Gegensatz zu der stets wachsenden Liebe der Gemeinde. Härter blieb sich gleich, freundlich gegen seine Amtsbrüder, unermüdet in seinem Dienst. Von Sonntag zu Sonntag, sowohl in den Amts- als Abendpredigten, sowie auch in den „Frühgebeten“ und in den Wochenstunden wuchs die Zahl seiner Zuhörer. Es geschah oft, dass eine halbe Stunde vor Öffnung der Kirchtüren hunderte dieselben umstanden und sich dann hineindrängten, aus Furcht, keinen guten Sitzplatz zu finden. Jeder andere junge Pfarrer wäre stolz darüber geworden und hätte diesen Erfolg seiner Beredtsamkeit und Gelehrtheit oder gar seiner Liebenswürdigkeit zugeschrieben, aber nicht so Härter. Während er gesucht und gefeiert wurde, kam er sich selber klein und unbedeutend vor, er fühlte sich unglücklich, und oft nach einer Predigt, welche er nicht ohne tiefen Eindruck auf seine Zuhörer gehalten, überfiel ihn die Furcht, selbst verwerflich zu sein und unvermögend, bei allem guten Willen, Gott zu dienen und die Gemeinde auf den Weg des Heils zu leiten; ihr den Frieden zu predigen, während er selber keinen Frieden hatte. Er fühlte, wie er nachher einsah und auch seinen Freunden bekannte, dass ihm etwas fehlte, nämlich die rechte Freudigkeit in Gott; er war in seinen jungen Jahren lebensmüde, hatte ein Heimweh, das ihn nach oben zog; er wäre gerne am Abend eingeschlafen, um am Morgen nicht mehr für das Leben zu erwachen.

Endlich, nach zehnmonatlichem Gebet nach der wahren Weisheit, deren er so sehr bedurfte, kam er zur Überzeugung, dass in Christo, dem Heiland der Welt, allein Leben und Seligkeit zu finden ist, und diese gottselige Erkenntnis trieb ihn, statt nur das Gesetz, das er bisher mit Vorliebe gepredigt, die frohe Botschaft von dem Herrn Jesu, dem Anfänger und Vollender unseres Glaubens, zu verkünden und in der Liebe des Gesetzes Erfüllung offenbar zu machen.

In seiner Predigt am Trinitatissonntag 1831 sprach Härter vor den Tausenden, die sich unter seine Kanzel versammelt hatten, von dem Kampf, den er in seinem Glaubensleben gegen eigene Gerechtigkeit und gegen Alles, was Welt heißt, geführt hatte. Dieses Bekenntnis war ein nie dagewesenes Ereignis in der Neuen Kirche, es weckte einerseits mehr Anhänglichkeit und Zutrauen zu dem geliebten Lehrer, andererseits Widerspruch, Spott und Feindschaft. Härter aber, in seinem Glauben nur noch fester geworden, fuhr fort, das damals neu auf den Leuchter gestellte Evangelium von dem Sünderheiland zu predigen und zu bezeugen, dass Jesus Christus gekommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen.

Härters Predigten.

Härters Predigten, welche hin und wieder im Druck erschienen sind und in manchen Familien als Kleinodien unserer Kirche aufbewahrt werden, sind ein Beweis der Kraft und Eindringlichkeit seines evangelischen Zeugnisses. Es sind unter Andern:
Stephanus (1832), Die Unbekanntschaft mit Jesu (1834), Das Weltgericht (1835), Pharisäer und Zöllner. Das Geheimnis des Grabes (1836), Die richtige Erziehungsweise (1837), Das Vater Unser in seiner Anwendung. Ich und mein Haus (1839). Die Sonntagsfeier (1840), Die Nachfolge Christi (1842). Der Glaube ein Bedürfnis für die Schule. Die enge Pforte (1843). Die Herrlichkeit des Sohnes Gottes. Der gute Rat für Alle, die nach dem ewigen Leben fragen (1844). Der wahre Bekenner Jesu Christi (1846). Die Sammlung des Volkes Gottes (1847). Die Rechtfertigung (1848). Das göttliche Ansehen der Bibel (1852). Beinahe ein Christ. Gesetz und Evangelium (1855). Predigten über die göttliche Gnadenordnung (1865-1869).

Eine größere Sammlung von Härters Predigten wurde vorbereitet, aber die Zeitereignisse der 50er Jahre waren für den Druck und den Verkauf von Predigten, selbst der besten, nicht günstig.

Es ist kaum zu fassen, woher Härter bei einer treuen Seelsorge von 3 bis 4000 Seelen, bei den vielen Krankenbesuchen, Taufen, Vermählungen und Beerdigungen, bei seinen unzähligen Predigten und Gelegenheitsreden, bei den vielen Kommiteesitzungen der verschiedenartigen Werke, Zeit und Kraft nahm, ohne unter der Last der Arbeit zu unterliegen. Die Liebe Christi trieb ihn und in derselben achtete er keine Mühe und Arbeit zu groß, um sich derselben zu entziehen. Er bezeugte immer und immer wieder, dass in Christo nur der Glaube gelte, welcher durch die Liebe tätig ist; dass nur der Baum ein guter zu nennen ist, welcher gute Früchte hervorbringt. Er trennte nicht Glaube, Hoffnung und Liebe, aber die sich hingebende Liebe im Dienste des Herrn, besonders an leiblich und geistlich Armen, hatte in sein Herz unauslöschlich die Frage eingeprägt: „Das tat ich für dich, was tust du für mich?“

Es wäre Härter ein Leichtes gewesen, sich zu einem Parteihaupt zu erheben und einen selbständigen Anhang zu gewinnen; aber er war jeder Parteiung und Sektenwesen fremd und unzugänglich; er diente als ein treuer Knecht Gottes seiner Kirche, um in ihr das Leben in Christo zu wecken und zu erhalten, dahin zielte all sein Wirken; niemals hat er darnach getrachtet, ein Kirchlein in der Kirche zu bilden, wie ihm solches oft von seinen Gegnern vorgeworfen, oder von seinen Anhängern zugemutet wurde.

Härters Predigten waren einfach und klar, ergreifend und überzeugend, sie waren sorgfältig vorbereitet, in einem klaren, das Einzelne umfassenden, in formeller Hinsicht mustergültigen Plan niedergelegt, dem er den bezeichnenden Namen „Wiederholung“ gab, Alles nach richtigem Maß in Form und Gedankengang. Seine Taufreden schmeichelten nicht den betreffenden Familien, sie waren nicht auf Rührung berechnet, z. B. durch Erwägung der Freude, mit welcher die längst verstorbene Elternmutter der heiligen Handlung beiwohnen werde, wie der eine oder der andere Pfarrer zu tun pflegte. Bei Vermählungen deutete er der Versammlung die hohe Wichtigkeit der Ehe für Zeit und Ewigkeit und in seinen Leichenreden machte er die im Sarge Liegenden nicht zu Heiligen neuerer Art. Die Personenfrage war ihm fremd; aber jeder Zuhörer konnte seinen Teil nehmen und das Gesprochene für sich anwenden. Wenn Härter es aber für notwendig erachtete, konnte er auch die Zuchtrute des Gesetzes anwenden und von Gottes Gerechtigkeit reden, welche sich nicht spotten lässt. So erinnert sich Schreiber dieses einer seiner Leichenreden aus den 40er Jahren. Härter war um eine Mitternacht aufgeweckt und zu einem Sterbenden gerufen worden, welcher noch nach einem Pfarrer begehrte. Der Mann war Wirt eines schlechten Hauses, hatte auf dem Schiltigheimer Messtisch an dem Tage herumgetrieben und lag nun vom Schlag getroffen. Härter tat, was seines Amtes war, in Beisein der liederlichen Sippschaft des Hauses. Zwei Tage nachher begleitete er die Leiche zur Kirche, das große Gefolge bestand aus Männern von zweideutigem Aussehen; ein betrunkenes Weib, von einem Trotz Buben gehegt, wollte durch die Reihen durchdringen und stürzte zwischen dem Pfarrer und den Trägern des Sarges zu Boden, ein Militär packte dasselbe und schleuderte es in eine Ecke. Ebenso war die Kirche mit zahlreichem Gesindel angefüllt, welches ohne Achtung im Heiligtum schwatzte und lachte; dabei war ein schreckliches Gewitter aufgestiegen, der Sturm rauschte, dass die Fenster klirrten, der Donner rollte, Blitze erhellten das Dunkel der Kirche und Härter stand wie ein Prediger in der Wüste auf seiner Kanzel und predigte über die Worte: „Hernach aber das Gericht!“ in einer Mark und Bein durchschauernden Weise, dass das Lachen in Zähneklappern überging und alle sich beugen mussten vor dem Herrn, der im Sturme mit ihnen redete.

Eine andere Predigt wäre fast für Härter selber Anlass zu einer Strafe geworden. An einem Fastnachtsonntag am Ende der 40er Jahre, nach einem während der Nacht zuvor abgehaltenen, sogenannten „Armenball“, hatte Härter die Amtpredigt; in derselben besprach er die Vergnügungssucht, die in diesem Jahre der Teuerung und der allgemeinen Not sich besonders breit gemacht und erzählte von einem Handwerksmann, der mit seinem Gesellen bei der Zurüstung im Theatersaale tätig gewesen. Es wurde beiden erlaubt, von einer oberen Loge heraus dem tollen Treiben zuzusehen. „Sieh, sagte der Meister zu seinem Arbeiter, was diese vornehmen Leute sich so viel Mühe geben, sich die Nachtruhe nehmen, wie sie keuchen und schwitzen und sich müde tanzen, sich freiwillig Erkältungen zuziehen und den größten Teil des Sonntags verschlafen, um euch Armen zu helfen und ihr dankt so wenig für das, was sie aus Barmherzigkeit für euch tun.“ – „Barmherzigkeit? erwiderte der Bursche, mit Ingrimm die Faust ballend, solcher Barmherzigkeit möge der Böse danken und sie dafür belohnen!“ Diese Predigt war ein Donnerwort für viele Zuhörer. Als sie aber geendet, das Gebet und der Segen gesprochen und Härter in die Kirchenstube trat, sah er nur drohende Blicke; der Präses des Kirchenrats forderte ihm das Manuskript seiner Predigt ab und zwei Tage nachher stand er vor dem wohllöblichen Kirchenregiment, unter der Anklage, die verschiedenen Stände der Gesellschaft gegen einander aufzuhetzen. Einer der geistlichen Herren ging soweit, anzutragen, dass Härter der weltlichen Obrigkeit solle überantwortet werden als Anstifter zu Zwietracht und Aufruhr. Doch soweit trauten die Herren doch nicht, Härter verteidigte sich und ging mit der gnädigen Ermahnung, ein andermal klüger zu sein, gerechtfertigt nach Hause.

Aber mit diesem Spruch war nicht Jedermann zufrieden; acht Tage später wurde mit selbstzufriedenem Lächeln auf der Neukirchkanzel der Satz aufgestellt: „dass ein Christ die Freuden, welche die Winterszeit ihm darbietet, genießen darf und soll, mur möge er es tun mit heiterem Geist, mit belebenden Geist, mit für die Freude empfänglichen Geist und mit betendem Geist; mit dieser Begleitung möge er ruhig hingehen und mit den Fröhlichen froh sein, dem Reinen ist ja Alles rein.“

Am nämlichen Sonntag, zur gleichen Stunde, stand Abbe Mühe, der berühmte Volksredner, auf der Münsterkanzel und geißelte den „armen Armenball“ und dessen Genossen mit noch viel derberen Peitschenhieben und Niemand wagte es, ihm nur ein Haar zu krümmen!

Härters Familienleben.

Wir haben den verehrten Pfarrer und Seelsorger in seinem Amt an der Neukirchgemeinde gesehen, haben uns von seiner Predigt vom Kreuz und vom Heil in Christo belehren, ermahnen, trösten und wohl auch züchtigen lassen; nun wollen wir ihn auch in seinem Haus besuchen, aus welchem ein heiliger Ernst uns entgegen weht. Seine erste Gattin haben wir kennen gelernt und sind mit dem gebeugten Witwer und seinen zwei zarten mutterlosen Kindern am Ostersonntag 1828 an ihrem Grab gestanden und sind dann mit ihm in die Stadt gezogen. Bei aller Trauer um die Geliebte sah Härter aber bald ein, dass er, seines Amtes wegen, seinen Kindern eine Mutter, sich selber eine Gehilfin und seinem Haus eine Wirtschafterin wieder geben müsse; diese fand er in Friederike Dorothea Rausch, einer Jugendfreundin seiner heimgegangenen Gattin. Den 30. März 1830, zwei Jahre nach jenem Karfreitag, wurde diese Ehe an dem Altar der Neukirche eingesegnet.

Hochzeitsreisen waren damals noch nicht üblich; aus der Kirche ging die junge Frau hinüber in ihre neue Wohnung, ließ sich von den Kindern mit Staunen ansehen, zog sie zu sich, setzte sie auf ihren Schoß, küsste sie und sagte herzlich „ich bin nun eure Mama“. Dem Gatten und den Kindern wurde und blieb sie auch die liebende Gehilfin und Mutter im vollen Sinn des Wortes. Die Erinnerung an die erste Gattin suchte sie nicht aus den Herzen zu verdrängen, sie war ja mit derselben von Kindheit an aufs innigste verbunden gewesen und ihr Streben ging dahin, sie würdig zu ersetzen. Mit warmem Herzen und mit klarem Verständnis übernahm sie ihre Pflichten und übte sie mit Marthasinn und Marienliebe. Als würdige Pfarrfrau besuchte sie die Kranken, sorgte für die Armen, empfing freundlich, in Abwesenheit ihres Mannes, die vielen Besuche, welche in ihren verschiedenartigen Anliegen seelsorgerlichen Trost, Hilfe und guten Rat suchten. Niemand verließ das Haus, ohne wenigstens mit der Einladung wiederzukommen, wenn zu der und der Zeit ihr Gatte zu Hause sein werde.

Wehe tat es ihr in ihrem innersten Herzen, wenn ihr Mann verkannt und verleumdet wurde. „Ich kann Alles ertragen,“ sagte sie oft zu demselben, „nur nicht dass man über dich spottet und dich für einen Verrückten hält.“ – „Meine Liebe, antwortete er ihr dann tröstend, das verstehst du nicht.“ Sie lernte es aber bald verstehen, als auch an ihrem Herzen das Evangelium sich als eine Gottesmacht bewährte und sie stark machte, mit Freudigkeit die Schmach Christi zu tragen und in ihrem ganzen Wesen sich als eine treue Jüngerin zu beweisen.

Sie beteiligte sich eifrig an allen Werken der Barmherzigkeit, welche ihr Gatte gegründet oder an denen er arbeitete. Einen fleißigen Frauen-Arbeitsverein für Arme und für Mission hatte sie in ihrem Haus gegründet; der Mägdeanstalt war sie besonders zugetan. Das Beispiel ihres Gatten, der bei seiner nicht starken Gesundheit sich selbst verleugnete, wo es galt zu wirken, trieb auch sie an, im Dienste des Herrn zu arbeiten, so lange es Tag für sie war.

Das oft wiederkehrende Halsleiden ihres Mannes bereitete ihr manchmal heimlichen Kummer. Dasselbe erschwerte ihm oft das Predigen in der großen ungeheizten Kirche. Obwohl sie ihn zuweilen zurief: „Schone dich“, ließ er sich nur im äußersten Notfall von einem Amtsbruder ersetzen. Zuweilen predigte er sich gesund, doch manchmal kam er auch sehr entkräftet, selbst krank nach Hause; einmal schon unwohl, trotz aller Bitten seiner Gattin, sich nur diesmal vertreten zu lassen, vollzog er dennoch eine Trauung, aber eine heftige Lungenentzündung wurde der Lohn seiner Treue.

Solche Prüfungen erstarkten und läuterten den Glauben der lieben Pfarrfrau. Härter sagte oft: an seiner ersten Gattin habe er das Ideal wahrer Weiblichkeit gehabt, bei der zweiten eine heilige Liebe gefunden, die ihm selber zu großem Segen geworden ist.

Diese Ehe wurde mit drei Kindern gesegnet; einem Söhnlein, das bald nach der Geburt starb, und 2 Mädchen. Aber bald nach der dritten Niederkunft stellte sich bei der Mutter ein Brustleiden ein, welches nach und nach ihre Kräfte aufzehrte. Sie hatte noch die Freude, der Eröffnung des ersten Diakonissenhauses, im Himmelreichgässchen, beiwohnen zu können, aber von da an musste sie ihre Arbeitstreue auf das Haus beschränken; bald fühlte sie sich immer schwächer und schwächer und sah auch mit Zuversicht und ohne sich durch falschen Trost täuschen zu lassen, ihrem Ende entgegen, wusste sie doch, dass sie das Eigentum des Herrn ist, der auch für sie dem Tod die Macht genommen und sie als sein Eigentum zu sich ziehen will aus lauter Liebe.

Am 15. November 1842 sagte sie zu ihrem Gatten: „Gestern hab ich meine Kinder dem Heiland anvertraut, jetzt, heute hab ich auch dich dem Herrn hingegeben, und fühle mich nun völlig frei.“ Zwei liebe Freundinnen wohnten mit dem Gatten dem seligen Sterben bei und als ihr Atem stille stand, da senkte sich über die drei Zeugen ein wunderbarer Gottesfrieden, sie fielen auf die Knie und die sanft Entschlafene dem Herrn empfehlend, konnten sie nur loben und danken.

Härter blieb nun unverehelicht; seine drei Töchter erstarkten nach und nach, um die Leitung des Hauswesens übernehmen zu können. Der Sohn führte inzwischen eine Enkelin des ehrwürdigen Friedrich Legrand aus dem Steintal als neues Glied in die Pfarrfamilie ein; ihre Bescheidenheit verbietet uns, von dem Schatz, den sie mit ihrem frommen, heitern Sinne in das Härtersche Haus zubrachte, zu reden. Die älteste Tochter, Sophie, trat, zur großen Freude ihres Vaters, in das Diakonissenwerk ein und ist auch bis an ihren Heimgang, den 25. Oktober 1869, demselben treu geblieben. Die zweite Tochter, Elise, reichte dem würdigen Pfarrer Max Reichard, damals in Fröschweiler, die Hand und folgte demselben zuerst nach Straßburg, wo er Vikar und Helfer des ermattenden Vaters einige Jahre lang war, und später nach Posen, wo er die Würde eines Konsistorialrats mit Segen bekleidet; die dritte, Marie, blieb als Hausmütterlein bei ihrem Vater und war demselben eine treue Pflegerin bis an sein Ende. Sie selber aber durfte den 22. März 1887 zu ihres Herrn Freude eingehen.

Es war von jeher ein schönes Familienleben im Härterschen Pfarrhaus. Alle Glieder desselben verstanden und liebten sich sehr; das Wohl und die treue Pflege des lieben Vaters war ihre Hauptsorge, welche er ihnen mit großer Liebe entgalt.

Härter selbst führte eine sehr geregelte Lebensweise; jeder Tag war geordnet nach weisem Plan, gleich einem richtigen Uhrwerk. Um halb fünf jeden Morgen stand er, so lange er gesund war, auf. In den zwei ersten Morgenstunden beschäftigte er sich mit Gebet und der Betrachtung des Wortes Gottes, auch wohl mit Predigtplänen. Die Hausandacht sammelte nach 7 Uhr sämtliche Familienglieder zum Lesen der Losung der Brüdergemeine, eines Abschnitts der Bibel, zum Singen einiger Liederverse und zu kurzem Gebete auf den Knien mit Vaterunser und Segensspruch nach einer von Härter herausgegebenen Anleitung zu einer gesegneten Hausandacht, welche heute noch in vielen Familien gehalten wird. Nach dem gemeinschaftlichen Frühstück ging Jedes dann an seine Tagesarbeit. Härter hatte für die Morgenstunden den Unterricht der Konfirmanden und der Konfirmierten, auch Religionsstunden in einem Töchterinstitut. Das einfache Mittagsmahl vereinigte wieder alle um den Vater, der dabei nie Wein, sondern nur frisches Wasser trank. Einladungen zu Tisch hat er nie angenommen. Bei dieser schlichten Diät wurde seine Gesundheit nicht nur erhalten, sondern wunderbar gestärkt. Von ein Uhr an hatte er seine Sprechstunde für Reich und Arm, Vornehm und Gering. Mit ruhigem Ernst hörte er Alles, was gedrückte und bekümmerte Herzen ihm anvertrauten, an, sprach den Schwachen Mut zu, tröstete die Leidtragenden, stützte die Sinkenden, richtete die Gefallenen auf und mit Mühseligen und Beladenen, auch mit reuevollen Sündern, kniete er zum Gebet hin und erflehte von dem Heiland, der gekommen ist, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, den Segen und den Frieden, der höher ist als alle Vernunft.

Nach drei Uhr begannen seine Besuche an Krankenbetten und sonst wo man seines Amtes begehrte; im Diakonissenhaus fehlte er an keinem Tage! nie versäumte er eine Kommiteesitzung; ließ sich sehr selten bei Begleitungen auf den Kirchhof ersetzen. Es waren dieses seine einzigen Gänge in der Stadt; spazieren gehen hat man ihn nie gesehen, auch kümmerte er sich nicht um die Händel der Welt, das Lesen der politischen Zeitungen nahm ihm keine Zeit weg und doch kannte er die Zeichen der Zeit und beurteilte Gottes Wirken in den Begebenheiten nach richtigem Maß. Um 7 Uhr konnte man ihn wieder in seinem Studierzimmer mit Lesen oder Schreiben beschäftigt sehen und um 9 Uhr wurde das Tagewerk des Hauses mit der Abendandacht geschlossen, an welcher Niemand fehlen durfte.

Nur der Sonntag brachte nach mühevoller, oft sehr schweren Woche dem treuen Arbeiter in seinen Abendstunden Ruhe und Ausspannung im Kreise seiner Lieben. Da wurden seine Lieblingslieder mit Harfe oder Klavierbegleitung gesungen, es wurde aus christlichen Zeitschriften gelesen und das Wichtigste der Erlebnisse während der Woche mitgeteilt und besprochen.

So war Härter seiner Familie Kern und Stern, denen, die ihm näher standen, ein leuchtendes Vorbild und als Geistlicher ein Mann nach dem Herzen Gottes.

Härters Wirken und Werke.

Nicht nur durch das gesprochene und geschriebene Wort, sondern eben so sehr durch die Werke der Liebe, welche von dem Glauben Zeugnis geben, wirkte Härter vieles, ja das unglaublichste. Reich ausgefüllt war durch dieselbe sein Tagewerk und von ihm konnte gesagt werden: „An den Früchten sollt ihr sie erkennen“, und das Andere: „Ihre Werke folgen ihnen nach.“

Härters Tatkraft wurde bald nach seiner Verlegung nach Straßburg bekannt und anerkannt. Die Verwaltung der Neuhofanstalt fühlte am ersten, schon im Jahre 1831, seinen hohen Wert im Ordnen bestehender Verhältnisse. Diese Anstalt für arme verlassene Kinder war neun Jahre zuvor gegründet und bis dahin gut geführt worden. Die Leiter derselben waren aber „alt“ geworden, nicht nur an Jahren, sondern auch in ihren Ansichten und so fühlten sie selber, dass zum Wohl der Anstalt jüngere Kräfte müssten angeworben werden; diese fanden sie in Härter und Cuvier. Der letzte wurde zum Vorsitzenden ernannt und blieb es bis 1870. Härter dagegen war nur 8 Jahre lang Mitglied der Verwaltung, bis er einsah, dass dies Werk in neugeordnete Bahnen eingetreten und er bei der ferneren Leitung überflüssig sei. Er blieb aber noch während 10 Jahren Seelsorger der Anstalt, bis auch da andere tüchtige Männer dieses Amt übernahmen.

Härter war wohl nicht der Gründer der Evangelischen Gesellschaft von Straßburg, aber doch einer ihrer ersten Förderer Wir werden derselben einen besonderen Abschnitt widmen. An ihrem Stamm setzten sich nach und nach eine Niederlage christlicher Schriften, Lesesäle für Handwerker zur guten Verwendung ihrer Sonntagabende, eine christliche Leihbibliothek, Kolportage, Reisepredigt, ein Landverein, als fruchtbringende Zweige an, Außerdem betrieb diese Gesellschaft manche andere Werke zeitweise je nach deren Dringlichkeit.

1835 entstand unter Härters Mitwirkung die Straßburger Evangelische Missionsgesellschaft für Paris und Basel mit dem Zweigverein der Freunde Israels, welche beide heute noch in Segen wirken.

Angeregt durch den gesegneten Erfolg dieser 3 Werke, wurden nicht ohne Widerspruch gegen dieselben drei Andere gegründet, dem Neuhof gegenüber, die Blessigstiftung; der Evangelischen Gesellschaft, die Evangelisationsgesellschaft; dem „Kapellen-Missionsverein“, die kirchliche Missionsgesellschaft. Aber diese Gegensätze schadeten sich nicht, jedes dieser sechs Werke bahnte sich die eigene Straße für seine Wirksamkeit, und das, was die Gegengründer anfangs bezweckten, hat sich in gegenseitigen Wetteifer für das Wohl der Kirche und des protestantischen Christenvolkes klar gelegt.

Härter war lange Jahre Mitglied der Verwaltung der Straßburger Bibelgesellschaft und der Privatarmenanstalt. Er sammelte einen Männerverein, der unter seiner Leitung zur Gesellschaft der Armenfreunde anwuchs, welche besonders kranken Familienvätern ihre Unterstützungen zuwendet. Nach dem Vorbild desselben wurde auch ein Frauenverein gegründet, welcher die Pflege armer kranker Frauen sich zur Aufgabe macht.

Diesen folgte das Entstehen einer Mägdeanstalt zur Erziehung guter Dienstboten, ein Magdalenenstift für Gefallene, eine Bewahranstalt für kleine Kinder, deren Mütter ihrem Brot nachgehen müssen; ein Versorgungshaus zur Pflege alter, alleinstehender Personen, eine Besserungsanstalt für junge weibliche Sträflinge, eine Lehranstalt „Zum Guten Hirten“ zum Unterricht von Mädchen und zur Bildung von Lehrerinnen. Diese sechs Anstalten wurden nach und nach mit dem Diakonissenwerke vereinigt.

Alle diese Werke zum Wohle des leidenden Teiles unserer Kirche verdankten teils ihre Gründung, teils ihre Fortführung der Tatkraft Härters und bewahren heute noch sein Andenken im Segen.

Ein größeres Denkmal setzte sich Härter durch die Gründung des Diakonissenwerkes, das eine Zierde unserer elsässischen Evangelischen Kirche ist. Aus seinen älteren Schülerinnen hatte er die tüchtigsten zu einem Jungfrauenverein gesammelt, zur weiteren geistigen Fortbildung; aus diesem Kreise erwuchs der engere Verein der „Dienerinnen“, welche sich dem regelmäßigen Besuche alter, kranker Frauen widmeten und denselben neben leiblicher Unterstützung Gebet und Gottes Wort brachten. Aus diesem Schwesternbunde traten 1842 drei Jungfrauen aus und wurden die Erstlinge der Diakonissen in diesem Werk der Barmherzigkeit.

Wir können hier nicht in die nähere Geschichte der Gründung und der gesegneten Fortentwickelung des Diakonissenwerkes eingehen. Es wurde trotz manchen Einwendungen, trotz manchen enttäuschten Vorhersagungen und mancher Hindernisse, nicht nur lebensfähig geboren, sondern heute, nach Bestehen und Wachsen während fast fünfzig Jahren, ist dasselbe, groß und anerkannt,

Zeuge dessen, was frommer Glaube verbunden mit der göttlichen Liebe, wirken kann. So lange es sein wird, ist Härters Name eng mit ihm verbunden; dessen Wohl war seines Lebens Hauptaufgabe und der Herr hat dasselbe reich gesegnet und wird es auch zum Heile der kommenden Geschlechter in Gnaden bewahren vor allem Übel, das es treffen könnte.

Über diesem vielseitigen Wirken versäumte Härter aber nicht seine Neukirchgemeinde, in welcher die Erziehung der Jugend eine Hauptaufgabe seiner Tätigkeit war. Die Jahrhunderte alte „Kinderlehre“ war fast in Wegfall gekommen, einer seiner Kollegen wollte unter allerlei Einwänden dieselbe ganz abschaffen. Härter nahm die Leitung eines neugeordneten Jugendgottesdienstes in die Hand, bestellte Jungfrauen und Jünglinge zu Gehilfen und Aufseherinnen je einer Abteilung und sammelte bald Hunderte von Kindern zum Segen Vieler. Wer ermisst aber die Fülle des Wohltuns, welche er seiner Gemeinde durch seine Predigten, seine Abendmahlsreden, seine Besuche an Krankenlagern und an Sterbebetten dem Herrn zur Ehre und zum Heile der Seelen als treuer Knecht seines hohen Meisters und als guter Verwalter der himmlischen Gnadengüter austeilen durfte?

Wir wollen nicht mehr über seine Amts- und Vereinstätigkeit berichten; einem Schriftsteller, der nicht gerade zu Härters Freunden zählte, wollen wir das Urteil überlassen. Da Härter, schreibt Wehrhan, von welchem wir im nächsten Artikel noch reden werden, in seiner „Umschau“, wenig für das größere Publikum schriftstellert, sondern ganz seinem Amte und einer allgemeinen christlichen Tätigkeit lebt, so ist sein Ruf in der Ferne schwächer als Vieler, die weit unbedeutender sind; aber man muss in seine Atmosphäre kommen, um zu sehen, in welchem Ansehen er steht.“

Eine andere Beurteilung Härters finden wir im „Lebensbild von Friedr. Theod. Horning, weiland Pfarrer an Jung St.Peter“, wie folgt: „Es war damals, anfangs der dreißiger Jahre, die Zeit eines geistlichen Frühlings ins Land gekommen. Nach dem langen, erstarrenden Winter des herrschenden Rationalismus hatte der Herr durch sein Wort wieder gläubige Männer und entschiedene Zeugen Christi geweckt, die, mit Gaben des Geistes ausgerüstet, durch Mund und Schrift Christum freudig bekannten.“ „Zu Straßburg war Pfarrer Härter in der Neuen Kirche mit warmem Herzen und frischem Mut aufgetreten, und hatte durch seine beredten Glaubenspredigten dem christlichen Leben einen mächtigen Aufschwung gegeben. Aus eigener Herzenserfahrung verkündigte er Den, der unsre Gerechtigkeit ist. Die geräumige alte Dominikanerkirche konnte die Zuhörer kaum aufnehmen. Aus der ganzen Studt strömte die Menge Derer zusammen, die noch ein Ohr für das alte Evangelium hatten; und auch Solche, die bis dahin die Sorge um ihr Seelenheil nicht kannten, wurden angeregt, nach dem Wege des Lebens zu fragen.“

Härters Freunde und Mitarbeiter.

Obgleich Härter nie Anstandsbesuche machte, keine Einladungen annahm und überhaupt sich um die Freundschaft der Welt wenig kümmerte, hatte er doch sehr viele Freunde und Anhänger, welche nicht nur mit Achtung, sondern auch mit großer Liebe an ihm hingen und sich für seine Werke lebhaft interessierten. Solche fand er auch außerhalb Straßburgs, im Oberrhein, in der Schweiz, in Paris, als er die zur Gründung des Diakonissenhauses nötigen Geldmittel sammelte. Er war etwas zaghaft hinausgewandert in eine bis jetzt in dieser Hinsicht ihm unbekannte Welt; bis dahin hatte er für seine Armen und seine ersten Werke nicht großer Summen bedurft, auch keine gefordert, aber nun sollte er solche suchen, doch ihn begleitete der Trost, dass der Herr ihm geben werde zu rechter Stunde zu reden und dass ja dieser Gott, dem Gold und Silber gehören, dem und jenem Begüterten ins Herz geben werde, einem Werke, das die Not, sowohl die leibliche und auch die geistige berührte, zum Erstehen zu helfen. Der Herr gab ihm über Bitten und Erwarten, ließ ihn auch viele Freunde finden, die ihm in späteren Jahren noch zugetan waren. Wohl fand er auch zuweisen verschlossene Türen und Herzen, aber denen empfahl er sich für künftige Gewogenheit und ließ sich dadurch nicht entmutigen.

Er erfreute sich in Paris besonders der warmen Teilnahme der edlen Kronprinzessin Helene, Herzogin von Orleans. Sie empfing ihn mehrmals in ihrer Wohnung, spendete ihm reiche Gaben und gab ihm auch das Versprechen, wenn sie nach Straßburg kommen werde, ihn und das Diakonissenhaus im Himmelreichgässchen zu besuchen. Es sollte dies 1842 von Plombiéres aus, wo sie im Bade weilte, mit ihrem Gatten, geschehen.

Aber der Herr hatte es anders beschlossen. Die Herzogin kam nie mehr nach Straßburg.

Außerdem fand Härter auch im Lager der Katholiken Achtung und Wohlwollen. Der wohlbekannte Abbé Bautain und andere Geistliche hielten hoch von ihm und einer derselben verstieg sich in seiner Begeisterung für ihn so hoch, dass er, den römischen Maßstab anlegend, sagte, wenn Härter einer der Unsern wäre, so würde die Kirche ihn zu einem Heiligen erheben. Härter dagegen war in seinen eigenen Augen ein armer Sünder, der in Christi Blut und Gerechtigkeit sein Heil allein suchte und auch fand.

Zu seinen vielfachen Liebeswerken brauchte er aber Mitarbeiter; solche wusste er auch mit seltener Forschungsgabe mit Gottes Hilfe zu treffen. Wenn er dafür eine männliche oder weibliche Kraft nötig hatte, so suchte er sie und fand sie auch bald. Zeuge davon der schöne Kranz edler, tüchtiger, glaubensstarker Frauen, welchen er um sein Diakonissenwerk wand, die ehrwürdigen aufopfernden Namen, welche in den Verzeichnissen der Verwaltungsmitglieder seiner Gründungen sich finden, die hunderte von Diakonissinnen, welche, nach wohlbestandener Probezeit, in den Dienst der Armen und Kranken sich stellten, davon Viele vor Härter heimgegangen sind. Obwohl er bei Allem die Seele des Ganzen war, so wollte er doch nie auf die Beratungen das Gewicht seiner Erfahrung und seiner anerkannten Einsicht legen, sondern er sagte dabei bescheiden wie er die Sache ansehe und überließ den Beisitzenden die Entscheidung.

Bei der Wahl seiner Mitarbeiter und -arbeiterinnen bekundete er eine klare, gesunde Menschenkenntnis; er stellte die, auf welche er sein Augenmerk lenkte, nicht gleich auf die oberste Stufe, um sie mit der Ehre, dieser oder jener Verwaltung anzugehören, zu locken, er führte sie zuerst hinunter, gab ihnen einfache Arbeit; die, welchen dieses nicht gefiel, zogen sich bald zurück und entschuldigten sich mit Nichtkönnen und Nichtzeithaben; nur die vom Herrn Erkorenen blieben am Tagewerk und achteten nicht die Mühe und die Opfer, welche es begehrte.

So trat Härter einmal vor 46 Jahren in die Stube eines einfachen jungen Bürgers, mit dem er nie gesprochen, dessen Name ihm bloß genannt worden war. Er sprach zuerst von etwas Gleichgültigem, von dem Knaben des Hauses, welcher die Diakonissenschule besuchte, und rückte dann mit der Frage heraus, ob er nicht an der Aufsicht an den von der Evangelischen Gesellschaft gegründeten Lesesälen für Handwerker, sich beteiligen wolle; eine bescheidene, nicht lohnende Arbeit mit Aufopferung der Sonntagabende. Der Befragte nahm sie nicht nur an, sondern treibt sie heute noch und andere wichtigere Arbeiten wurden seitdem hinzugetan und nicht als Last sondern mit Lust getragen bis das Ruhestündlein schlagen wird.

So fand Härter immer die nötige Beihilfe und dass er das richtige getroffen, beweist der Fortgang und die stete Entwicklung aller der Werke mit welchen sein Name verbunden ist und die heute noch in seinem Geiste fortgeführt werden.

Härter und seine Gegner.

Gegner? Konnte dieser Mann solche haben? Fast unglaublich, und dennoch wahr! Härter hatte manche Gegner, in der Nähe mit spitzer Zunge und bösen Reden, in der Ferne mit Schrift und Wort, im Amte mit Drohen, Verwünschungen und Schmähworten. Wie konnte es auch anders sein? Ein Mann, der um eines Hauptes Länge alle andern überragte, konnte nicht ohne Anfechtung sein, wie sehr er auch sich niederhielt und seiner Größe keinen Wert beilegte. Schon 1835 griff ihn ein angeblich wegen seiner Glaubensrichtung entlassener schlesischer Pfarrer, der vorhin genannte Wehrhan, an, der in einer mit Härter verbundenen Familie gastliche Aufnahme gefunden hatte. In seinem Buche, „Die Umschau“, warf er Härter vor, Seligkeit durch gute Werke zu predigen und verwies ihm, dass er in seinem kirchlichen Verhalten nichts weniger als Lutheraner sei, dass er mit vielen Reformierten in freundschaftlichen Verhältnissen stehe und in der Bruderliebe zwischen diesen und den Lutheranern keinen Unterschied mache.

Auch Diemer, der treue Gefängnisprediger, Verfasser der Schriften: „Stimmen eines Lutheraners“, „Zuruf an meine Brüder im feurigen Ofen“, „Aufruf an alle lutherischen Missionsfreunde im Elsass“, in welcher er für Rechtgläubigkeit warm eintrat, schloss sich nicht an Härter an.

Oster, Missionar für Israel in Metz, ergriff die Feder gegen Härter. Und doch hatte letzterer die „Augsburgische Konfession“ mit einer Vorrede über den Wert und das Wesen unserer Bekenntnisschriften mit erläuternden Anmerkungen herausgegeben; wobei Theologen jener Zeit gestanden, dass sie die Konfession vor Erscheinen von Härters Buch kaum dem Namen nach gekannt, geschweige gelesen hätten.

Ein Kollege Härters richtete öfters in seinen Predigten die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf das „Glaubenskissen“, welches Härter den Seelen, um träger Ruhe zu pflegen, unterlege, damit sie dem „Schlaf des Gerechten“ sich sorglos hingeben können.

Diese Angriffe gegen Härters Rechtgläubigkeit hatten sich kaum gelegt, so kamen welche von anderer Seite. Als Härter nach einer Krankheit Ruhe und Erholung in der Schweiz, auf den Rat der Ärzte, suchen musste, kolportierten seine Kollegen mit schlechtverhaltener Schadenfreude, als ein öffentliches Geheimnis, dass Härter geisteskrank sei und wohl nicht mehr die Neukirchkanzel besteigen werde.

Ein anderer Amtsbruder sagte damals dem Schreiber dieses: „ich habe wohl nur ein kleines Auditorium, aber ich verstehe es und es versteht mich. Würde ich darauf aus sein, eine große Versammlung vor mir zu haben, so müsste ich studieren und wieder studieren, um sie zusammen zu halten, und da könnte es mir gehen wie dem Härter, und dafür bedanke ich mich.“ Derselbe sagte zu einer armen Mutter, welche ihm sagte, dass sie ihren ungezogenen Knaben in die Neuhof-Anstalt tun wolle: „dazu würde ich ihr nicht raten, da draußen lernen sie nur beten, der Härter ist ja der Beichtvater der Anstalt.“

Ein anderer Geistlicher sagte zu gleicher Zeit einer andern Mutter, welche ihn um Beihilfe bat, ihr Mädchen in dieselbe Anstalt bringen zu können: „ich werde es nicht tun, da draußen füttert man bloß den Leib, aber die Seele entbehrt das Brot des Lebens in Härters Religionsunterricht.“

Auch Dr. De Valenti, welcher zur Zeit mit allen hervorragenden Geistlichen im Kampfe lag, schrieb der Verwaltung der Neuhofanstalt einen langen Brief, worin er die Ketzereien Härters, welche derselbe sollte gepredigt haben, in langer Reihe aufzählte und die Verwaltung aufforderte, diesem gefährlichen Menschen die Seelsorge der Anstalt abzunehmen. Ein Schüler von De Valentis Evangelisten-Schule, der sich in Straßburg aufhielt, hatte nämlich bei fleißigem Besuche von Härters Predigten hunderte von einzelnen Sägen herausgenommen und seinem Lehrer geschickt. „Gebt mir drei geschriebene Worte eines Mannes, sagte einmal ein Richter, und ich werde ihn verurteilen.“

In religiösen Zeitschriften wurde Härter auch oft angegriffen. Eine französische Gräfin, Frau von Gasparin, sonst eine edle, als Schriftstellerin hochgeschätzte Dame, ging so weit, dass sie in einem vielgelesenen Buch, zur Zeit da Härter den Grund zu seiner Diakonissenanstalt legte und deswegen einen Aufruf nach Frankreich ergehen ließ, ein solches Werk als unevangelisch, ja jesuitisch brandmarkte, auch hin und wieder Glauben fand und dadurch der Diakonissensache, mit welcher man sich auch in Paris beschäftigte, großen Schaden zufügte.

Nach diesen Vorgefechten wurde auch gröberes Geschütz, in Schrift und Wort, sogar von den Kanzeln, gegen Härter aufgefahren; selbst vor das Forum der Pastoralgesellschaft wurde er einmal geladen, unter der Anklage des Separatismus und der Sektiererei, indem er Bibelstunden in der Kapelle der Evangelischen Gesellschaft halte, Jünglings- und Jungfrauen-Vereine gegründet habe und dadurch den Ordnungen der Kirche zuwider handle. Es wurde ihm dabei gedroht, falls er solches nicht unterlassen werde, dass man im Namen sämtlicher Amtsbrüder bei der Behörde auf seine Absetzung antragen werde. Härter staunte ob dieser Anklage und entgegnete mit hohem Ernst: „So mir irgend Jemand von meinen Amtsbrüdern oder aus meiner Gemeinde nachweisen kann, dass meine Tätigkeit in der Evangelischen Gesellschaft mich meine heiligen Amtspflichten versäumen lässt, so will ich gerne, von heute an, dieselbe aufgeben. Weil ich aber weiß, dass solches nicht der Fall ist, so erkläre ich hiermit, dass ich fortfahren werde, auf dem Feld, das mir der Herr angewiesen hat, ihm weiter zu dienen. Nicht ich bin ein Separatist, der ich die Kirche vor Rotten und Ärgernis zu bewahren suche, ob Sie mich auch als einen solchen bezeichnen und anklagen mögen; der Unglaube aber, der die Kirche zerreißt, indem er Christum leugnet und Gottes Wort mit Füßen tritt, er allein ist Schuld an aller Separation, welche der Kirche droht. Beantragen Sie, meine Herren, wenn Sie es wagen, meine Absetzung, ich bin meines Gottes und Seiner Hilfe gewiss. Sie aber mache ich für alle Folgen Ihres Schrittes vor Gottes Richterstuhl und vor der ganzen Gemeinde verantwortlich.“

Nach diesen Worten verließ Härter die Versammlung und keiner der Herren wagte mehr, bei aller Verbissenheit, den Antrag zu stellen, der Klage bei der Oberbehörde Folge zu leisten.

Was die Welt von Härter dachte und sagte, was ersonnen wurde, um ihn auch in seinen redlichsten Bestrebungen zu verdächtigen, was in öffentlichen Blättern, in einem Anschlag an seiner Haustüre und in einem Spottgedicht von einem Amtsbruder in einem vielgelesenen Lokalblatt gegen ihn geschrieben wurde, wollen wir der Vergessenheit überlassen, mehr ist es auch nicht wert.

Manche von Härters Zuhörern sprachen ihre Bemerkungen, so wie sie es verstanden, aus. Die Einen, welche in die Kirche das Irrlichtlein ihrer Vernunft mitbrachten, sagten: „Härter verdummt die Leute.“ Andere, welche die Fackel ihrer Selbstgerechtigkeit hoch hielten, deren Gewissen aber bei einzelnen Predigtsätzen ihnen zuflüsterte: „Du bist der Mann! Dies ist der Weg, den du wandelst; auf dich ist es gemünzt!“ ärgerten sich darüber und äußerten, dass Härter die Leute verdamme! Aber beide Klassen von Hörern kamen doch wiederholt zu seinen Vorträgen, um zu sehen „was wohl Härter auf diesen Text wieder bringen werde?“ Mancher aber, den die Neugierde hergetrieben, ging mit einem Stachel im Herzen heim und merkte gar nicht dass ein Samenkorn mit hineingefallen, das früher oder später aufging und Früchte trug, wenn auch erst in der zwölften Stunde.

Es ist uns leid, den Namen eines glaubensstarken, tatkräftigen Gottesmannes, Hornings, dem unsers Härters nun gegenüberstellen zu müssen. Wanderten doch beide auf dem Wege nach Zion, nur verstand der Jüngere den Älteren erfahreneren nicht, wie es in manchen Verhältnissen des Lebens geht, und nahm nicht die Mahnung des Erzvaters Jakobs an seine Söhne zu Herzen, die wir 1 Mose 45,24 lesen: „Zankt nicht auf dem Wege!“ Es soll ferne von uns sein, zu richten über dies und jenes. Härter, der demütige Knecht, richtete auch nicht, sondern überließ dieses Amt dem Wort, das ihm zu predigen aufgetragen war. Wir wollen uns auch nicht in dogmatische Fragen einlassen, welche Andere erwägen und feststellen mögen. Nur erzählen wollen wir einfach in diesen Blättern, was wir seit bald fünfzig Jahren gesehen, gehört und miterlebt haben und auch beweisen können, im Gegensatz zu manchen Stellen in „Hornings Lebensbild“, dessen wir schon erwähnten, welche, so wie sie geschrieben sind, auf Härter ein falsches Licht werken könnten. Täuschung der Ansichten aus früheren Jahren ist es nicht, welche sich ausspricht; sondern eine ruhige Beurteilung, welche etwaige Täuschung verdrängt, wenn der Schlagbaum, welchen Moses im 90sten Psalm unserm Leben, wenn es hoch kommt, aufgestellt hat, von heut auf morgen niederfallen kann.

Wir lesen im „Lebensbilde“, S. 67, unter Anderm: „Als Pfarrer Härter auch nach Hornings Verheiratung ein gewisses Aufsichtsrecht über die bisher seinem Dienerinnenverein so treu ergebene Pfarrfrau von Grafenstaden beanspruchen wollte, fand sich Horning genötigt, diesem Einfluss entgegenzuwirken.“ Was war dieser vermeintliche Einfluss? Härter war jedem derartigen Einfluss fremd. Die junge Pfarrfrau hatte in Härters Unterricht den Herrn gefunden, hatte auch nach Härters Rat geheiratet und war eine innige treue Seele, sehr geliebt von den eng zusammenhaltenden Schwestern des genannten Jungfrauenvereins, welche auch bei Verheiratung oder Entfernung von Straßburg nicht aufhörten, dem Bund anzugehören und daher in vertraulichem Briefwechsel unter einander blieben. Dies geschah auch da, wie junge Freundinnen gegenseitig zu tun pflegen; die Beteiligten konnten auch wohl Briefe ohne Beihilfe und ohne Ratgeber schreiben. Ein solcher kam an die unrechte Adresse. Horning glaubte nun steif und fest, dass Härter um diesen Briefwechsel wissen müsse, dass er denselben nicht nur gutheiße, sondern auch dabei mithelfe und sich in fremde Angelegenheiten mischen wolle. Obwohl Härter bei der Sache ganz unschuldig war und auch andere Sorgen hatte, als sich um die vertrauten Mitteilungen seiner Schülerinnen und Vereinsschwestern unter sich zu kümmern, benützte Horning doch diese Gelegenheit, um „ein für allemal die Bande, welche seine Gattin an den Straßburger Pietismus fesselten, durchzuschneiden.“ (S. Lebensbild S. 67.)

Von dem an war Härter übel angeschrieben und bald wurde gegen ihn gezeugt (S. 67), dass er in der Rechtfertigungslehre nicht rein geblieben, „dass er von Glaubensgerechtigkeit und Werkgerechtigkeit eine Mischung gemacht, die der Sauerteig wurde, der vielfach die Lehre und Amtstätigkeit dieses begabten Predigers durchsäuerte und ihn zum Unionspietisten machte.“ Andere, durch diese Anklage aufgemuntert, nannten selbst Härter, den lutherischen Papst in Straßburg, dessen Herrschaft aufhören müsse.

Wohl gefiel es Horning, dass fast jeden Sonntag Dutzende von Härterschen Pietisten nach Grafenstaden wanderten, um dem schönen liturgischen Gottesdienste daselbst beizuwohnen. Freude war auch in den Härterschen Kreisen, als im Jahr 1846 Horning nach Straßburg an Jung St-Peter berufen wurde, ja einige derselben hatten durch ihren Einfluss dazu geholfen. Man hoffte, dass eine Kraft nun mit Härter Hand in Hand gehen werde, zum Wohl der Kirche. Aber diese Freude währte nicht lange; es zeigte sich bald, dass die beiden Charaktere nicht zusammenpassten und nicht miteinander gehen konnten. Andere seufzten über den Riss der der gläubigen Kirche, zur Freude der Gegner, drohte; obwohl Horning damals noch „von der Kirche im Allgemeinen (Lebensbild S. 91) sprach“, aber doch schon einen Anhang um sich sammelte, welcher ihn trieb zu dem, wohin er anfange nicht wollte; selbst Viele waren unter diesen, welche ihn aus der Altargemeinschaft mit den Ungläubigen in die Separation leiten wollten und als es ihnen nicht gelang, zu einer eigenen, noch bestehenden, separierten lutherischen Gemeinde sich zusammentaten.

Es gab eben damals, wie heute noch, Leute genug, die bei Erscheinen von etwas Ungewohntem in kirchlicher Hinsicht dasselbe als das Bessere ansehen und sich klettenweise daranhängen, bis wieder etwas anderes sie ab- und anzieht, das ihnen als ein besseres Evangelium erscheint, wobei aber gewöhnlich die Liebe auf die Seite gestellt und Glaubensstolz und Richtgeist, mit Verachtung derer, welche an dem Alten, in seiner Gotteskraft bewährten, bleiben, an deren Stelle treten.

Über diese Bewegungen im gläubigen Lager gibt uns das „Lebensbild,“ (S. 72) Aufschluss. „Wer Hornings zähe, unbeugsame Natur kannte, der wird sich nicht wundern, dass er als seine Aufgabe, die Kirche in ihrem Bekenntnisglanze wieder herzustellen, nicht nur eine ganze Manneskraft, sondern auch alle nötige und ihm möglichen Opfer setzte. Bei der Grundverschiedenheit Härters und Hornings und der Unbiegsamkeit beider Charaktere musste es unvermeidlich zu einer Trennung kommen.“

Unsere Aufmerksamkeit müssen wir nun auf einen Verein christlicher Männer, Geistliche und Laien, richten, welche seit fünfzig Jahren monatlich zusammen kommt zur Betrachtung des Wortes Gottes und zu Mitteilungen, das Reich Christi betreffend. Härter war ein treues Mitglied desselben und selten fehlte er bei den Sitzungen. Horning wünschte diesem Vereine beizutreten und wurde auch am 27 Dez. 1847 als Mitglied desselben aufgenommen. Aber schon nach etlichen Monaten traten die Gegensätze zwischen ihm und Härter und den älteren Mitgliedern an den Tag. Um 27. November 1848 war der Verein, wie gewöhnlich versammelt, auch Härter und Horning wohnten bei. Während drei Stunden wurden Worte der Versöhnung und der Annäherung zu gemeinschaftlichem Wirken zum Wohle der Kirche, welche jenes Revolutionsjahr in ihren Fundamenten erschüttert hatte, gewechselt. Der langen Rede kurzer Sinn war: „Ich habe nichts gegen Br. Härter, er soll nur zu mir kommen!“

Den Schlüssel zu diesem Worte finden wir ebenfalls im mehrerwähnten „Lebensbild“ (S. 67). „Unmöglich konnte Horning bei seiner klaren, unvermischten Rechtfertigungslehre und seiner kirchlichen Erkenntnis mit Härter Hand in Hand, oder besser gesagt, in einer durch die Amtsjahre gebotenen Unterwürfigkeit, gehen. Die Schäden des Straßburger Pietismus mit seinem gewohnten Scharfblick erkennend, ließ er sich nicht, wie andere junge Pfarrer, von Härters gewaltiger Anziehungskraft ergreifen.“ Die Richtigkeit dieser Darstellung wollen wir dahin gestellt sein lassen.

Dieses Wort „zu mir kommen!“ entschied. Jeder der Beiden zog seine Straße. Warum sollte auch Härter den Weg verlassen, auf dem er bisher so segenspendend und von dem Herrn reich gesegnet, zur Ehre Gottes und zum Heile seiner Mitmenschen gewandelt? Er pilgerte weiter dem schönen Ziel zu und der Herr zog mit ihm. Er ließ sich tadeln und er schalt nicht wieder, da er gescholten ward, er drohte nicht, da er litt, sondern stellte es dem anheim, der da recht richtet.

Härter schwieg auf Alles, was gegen ihn gepredigt und geschrieben wurde, er schwieg auch da noch, als von anderer Seite seine Freunde aus den Sitzen seines Konsistoriums durch beeinflusste Volkswahl ausgewiesen wurden, und er allein stand mitten unter manchen Angriffen seiner Kollegen und deren Helfern.

Aber Härter schwieg nicht, als durch den Riss in der gläubigen Kirche aufgemuntert, der Liberalismus mehr und mehr seine Stimme erhob und auch von seiner Kanzel seine Sätze als Wahrheit und als Fortschritt predigte. Er schwieg nicht, als in den fünfziger Jahren der Widerspruch gegen die heiligsten Wahrheiten des Evangeliums des Herrn Jesu und das Wort vom Kreuz sich immer mächtiger erhob und die Vernunft höher stellte als die Offenbarung Gottes.

Härters Predigten wurden stets mehr und mehr das gewaltigste Zeugnis vom Heil in Christo, immer wuchs die Zahl seiner Zuhörer, immer inniger wurde der Freundschaftskreis, welcher sich an den geliebten Lehrer anschloss, zum großen Ärger seiner Gegner, selbst des damaligen Kirchenregiments, welches seine besten Absichten und seine Arbeiten von vorne herein verdächtigte und ihn zum mindesten als einen unbequemen Neuerer und Ruhestörer ansah.

Da galt es für Härter auch in dieser Schule tägliche Selbstverleugnung und Übung in Geduld und festzustehen im Kampf gegen seine vielseitigen Gegner. Das waren seine schwersten Stunden; aber es ward ihm gegeben stille zu halten und als treuer Streiter Christi fest zu bleiben bis an sein Lebensende. „Wenn wir nur treu sind, und der Herr mithilft, was können uns Menschen tun!“ pflegte er bei allen Verdächtigungen zu sagen. Persönlich und namentlich griff er Niemanden an, verteidigte sich auch nicht gegen manche Luftstreiche, die in Wort und Schrift gegen ihn geführt wurden. In seinem Tagebuch finden wir nicht die geringste Klage über das erlittene Unrecht oder Missachtung. Er sprach auch nicht mit Selbstruhm von seiner Arbeit, sondern betrachtete sich nur als den unnützen Knecht, der weniger tue, als er nach des Meisters Gebot tun sollte und wollte am liebsten den Christen und Jüngern Jesu zugerechnet werden, deren Namen wohl in der Heiligen Schrift stehen, von denen aber weiter nichts bekannt worden ist, als dass sie des Herrn Eigentum und seine Nachfolger waren.

Härter und die Evangelische Gesellschaft.

In den Frühlingstagen des Jahres 1834 saßen in Straßburg einige Männer beieinander, die den Herrn Jesum lieb hatten und auch andere dieser Liebe teilhaftig machen wollten, und berieten, auf welche Weise wohl am besten christliches Leben in Straßburg geweckt, gefördert und erhalten werden könnte. Es war Dämmerung in der Kirche geworden, die süßlichen, die Sinne einschläfernden Gesänge Witschels waren verklungen, die Predigten der Natur und der Moral verstummt auf mancher Kanzel; die frohe Botschaft ertönte wieder hier und dort, dass ein Heiland der Welt geboren, durch dessen Menschwerdung das Werk der Erlösung begründet worden und dass die Quelle neu gefunden worden, aus welcher Alle, die dürstet nach Glauben und Gerechtigkeit, Erquickung und Kraft finden sollten. Härters Predigten hatten dazu die Bahn geebnet, und als am 31. Mai desselben Jahres die Männer eine größere Versammlung von Gleichgesinnten vereinigten, wurde der Grund gelegt der Evangelischen Gesellschaft von Straßburg. Das Erstehen, Leben und Wirken derselben ist ein Blatt in der Kirchengeschichte unseres Landes; sie sollte zum Zweck haben, die Belebung des geistlichen und kirchlichen Lebens durch Bibelstunden, Gebetsvereinigungen, Reisepredigt und Verbreitung christlicher Schriften.

Die versammelten Freunde und Gründer der Evangelischen Gesellschaft ernannten ein Komitee und luden Härter, Cuvier, Notar Hickel und noch einige Laien ein, in dasselbe einzutreten; Statuten wurden dann aufgestellt zur Verantwortung ihres Zweckes gegen jede Anfeindung. Ein Vereinssaal wurde von den Brüdern Keck gebaut, und Sonntag, Donnerstag und Samstag jeder Woche füllten sich die Räume mit drei- bis vierhundert Personen, zu Stunden, in welchen sonst kein Gottesdienst gehalten wurde. Die Ermächtigung, solche Vereinigungen zu halten, wurde der Gesellschaft am 31. Mai 1834 von dem Justiz- und Kultusminister erteilt.

Ein Agent der Pariser Evangelischen Gesellschaft, ein mächtiger Redner, Major, hatte zu diesen Versammlungen seine Hilfe angeboten, hatte dann einen Jünglings- und einen Jungfrauenverein gegründet, auch öfters den Lehrstuhl bestiegen; aber da dessen Absicht, eine selbständige freie Gemeinde zu bilden, sich bald ans Licht stellte, zogen sich die beiden theologischen Mitglieder des Komitees, Härter und Cuvier, zurück und mit ihnen manche Freunde, die von einer Separation nichts wissen wollten. Major bildete einen neuen Verein, welcher im Anfang mit ihm gehen wollte und selbst geschehen ließ, dass er in der Kapelle einen Altar aufstellte, Konfirmandenunterricht erteilte, das heilige Abendmahl spendete, einige Kinder taufte, selbst eine Ehe einsegnete, alles im Widerspruch mit den Statuten der Gesellschaft.

Da trat Härter wieder auf den Plan, nicht geblendet von Majors Beredsamkeit und von dessen Schmeichelreden; er sah dass viel fleischliches Treiben dahinter steckte, viel Schaffen in eigener Kraft und zur eignen Ehre.

Härter ließ sich nicht in das Netz des Separatismus fangen. Er trat öffentlich gegen Major auf und bezeichnete dessen Verfahren als ein solches, das auf Zerrüttung aller von Gott geordneten Verhältnisse unserer Kirche zusteure. Major, der sich nicht mehr unterstützt sah, erkannte dass die Gründung einer eigentlichen separierten Gemeinde in Straßburg ihm unmöglich sei, reichte im Dezember 1838 sein Entlassungsbegehren der Pariser Gesellschaft ein und am 3. Februar 1839 hielt er seine Abschiedspredigt über die Schriftstelle: „Was hast du hier zu tun, Elias?“ worin er den Staub seiner Füße über die Stadt ausschüttelte, die ihn verkannt und verstoßen hatte.

Acht Tage darauf hielt Härter auf Einladung des Komitees die Bibelstunde im vollgepfropften Vereinssaal und gab auf Majors Drohrede die evangelische Antwort: „Wisst ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid?“

Nun wurde die Evangelische Gesellschaft als ein Verein für innere Mission neu geordnet; Härter und seine Freunde, Inspektor Becker, Professor Bögner, Professor Cuvier und einige Laien standen derselben vor. Härter erklärte in seinem ersten Vortrag: „Auch ich werde darüber wachen, dass nichts gegen die Kirche, der ich von Herzen angehöre, im Schoß der Gesellschaft unternommen werde. Sämtliche Mitglieder müssen kämpfen wider den Unglauben, wo sie ihn finden; zuerst wider den Unglauben in der eigenen Brust, denn da sind immer noch Regungen genug zu bewachen und zu unterdrücken; dann aber auch wider den Unglauben nach außen. Sie müssen gegen den Irrtum ein ernstes, kräftiges Zeugnis ablegen, die Irrenden aber mit Geduld und Barmherzigkeit tragen.“

An einem der spätern Jahresfeste wurde im Bericht gesagt: „Was ist die Evangelische Gesellschaft? Es ist keine Kirche, keine Gemeinde, auch kein Ersatz oder Surrogat der Kirche und der Gemeinde. Sie ist nicht darauf aus, einen Verein von lauter Gläubigen zu bilden, die sich als eine Art Kirche abgesondert konstituiert, um sich für die Mängel der Kirche schadlos zu halten. Es soll kein Glied der Gesellschaft glauben, durch seine Teilnahme an derselben ein Diplom der Christlichkeit und Rechtgläubigkeit oder gar der Seligkeit zu haben; es soll Niemand wähnen, in den Mauern der Kapelle versammle sich die eigentliche Christenheit Straßburgs und draußen sei das Pöbelvolk, das Heidentum, das Antichristentum, oder was weiß ich was. Nein, es gibt, Gott sei Dank, viel mehr Christen als Mitglieder der Evangelischen Gesellschaft und es sollten viele Glieder dieser letzteren Fleiß anwenden, um rechte Christen zu werden. Was die Evangelische Gesellschaft will, ist gerade das nämliche, was als Christenberuf gilt. Sie rüttelt nicht an kirchlichen Formen und Organisationen, sie will sich auch nicht mit Nebendingen befassen, sondern sie will in christlicher Freiheit und Freimütigkeit, ohne Ruhm und Lohn zum Wohle der Kirche arbeiten, wie jeder einzelne Christ es tun soll, zum Preis unseres großen Gottes und Heilandes Jesu Christi.“

Hoffentlich bedarf es keiner weiteren Belege, um über das noch heute bestehende Verhältnis der Evangelischen Gesellschaft zur Kirche Aufschluss zu erhalten. Was sie als ihre Pflicht erkannte, das tat sie nach besten Kräften. Ihre sonntäglichen Bibelstunden, ihre Gebetsvereine wurden fleißig besucht, verschiedene Bücher des Alten und des Neuen Testaments wurden der Reihe nach erklärt, auch eine Zeit lang die Augsburger Konfession in ihren einzelnen Artikeln besprochen; Traktate von Johann Arnd Verfasser des wahren Christentums, eine Sammlung von Hofackers Predigten, später auch eine Reihe von elsässischen Erzählungen von Fräulein Spörlin und von Kindertraktaten, und eine Unzahl von biblischen Betrachtungen von Inspektor Zeller in Beugen wurden herausgegeben; die Traktatsache gedieh immer schöner, die Lesesäle für Handwerker füllten sich je mehr und mehr, die Verbreitung christlicher Schriften durch Kolportage nahm stets zu und zeitweise konnte die Gesellschaft Evangelisten aussenden zur Pflege einzelner Landvereine. Noch auf manchem andern Felde der inneren Mission arbeitete die Evangelische Gesellschaft, ungehindert öfters durch Spott und mancherlei Angriffe der Gegner durch Wort und Schrift. „Bis jetzt haben wir wohl von einem Komitee der Evangelischen Gesellschaft gelesen, aber noch wenige Namen der Mitglieder desselben genannt. Fürchteten etwa dieselben ans Licht zu treten und zogen sie vor, wie einmal ein kirchlicher Inspektor predigte: „ihren trüben Sinn in trübe Winkel einzunisten?“ Keineswegs; deren Namen, welche von Anfang an jedem Jahresberichte beigedruckt wurden, sind heute noch wohlbekannt, ob auch die Meisten im Laufe der Jahre heimgegangen und keinem derselben konnte kirchlicher Sinn und Rechtgläubigkeit abgesprochen werden; sie dürfen wohl und mit Ehren genannt werden. Es sind 21 Laien und 19 Geistliche, welche im Laufe der 54 Jahre des Bestehens der Gesellschaft das Werk leiteten. Zu den ersten gehören: die Kaufleute Roth, Klimrath, Rausch, Walter-Passavant, Rudi, Göhrs; die Ärzte Schure und Thierry-Mieg; die Professoren Berg, Adolph und Gustav Kampmann und Bögner; die Ingenieure Schlösing und Morel-Fatio; die Notare Hickel und Ott; die Brüder Keck, Fabrikant A. Herrenschmidt, Baumeister Stuber und Schreiber dieses, welcher seit bald 50 Jahren an den Werken der Gesellschaft tätig, öfters das „lebendige Protokoll“ derselben genannt wird. Die Namen der 19 Geistlichen, welche seit der Gründung kürzere oder längere Zeit zu dem leitenden Komitee gehörten, hatten und haben heute noch einen guten Klang. Es sind: die Kandidaten Becker, Bartholmes und Matter; die Prediger und Pfarrer Bögner, Cuvier, Härter, Vater und Sohn, Hausmeister, Erhardt, Kreiß, Scheffer, Max Reichard, Löscher, Buhlmann, Fischer, Nied, Stern, Magnus und Horning.

Horning! kaum möglich! Steht doch in dem schon erwähnten „Lebensbilde“ desselben (5, 67), „dass derselbe nicht an den Gottesdiensten der Kapelle (Knoblochgasse) und an der Tätigkeit der von Härter gegründeten Straßburger Evangelischen Gesellschaft, einer Filiale der reformirten Gesellschaft in Paris, sich beteiligte.“

Diesem ganz unrichtigen Satze gegenüber können wir beweisen, dass diese Gesellschaft schon im Anfang des Jahres 1834 gegründet war, am 31. Mai durch den Justiz- und Kult-Minister als solche anerkannt wurde und dass erst nachher, am 3. Juni desselben Jahres, Härter von dem schon in Arbeit stehenden Komitee eingeladen wurde, daran Teil zu nehmen, dass er auch von 1838 bis 1847, da andere Arbeiten seine ganze Kraft in Anspruch nahmen, nicht Mitglied war, sondern nur in die Reihe der Geistlichen, welche Bibelstunden hielten, eintrat, und eine gesegnete Gebetsvereinigung an Wochentagen hielt. Erst 1848, auf das Begehren der Mitglieder der Gesellschaft, trat er wieder in das Komitee ein, wohnte aber seltener den Sitzungen bei, weil andere Wortführer seiner Ansicht nur Gegensätze aufstellten. Zu bemerken ist auch, dass die Evangelische Gesellschaft von Straßburg mit derjenigen von Paris nicht verbunden, noch weniger eine Filiale derselben war, welche ganz andere Zwecke verfolgt.

Das Protokollbuch des Komitee, 1847 von Professor Bögner und 1848 und 1849 von dem neuernannten Sekretär Pfarrer Magnus geschrieben, gibt uns mehr Aufschluss über die damaligen Verhältnisse. Wir finden darin, unterm 6. August 1847: „Bögner berichtet im Namen einiger Geistlichen, worunter Pfarrer Horning, dass dieselben den Wunsch geäußert, unserer Gesellschaft beizutreten unter einigen Bedingungen, die Statuten betreffend. Sie sollte entschiedener als bisher das „Bekenntnis“ betonen und noch bestimmter als „Evangelische Gesellschaft der Kirche Augsburger Konfession Lutherischen Bekenntnisses“ auftreten.

Der Wunsch, mit Allen die auf demselben Grund und Boden stehen gemeinschaftlich zu arbeiten und den gemeinsamen Feind, den Unglauben zu bekämpfen, bewog das Komitee, diesen Wunsch zu berücksichtigen. Nach reiflichem Erwägen wurden die Statuten demgemäß geändert und am 15. Dezember 1847 einer Generalversammlung der Mitglieder der Gesellschaft vorgelegt und von derselben angenommen. Die Änderungen schienen beim ersten Anblick so harmlos und selbstverständlich, dass Niemand die schlimmen Folgen, welche zwischen den Zeilen hätten können gelesen werden, ahnte.

Selbst Härter, der nicht leicht im Irrtum sich fangen ließ oder falschen Hoffnungen sich hingab, schrieb unterm 3. August 1847 in sein Tagebuch: „Mit Erstaunen erfahre ich, wie treu und freundlich der liebe Heiland unsere arme Wirksamkeit unterstützt; unsere kleine Evangelische Gesellschaft ist so zu sagen durch die Künste der Kirchenbehörden und feindlichen Geistlichen auf ein Minimum reduziert worden, dass sie beinahe nichts mehr wirken konnte; nun hat der Herr es dem lieben Pfarrer Magnus ins Herz gegeben, dass er unserer Gesellschaft zum Besten unserer Kirche aufhelfen will, wozu auch Pfarrer Horning die Hand zu bieten scheint, was eigentlich, wie uns gesagt wird, nichts anderes sein wird, als unserer Evangelischen Gesellschaft eine bestimmte kirchliche Form zu geben.“

So geschah es, dass Horning in das Komitee der Evangelischen Gesellschaft als Pfarrer den 29. Dezember 1847 eintrat und Magnus als Sekretär, welcher alle noch vorhandenen Protokolle verfasste und unterzeichnete. Aus denselben entnehmen wir das Folgende: „Wohl erklärte Horning in der ersten Sitzung, dass er nicht an den Gottesdiensten in der Kapelle sich beteiligen werde, aber in den Sitzungen des Komitee hielt er oft, zur Verteidigung irgend eines Satzes, oder nur eines Wortes, Reden, welche das Maß einer gewöhnlichen Predigt überstiegen. Schon in der zweiten Sitzung, am 15. Februar 1848, zeigte es sich, dass keine Einigkeit unter den Mitgliedern war und dass diese Verbindung verschiedenartiger Elemente nur zum Auseinandergehen führen werde. In Folge dieses nahmen Härter und einige andere Mitglieder ihre Entlassung,“ ermüdet von den fruchtlosen, eitlen Streitigkeiten, womit die Sitzungen angefüllt waren.

Als diktatorische Beschlüsse wurde nun aufgestellt und durchgeführt, dass die Kapelle unter strenger Aufsicht des Komitees stehen solle, dass jeder Redner und jeder Vortrag zu kontrollieren, d. h. Gnade vor den Wortführern des Komitee haben müsse, und nichts gegen die in den veränderten Statuten aufgestellten Grundsätze dürfe gesprochen werden, was allerdings sehr dehnbar war, denn wer sollte darüber entscheiden? Zugleich wurde gewünscht, dass diese Vorträge je eher je lieber überflüssig würden.

Die sehr besuchten und gesegneten Gebetsvereine, welche Härter an Wochentagen gehalten und die sonntäglichen Abendstunden wurden fast ein ganzes Jahr lang eingestellt, und als am 11. August 1848 ein Mitglied wünschte, dass monatlich an einem Sonntag-Abend Mitteilungen, das Reich Gottes betreffend, gemacht würden und am 13. Oktober 1848 darauf angetragen wurde, dass wieder Bibelstunden mögen gehalten werden, wurden diese Vorschläge zurückgewiesen. Der Verkauf christlicher Schriften wurde einer scharfen Zensur unterworfen, dagegen die „Straßburger Traktate“, welche Horning in jener Zeit herausgegeben und andere in Inhalt und Ton ähnliche Büchlein, sollten allein zum Verkauf ausgelegt werden. Selbst der Name, welchen von Anfang an die Evangelische Gesellschaft ehrlich getragen, wurde abgeändert, wie solches in der Überschrift des Jahresberichts von 1848: „Evangelische Gesellschaft der Kirche Augsburgischer Konfession zu Straßburg“ und in dem Verzeichnis der Mitglieder des Komitee, unter denen Magnus, Härter und Horning verzeichnet sind, zu lesen ist.

Die oft stundenlangen Besprechungen und diese Beschlüsse, die den Statuten der Gesellschaft sichtlich entgegen arbeiteten, ermatteten die noch übrigen Mitglieder des Komitee, welche den Antragstellenden nicht gewachsen waren; aber sie hatten lange nicht den Mut dagegen aufzutreten, obgleich sie sehen konnten, dass es an das Leben und die Existenz der Evangelischen Gesellschaft ging – dadurch dass die Gelder der Gesellschaft nicht mehr für Werke in Straßburg und im Elsass, sondern für Algier, Paris und andere auswärtige streng lutherische Werke und Missionen sollten verwendet und dadurch der Lebensfaden der Evangelischen Gesellschaft abgeschnitten werden. Ein solches Begehren, verbunden mit einer scharfen Diskussion über eine noch schärfer und deutlicher sich aussprechende Benennung der Gesellschaft hatte in der Sitzung vom 16. Februar 1849 die Wirkung, dass die beiden Meinungen darüber heftig verteidigt wurden und die Glieder in Folge davon noch weiter auseinander gingen.

Es fehlen uns von da an drei Protokolle der Sitzungen, in welchen ein mächtiger Wille die übrigen Mitglieder kaum zum Worte kommen ließ. Wahrscheinlich war in denselben das Todesurteil der Gesellschaft ausgesprochen.

Die Mitglieder, die nach den früheren Statuten auch ein Wort zu sagen hatten, aber von allen diesen Streitigkeiten keinen Segen sahen, wurden endlich nach 18 Monaten der Sache müde und Einige richteten an das Komitee das Begehren nach einer allgemeinen Versammlung, welche ihnen nicht verweigert werden durfte. Dieselbe wurde eingerufen. Manche verletzende Worte wurden gewechselt, zuletzt aber wurde fast einstimmig begehrt: Rückkehr zu den früheren Statuten, Wiedereröffnung der Kapelle wie zuvor, neue Belebung der Werke, welche bisher betrieben wurden und ein anderes Komitee. Dieser Forderung musste entsprochen werden, eher hätte die Gesellschaft sich aufgelöst. Es war eine peinliche Verhandlung. Während derselben, den Ausgang vorhersehend, verließen einige Glieder den Saal und schüttelten, wie 11 Jahre früher, es Major getan, den Staub von den Füßen.

Eine provisorische Verwaltung wurde nun ernannt und der zerrüttete Geschäftsgang neu geordnet. Jeder Zweig der Tätigkeit erhielt eine besondere Kommission, während ein Hauptkomitee die Leitung des ganzen Werks übernehmen sollte. Am Jahresfeste 1851 konnte die neue Verwaltung die erste Rechenschaft zur Zufriedenheit der Mitglieder ablegen. Härter trat erst 1853, auf die dringende Bitte der Freunde, wieder in das Komitee ein, welchem er auch, so lange ihm zu wirken erlaubt war, treu blieb.

Die Evangelische Gesellschaft war nun von einer gefährlichen Krankheit genesen, welche sie dem Sterben nahe brachte. Wohl kam sie jetzt in das schwarze Buch, in welchem sie heute noch, nach 40 Jahren, über angeschrieben ist. Das Vokabularium von ungewohnten, nicht wohlwollenden Worten wurde seitdem in neuer vermehrter Auflage öfters geöffnet, ein Schlagwort wurde selbst in einem Kalender auf wenigen Seiten über sechzig Mal, mit Adresse an die Gesellschaft und deren Freunde angewendet. Auch das Gesangbüchlein von „hundert Liedern“, welches in der Kapelle vor Erscheinen des „Gesangbuchs für Lutherische Christen“ im Gebrauch war, in welcher Sammlung 80 Lieder in jedem Worte unverändert sich finden und die übrigen zwanzig nicht minderwertig sind, wurde als „Zwergbäumlein“ verunglimpft. Aber die Gesellschaft nahm sich dieses Gebaren nicht groß zu Herzen; sie ließ ohne Widerrede geschehen, dass ein Pranger aufgestellt wurde, an welchem ihre besten und treusten Freunde, Härter, Cuvier, Kreiß und Andere, namentlich als Irrlehrer ausgestellt waren, und noch heute zuweilen, als ein Gericht über die Toten, verurteilt werden. Die Gesellschaft schwieg und schweigt noch; sie lässt sich schelten und schilt nicht wieder und wird, wie männiglich bekannt, noch immer so, nicht so genannt.

Härters Lebensabend.

Die Glocken des Jahres 1866 läuteten denselben ein und riefen Härter zur Ruhe. Bis dahin war er als rüstiger Kämpfer auf seiner Neu-Kirch-Kanzel gestanden, mit ungeschwächter Geisteskraft; war seinen Anstalten ein treuer Hort gewesen und seiner Gemeinde der Seelsorger nach dem Herzen Gottes. Plötzlich mahnte ihn ein leichter Schlaganfall an die Feierstunde, deren. Ruhe er wohlverdient hatte. Erleichterung in der Arbeit ward ihm durch die Liebe treuer Freunde, welche dafür sorgten, dass ihm in seinem Tochtermann, Max Reichard, bis dahin Pfarrer in Fröschweiler, eine kräftige Hilfe gegeben wurde, welche ihm die Last des Amtes abnehmen konnte, dabei aber noch je nach seinen Kräften zu wirken erlaubte. Das Seelsorger-Amt des Diakonissenhauses übergab er seinem Sohn, die Gemeinde hatte dabei den Vorteil, dass junge Kräfte an ihr arbeiteten, während der Vater mit seinem Rat und seinen Gebeten mithalf, auch noch öfters mit Kraft predigen konnte. Die Angriffe seiner Gegner hatten meist aufgehört, das fortwährende Zeugnis vom Heil in Christo und von dem Einen, das Not tut, hatten ihm die allgemeine Anerkennung, auch die fast aller seiner Amtsbrüder in Straßburg erworben, und er durfte mit Ruhe sein Tagewerk überschauen, wusste er doch, dass dasselbe in treue Hände gelegt war.

Wir wollen den teuren Freund noch nach Anleitung seines Tagebuchs weiter begleiten und einige Bruchstücke aus demselben mitteilen.

Dem 1866 beginnenden Lebensabschnitt setzte er zur Überschrift: Geschichte des Endes eines nach Zion eilenden Pilgers.“

30. Juli 1866. Mit einem Herzen voll Wehmut und Dank beginne ich diese Blätter; voll Wehmut über meine vielfachen Untreuen und Sünden, voll Dank für die freie Gnade, die mir widerfahren und die mich aus der Sünde gezogen und in ewiger Liebe sich meiner erbarmt hat.“

31. Juli 1866. Heute ist der Abend vor meinem Geburtstag, da trete ich mein 70stes Jahr an; welch eine lange Gnadenzeit! Vergebens wünschte ich, sie besser angewendet zu haben. Mein einziger Trost ist, dass ich einen Heiland habe, der mir seine Gerechtigkeit schenkt. Auch ich bin Sein Schmerzenslohn, auf ewig Sein!“

1. August 1866. „Es ist heute ein schauerlicher Morgen, Sturm und Regen. Ich meine, dass ich nie je einen solchen Geburtstag erlebt habe, so trüb und düster. Doch wenn die Erde sich mit Tränen umhüllt, wird der Aufblick nach Oben desto heiterer und ich kann mitten in den Sturmesschauern rufen: „Lobe den Herrn, meine Seele!““

10. Aug. 1866 (nach dem Tod einer Diakonissin). „Ich fühle, dass ein Heiliger Geist not tut, um kräftiger das Werk des Herrn zu leiten und es vor Schaden zu bewahren. Gib, o Herr, mir diesen Ernst der reinen Liebe und lass Deinen Segen auf allen Schwestern ruhen, dass sie nicht sich selbst suchen, sondern Deinen Ruhm allein mit demutsvoller Treue; gleich der seligen Ch.“

14. Aug. 1866. „Es ist mir ziemlich wohl, doch bin ich meiner Sprache noch nicht ganz mächtig. O Herr, wenn Du mich ganz herstellst, so gib, dass ich nur Dir die Ehre gebe und von Allem abscheide, was Deinen heiligen Geist betrübt. Stärke mich zur willigen Entsagung und zum heiligen Leben in Deiner Nachfolge, kraft Deiner Barmherzigkeit!“

15. Sept. 1866. „Ich habe gepredigt, konnte kräftig sprechen, doch sind meine Gedanken noch nicht ganz in meiner Gewalt. Herrsche Du durch Deinen heiligen Geist, o Jesu, dann hat es keine Not, und ich werde Dein treuer Zeuge bleiben.“

26. Sept. 1866. „Meine Vakanz ist geendet, die Gnade Gottes hat sie möglich gemacht; ich habe sie nicht in allen Stücken benützt, wie ich sollte. Herr, vergib mir und tilge meine Sünden alle. Doch das hast Du ja getan täglich und ich darf froh mein Haupt erheben, denn mein Heiland ist mein Richter und mein Bruder. O wohl mir, dass ich Dich kenne und sagen darf: ich bin Dein! Wunderbar tröstet mich mein Immanuel und zeigt mir den offenen Himmel, da ist auch für mich ein Plätzchen bereitet und ich komme dem Himmel immer näher. Bald bin ich am Ziel und sinke als ein armes gerettetes Gnadenkind Dir zu Füßen. Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Jesus Christus, gestern und heute und derselbe in Ewigkeit!“

7. Mai 1868. „Ich brauche nicht zu sorgen, der Herr wird Alles wohl machen und zum seligen Ende hinausführen. gibt mir die innigste Versicherung, dass Er gerade zur rechten Zeit und auf die rechte Weise mein Ende herbeiführen werde. Will Er mich noch länger hienieden lassen, so hab ich nur einen Wunsch, dass jede Stunde meines noch übrigen Erdenlebens mit Freuden Seinem Dienste gewidmet sei. Das walte Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist!“

1. Aug. 1868. Mein 71ster Geburtstag. Ich schaue mit Beschämung auf eine lange Reihe von Gnadenführungen, wodurch der Herr mir eine große Liebesschuld aufgelegt hat, die mich niederbeugt und mich ausrufen macht: „Herr, ich bin zu geringe aller Barmherzigkeit und aller Treue, die Du an Deinem Knechte getan hast!“

21. Sept. 1868. „Seit vier Wochen bin ich hier (in Ottersweier), um mich auf den Winter zu stärken. Unaussprechlich ist Gottes Güte und eine Freundlichkeit, die über alle Begriffe geht, tut Er an mir unwürdigen Knecht. Herr! nimm mich ganz mir und gib mich ganz zu eigen Dir, mit meinen Kindern und Kindeskindern.“

14. Okt. 1868. Heute früh ist mein alter Freund Franz Herrenschmidt sanft in dem Herrn entschlafen. Er hatte am 5. dieses Monats seinen 79sten Geburtstag. Wie ist mir so heimwehartig ums Herz! 0 komm, Herr Jesu, und hole Deinen alternden Knecht auch heim, denn mir wird bange zu wohnen in der Fremde. Rette meine Seele, Du treuer Heiland, und nimm mich bald auf zu Dir.“

18. Okt. 1869. „Heimgang meiner teuren Tochter Sophie. Sie war 45 Jahre und 3 Monate alt. Wie sanft ruht sie nun in ihres Heilands Schoß! Jetzt sind ihre Leiden überstanden und ein himmlischer Friede erquickt ihre begnadigte Seele; sie war ein treues, demütiges Gotteskind im Prüfungsleben. Herr! führe mich auch bald ins selige Heimatland!“

Härter in den Schreckenstagen von 1870.

Wir schlagen nochmals Härters Tagebuch auf, durchblättern dasselbe mit Wehmut und versetzen uns ganz in jene Zeiten, wo Härters Hand es beschrieben. Wir gedenken auch noch mit Rührung der Predigt, welche er am 40sten Jahrestag seiner Einführung in die Neue Kirche gehalten, über seinen Wahlspruch: „Jesus Christus, gestern und heute und derselbe in Ewigkeit,“ als ein Zeugnis an seine Gemeinde, dass er von diesem Herrn, hochgelobt in Ewigkeit, der sein Licht, sein Leben und seine Liebe geworden, wunderbar geführt worden, bis auf jenen Tag. Wohl waren wunderbar die Wege während der vierzig Jahre, welche Härter durchwandert; von dem einfachen, anspruchslosen, sterbensfreudigen Dorfpfarrer, bei dessen Eintritt in die Gemeinde Niemand ahnte, wozu der Herr ihn in die Stadt berufen und was er ausrichten sollte, nicht nur für die Neue, sondern auch für die ganze elsässische Kirche, dadurch dass viele junge angehende Geistliche sich an ihn anschlossen und an seinem Beispiel lernten, was das Amt eines wahren Jüngers Jesu ist.

Härters Lebensabend wurde aber noch mit unheilvollen, düsteren Wolken überzogen, welche in ihrem Ausbruch ihn leiblich zu verderben drohten. Wir öffnen hierüber sein Tagebuch.

1. Aug. 1870. „Ich bin nun 73 Jahre alt; eine merkwürdige Zeit ist für unser Land gekommen, es ist Krieg!“

Vom 12. Aug. an finden wir nun Tag für Tag das Merkwürdigste der Leidensgeschichte Straßburgs aufgezeichnet. An diesem Tage schrieb er noch: „Ich habe die stille Zuversicht, dass der gnadenreiche Heiland uns behüten werde vor aller Gefahr.“

Am 13. Aug. aber schon: „Gott erbarme dich unser!“

16. Aug. „Schönes Wetter von Oben; es blieb ruhig die Nacht. Dem Herrn sei Dank, dass Er unsere Gebete erhört hat und nicht mit uns handelt nach unserer Sünde.“

17. Aug. Komm uns bald zu Hilfe, treuer Gott. Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn, der unser Aller Heiland ist. Segne und behüte unsere arme Stadt, Herr Jesu!“

19. Aug. „Herr Gott, barmherzig und gnädig, heiße die Kriegführenden aufhören und führe bald einen wahren Frieden herbei, der Dein armes Volk tröste.“

23. Aug. „Der feierliche Augenblick ist gekommen!“ sagt ein Anschlagzettel; wir aber sagen: „Harre des Herrn, sei getrost und unverzagt und harre des Herrn!“

25. Aug. „Ach, welch entsetzliche Nacht! Gestern Abend um 8 Uhr flogen die Kugeln über unsere Häupter, eine der ersten zündete unter dem Dache der Stadtbibliothek, diese brannte ganz nieder; das Feuer ergriff auch die Neue Kirche, welche um 10 Uhr in vollen Flammen stand. Sie sank ein; die Bibliothek ist nun ein Schutthaufen, die Kirche eine Ruine. Es war eine furchtbare Hitze; von allen Seiten regnete auf uns das Feuer; wir konnten demselben nur dadurch wehren, dass wir die Fenster und die Läden immerfort begossen, auf das Dach schütteten wir Ströme von Wasser. Meine Tochter Marie und Anna mit ihren Kindern waren im Archivgewölbe verborgen.“

Mit Tagesanbruch ging Schreiber dieses über noch brennendes Holzwerk in das liebe Pfarrhaus. Härter saß wie gebrochen und starrte laut- und klagelos auf die Ruinen ihm gegenüber. Die Hände waren gefaltet, er betete; das einzige Wort, das geredet wurde, klang wie: „Eine Mauer um uns baue!

26. Aug. „Als es Tag wurde, welch ein Anblick bot sich uns dar! Überall Ruinen. Ich konnte nur auf großem Umwege zu Inspektor Ungerer kommen. Ich lud ihn ein, mit mir zu Präses Braun zu gehen, ihn zu bitten, er möge sich für unsere arme Stadt beim General v. Werder verwenden; er erklärte, dass er dieses allein nicht tun könne, der Bischof und der Oberrabbiner müssten mitgehen. Endlich wurde ausgemacht, Inspektor Bruch würde allein zum Bischof gehen, mit der Frage, ob er mit Präses Braun wolle den General um Schonung bitten. Bald darauf traf ich Herrn Bruch, der mit Dankestränen in den Augen mir mitteilte: der Bischof wolle allein ins Lager sich begeben. Gott! lenke diesen Gang zum Heile unserer Stadt.“

27. Aug. „Ach, wird Gott nicht die Herzen der Behörden lenken, dass sie die Stadt übergeben und wir vor fernerer Zerstörung bewahrt bleiben? Herr, der Du die Herzen lenkst wie Wasserbäche, hilf uns und erweise Deine Wunderkraft zu unserem Besten. Erhör uns, Vater, im Namen unsers Herrn Jesu Christi!“

1. Sept. „O Jesu, mach ein Ende und führ uns aus dem Streit, wir heben Herz und Hände nach der Erlösungszeit!“

5. Sept. (Nachdem eine Kugel in das Versorgungshaus, ohne zu zerplatzen, gefahren.) „Herr, wir liegen vor Dir mit unseren Gebeten, nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf Deine große Barmherzigkeit. O gib, dass wir diese Barmherzigkeit rühmen dürfen, indem Du uns bald zu Hilfe kommst, Gnadenreicher!“

So stand Härter bis zum Ende der Belagerung betend vor dem Herrn und erhob hohepriesterlich seine Hände nicht allein für sich und seine Lieben alle, sondern auch für die schwer heimgesuchte Vaterstadt. Während der ganzen Zeit wollte er nicht, wie er dazu eingeladen wurde, die Stadt verlassen und eine Zuflucht in der Schweiz suchen. Er hielt sich einige Tage in den Kellerräumen des Gymnasiums auf, wo auch seine Kinder weilten, dann zog er in das Diakonissenhaus, wo ihm die treuen Schwestern ein Ruheplätzchen bereiteten und den durch das Erlebte aufgeregten Mann mit aller Liebe pflegten. Aber jeden Tag, trotz des oft dichten Kugelregens, ging er seinem Amt nach, er machte jeden Morgen einen Rundgang durch die Diakonissengebäude, davon einige schwer getroffen wurden. Während eines solchen Ganges flog eine Kugel in sein eigenes Zimmer und ein Splitter derselben wurde auf dem Kissen gefunden, auf dem er einige Stunden vorher geruht hatte. Er besuchte die Ruinen seiner lieben Kirche, sein übel zugerichtetes Pfarrhaus und die Kapelle der Evangelischen Gesellschaft, wo jeden Tag um 2 Uhr eine Betstunde von einigen Geistlichen der Stadt, vom 2. September bis zum Ende der Belagerung gehalten wurde, während oft Kugelsplitter auf das Dach fielen.

25. Sept. „Ach, wird keine Sabbatstille? Herr Zebaoth, tröste uns, lass dein Antlitz leuchten, so genesen wir. Heile Du. uns, so werden wir heil, hilf Du uns, so ist uns geholfen!“

27. Sept. „Ich schlief ruhig bis Mitternacht, dann erwachte ich und bekam in mir die Aufforderung, heute Morgen allein zu General Urich zu gehen, mit der Versicherung des Herrn, dass er mich mit geneigtem Ohr anhören werde, wenn ich ihm von der Übergabe der Stadt, von deren nahen Erstürmung und der Plünderung spreche. Ich soll ihn fragen, für wen er denn die Stadt erhalten wolle. Sei mit mir, o Jesu, und in meiner Schwachheit mächtig. Um 10 Uhr begab ich mich mit bangem Herzen zum General Urich, er war nicht zu Haus; um halb 11 kam er; ich sagte ihm Alles was mir der Herr ins Herz gegeben; er war recht artig gegen mich, und antwortete mir: „Ich werde mein Möglichstes tun.“ „Um 12 Uhr ging ich zu Herrn Küss, unserm Maire, und fragte ihn, was denn der Munizipalrat zu der Lage der Dinge in Straßburg sage, und stellte ihm die Folgen eines längeren Widerstandes vor. Er sagte: Wir sind 45 Räte, 44 derselben haben eine Petition an den General unterschrieben und ihm vor 8 Tagen dieselbe eingehändigt. Der General kam selber in die Sitzung, wir legten ihm alle Gründe vor, die die Kapitulation motivierten, er erwiderte immer, dass die Militärgesetze es ihm unmöglich machten.“ So ging ich auch von ihm trostlos fort, ich war sehr niedergeschlagen. Nachmittags, um 2 Uhr, wohnte ich der Andacht im Dratoire bei. Von da ging ich ins Seminar in die Ambulance, dann nach Haus, wo verschiedene Hilfsbedürftige meiner warteten; halb vier ins Versorgungshaus, wo die Schwestern jammerten und mich baten, mich zu legen.“

27. Sept. „Abends 7 Uhr. Man meldet mir, dass die Stadt übergeben sei. Ich danke dem Herrn, der mein schwaches Flehen erhört hat.“

28. Sept. „Um 2 Uhr hielt ich im Oratoire der Ev. Gesellschaft die Andacht über Psalm 31, 1-9 mit dem Lied: „Ein feste Burg ist unser Gott.“ Wir haben nun die Betstunde um 2 Uhr eingestellt und die Abendbetstunde am Freitag, um 8 Uhr, wieder angekündigt. Überall begegnet man heitern Gesichtern und man fühlt, dass eine schwere Last von allen Herzen genommen ist. – Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was Er dir Gutes getan hat.“

30. Sept. „Die Leidenszeit geht durch des Heilands Gnade nun zu Ende; ich hatte eine gute Nacht und erwachte neugestärkt mit einem Herzen voll Dank. Um 11 Uhr waren wir eingeladen, in Kirchenrock in der Thomaskirche uns zu versammeln; wir waren nur zu 6 Pfarrer, Hr. Baum an der Spitze führte das Wort, redete den General v. Werder an, indem er ihm die Bürgerschaft und besonders die alten Anstalten Straßburgs ans Herz legte. Der General antwortete energisch, doch mit Wohlwollen, er versprach alle Schonung für die Stadt und wünschte, dass die Wunden, die er habe wider Willen ihr schlagen müssen, ausgeheilt würden. Pastor Emil Frommel leitete den Gottesdienst. Ich ging tiefgerührt aus der Kirche.“

27. Oktober. „Gestern Abend von 6-9 Uhr ein fürchterlicher Sturm mit Blitz ohne Donner. Er vollendete die Zerstörung der Ruinen der Neuen Kirche, indem er den noch stehenden Giebel zur Hälfte in die Kirche warf, das noch Übrige des Gewölbes zusammenschlug, die hintere Reihe der Säulen umstürzte und nichts übrig ließ als die äußern Mauern. Ich nahm Abschied von dem letzten Reste meiner Kirche. Droben in der Heimat hab ich einen unvergänglichen Bau. Amen!“

Härters Heimgang.

In den schwersten Tagen der Belagerung schrieb Härter im Diakonissenhaus noch ein liebliches Lied nieder, mit der Überschrift:

Der Zug nach oben.

Heimat meiner Liebe,
Ziel der heilgen Triebe,
Ort der sel’gen Ruh,
Wo mein Jesus weilet,
Friedenstadt, es eilet
Dir mein Sehnen zu!

Herr, wie lang
Werd‘ ich noch bang
an die Erdennot gebunden
Zählen Tag und Stunden?

Zwar sollt‘ ich nicht zählen,
Sollte mich nicht quälen,
Denn die Zeit entflieht;
Und ich kann mit Freuden
Sehn wie durch das Leiden
Mich mein Jesus zieht.

Näher stets
Zur Heimat geht’s; –
Folg‘ ich nur dem Liebeszuge
Auch im Liebesfluge!

Doch ich geh so träge
Auf dem Lebenswege
Meinem Jesu nach,
Dankend halb, halb zagend,
Nach dem Ausgang fragend
Und mit manchen Ach!

O, wie schwer
Ward mir’s bisher
Ganz mir selber abzusagen
Und mein Kreuz zu tragen!

Lehr‘ mich stiller gehen,
Treuer auf dich sehen,
Den ich oft betrübt!
Jesu, voll Erbarmen
Hast du ja mich Armen
Je und je geliebt!

Lauter Güt
Ist’s die mich zieht
Hin zum Ziel der heil’gen Triebe,
Zu dir, meine Liebe!

Das war Härters Schwanensang, der noch während der Schreckenstage erklungen. Als diese Tage vorüber, waren seine Kräfte gebrochen, er konnte nur noch ein paar Male die Kanzel besteigen und seiner Gemeinde das verkünden, was das Glück seines Lebens und sein Trost Angesichts des Todes war. Von 1872 an war er seinem Erdendasein nach halb gestorben, er hatte sichtbar abgenommen, man sah, dass er dem Ziel seines vielbewegten, segensreichen Lebens nahegekommen war. Einige Wochen vor dem Jubiläumstag seiner 50jährigen Amtsführung lähmte ein Schlaganfall sein Gedächtnis, hinderte ihn an jeder ferneren Wirksamkeit und führte ihn in die Stille. Wohl besuchte er noch ab und zu sein liebes Diakonissenhaus, auch die Bibelstunden der Kapelle. Den 25. Nov. 1872 wohnte er noch dem christlichen Männerverein, dessen wir schon erwähnten, bei, ließ am 27. Januar 1873 seine Abwesenheit entschuldigen und schickte am 17. Nov. des Jahres seinen herzlichen Brudergruß. Anderthalb Jahre belastete ihn noch große Leibes- und Geistesschwachheit. Wohl nicht vor den Menschen, sondern vor Gott, lebte er still im Kämmerlein, gepflegt von der treusten Kindesliebe. Kaum achtete er, was um ihm her vorging, die lange Reihe der durchlebten Jahre zog wie in Schattenbildern an seinem Geist vorüber; die Gegenwart war vor ihm mit einem Schleier bedeckt, den er erst lüften durfte, wenn der Todesengel ihm die Hand reichte. Aber die Gedanken an die Gnade und die Barmherzigkeit seines Heilands erfüllten ihn fort und fort. Seine Rede, welcher früher Tausende andächtig zugehört, ergriffen von der Beredsamkeit seines Mundes, hatte nur noch einzelne Sprüchlein der Heiligen Schrift und kurze Gebete. Seine Gedanken irrten unstet umher, die an den Wänden seines Zimmers hängenden Bilder, Pfänder der Erinnerung an nahe und ferne Freunde, schaute er nur flüchtig an, selbst an seine Anstalten und Werke schien er nicht mehr zu denken; aber man merkte seinen Lippen an, dass er meist wohl nur in Seufzern betete zu seinem Herrn und Heiland, dessen Barmherzigkeit und Versöhnungsgnade die Schrecken des Todes bei ihm weit überwogen. Sein letztes verständliches Wort sprach er am Sonntag vor seinem Scheiden, da ihm der Spruch Psalm 73,26 zugerufen wurde: „Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil!“ Da wiederholte er deutlich die Schlussworte: „Mein Teil!“

Am Mittwoch, den 5. August 1874, am 4ten Tage seines 78sten Lebensalters, entschlummerte er sanft und friedlich, umgeben von seinen Kindern und Enkeln. Sein Lieblingslied: Es ist noch eine Ruh vorhanden, schien ihm noch verständlich zu sein, weniger das Lied: Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh? In der Mitte der 3. Strophe:

Wie selig die Ruhe bei Jesu im Licht,
Tod, Sünden und Schmerzen, die kennt man dort nicht.
Das Rauschen der Harfen, der liebliche Klang
Bewillkommt die Seele mit süßem Gesang.
Ruh‘, Ruh‘, Ruh‘, himmlische Ruh,
Im Schoße des Mittlers, ich eile dir zu!

stand sein Puls stille.

Mit Blitzeseile durchflog die Trauerkunde die Stadt und ergoss sich in die Ferne; die Freunde klagten, die Gegner verstummten „ein Großer in Israel war gestorben!“

Zwei Tage darauf drängte sich viel Volk um die Neue Kirche, in welcher der Heimgegangene getauft, konfirmiert, ordiniert und getraut worden war. Hunderte von Geistlichen und Freunden, auch solche, welche ihn im Leben wenig geachtet, begleiteten den Sarg, der mit Palmen geschmückt und mit der offenen Bibel, Härters größtem Kleinod, belegt war, in die Jung-Sankt-Peter Kirche, wo die Leichenfeier stattfand, weil der in Angriff genommene Kirchenbau noch nicht vollendet war.

Nach seiner Bestimmung, wurde die schon im Jahr 1835 während einer schweren Krankheit und in der Gewissheit seines nahen Heimgangs geschriebene Rede: „Abschied an meine Gemeinde“ durch seinen langjährigen Freund Pfr. H. Scheffer verlesen. Er hatte darin die Stelle 1 Tim. 1,15-17 als Text angegeben: „Denn das ist je gewisslich wahr und ein teuer wertes Wort, dass Christus Jesus gekommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen, unter welchen ich der Vornehmste bin. Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren, auf dass an mir vornehmlich Christus erzeigte alle Geduld, zum Exempel denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben.“ Mit der ganzen Glut der damaligen ersten Liebe schilderte er darin „die Barmherzigkeit, die ihm armen Sünder widerfahren war, durch welche ihn der Herr aus den Banden des Zweifels und aus der Finsternis, des Unglaubens und des Todes erlöst und zu der Erkenntnis der freien Gnade im lebendigen Glauben geführt hatte.“

„Der Eindruck (schreibt ein Bericht über dieses Begräbnis) des einfachen aber aus der reichsten Erfahrung und in der überzeugendsten Wahrheit geschriebenen Lebenslaufes war ein überwältigender. Es war als ob noch einmal, aber nunmehr in dem Lichte der Ewigkeit verklärt, die seit Jahren verhüllte Gestalt ihres alten Hirten vor der Gemeinde erschienen wäre, ihr in prophetischer Kraft, mit dem Worte, das da tötet und auch lebendig macht, zu bezeugen, dass in keinem Andern Heil ist, auch kein anderer Name den Menschen gegeben, darinnen wir können selig werden, als der Name Jesu Christi, der allein aus diesem Manne ein Kind der Gnade und einen Diener der Barmherzigkeit gemacht hat.“

Ein unendlich langer Trauerzug hat dann den treusten und gesegnetsten Gottesmann zum Grabe begleitet, wo er neben seiner zweiten Gattin und seinen beiden Töchtern und umgeben von acht vorangegangen Gliedern der Familie Rausch dem Auferstehungsmorgen entgegenschlummert. Wenn du, lieber Leser, sei’s bei einem Begräbnis, dem du beiwohnst, oder bei Besuchen der Gräber deiner Angehörigen den Friedhof zu St. Helena betrittst, so wirst du, ungefähr in der Mitte des alten Teiles desselben, links einen Denkstein, finden, auf dem eingegraben die Worte stehen:

Franz Heinrich Härter
Pfarrer der Neuen Kirche
geboren den 1. August 1797
heimgegangen
den 5. August 1874.
Jesus Christus, gestern und heute,
Und derselbe in Ewigkeit
Ebr. 13, 6.

Scheiden tut weh! Aber wir haben ihn ja nicht verloren; diese und noch manche andere teure Seelen, die im Leben uns lieb waren, sie sind uns nur vorangegangen.

„Wir folgen ihnen gläubig nach
Und leise führt uns jeder Tag
Dem letzten Tag entgegen!
Uns Allen winkt das ernste Grab,
Wo wir auch unsern Wanderstab
Zur Ruhe niederlegen.

O möchten wir dann mit dem Apostel, wie unser tiefbetrauerter Freund und Bruder Härter, sagen können: „Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe Glauben gehalten“. Das walte Gott, der Herr, nach seiner großen Gnade und Barmherzigkeit an uns Allen!

 

Quelle:

Bilder aus dem Leben von Franz Heinrich Härter

Ein Beitrag zur Geschichte des geistlichen Lebens im Elsass im XIX. Jahrhundert

Von
Christian Hackenschmidt, Vater

Sonderabdruck aus dem „elsässischen evangelischen Sonntagsblatt“

Straßburg,
J. H. Ed. Heitz (Heitz und Mündel)
1888

 

Christinger, J.J. – Theodor Bibliander

I. Jugend und Bildung.

 

Wenn jedes Zeitalter eine Hauptbestrebung hat, einen Zielpunkt, nach welchem Alle hinblicken, eine Geistesströmung, von welcher Alle getragen werden, so war dies im Anfang des 16. Jahrhunderts in unserm Vaterlande ein starker, alle Hindernisse besiegender Drang nach höherer Erkenntnis, nach wahrer, zuverlässiger Wissenschaft Es war, als spräche der Volksgeist zu sich selbst: „Lange genug habe ich wie ein Kind mich leiten lassen von jenem einzigen Stand, von jener altehrwürdigen Macht, der Niemand widersprechen darf; habe angenommen, was sie mir auflegte, habe entbehrt, was sie mir nicht darreichen wollte; ich muss mich aufmachen und einmal selbst hingehen an die Quellen der Wissenschaft, muss einmal selbst suchen und forschen, was denn in diesem Wirrwarr der Meinungen noch Wahrheit sei und wie es um des Menschen höchste und heiligste Angelegenheit stehe?“ Also der Volksgeist, da stiegen aus den Tälern der Alpen einige seiner Kinder herab und drängten sich kühn in die Hörsäle der klassischen Gelehrsamkeit und errangen im Kampfe mit tausend Hindernissen durch eisernen Fleiß und aufopfernde Hingebung, was sie gesucht hatten, um es zum Gemeingut des Volkes zu machen.

 

Nicht mit vollgepackten Koffern und klingendem Geldbeutel, noch auf den weichen Polstern des Postwagens zogen sie den Schulen Deutschlands zu, sondern als arme Bauern- und Hirtenjungen, die sich auf der Reise und am Ort ihrer Bestimmung durchschlugen, so gut es gehen mochte. Freilich ihre Sitten waren roh, ihre Lebensweise ungeordnet, ihre Erwerbszweige nicht immer zu rechtfertigen; manche gingen wohl an Leib und Seele zu Grunde und sahen das Vaterhaus nicht wieder. Aber ein rührender Zug geht doch durch dieses wilde Leben hindurch; er spricht sich aus in jenen Worten Thomas Platers, die er nach vielen Irrfahrten im Lehrsaal des Myconius in Zürich zu sich selbst sprach: „An diesem Orte willst du entweder etwas lernen oder sterben.“

 

Zu diesen Kindern des Volkes, die von einem dunkeln Drange getrieben, hinaus eilten in die weite Welt, um von dem neuaufgehenden Lichte der Wissenschaften zu holen, und dann mit demselben getreulich wieder zurückkehrten ins Vaterland, gehört auch der Thurgauer Theodor Buchmann, oder wie er sich nach damaliger gelehrter Sitte umtaufte: Bibliander.

 

Er ist keiner von den Sternen, die mit einem Alles überstrahlenden Glanz durch die Jahrhunderte fortleuchten, aber ein ungünstiges, fast möchte ich sagen tragisches Geschick machte ihn und seine Verdienste bei der Nachwelt viel schneller vergessen, als Andere, die es eher verdienten. Er ist ein Märtyrer jener freieren Überzeugung geworden, die das 16. Jahrhundert nur im Anfang verstehen und billigen konnte, dann aber, wie über seine eigenen Taten erschrocken und ängstlich geworden, wieder zu erdrücken und verbannen suchte.

 

Theodor Buchmann wurde wahrscheinlich im Jahr 1504 zu Bischofszell im Thurgau geboren, wo sein Vater, Hans Buchmann, Stiftsamtmann war. Nach andern Angaben ist sein Geburtsjahr 1509. Da er aber bereits 1532 auf einen der ersten theologischen Lehrstühle der Schweiz berufen wurde, so ist die ältere Jahrzahl jedenfalls weit zuverlässiger. Seine Jugendzeit ist gänzlich in Dunkel gehüllt. Pellican, einer seiner späteren Freunde und Verehrer, soll sein Leben beschrieben, aber nicht im Druck herausgegeben haben; ob solches richtig und ob die Handschrift noch irgendwo vorhanden, vermag ich zur Zeit noch nicht zu entscheiden. Der Thurgau war damals, unter der Landvogtei der 7 Orte, noch wenig geeignet, dem Bildungsdrang des heranwachsenden Geschlechtes irgendwie fruchtbaren Boden zu bieten. Die Landvögte kamen und gingen alle 2 Jahre, denn die regierenden Orte wechselten in der Besetzung des einträglichen Amtes miteinander ab. So kam es, dass, was unter dem einen ins Leben gerufen und gepflegt worden, unter dem andern wieder zerstört wurde. Religiöse Unduldsamkeit und Verfolgungssucht waren damals auf beiden Seiten nahezu gleich und so selbstverständlich, als der Grundsatz, dass die Wahrheit nur auf Einer Seite sein könne. Doch war gerade Biblianders Geburtsort, das Städtchen Bischofszell, vor vielen andern als Pflanzstätte einiger Bildung bevorzugt; denn das Stift (Episcopi Cella) war verpflichtet, einen Schulmeister zu halten, dessen Schule den Knaben des Städtchens geöffnet war. Daher kommt es denn ohne Zweifel, dass ungefähr gleichzeitig mit Bibliander noch einige andere bedeutende Männer aus diesem lichten Punkt der Landvogtei Thurgau hervorgingen; so Ulrich Hugbald, genannt Mutius, gestorben 1571, ein tüchtiger Philologe, Lehrer an der Universität Basel und Verfasser mehrerer Schriften, worunter die merkwürdigste: De Germanorum prima origine, moribus, institutis et rebus gestis. Dahin gehört ferner Fridolin Sicher, Kaplan zu Bischofszell bis 1528, nachher in St. Gallen, der eine schätzenswerte Chronik seiner Zeit als Manuskript hinterließ. Zu Bischofszell war in den vierziger Jahren des sechszehnten Jahrhunderts auch der gelehrte und tätige Pfarrer Johannes Zwick. Von da stammte der humanistisch gebildete Fritz Jakob von Anwyl, Obervogt des Bischofs von Constanz, 1508-25 zu Bischofszell, ein Kenner und Freund der damaligen theologischen und humanistischen Literatur; er schrieb eine helvetische Chronik, eine Beschreibung des Thurgaus und etliche religiöse Lieder, die in ein geistliches Gesangbuch übergegangen sind (Nüw Gesangbüchle von viel schönen Psalmen und geistlichen Liedern, Zürich bei Froschauer 1540). Endlich hat Bischofszell auch einen jener Schwarmgeister ausgesandt, welche im Gefolge der Reformation gingen, Ludwig Hetzer, Kaplan zu Wädensweil, dann in Zürich, Verfasser des Büchleins: Urteil Gottes, wie man es mit Bildern halten soll. Aus einem Freunde Zwinglis wurde er ein fanatischer Wiedertäufer, richtete im Zürichgebiete große Verwirrung an und wurde zuletzt wegen eigener sittlicher Verirrungen zu Constanz enthauptet, 1529.

 

Nachdem Bibliander die Schule seiner Vaterstadt absolviert, kam er nach Zürich, wo er von dem trefflichen Oswald Myconius weiter gebildet und zu dessen Provisor (Vikar) herangezogen wurde. Im Hause dieses gelehrten Mannes, als Schüler, Pensionär, Famulus, Provisor und endlich als Freund scheint er eine Reihe von Jahren gelebt und gelernt zu haben. Mit rührender Zärtlichkeit und Verehrung hing er an dem ausgezeichneten Lehrer sein ganzes Leben lang, legte ihm die Erstlingsfrüchte seiner Studien zur Prüfung vor und zog ihn namentlich in den später erwachenden theologischen Streitigkeiten mit kindlichem Vertrauen immer wieder zu Rate. Bibliander studierte mit eisernem Fleiß sozusagen Alles, was ihm in den Weg kam: Latein, Griechisch, Hebräisch, Arabisch, Theologie und Philosophie. Der Name „Buchmann“ wurde bald die treffendste Bezeichnung seines Trägers, denn die Bücher waren des Jünglings und des Mannes eigentliches Lebenselement. Als Provisor des Myconius versah er auch eine Zeit lang das Amt eines Pfarrverwesers in Weiach; ob er sich indes für das Predigtamt weniger berufen fühlte, oder ob die Wissenschaften ihn mächtiger anzogen; er wählte, wie es scheint im Hinblick auf Myconius, die Laufbahn des Gelehrten. Wenige haben sich mit größerer Hingebung dem Studium der orientalischen Sprachen und der Schrifterklärung gewidmet, obgleich ihm auf dem mühevollen Wege ebenso viel Dornen als Früchte erwuchsen.

 

In den Jahren 1527 und 28 treffen wir den jungen Bibliander auf Reisen. Er ging nach Basel und Straßburg teils in Geschäften seines Lehrers, teils wohl zu seiner weitern Ausbildung. Mit Briefen der Schweizer Reformatoren reiste er von dort nach Württemberg, Kassel und Schlesien und verweilte ungefähr zwei Jahre in Liegnitz, wo er sich wahrscheinlich mit den orientalischen Sprachen beschäftigte, in welchen er nachmals als eine der ersten Autoritäten galt. Von dort aus schrieb er an Myconius mehrere Briefe, die jedoch den eigentlichen Zweck seiner Reise und seines Aufenthaltes daselbst nur unvollkommen erkennen lassen, dagegen die treue und dankbare Gesinnung ihres Schreibers deutlich offenbaren.

 

Wir teilen hier einen derselben im Auszuge mit:

 

„Dem frommen und weisen Oswald Myconio, Bürger zu Zürich, meinem guten Freund und Gönner.

 

Bei der letzten Leipziger Messe, welche zu Michaelis abgehalten wurde, schickte ich Briefe dorthin, welche ich St. Galler Kaufleuten übergeben ließ, vor allem einen an Dich, worin ich meine sämtlichen Reiseerlebnisse mitteilte, wie ich meine Aufträge ausgerichtet und welches mein Schicksal von meinem Abschied an bis auf diesen Augenblick gewesen sei. Da Du, wie ich hoffe, jenen Brief erhalten hast, will ich nicht wiederholen, was darin stand, nur das Eine, dass Johannes Frumentarius, Geheimer Rat des Herzogs von Württemberg, sich viele Mühe gegeben hat, dass die Briefe und Schriften, welche Zwingli und Ökolampadius aufgegeben, so gut und zuverlässig als möglich besorgt würden. Nun vernimm meine persönlichen Nachrichten!

 

Ich bin körperlich gesund, fühle mich aber geistig nicht wohl teils wegen minder wichtiger Dinge, die ich übergehen kann, teils darum, weil ich von Euch keine Briefe bekomme, was ich mit ruhigem Gemüte nicht mehr zu ertragen vermag. Wie dies mich beunruhigt, kann ich kaum ausdrücken. Daher, bester Myconius, gib Dir Mühe und sinne doch auf Mittel, damit ich einmal einen Brief von Dir erhalte, wenn es nicht öfters sein kann. Durch St. Galler Kaufleute, welche die Leipziger Messe besuchen, könnte es wahrscheinlich wohl geschehen, dass ich von Euch Nachricht erhielte. Wenn irgend eine Gelegenheit sich darbietet, so beschwöre ich Dich, dass Du sie nicht vernachlässigst. Wenn Du mir aber schreibst, so vergiss nicht zu sagen, ob Du etwas von meinen Büchern weißt oder etwas darüber erfahren kannst; denn bis auf den heutigen Tag habe ich kein Wort davon vernommen. Ich weiß, dass Du dies mit Deiner gewohnten Güte und Umsicht für mich wohl besorgen wirst.

 

Die Schule hier hat wenig Zuwachs, ich weiß nicht, ob durch die Ungunst der Zeit, welche die Schulen so ziemlich in Abnahme bringt?

 

Der Fürst selbst steht fest im Glauben, als ein Vorbild der Fürsten steht er da für Christum. Das Verständnis des Abendmahles beginnt immer Mehreren aufzugehen, ob auch Papisten und Lutheraner widerstreben. Übrigens ist der Gebrauch (Form) nicht wiederhergestellt worden, außer bei den Wiedertäufern, deren Halsstarrigkeit, wie ich beiläufig bemerke, man aufs Strengste zu unterdrücken und zu bezwingen unternimmt.

 

Mehr zu schreiben will der eilende Briefbote dies Mal nicht erlauben. Wenn ich wieder einen Boten und Zeit haben werden, so will ich Dir ausführlich über Alles schreiben. Denn ich hätte mit Euch (den Zürchern) Mehreres schriftlich zu verhandeln. Grüsse von mir die ganze christliche und wissenschaftliche Genossenschaft bei Euch und sage besonders Deiner guten Gattin meinen besten Gruss. Das will ich noch beifügen, dass von den Straßburgern Briefe hier angekommen sind, von den Zürchern keine. Wie das kommt, darüber kann ich mich nicht genug wundern.

 

Liegnitz den 11. December 1527.

 

Theodor Buchmann, immer und von Herzen der Deine.“

 

Dieser Brief ist, wie alle übrigen, in dem ziemlich breiten und umständlichen Latein geschrieben, welches damals üblich war. Welches der Hauptzweck von Biblianders Reise nach Schlesien gewesen, ob er in Liegnitz als Lehrer oder Schüler sich aufhielt, ob er als Abgesandter der Schweizer mit den deutschen Reformatoren in persönlichen Verkehr trat, geht leider aus den vorhandenen Briefen mit Sicherheit nicht hervor. Es müsste aus jenem ersten an Myconius zu erkennen sein, worin er seine Reiseerlebnisse erzählt, doch scheint gerade dieser verloren gegangen.

 

Am wahrscheinlichsten will mich bedünken, dass Bibliander als angehender Schulmeister zu seiner weiteren Ausbildung, namentlich wohl in den orientalischen Sprachen, diese Studienreise unternahm und, wie es damals üblich war, auf derselben die Briefe seiner Freunde bestellte. Er scheint bei dieser Gelegenheit auch Luther gesehen und gesprochen zu haben, gegen den er bereits eine etwas gereizte Stimmung zeigt. Denn der Abendmahlsstreit war ausgebrochen, welcher Reformirte und Lutheraner aufs Tiefste entzweien sollte.

 

Nachdem einige eifrige lutherische Theologen zweiten und dritten Ranges die Schweizer (Zwingli und Ökolampadius) wegen ihrer Abendmahlslehre angegriffen, machte sich Luther selbst auf und trat an die Spitze der Kämpfenden, zur größten Freude der kleinen Zänker, aber zum aufrichtigen Bedauern der milden und großen Geister beider Parteien. Und er fuhr so schneidend darein mit dem Schwerte seines volkstümlichen Wortes, dass die Schweizer Mühe hatten, das bisherige Vertrauen, das sie in Deutschland genossen, zu behaupten und den Streit in den Schranken der Mäßigung zu halten. Doch erklärten die Fürsten von Württemberg, Hessen und Schlesien (Liegnitz), dass sie unentwegt zu ihnen stehen werden; ja der letztere ließ durch seinen Gesandten Fabian die Schweizer ersuchen, ihm einen treuen und gelehrten „Schuldiener“ (Unterschulmeister) zu verschaffen. Sie empfahlen ihm den Bonifazius Wolfhard „als in der Lehr mit Ökolampadio und Zwinglio ganz gleich gesinnet.“ Vielleicht, dass auch Bibliander in gleicher Eigenschaft nach Schlesien abging. Er war damals (1527) 23 Jahre alt.

 

Bibliander erhielt auf den oben angeführten Brief an Myconius abermal keine Antwort, sei es, dass diese verloren gegangen oder ungebührlich verzögert worden war. Da scheint schmerzliches Heimweh, damals schon ein Vorrecht der Schweizer, und das Gefühl der Kränkung sich der Seele des Jünglings bemächtigt zu haben, und er schreibt einen Klagebrief nach Zürich, der in pathetischen Phrasen und Ausrufen das Mögliche leistet. Als Beispiel möge folgende Stelle genügen:

 

„Sed quid nunc de hoc scribam, quod me ita expertem sinas tuarum literarum? Expostulem? At pietas me vetat facere. Rationibus tecum agam? At quo rationes persuadebunt, si animus iste tuus optime mihi volens, qui ut scribas me sentiscit velle, Te non ad scribendum impellit? Rogem? obsecrem? obtester? At vereor, ut frustra sit, quum mihi nuper non scripsisti, cum nuntium habuisses commodissimum.

 

Dolet mihi, dolet Myconi pater, non accedere scripta tua ad me, tam improbe flagitata, tam diu expectata. Nec mirari satis possum tantum silentium tuum. Nisi forte perlatum est aliquid ad vos de nobis, ob quod succenseas mihi. Certe si succenseatur nobis, indignis illud accidit et non merentibus.

 

(Vom 22. Juli 1528.)

 

Abermals verlassen uns die Nachrichten über Biblianders Leben vollständig; doch ist ziemlich sicher, dass derselbe im Jahr 1528 wieder nach Zürich zurückkehrte und in sein früheres Verhältnis zu Myconius trat. Die folgenden Jahre brachten nun wie in die ganze Schweiz, so namentlich auch in das Häuflein der Zürcherschen Gelehrten eine außerordentliche Aufregung. Manche derselben zogen mit dem Banner von Zürich auf das Schlachtfeld von Kappel; ob auch Bibliander unter ihnen war, lässt sich kaum mehr bestimmen. Als aber Zwingli dort (11. Oktober 1531) im Kampfe für seine heiligste Überzeugung gefallen und andere hervorragende Männer sein Schicksal geteilt hatten, bemächtigte sich der sonst so beherzten Stadt einen Augenblick Bestürzung und Traurigkeit. Bald indes ermannte sich der Rat wieder und begann die verwaisten Stellen in Kirche, Schule und Staat zu besetzen. Besonders wichtig und schwer war die Ersetzung des Reformators selbst, denn Zwingli hatte mit staunenswerter Tätigkeit und Arbeitskraft gewirkt und Niemand schien wohl im Stande, diese Last von Arbeit auf sich zu nehmen. Da beschloss der Rat sie zu teilen: er wählte für das Predigtamt den trefflichen Bullinger, für das Lehramt der Schrifterklärung aber, welches Zwingli mit jenem verbunden hatte, unsern Bibliander.

 

Während Myconius von Zürich nach Basel übersiedelte und dort die Pfarrstelle zu St. Alban übernahm, betrat sein Schüler den Lehrstuhl der Theologie, um mit seiner bereits hervorragenden Gelehrsamkeit und seinem milden, versöhnlichen Geist das angefangene Werk weiter zu führen. Wie der junge Gelehrte mit 27 Jahren zu dieser ehrenvollen Stellung kam, lässt sich nicht deutlich genug mehr erkennen. Der Erfolg zeigte indes bald, dass diese Wahl eine glückliche war, Bibliander ward der treue Nachfolger des Reformators nicht bloß im Amte, sondern auch in rastlosem Fleiß und theologischer Gelehrsamkeit, ganz besonders aber in jenem weitherzigen, milden und freisinnigen Geiste, welcher die Wahrheit sucht und Jedem, der aufrichtig das Gleiche tut, die Hand der Versöhnung bietet. Ja Bullinger gibt ihm das glänzende Zeugnis: Haud scio, num aliud hodie festivius, eruditius et majori pollens judicio vivat ingenium.

 

II. Amtsjahre.

 

Am 11. Januar 1532 hielt Theodor Bibliander seine Antrittsvorlesung als Zwinglis Nachfolger auf dem Lehrstuhl der Schrifterklärung. Er begann mit der Auslegung des Propheten Jesaja. In der Einleitung, welche wohl als sein Programm betrachtet werden darf, entwickelt er den Gedanken, dass der göttliche Geist der Wahrheit sich auch bei den Heiden geoffenbart habe, ja dass jene ausgezeichneten Dichter und Philosophen der Griechen und Römer wohl auch als Träger dieses Geistes betrachtet werden können. Die vollkommenste Offenbarung Gottes sei gegeben in der heiligen Schrift, aber der Geist der Wahrheit habe sich keinem Volk unbezeugt gelassen.

 

„Es waren wohl zu allen Zeiten und unter allen Nationen, nicht nur bei den durch Künste und Wissenschaften gebildeten, sondern selbst bei den barbarischen ausgezeichnete und hervorleuchtende Männer, welche entweder durch den Vorzug eines tugendhaften Lebens oder durch den Ruf großer Weisheit, durch praktische Tätigkeit oder durch Wissenschaften erworben, bei ihren Zeitgenossen und Nachfolgern am meisten gegolten haben. Diesen, weil sie als treffliche Männer galten und eine außerordentliche Erkenntnis in göttlichen und menschlichen Dingen sich erworben hatten, haben die andern, von einem Instinkt der Natur geleitet, das Recht zu regieren zugestanden und ihnen als Führern zu einem vernünftigen und rechtschaffenen Leben ihr Vertrauen geschenkt.

 

In ihre Aussprüche wurde eingestimmt, in ihre Urteile und Vorschläge wurde bereitwillig eingegangen. Auf ihren Rat wurden Unternehmungen angefangen, durch ihre Klugheit geleitet, nach ihrer Meinung hinausgeführt oder aufgegeben. Ihren Weisungen wurde Gehorsam geleistet in öffentlichen wie in Privat-Angelegenheiten, in heiligen wie in weltlichen Dingen. Und es wurde die Erfahrung gemacht, dass es den Staaten, Völkern und Reichen immer heilsam war, wenn sie die Ermahnung guter und weiser Männer befolgten. Und wiederum war es höchst gefährlich, mit großen Verlegenheiten, Elend, Schande und äußerstem Unglück begleitet, wenn sie so tüchtige Ratgeber verachtet und überhört hatten. Woher meinen wir, dass jene ähnlichen Erfolge kamen? Woher jene Regelmäßigkeit? Woher jene Übereinstimmung bei der größten Verschiedenheit der Zeit und des Ortes? Doch ohne Zweifel aus den Absichten des höchsten Wesens, in welche auch jene hervorragenden Männer teilweise schauten.

 

Denn Gott, welchem es viel notwendiger ist, das allgemeine Gut zu sein, als die Wahrheit, wie Plato sagt, hat nichts außerhalb seiner Güte und Vorsicht gelassen, sieht Alles vor und leitet Alles und nichts kann bestehen ohne ihn. Aus allen Völkern aber hat er Einen erwählt und ausgesondert, in welchem er klarer zu erkennen geben wollte, welches seine unermessliche Güte, Gerechtigkeit, Weisheit und Macht sei. Doch ist Gott in allen Völkern, lässt keines ohne Anteil an ihm, bietet sich allen zum Genuss dar, offenbart sich bis zu einem gewissen Grad allen, den einen näher, den andern gleichsam von ferne, den einen klar und lichtvoll, den andern wie im Traum, in einer Wolke, in einem durchscheinenden Körper. Dieser Gott also ist Gemeingut der Wahrheit, das ist: er hat sich auch den heidnischen Menschen dargeboten und ihnen Gesetze gegeben, nicht in Erz oder Stein gegraben, sondern geschrieben und eingedrückt in ihre Herzen ((impressas in corda illorum)). Weil diese eingepflanzt und anerschaffen sind dem menschlichen Gemüt von dem Schöpfer aller Dinge, so werden sie natürliche Gesetze genannt. Sie sind Teile ohne Zweifel von dem Willen und der ewigen Ordnung Gottes. Nach diesen Ideen der Wahrheit haben jene vorleuchtenden Männer ihre Begriffe ((sensa)) gebildet; nach ihnen, als nach einer Norm und Regel, haben sie ihre Lebensgrundsätze abgewogen und eingerichtet. Daher haben sie ihre Sittenlehren, daher ihre Räte, daher ihre Aussprüche auf alle Gebiete des Lebens ((ad omnes partes vitae muniendas)) genommen, so dass ihre Gebote und Weisungen annehmen so viel heißt, als Gottes ursprünglichen Geboten gehorchen, diese Schranken aber übertreten soviel, als Gottes Gebote vergessen. Es war daher mit Recht und nach der genauesten Prüfung des göttlichen Urteils mit der Haltung jener Grundsätze, Lehren und Mahnungen Ruhe und Glück, mit ihrer Verachtung Strafe und Schmach verbunden. Nicht von Haus haben wir diese Philosophie mitgebracht, sondern aus dem Heiligtum des wohlbelehrten Paulus hervorgenommen, welcher diesen Gegenstand klar genug behandelt in dem apostolischen Briefe an die Römer 2, 8-15 und 26-29 (Gott wird vergelten einem Jeden nach seinen Werken; denen, die durch Standhaftigkeit im guten Werke nach Preis und Ehre und Unvergänglichkeit trachten, das ewige Leben; denen aber, die widerspenstig und der Wahrheit ungehorsam sind, der Sünde aber gehorchen, Ungnade und Zorn. Trübsal und Angst über jede Seele eines Menschen, der Böses wirkt, über den Juden zuerst und auch über den Griechen; Preis aber und Ehre und Frieden einem Jeden, der Gutes wirket, dem Juden zuerst und auch dem Griechen). Im ersten Kapitel sagt er ausdrücklich, Gott habe sich den Völkern geoffenbart, aber die meisten haben die Wahrheit mit dem Irrtum vertauscht. Ich meine daher, es sei aus dem heiligen Wort Gottes klar, dass die Wahrheit auch den Heiden mitgeteilt worden sei und dass das natürliche Gesetz sie dasselbe lehre, was das mosaische; und wenn die Heiden diese Kundgebung verachtet haben, so ist mit Recht die Strafe gefolgt; wenn sie die Lehren der Weisen und Guten annahmen, die nach dem angeborenen Gesetz gehalten sind, so ward ihnen Lob, Ehre und Glück von Gott zugeteilt. – Als Wächter und Vollzieher jener Gesetze, welche Gott dem menschlichen Gemüt eingepflanzt hat, sind dann zu betrachten: bei den Indern die Bramanen und Gymnosophisten, bei den Persern die drei Geschlechter der Magier, bei den Ägyptern die Hierophanten, bei den Griechen und Römern die Philosophen, bei den Galliern die Druiden etc. Weiterhin werden zu diesen Lehrern des menschlichen Lebens mit vollem Rechte die ausgezeichneten Gesetzgeber gezählt: ein Charondas, Minos, Lycurgos, Solon, Dracon; dann auch die Andern, welche bei den verschiedenen Nationen durch hervorragenden Geist und rechtschaffenes Leben sich auszeichneten, wie bei den Scythen Anacharsis.

 

Den ersten Rang aber als Lehrer für das Leben nehmen glaube ich bei den heidnischen Völkern die Dichter ein, von denen man hielt, dass sie die Gedanken des höchsten Wesens erkannt und erforscht hätten. Man glaubte nämlich, dass sie von einem heiligen Hauch berührt und durch göttliche Begeisterung das lehrten, was den Menschen heilsam sei, wie Ovid rühmt:

 

Est Deus in nobis, agitante calescimus illo:\\

Sedibus aethereis spiritus ille venit.

 

Sie wurden daher auch für Weissager und heilige Priester des Apollo gehalten. Nennt nicht Paulus (an Titus 1,12), indem er den Dichter Epimenides oder Menander zitiert, denselben einen Propheten, eben weil bei den heidnischen Völkern an der Stelle die Dichter standen, wo bei uns die Propheten? Ohne Zweifel waren die ältesten Dichter Theologen von Beruf, wie Musaeus, Orpheus, Linus und Hesiod, der eine Genealogie der Götter erzählt.

 

Ihr gemeinsames Bestreben war, das dem Menschen Heilsame ((utilia vitae)) durch die lockende Macht der Rede darzubieten und einen gesunden, mit Zucker und Honig versüßten Trunk der Lehre zu reichen. Wenn sie nicht immer die Tugend übten, so haben sie dieselbe doch fleißig gelobt und das Laster gegeißelt. Oder sind ihre Satiren nicht Sittenpredigten, klare Beurteilungen der Laster ihrer Zeit und Ermahnungen zur Sittlichkeit? Ja, man findet in ihnen mehr heiligen Sinn, mehr Bildung, mehr Weisheit, überhaupt mehr nützliche Frucht, als in den langen Summen ((Lehrbüchern)) gewisser Matäologen((abw. Philosophen, leere Schwätzer)) (ich sage nicht: „Theologen“) und in ihren ungeheuren Bänden zusammengetragenen Zeuges ((ingentibus centonum fasciculis)). In der Tat sind jene Männer ihrer Zeit viel gewesen und haben auch der Nachwelt viel Gutes getan. Durch die Mahnungen der Dichter wurde die Ausgelassenheit der Jugend besänftigt, die Wildheit gebändigt, das Urteil gebildet, die Verkehrtheit des Sinnes zurecht gebracht. Der Dichter war der öffentliche Ankläger der Laster, der große Schrecken der Spitzbuben und Schwindler. Aber unter jenen gelehrten Männern sind doch auch viele als Betrüger erfunden worden, möchte Einer sagen. Niemand wird leugnen, dass unter ihnen manche nichtsnutzige und durch böse Leidenschaften verkehrte Menschen gewesen sind, welche dem Schein nach die Wahrheit und jene eingepflanzten Gesetze verkündeten, aber in der Tat das Ihrige suchten und verderbliche Lehren in die Menschheit ausstreuten, nicht anders, als wie auch bei uns zu allen Zeiten falsche Propheten und falsche Apostel gewesen sind. Ihre Lehren wurden aufgegriffen von übelgesinnten und verdorbenen Leuten; aber von den besser gesinnten, die von der Idee des Wahren und Guten getrieben waren, wurden sie zurückgewiesen, da sie als töricht, schändlich, schmutzig, mit der Wahrheit streitend, der Vernunft widerstrebend erschienen und durchaus nicht zu jenen Normen der angeborenen Gesetze stimmten. Aus den Büchern jener Männer aber, die unermüdlich nach Wahrheit und Tugend strebten, kann viel gewonnen werden, das unser Leben veredelt, bildet, verschönt und vor Schaden bewahrt. Vieles, was sie gesagt haben über Gott, stimmt mit den Glaubenssätzen des Christentums überein. Dies hielten unsere Altvordern für entwendet aus den Schätzen der heiligen Bücher und meinten, dass man es mit Recht zurückfordern und jenen als den unrechtmäßigen Besitzern entreißen müsse. Umgekehrt müssen diese Wahrheiten alle vielmehr betrachtet werden als Geschenke des himmlischen Vaters, als Samenkörner des Rechten und Wahren, vom Himmel her in den Acker des menschlichen Gemüts geworfen. Wie nämlich Gott reich ist und großmütig und am allerwenigsten neidisch, so wollte er auch jene Menschen nicht von der Wahrheit, dem höchsten Gute, ausschließen. Was sage ich, er wollte sie nicht ausschließen? Vielmehr wollte er ((maxime nopit)), wie sein Wort lehrt, dass alle Menschen mit großen Schritten nach der Erkenntnis der Wahrheit fortschreiten und an dem ewigen Heil Teil erlangen. Möchten nur die törichten Menschen die ihnen dargebotene Wohltat anerkennen, nicht undankbar vernachlässigen, sondern mit Eifer erfassen. Lasst uns also mit jenen Schätzen (Wahrheiten der Heiden) Mitleid haben, nehmen wir sie in Empfang, damit sie nicht zu Grunde gehen und legen wir sie ehrenvoll im Haus Gottes nieder!“

 

So sprach Bibliander in seiner Antrittsvorlesung als Nachfolger des Reformators. Ein feiner, freier und zugleich milder Geist weht durch alle seine Worte hindurch. Besonders charakteristisch aber ist ihm das Bestreben, das ganze Geistesleben der Menschheit als Totalität zu erfassen, ein Universalismus, der an Herder erinnert, ein Humanismus, der nichts Menschliches sich fremd fühlt. Seine Zuhörer, darunter die ersten Theologen Zürich’s, waren entzückt von der Beredsamkeit und eminenten Gelehrsamkeit des jungen Professors. Eine Reihe von Jahren besuchten Männer wie Bullinger und Pellican die Morgenvorlesungen Biblianders, die, ich möchte sagen, als ein Morgengebet oder eine Frühmesse im Tempel der Wahrheit betrachtet wurden. Ja, Pellican hat viele derselben wörtlich niedergeschrieben und sorgfältig aufbewahrt.

 

Jetzt eröffnete sich dem für Wissenschaft und Christentum gleich begeisterten Gelehrten ein schöner und großer Wirkungskreis; immer tiefer drang er in den Geist der orientalischen Sprachen ein, die er zur Auslegung des alten Testamentes brauchte; immer freundlicher gestaltete sich sein Verhältnis zu den Häuptern der reformirtan Kirche und den Trägern der Wissenschaft; immer mehr befestigte sich auch sein Standpunkt, auf welchem er Christentum und Humanität verbinden wollte; immer mehr schärfte sich aber auch der Gegensatz zwischen ihm und jenen Männern, welche den freien Geist des Jahrhunderts und das religiöse Bewusstsein der Zeit um jeden Preis wieder in strenggefasste, allgemein verbindliche Glaubenssätze zurückzwingen wollten.

 

Nach J. J. Hottinger füge ich hier bei, was Pellican über diese Zeit in seiner erbaulichen Weise berichtet: „Gottes Gnad‘ und Barmherzigkeit hat es geleitet, dass anstatt eines Zwinglii und der von selbigem erzeigten Treu die Kirch Zürich in Lehr und Leben zweifaltig und vortrefflicher erbauet worden. Ehmal hat allein Zwinglius unter vielen Geschäften Gottes Wort in der Kirch und in der Schule erklärt. Aber durch göttliche Verfügung ist Zwinglii Schularbeit anvertraut worden Theodoro Bibliandro, einem in den Sprachen und allen übrigen Wissenschaften so wohl erfahrnen, wohl beredten und gelehrten Mann, dass Bullinger von selbigem geschrieben: Er wisse nicht, ob selbigem an Gelehrsamkeit, Verstand und Freundlichkeit jemand vorzuziehen seye.“

 

Von dem Privatleben Biblianders in den Jahren 1532-60, während welcher Zeit er sein Amt inne hatte, ist wenig genug zu unserer Kenntnis gekommen. Er vermählte sich im Jahre 1532, bald nach seinem Amtsantritt, mit Rosine Rordorf, wahrscheinlich von Zürich, die ihm mehrere Kinder geschenkt und ihn um einige Jahre überlebt hat. In Anerkennung seiner Verdienste schenkte ihm die Stadt Zürich 1546 das Bürgerrecht; auch wurde er Mitglied des reorganisierten Chorherrenstiftes, womit ein bescheidenes Einkommen verbunden war. Auf zwei Glasfenstern in Zürich sind die Schilde der damaligen Chorherren gemalt, gruppiert um die Stiftung Karls des Grossen. Dort glänzt neben dem Schilde Bullingers derjenige Biblianders mit seinem Monogramm (Jahrzahl 1556). Eine andere gemalte Scheibe im Antiquitätensaal auf der Wasserkirche, wahrscheinlich eine Dedikation, enthält unter dem Bild einer Coena die Namen: Conr. Pellicanus, Theodorus Bibliander, Conr. Gessner. Man pflegte dergleichen Scheiben früher bei besondern Anlässen einem Heiligtum zu stiften, später aber als Zeichen der Freundschaft und Verehrung sich gegenseitig zu dedizieren. Um Biblianders Stellung und Wirken in Zürich noch etwas genauer zu zeichnen, ist es nötig, einen kurzen Blick auf seinen Freundeskreis zu werfen, mit dem er in fleißigem, meist theologischem, Briefwechsel stand.

 

III. Freundeskreis.

 

„Der Mensch hat nichts so eigen,

So wohl steht ihm nichts an,

Als dass er Treu erzeigen

Und Freundschaft halten kann.“

 

So singt der treffliche Simon Dach und schlägt damit den Ton an, welchen das sechzehnte Jahrhundert nach langem Schlummer zuerst wieder geweckt hat. Ein Zeitalter, reich an geistigen Bestrebungen und Kämpfen, das die Geister sondert und wiederum zum Streite gegeneinander führt, bringt auch eine größere Zahl idealer Freundschaften hervor, als jede andere Zeit. Dazu trägt schon die gehobene, kampfesmutige Stimmung bei, in welcher die hervorragenden Männer sich finden; dann aber auch das gesteigerte Bedürfnis, seine Gedanken auszutauschen und des Andern Meinung mit der eigenen zu vergleichen; endlich der gemeinsame und eifrige Wunsch, einer als gut erkannten Sache zum Sieg zu verhelfen und die gemeinsame Gefahr, wenn dieser Sieg verloren gehen sollte. Diese Gefühl, bald mehr bald weniger klar empfunden, haben im Reformationszeitalter eine Reihe von Freundschaften gestiftet, welche einen fast antiken Charakter an sich tragen. Es sind in jener Zeit so viele Briefe, teils in wissenschaftlichem, teils in freundschaftlichem Interesse, teils in beiden zugleich geschrieben worden, dass man mit Recht sagen kann: Bei Betrachtung der zahlreichen Foliowerke jener rastlos tätigen Männer kann man es kaum begreifen, wie sie noch zu so vielen Briefen die Zeit fanden; und wenn man ihren Briefwechsel kennt, so verwundert man sich, dass sie darüber noch zu größeren Arbeiten kamen.

 

So stand auch Bibliander mit den bedeutendsten Männern seiner Zeit in regem geistigem Verkehr und mit mehreren in ungetrübter Freundschaft, die durch das ganze Leben blieb. Wie bereits angedeutet, knüpfte ihn ein besonders inniges Band an den ausgezeichneten Philologen und Schulmann Oswald Myconius. Dieser war aus Luzern gebürtig und hieß eigentlich Geisshüser oder Geisshüsler, wofür ihm Erasmus den Namen Myconius gab. Bei seiner großen Gelehrsamkeit und humanistischen Bildung blieb er doch eine derbe, kräftige Natur, treu und fest, aber auch zu Zeiten schroff und zackig wie die Berge seiner Heimat. Seine Tätigkeit in Zürich fällt in die Jahre 1522-31. Dann siedelte er nach Basel über und wurde der Nachfolger des Ökolampad als Haupt der dortigen Kirche. An diesem Manne hing Bibliander mit der ganzen Treue eines dankbaren Schülers; er hatte von ihm Lateinisch, Griechisch und Hebräisch gelernt, in den orientalischen Sprachen aber sich selbständig weiter gebildet und seinen Lehrer nach und nach überragt. Myconius war auch einer der Wenigen, die das freiere Denken Biblianders verstanden und nicht ängstlich darüber urteilten. Noch im Jahre 1551 besuchte der Schüler den alternden Lehrer in Basel zur nicht geringen Freude des letzteren; dann starb Myconius 1553 und Bibliander wurde in jene bemühenden Streitigkeiten verwickelt, welche die Prädestinationslehre nach sich zog. Im Haus des Myconius in den zwanziger Jahren war Bibliander auch mit einigen anderen merkwürdigen Männern bekannt geworden, so mit Thomas Plater und Conrad Gessner. Nach seinen Irrfahrten als fahrender Schüler in Deutschland und im Elsass und Studien mit Hindernissen kam Plater um’s Jahr 1522 nach Zürich, wo bald auch Myconius, von Einsiedeln herberufen, eintraf. Da der lernbegierige und treuherzige Walliser bald in des Myconius Haus heimisch wurde, so knüpfte er auch mit Bibliander Bekanntschaft an und lernte von ihm Hebräisch. „Thomas Plater“, so erzählt Hottinger, „hat ziemliche Zeit in Zürich mit Studieren und Unterweisung anderer Knaben, unter welchen Otto Werdmüller und Conrad Gessner, zugebracht. Er war viel in Myconii Haus und mit Theodor Bibliander, welcher um anno Chr. 1509 (1504) zu Bischofszell geboren und damals nicht nur des Myconius Provisor oder Conrector, sondern auch Kostgänger gewesen, so wohl bekannt, dass selbiger ihn in hebräischer Sprache unterrichtet, so dass Plater Andern gute Anleitung darinn geben können.“

 

Inniger und dauernder als mit dem etwas plauderhaften Plater war die Freundschaft Biblianders mit dem großen Polyhistor Conrad Gessner von Zürich, dem Begründer der Naturgeschichte und Herausgeber zahlreicher gelehrter Werke aus allen Gebieten der Wissenschaft. (Lexicon Graeco-Latinum; Enchiridion historiae plantarum; Historia animalium; Bibliotheka universalis seu Catalogus omnium scriptorum u. v. a.) Gessner war sieben Jahre jünger als Bibliander und anfänglich sein Schüler, schien sich zuerst der Philologie widmen zu wollen und hatte schon bedeutende selbständige Leistungen darin gemacht, als er noch zur Medizin und von ihr zur Naturgeschichte überging, wo er sich mit Recht den Ehrennamen des „Deutschen Plinius“ und „literarum miraculum“ erwarb. Nach langen Studienreisen in Frankreich und Deutschland lebte er in seiner Vaterstadt Zürich und starb daselbst 1565 an der Pest. Unermessliches Wissen und außerordentliche Leistungen auf so vielen und verschiedenen Gebieten der Wissenschaft machen Conrad Gessner heute noch zu einem Wunder der Gelehrsamkeit. Er nahm auch an den theologischen Fragen der Zeit lebendigen Anteil und wirkte dem ängstlichen, kleinlichen und dogmatisch streitsüchtigen Geist der dreißiger und vierziger Jahre des sechzehnten Jahrhunderts bisweilen kräftig entgegen. Er beklagte es, dass man so bald von der freien und reinen Bahn Zwingli’s zurückkomme, und schrieb darüber an Bibliander und Bullinger gemeinsam: „Quotiescunque animo meo summam illam nostrae aetatis ingratitudinem volutare caepero, dicto mirum, quanto mens mea dolore tota inundatur. Tam rarae amicitiae, tam parata oblivio mortuorum, ut Plinii verbis utar. Nec enim ullus est nostrorum, qui vel unico verbulo gratum aperiat animum erga strenuissimum illum heroem, patriae patrem lucemque orbis terrarum, Huldr. Zwinglium, in cujus vestigiis vos quoque nunc insistitis. Heroem merito appello, ut pote quem nulla cunque vis, nullae minae, nullae insidiae, nulla denique invidia a vero et honesto labefecit.“

 

Conrad Gessner und Bibliander waren verwandte Geister, beide suchten sie mit gewaltiger Kraft und eisernem Fleiß des Wissens ganze Fülle zu umspannen und gingen in rastlosem Lauf von einem Gebiet zum andern über.

 

Ein treuer und vieljähriger Freund war unserm Bibliander dann besonders auch der Pfarrer am Grossmünster und Schulherr von Zürich, Heinrich Bullinger. Dieser gelehrte und außerordentlich tätige Mann, der mit den meisten protestantischen Fürsten und Autoritäten Europas in Beziehungen stand und ihr Ratgeber war, besuchte Jahre lang die Vorlesungen Biblianders und schrieb sie in 45 Tomus nieder. Sein feiner Takt, sein maßvolles Wesen und seine Gewandtheit in theologischen und politischen Fragen machten ihn zum Leiter der ganzen reformirten Kirche jener Zeit. Der Schutz und die Treue eines solchen Freundes kam dem unpraktischen Bibliander um so mehr zu Statten, als dieser immer mehr in die Bahn des Erasmus trat, ungewöhnliche Meinungen äußerte und sich darüber in mehrfache Händel verwickelte.

 

Zu diesem Freundeskreis gehörte dann auch Conrad Pellicanus (Kürschner), aus Rufach im Elsass gebürtig, ein Kollege Biblianders an der Schule beim großen Münster. Er war ein kindlich frommes Gemüt und so heiter, dass er gegen den Abend seines Lebens zu einem Freund sagen konnte: „Wenn man mich von Haus und Hof triebe und alle meine Habe nähme, ich würde, glaub ich, kaum traurig werden; in meinem ganzen Leben war ich es zusammen kaum 3 Tage lang und zornig niemals.“ Seinen gelehrteren Freund Bibliander hielt er außerordentlich hoch, schrieb die meisten seiner Vorlesungen noch in den späteren Jahren nieder und soll auch dessen Leben beschrieben haben. Außerdem stand Bibliander in Briefwechsel mit Joachim Vadian, dem vielseitigen Gelehrten und Bürgermeister von St. Gallen. Dieser merkwürdige Mann hatte zwar die Bahn seines Ruhmes durch ein Lobgedicht auf Kaiser Friedrich III. betreten und war von Maximilian eigenhändig zum Dichter gekrönt worden. In seine Vaterstadt St. Gallen zurückgekehrt, kehrte ihm aber auch der freie republikanische Sinn wieder und er erwarb sich als Arzt und Bürgermeister dieser Stadt, sowie durch Förderung der Wissenschaft bedeutende Verdienste.

 

Endlich stand Bibliander auch in freundschaftlichem Verkehr mit den Brüdern Ambrosius und Thomas Blarer (Blaurer) von Konstanz, der erstere hatte das Kloster verlassen und war Prediger des Evangeliums in seiner Vaterstadt geworden, von wo aus er reformirend auch im Thurgau, besonders in Bischofszell, einwirkte. Sein Andenken erhielt sich beim Volk bis auf die neueste Zeit. Später, als Konstanz zur Annahme des Interims gezwungen wurde, kam er in die Schweiz, wirkte an mehreren Orten, z. B. in Biel und Winterthur, wo er auch starb.

 

In diesem Freundeskreis, welcher zugleich die Gelehrten-Republik der deutschen Schweiz im 16. Jahrhundert repräsentiert, nahm Bibliander durch seine außerordentliche Gelehrsamkeit eine hervorragende Stellung ein; auch war er der entschiedenste Gegner jeder fremden theologischen Lehrmeinung, welche man damals von zwei Seiten her auf deutsch-schweizerischen Boden verpflanzen wollte. Gegen diese pflegte er seine Freunde zur Wachsamkeit aufzumuntern, und ob auch von Natur ein sanftes und argloses Gemüt, konnte er doch über fremde Anmaßungen auf dem Gebiet des Glaubens und der Wissenschaft in heftigen Zorn gebracht werden,

 

Doch dies führt uns zu einem neuen Kapitel, das wir trotz seines vorwiegend dogmengeschichtlichen Inhaltes nicht ganz übergehen wollen, zu Biblianders literarischer Tätigkeit.

 

IV. Gelehrte Arbeiten.

 

Das Studium und die Erklärung der heiligen Schrift in den Ursprachen, insbesondere des alten Testaments, befand sich um diese Zeit in einem solchen Zustand, dass der Sprachkundige recht eigentlich aus dem Vollen arbeiten konnte. Wo er hinblickte, sah er entweder ägyptische Finsternis über den Büchern schweben, die nun als Quellen des Glaubens gelten sollten, oder dieselben durch willkürliche, tendenziöse und abenteuerliche Ausdeutungen entstellt. Daher auch die große Zahl gelehrter Werke, die nun bald auf diesem Gebiet ans Licht traten. Biblianders eigentliche Stärke, sein Lieblingsfeld, worauf er durch Neigung und Amtspflichten vorzugsweise gewiesen war, ist nun gerade die Schrifterklärung. Seine Kommentare unterscheiden sich von den ähnlichen Werken der früheren Zeit hauptsächlich in zwei Punkten: Einmal beurkunden sie eine weit vollkommnere Kenntnis der hebräischen Sprache, als sie sonst bei der Mehrzahl der damaligen Theologen zu finden war; und damit hatte er auch das Studium des Arabischen und der übrigen semitischen Dialekte verbunden und die Geschichte, Philosophie und Altertumskunde in den Kreis der Exegese gezogen. Sodann zeichnet sich Biblianders exegetische Tätigkeit außerordentlich wohltätig aus durch den freien theologischen Standpunkt, von welchem sie ausgeht und durch eine nicht gewöhnliche Unbefangenheit des Urteils. Man fühlt, dass es ihm durchaus nicht um eine vorgefasste Meinung, sondern um Herstellung des richtigen Sinnes im Interesse der Wahrheit zu tun ist. Zugleich beginnt er die Schriften im Zusammenhang mit ihrer Zeit zu erklären und weiß durch geistvolle Exkurse das Verwandte aus Philosophie und Geschichte beizuziehen.

 

In 24 gelehrten Werken, sämtlich lateinisch geschrieben, hat Bibliander die bedeutendsten Früchte seines Fleißes niedergelegt; davon sind 14 exegetischen Inhaltes, die übrigen theologische Abhandlungen, Reden an seine Zeit, archäologische und geschichtliche Beiträge. Der größere Teil seiner exegetischen Vorlesungen aber ist von seinen Freunden Pellican, Bullinger, Gwalter, Lavater eigenhändig aufgezeichnet und nicht zum Druck gekommen. Seine Erstlingsarbeit ist betitelt:

 

Oratio ad enarrationem Esaiae, prophetarum principis dicta Tiguri 1531. Es ist eine Einleitung in den Geist dieses Propheten und in die Prophetie des alten Testaments überhaupt. Demselben Gebiet angehörend erschienen sodann: Propheta Nahum, juxta veritatem Hebraicam latine redditus, adjecta exegesi. Tigur et Basil. 1534.

 

Institutiones Grammaticae de lingua Hebraea. Tigur 1535.

 

  1. D. Joannis Öcolampadii et Huldr. Zwinglii epistolarum libri quatuor, praecipua cum religionis a Christo nobis traditae capita, tum ecclesiasticae administrationis officia, nostro maxime saecula tot hactenus erroribus perturbato convenientia adamussim exprimentes etc. Basil 1536. – Die Vorrede zu diesem theologischen Briefwechsel ist bedeutend, eine glänzende Ehrenrettung Zwinglis und Öcolampads gegen Lutheraner und Katholiken. Die Briefe sind nicht chronologisch, sondern nach der Materie geordnet und sind denselben die Lebensbeschreibungen beider Männer, von zuverlässiger Freundeshand aufgezeichnet, beigefügt. Auch hebräische, griechische und lateinische Epigramme auf dieselben zieren nach damaliger Sitte das ziemlich selten gewordene Buch.

 

De optimo genere Grammaticorum Hebraicorum commentarius. Basil 1542.

 

Eine besondere Gruppe bilden sodann die zwei folgenden Werke:

 

Ad nominis Christiani socios consultatio, quanam ratione Turcarum dira potentia repelli possit ac debeat a populo Christiano. Basil 1542.

 

Emendatio textus Alkorani cum exemplaribus Latinis et Arabicis, addita praefa. tione editionis illius apologetica. Basil. 1543.

 

Diese beiden Schriften beurkunden den lebendigen Anteil, welchen der scheinbar ganz in seine Bücher vertiefte Gelehrte an den damaligen Zeitläuften nahm und wie sehr ihm die Wohlfahrt der ganzen christlichen Kirche und die Erhaltung ihrer Selbständigkeit am Herzen lag. Die erste ist ein „Ratschlag an die christlichen Glaubensgenossen, auf welche Weise die grausame Macht der Türken von dem Volke der Christenheit abgehalten werden könne und müsse!“ Beilegung der innern Händel, Einigung auf dem Grunde eines evangelischen Glaubens zu einer wahrhaft „katholischen Kirche“ erscheinen ihm gewiss richtig als die Hauptmittel, um die schön aufwachsende Saat christlicher Bildung vor dem rohen Andrang der Muhamedaner zu retten. Nur schade, dass sein Aufruf die Stimme des Predigers in der Wüste blieb. Die zweite Schrift ist nichts anderes als eine lateinische Übersetzung des Korans, mit einer Vorrede, welche die Herausgabe dieses viel geehrten und viel gehassten Buches rechtfertigt.

 

Die orientalische Frage war dazumal in ganz anderem Sinne eine brennende als heutzutage: sie brannte auf den Gewässern des Mittelmeeres, wo die Seeräuberschiffe von Algier und Tunis den ganzen Handel Spaniens und Italiens zu erdrücken drohten, so dass Karl V. persönlich zwei Züge dorthin unternahm. Mit den Trümmern seines Heeres war er 1541 von dem zweiten Zuge zurückgekehrt und war froh, noch so viel aus der Höhle des Löwen gerettet zu haben. Die orientalische Frage brannte noch heftiger an der Ostgrenze des heiligen römischen Reiches. Dort hatten sich 1542 die Türken in Ungarn festgesetzt und erst 1547 kam ein Waffenstillstand mit ihnen zu Stande, und zwar unter der bemühenden Bedingung, dass König Ferdinand für den ihm gebliebenen Teil des ungarischen Landes ihnen einen jährlichen Tribut bezahlte. Da war denn die abendländische Christenheit teils mit panischer Furcht, teils mit grimmigem Zorn und Hass gegen die Türken erfüllt. Von allen Kanzeln wurde gegen diese Kinder des Satans gepredigt, geeifert und gebetet, ohne dass der Mut und die Eintracht der christlichen Mächte sonderlich zu wachsen schienen. Da entstand auch aus dem Munde eines Unglückspropheten die allgemein verbreitete Sage: „Die Türken werden nicht eher ruhen, bis sie ihre Rosse im Bodensee getränkt haben.“

 

Um diese Zeit also wagte es Bibliander, eine Übersetzung des Korans herauszugeben, und dieselbe mit einer Vorrede zu begleiten. Es war teils ein politisches, teils ein wissenschaftliches Interesse, was ihn zu diesem Schritte bewog. Der Koran war zwar in der Christenheit nicht ganz unbekannt, aber doch nur in unsicheren und fehlerhaften Texten vorhanden. Dann schien es gerade damals für den Denkenden von hoher Bedeutung, die Religion aus ihren Quellen kennen zu lernen, die ihre Bekenner zu so gewaltigen und scheinbar unaufhörlichen Kämpfen gegen die Christenheit antrieb. Vielleicht, dass gerade aus einer bessern Kenntnis des Islam auch der Mut und die Kraft des Abendlandes gestärkt wurden, um sich dieses Feindes mit besserem Erfolg zu erwehren. So ungefähr argumentierte Bibliander, als er sich zur Herausgabe des Korans entschloss. In seiner Vorrede beweist er zunächst, dass hierdurch dem Christentum kein Schaden geschehe und die Kirche deshalb nicht erschüttert werde. Er sagt nämlich gleich zu Anfang: „Da die Lehre Muhameds, welche seit ungefähr neunhundert Jahren den größten Teil des Erdkreises in Besitz genommen und denselben wie ein Krebsschaden verdorben hat, nie für sich allein in die Öffentlichkeit gegeben wurde, sondern nur mit einer gewaltigen Reihe von Schriftstellern, welche diese Lehre nicht sowohl widerlegen und als irrig zurückweisen, als vielmehr verderben und zertreten: so hoffe ich, es werde keinem Freund des christlichen Glaubens und keinem verständigen Mann missfallen, wenn jenes (die Herausgabe des einfachen Textes) einmal geschehe. Denn wenn nichts zu lesen erlaubt wäre, als was von jeder Unwahrheit und Gottlosigkeit frei ist, und den heiligen Schriften in allen Stücken entsprechend, so würden jene Christen außerordentlich übel handeln, welche die Bücher heidnischer Philosophen und Dichter so viel Mal abschreiben und in privaten und öffentlichen Bibliotheken aufstellen, sie lesen und den Knaben in den Schulen erklären, während diese (Bücher) gewiss mehr Unfrommes enthalten und lehren, als der Koran Muhameds.“ Dann stellt er auch die Vorteile dieser Arbeit ins Licht: Der finstere und verdorbene Zustand der Heidenwelt werde daraus erklärt, die elende Lage der vielen tausend Christensklaven in türkischer Gefangenschaft offenbar; auch könne der Koran nur dazu beitragen, die Würde und Majestät der Lehre Jesu Christi ins Licht zu stellen usw. Nicht alle Gelehrten vermochten sich indes auf Biblianders Standpunkt zu erheben. Als das Werk in Basel bei Oporin (Herbster) gedruckt werden sollte, versagten die Zensoren ihre Zustimmung. Der Rat wurde angerufen und verlangte von den Theologen der Stadt ein Gutachten. Die einen waren für, die andern gegen die Veröffentlichung und konnten ein einheitliches Votum nicht abgeben. Endlich legten die Zürcher für Bibliander Fürsprache ein und verbürgten sich für ihn, worauf der Druck endlich gestattet wurde. Es ist übrigens nicht der arabische Text, welchen Bibliander herausgab, sondern eine berichtigte und mit dem Grundtext verglichene lateinische Version Sie war im Kloster Clugny unter dem Abt Petrus zur Zeit des zweiten Kreuzzuges entstanden.

 

Bibliander hatte keine Sympathie mit dem verhassten Buch bezeugt, er hatte vielmehr durch seine Bemerkungen an demselben strenge Kritik geübt. Das hinderte indessen die spanischen Inquisitoren nicht, diese Ausgabe des Korans zu verdammen; sie verdammten nicht allein die Vorrede, sondern auch den Koran selbst. Die Jesuiten aber meinten, dass das Werk nicht sowohl wegen seines eigentlichen Inhaltes, sondern wegen der Vorrede und der Anmerkung Biblianders zu verdammen sei. Sie nannten ihn einen Mann damnatae memoriae und einen meribibulus, der stets nach Verbreitung verbotener Bücher trachte und sich erkühne, darüber zu brummen, dass die Kaiser Theodosius und Valentinian die Schriften des Nestorius verbrennen ließen. Doch gab es auch protestantische Theologen, welche das Vorgehen Biblianders nicht billigten und ihn schon als einen halb vom Glauben Abgefallenen zu betrachten anfingen. Es scheint, dass sie seinen Versicherungen nicht glaubten, oder in Bezug auf den Koran nach dem Sprichwort urteilten: Wer Pech angreift, besudelt sich.

 

Von den folgenden Schriften mögen hier nur noch einige der interessanteren aufgeführt werden:

 

De ratione communi ommnium linguaram ac literarum commentarius, cui adnexa est compendiaria explicatio doctrinae recte beateque vivendi et religionis omnium gentium et populorum. Tig. 1548. -Es ist dies eine Anleitung, wie jede Sprache wissenschaftlich zu behandeln sei, eine Art Methodik der allgemeinen Sprachlehre. Merkwürdig ist allerdings die Beigabe: „Anleitung zu einem rechtschaffenen und glücklichen Leben und Erklärung der Religionen aller Völker,“ doch ganz im Geist jener Zeit, welcher die Wissenschaft noch als ein großes Ganzes zu nehmen pflegt.

 

Quomodo legere oporteat Sacras Scripturas et compendium doctrinae Christianae ex Augustino collectum. Basil. 1550.

 

Consideratio decreti synodalis Tridentini de Authentia doctrinae ecclesiae Dei. Basil. 1551.

 

Concilium Sacrosanctum domini nostri Jesu Christi, angelorum, apostolorum, prophetarum, regum, episcoporum et doctorum excellentium in ecclesia Dei catholica, in quo demonstratur, quomodo possit ac debeat pereunti populo Christiano succurri per legitimam ecclesiae reformationem ejusque concilii decreta etc. Basil. 1552.

 

Bibliander war einer der Wenigen, welche den Gedanken an eine einzige Kirche und eine Gesamtreformation derselben durch Kaiser und Papst nie ganz aufgeben konnten. Es schien seinem milden und freien Geist immer noch möglich, dass man sich gegenseitig die Hand zur Versöhnung biete; es schien ihm aber auch notwendig, wenn nicht die christlichen Staaten und vor allem das deutsche Kaiserreich selbst an den Rand des Verderbens gebracht werden sollten. Die durch eine legitime Reformation geeinigte und gereinigte christliche Welt sollte sich dann nach Osten kehren und endlich der schmachvollen Türkenherrschaft ein Ende machen und das Evangelium wieder in jene Länder verpflanzen, wo es zuerst war verkündigt worden. Bibliander selbst wollte dann als Glaubensbote nach dem Morgenland ziehen und dort mit Hilfe seiner Sprachkenntnis das Licht des Christentums ausbreiten. Freilich Träume eines unpraktischen Gelehrten, aber Zeugnisse eines gross und edel denkenden Geistes.

 

Die letzten Arbeiten sind dogmatischen und apologetischen Inhaltes:

 

De summa Trinitate et fide catholica, de Christianis catholicis, haereticis et apostatis; de sacramentis fidei et unionis Christianae etc. Motto: Erit unus pastor et unum ovile. Basil. 1555.

 

De mysteriis salutiferae passionis et mortis Jesu Messiae, expositiones historicae libr. 3. Basil. 1555.

 

Christianismus sempiternus, verus, certus et immutabilis, in quo solo possunt homines beari. Tig. 1556.

 

V. Theologischer Streit und Ende.

 

Vierundzwanzig Jahre hatte Bibliander in seinem Amt gestanden und durch seine Vorlesungen, seine Schriften und sein Privatleben sich in der ganzen deutschen Schweiz hohe Anerkennung erworben, als noch sein Lebensabend durch einen theologischen Handel getrübt und heftig bewegt wurde. Im Jahr 1556 war nämlich in Zürich der greise Pellicanus, Biblianders unwandelbarer Freund und Kollege, mit Tod abgegangen und an seine Stelle wurde berufen: Peter Martyr Vermigli, ein Italiener, geb. 1500 zu Florenz. Nachdem derselbe mehrere Jahre Mitglied des regulierten Augustinerordens gewesen und zu Fiesole, Neapel und Lucca gelebt hatte, fing er an letzterem Ort um’s Jahr 1542 an, reformatorische Lehren zu predigen und wurde deshalb vor dem Inquisitionstribunal angeklagt. Er floh und kam nach Zürich, wo er von den Professoren und Geistlichen sehr freundlich aufgenommen wurde, dann weiter nach Basel und Straßburg. Hier fand er eine Anstellung und vertiefte sich, durch Bucer angeregt, in das theologische System Calvins. Es sagte seinem Geist so zu, dass er fortan einer der eifrigsten Lehrer dieser Glaubensform ward. Besonders schien ihm die Calvinsche Prädestinationslehre ein Grundpfeiler der evangelischen Wahrheit zu sein, und er glaubte sie überall in der heiligen Schrift, im alten wie im neuen Testament zu finden. Unter Eduard VI. von England wurde er als Lehrer der Schrifterklärung an die Universität Oxford berufen; unter Maria wieder entlassen, kehrte er nach Straßburg zurück, wo er das Bürgerrecht besaß.

 

Dieser Mann also kam 1556 nach Zürich, um Pellican’s Stelle als Professor des alten Testamentes neben Bibliander einzunehmen. Man nahm den gefeierten Lehrer abermals mit großer Zuvorkommenheit auf. Anfangs schien sich das Verhältnis zwischen ihm und den übrigen Professoren durchaus freundlich gestalten zu wollen, denn er war eine milde und bereits viel geprüfte Persönlichkeit. Allein Peter Martyr scheint sich die Aufgabe gestellt zu haben, die Lehre von der Gnadenwahl und absoluten Vorausbestimmung zur Seligkeit und zur Verdammnis auch in Zürich, wo man sie gerne mit Stillschweigen überging und als Mysterium behandelte, zur herrschenden Geltung zu bringen. Es war, als ob Calvins Geist plötzlich einen theologischen Lehrstuhl an dieser Schule eingenommen hätte. Die meisten Theologen und Lehrer in Zürich beugten sich vor dieser Autorität, um so mehr, da es in der Strömung der Zeit lag, den freien Geist wieder in die gewohnten Bande zu legen. Bibliander aber war ein erklärter Gegner der Prädestinationslehre, er hielt zu Erasmus und nahm für jeden Menschen, der verantwortlich handeln sollte, den freien Willen in Anspruch. Er verschmähte das Prädikat vollkommener Orthodoxie, das nun nicht mehr ohne Anerkennung jener Lehre zu behaupten war. Er wollte sich auch in seinen alten Tagen nicht mehr zu neuen Grundsätzen bekennen, die seinem Geist fremd und zuwider waren. Ein Jahr lang ungefähr sah er den Bestrebungen Peter Martyr’s stillschweigend zu, obgleich dieser an allen Stellen, wo sich die Gelegenheit fand, in seinen Vorlesungen die Lehre von der ewigen Vorausbestimmung herbeizog, erörterte und in seiner Weise auch begründete. Endlich wurde es ihm doch zu viel und er fing an (Juni 1557), seinen Kollegen in seinen eigenen Vorträgen zu bekämpfen. Hören wir einige seiner Hauptgründe, welche er für die freie Selbstbestimmung des Menschen aufführt:

 

„Hat Gott nicht Allen seinen ewigen, gerechten, wohlmeinenden, heiligen Willen vorgelegt? Wer wird nun jenen Knecht nicht einen ausgezeichneten Taugenichts nennen, welcher den Willen seines Herrn hört, aber ihm widersteht und anfängt zu philosophieren, ob der Herr das meine, was er befiehlt, oder ob er schon längst etwas Anderes beschlossen? Man soll also nicht in die Geheimnisse der göttlichen Majestät eindringen wollen, von welchen der Forscher nur erdrückt wird. Man soll Gott glauben und vertrauen als dem Wahrhaften, welcher nicht täuschen kann. Dieser Herr, unser Richter, Vater, Schöpfer und Erhalter, ruft die Mühseligen und Beladenen zu sich, damit sie erquickt werden, und erklärt mit wiederholten Worten, er wolle nicht den Tod des Sünders; er wolle, dass Alle an dem dargebotenen Heile Teil erlangen: Er verheißt Allen das ewige Heil, welche an den Sohn Gottes glauben. Er spricht selig mit unwiderruflichem Wort Diejenigen, welche den Hungrigen speisen, den Durstigen tränken, den Nackten bekleiden, den Fremdling beherbergen, den Gefangenen trösten, und mit klaren Worten sagt er, dass sie aufgenommen werden in das Reich des Vaters, welches von Anfang an bereitet sei. Diese göttlichen Aussprüche sollen wir hören, ihr Brüder; an diesem himmlischen Ratschluss sollen wir uns festhalten, wenn uns um die Seligkeit bange ist. Die heiligen Lehren der göttlichen Majestät lasst uns befolgen, wenn wir dem letzten Übel entrinnen wollen, durch Demut des Geistes im Gehorsam.“

 

Es ist hier nicht der Ort, den theologischen Hausstreit einlässlicher darzustellen. Er wurde zwei Jahre citra turbas, d. i. ohne namhafte Störung und Verwirrung geführt. Unterdessen wurde Bibliander, dessen Kräfte durch große Geistesarbeit abgenommen, heftiger und aufgeregter, teils weil die Polemik seines Gegners ihn verletzte, teils weil sein Gemüt durch trübe Erfahrungen krankhaft verbittert war. Er wollte nach Arabien ziehen, um dort der Verkündigung des Evangeliums, worüber man zu Hause nur noch streiten konnte, den Rest seiner Tage zu weihen. Doch Bullinger hielt ihn zurück, wohl einsehend, dass er nur dem Tod oder der Gefangenschaft entgegen gehen würde. Endlich fiel Bibliander auf ein wunderliches Mittel, um die Frage der Prädestination zu lösen: er forderte seinen Gegner zum Zweikampf heraus und soll zur bestimmten Zeit mit einer Hellebarde auf dem Platz erschienen sein. So wenigstens berichten mehrere Quellen übereinstimmend, obgleich sie selbst einigen Zweifel in den Hergang der Sache zu haben scheinen.

 

Ob Bibliander wirklich ein Gottesurteil über die schwere Frage der Vorherbestimmung herbeiführen wollte, oder ob er nur dem Streit so einmal ein Ende zu machen gedachte, ist wohl kaum mehr zu entscheiden möglich. So wunderlich und überspannt indes dieses Vorgehen war, so ist ihm doch ein heroischer und aufopfernder Zug nicht abzusprechen, ja es ehrt in unserm Auge den wackern Bibliander in seinem krankhaft aufgeregten Zustand noch mehr, als es ihn lächerlich zu machen vermag.

 

Peter Martyr erschien nicht auf dem Kampfplatz, es scheint, dass er diese Konsequenzen seiner Lehre nicht liebte. Vielmehr brachte er die Sache an das Collegium der Geistlichen und hielt am 25. Januar 1560 zur Verteidigung seiner Auffassung von dem „freien Willen“ einen öffentlichen Vortrag. Niemand war, der für Bibliander und Erasmus, der gegen die Autorität Calvins und Peter Martyrs auftrat, Zürich anerkannte an diesem Tag, dass es nicht erlaubt sei, einen freien Willen haben zu wollen. Die Sache kam nun an Bürgermeister und Rat und von da an die Schulherren. Bibliander wurde vorgeladen und in Gnaden seines Amtes enthoben (rude donatur), doch mit Belassung seines Gehaltes wegen seiner früheren ausgezeichneten Verdienste. Bullinger, dem vielleicht nicht ganz wohl bei der Sache sein mochte, erzählt den Hergang sehr kurz folgendermaßen:

 

  1. Anno praeterito et initio hujus praesentis praestantissimus vir, D. Theod. Bibliander morosius caepit praelegere et vellicare D. Martyrem. Convenerunt igitur omnes ministri in urbe et negotium retulerunt ad consulem (30. Januarii). Consul refert ad deputatos studiis. Vocatur igitur ad ipsos, donatur rude (8. Febr.), stipendio concesso propter merita egregia.

 

So trat Bibliander krank und theologisch geächtet von dem Schauplatze seiner vieljährigen Wirksamkeit ab und ins Dunkel des Privatlebens zurück. Er lebte noch vier Jahre, aus welcher Zeit nichts mehr über ihn bekannt ist. Am 24. September 1564 wurde er von der Pest, welche damals in Zürich furchtbar wütete, dahin gerafft. Er hinterließ eine trauernde Gattin mit drei Kindern und den Namen eines großen Gelehrten und edeln Charakters, welchen viele umsonst der Vergessenheit anheimzugeben oder zu verkleinern suchten. Im äußeren Kampf ist er unterlegen, ein Märtyrer der Wissenschaft und des freien Willens, ein Bekämpfer des Fremdländischen und Unfreien, aber seine Arbeit ist nicht verloren gegangen.

 

Er hat das Verdienst, den Geist der schweizerischen Reformation als einen freien und selbständigen mannhaft gewahrt und durch bedeutende wissenschaftliche Arbeiten zur Ehre des schweizerischen Namens und zur Förderung einer freien theologischen Bildung das Seinige beigetragen zu haben. Er war Einer der Ersten, welche sprachvergleichende Studien anstellten, die freilich noch sehr dürftige Anfänge, aber eben doch Anfänge sind; einer der Wenigen seiner Zeit, welche die außerchristliche Literatur, wie z. B. den Koran, vom Standpunkt der Kulturgeschichte zu würdigen vermochten. Wäre nicht die Calvinsche Geistesströmung zu seiner Zeit so übermächtig geworden, so würde man ohne Zweifel seiner Verdienste länger gedacht haben. Um so mehr schien es uns Pflicht, seine Züge, so gut wir’s vermochten, wieder aufzufrischen.

 

Sein Bild, welches als Ölgemälde und in mehreren Kupferstichen vorhanden ist, zeigt ein schönes, mildes, fast wehmütiges Angesicht, mit hoher und breiter Stirn und regelmäßigen Zügen. Darunter steht geschrieben:

 

Theodorus Bibliander,

natus Episcopicellae Helvetiorum Anno 1504.

In professione theologica Zwinglii sucessor Anno 1532. Denatus 1564.

Et docui totum et toto cognoscor in orbe Linguarum cultor theiologusque fui.

 

Und ich lehrte die Welt und war bekannt bei den Menschen,

Pfleger der Sprachen war ich, Lehrer des Göttlichen auch.

August Hermann Francke

August Hermann Francke.

„Gott kann machen, dass allerlei Gnade unter euch reichlich sei, dass ihr in allen Dingen volle Genüge habt und seid reich an allerlei guten Werken“ (2 Kor. 9,8.). – Dies Wort hatte der selige Francke eben in seinem Herzen erwogen, als ihm die Nachricht von der großen Not eines Freundes zuging. Da hat er nun in seinem Herzen gesorgt und überlegt, wie Gott auch ihn reich machen könnte: er hat nicht, wie manche tun, bloß nach oben geblickt, sondern auch in sich und um sich, ob ihm nicht vielleicht das Grabscheit, um Schätze zu graben, schon in die Hand gegeben sei. Da hat er sich hingesetzt und hat – weil der ganze übrige Teil des Tages schon andern Arbeiten gehörte. von seinem Abendbrot die Zeit sich abgebrochen, um seine Observationes biblicae zu schreiben und innerhalb eines Jahres war der Ertrag davon für seinen Freund nicht weniger als anderthalbhundert Taler gewesen! Was Francke geworden für die Christenheit und für die Menschheit, das ist er vorzüglich durch seine Treue geworden. Er sagte, wie er an jedem Morgen sich vorzustellen pflege, eigentlich hätte die vergangene Nacht die letzte für ihn sein sollen. Einen Tag habe Gott aus Gnaden ihm noch als Zugabe verstattet, und als eine solche letzte Zugabe habe er jeden Tag zu verwenden gesucht. Das Leben so angesehen lässt sich allerdings die Treue im Kleinen lernen. Darum dieses Leben vor allem mit dieser Frage an das Gewissen jedes Christenherzen bringt: wie steht es um deine Treue? Denn die vom Herrn selbst diesem Leben gesetzte Überschrift lautet: Wie ein großes Ding ist es um einen treuen, und klugen Haushalter! (Luc. 12,42.)

 

Was ein Einzelner für seinen Herrn wirken kann, hängt allerdings nicht allein von ihm ab, sondern auch von der Zeit, in die er hineingeboren worden. Es gibt fruchtbare und uns fruchtbare Jahrgänge in der Kirche. Als A. H. Francke in die Welt trat, hatte eben ein guter Jahrgang für die Kirche begonnen. Eine Lebenserweckung der lutherischen Kirche hatte gegen Ende des 17ten Jahrhunderts angefangen: es waren solche lebendige Zeugen erweckt worden wie Arndt, Spener, H. Müller, Scriver, und auch unter den Laien regte es sich hie und da. Er war in Lübeck 1663 geboren, aber mit seinem Vater, einem Doktor der Rechte, nach Gotha, wo damals Herzog Ernst der Fromme eifrig die Kirche seines Landes zu bauen suchte, in seinem dritten Jahre übergesiedelt. Von Vater und Mutter aus ging der Lebensodem der Frömmigkeit auf das Kind über; schon im zehnten Jahre bat er sich von seiner Mutter ein Kämmerden aus, um in der Stille zu lernen und zu beten, und öfters tat er dies Gebet: „Lieber Gott! es müssen ja allerlei Stände und Hantierungen sein, die doch endlich alle zu Deiner Ehre gereichen, aber ich bitte Dich, Du wollest mein ganzes Leben bloß und allein zu Deiner Ehre gerichtet sein lassen. Aber die Reichen kommen schwerlich ins Himmelreich das ist auch von den „Reichen an Wissen und Gelehrsamkeit“ gesagt: so musste Francke erfahren, dass mit seinem Wissen auch der Ehrgeiz wuchs, und die zarte Pflanze der Frömmigkeit nicht mehr recht gedeihen wollte. Im sechzehnten Jahre 1679 bezog er die Universität Erfurt, ging in demselben Jahre nach Kiel und später, da ein wohlhabender Theologe in Leipzig einen Stubengesellschafter begehrte, auf dessen Antrag im Jahre 1684 nach Leipzig. In Sachsen hatte Spener angefangen, die toten Glieder der lutherischen Kirche zu beleben; Francke fand sich in Leipzig mit fromm gesinnten theologischen Freunden zusammen, mit denen er ein Collegium philobiblicum gründete, zur gelehrten, doch auch zur erbaulichen Auslegung der Schrift. Aber, wie er bekennt, konnte er damals noch nicht sprechen: Der am Kreuz allein ist meine Liebe! Christus war noch nicht sein Ein und alles, sondern die Ehre und die guten Tage in der Welt waren noch neben dem Herrn das Ziel seines Strebens. Erst in seinem 24sten Jahre während eines Aufenthalts in Lüneburg bei dem frommen und gelehrten Superintendenten Sandhagen ist er tiefer in sich gegangen und hat in jener Zeit das Bekenntnis abgelegt: „Mir kam mein ganzes bisheriges Leben vor Augen wie Einem, der auf einem hohen Turme die ganze Stadt übersieht. Erstlich konnte ich gleichsam die Sünden zählen; aber bald öffnete sich auch die Hauptquelle, nämlich der Unglaube oder bloße Wahnglaube, womit ich mich bisher selbst so lange betrogen hatte.“ So lange Einer sich selbst noch nicht recht erkannt hat, dünkt einem wohl der Glaube an einen gnädigen Gott ein Kinderspiel. So war’s auch eine Zeit lang mit Francke. Als aber dem Jüngling erst der Eigenwille und die Unreinheit seines Herzens recht aufgegangen war, da stellte auch die Angst seines Gewissens sich zwischen ihn und seinen Gott, dass er schreien musste: „Gott, wenn Du bist, so offenbare Dich mir!“ Der Mann, der nachher über sein Waisenhaus setzte: „die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffliegen wie Adler“, der hat, wie er’s uns selbst erzählt, in der Tat eine Zeit gehabt, wo er so hat beten müssen. Keine Predigt hat mehr über seine Lippen gehen wollen, und nur erst nach schweren Geburtswehen kann die selige Gewissheit in sein Herz, trotz aller Ankläger in seinem Herrn Jesu Christo einen versöhnten Gott zu haben.

 

Der im Glauben selig gewordene Christ fühlt nun auch jenes „Wir können es ja nicht lassen“ der Apostel. So kehrt er nun 1689 nach Leipzig zurück mit dem Durst, seinem Herrn Seelen zuzuführen. Auf unglaubliche Weise hatten die lutherischen Theologen jener Zeit über ihren trocknen dogmatischen Streitigkeiten die grünen Auen der heiligen Schrift vergessen und vernachlässigt; Spener sagt: „Ich weiß Personen, die sich 6 Jahre auf Universitäten aufgehalten, ohne ein einziges exegetisches Kolleg zu hören“ und Francke berichtet sogar, dass man zu seiner Zeit in Leipzig keine Bibel und kein neues Testament im Buchladen finden konnte. So kündigte er nun exegetisch-praktische Vorlesungen über das Neue Testament an, nach denen bald ein solcher Hunger und Durst entstand, dass auch viele Bürger sich dabei einfanden und in den Hörsälen es am Raum gebrach. Sobald sich nun auch das Leben aus Gott dabei regte, erwachte zugleich die Feindschaft mit; es ward der neue Sektenname der Pietisten erfunden, Francke als ihr Haupt bezeichnet, und wurden 1690 ihm seine Vorlesungen untersagt. Erst wollte er dennoch auf seinem Platz ausharren, aber ein anderer war ihm schon vom Herrn bereitet. Durch seinen gleichgesinnten Freund, den Pastor Breithaupt in Erfurt, erhielt er einen Ruf nach dieser Stadt, den er auch annahm. Gleich hier erwies er, wie die rechte Liebe zum Herrn und seinen Erlösten erfinderisch macht. Bei Weitem war es ihm nicht genug, bloß auf dem durch seine Amtsverpflichtung ihm vorgeschriebenen Weg, d. h. in Predigt, Beichtstuhl und Kinderlehre den Seelen nachzugehen. Zu Besten der Erfurter Studierenden hielt er täglich praktische Vorlesungen über die Bibel; mit den Gemeindegliedern stellte er in ihren Häusern Wiederholungen ihrer Predigten an; er verschrieb und verteilte das N. Testament, Arndt’s wahres Christentum und andere erweckliche Schriften. So wie Leben erwachte, erwachte indes auch hier die Feindschaft gegen das Evangelium: die katholische Einwohnerschaft wusste ein churfürstliches Reskript von Mainz auszuwirken, wodurch Francke nach segensreichster Wirksamkeit von Einem Jahr 3 Monaten die Stadt zu räumen genötigt wurde. Aber auch diesmal war ihm vom Herrn schon wieder sein Plätzchen bereitet worden. Durch seinen nunmehr nach Berlin versetzten Freund Spener ward ihm an demselben Tag, wo der Befehl binnen zwei Tagen Erfurt zu verlassen, einlief, eine Einladung in die kurbrandenburgischen Lande und bald darauf der Beruf als Professor an die eben in Gründung begriffene Universität Halle.

 

In dieser Stadt ist es nun, wo die göttlich-erfinderische Liebe des teuren Mannes vom Jahr 1692 an sich je länger desto mehr einen Schauplatz des mannichfaltigsten Wirkens eröffnet und ein unvergängliches Gedächtnis gestiftet hat. Als Prediger, als Professor, als Erzieher, als Waisenvater, als Missions- und Bibel-Anstalt-Direktor bricht seine erfinderische Liebe auf allen diesen Gebieten neue Bahn. Zum Predigtamt der mit Halle verbundenen Stadt Glaucha ernannt, tritt er hier in ein völlig wüst liegendes Feld, ein. Da, wo jetzt auf dem Waisenhausplatze die Front der Reihe von Gebäuden sich erhebt, denen er den Ursprung gegeben, mit der Überschrift: „Die auf den Herren harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler“, standen damals nur die ärmlichsten Hütten und ein Bier- und Tanzhaus neben dem andern – unter anderen auch eines zum Adler bewohnt von einem durchaus rohen und verwahrlosten Volkshaufen. Diesem Haufen predigte er Buße und das Evangelium nach jenem seinen Grundsatz: keine Predigt, in welcher nicht so viel vom Heilsweg, dass, wenn einer auch nur die einzige Predigt hörte, sie genug wäre, um zum Heil zu führen. Aber in der Predigt wird der Same mehr gestreut als begossen und gepflegt, obwohl sie auch dies kann und soll. Zum Begießen und Pflegen ist aber namentlich die unaussprechlich heilsame Anstalt des Privatbeichtstühle, wo sie noch stattfindet; im Beichtstuhl wird der allgemeine Inhalt der Predigt dem einzelnen Gewissen angepasst. Francke machte den Beichtstuhl zur Kanzel für die einzelnen Gewissen, und, zu der Einsicht gelangt, dass Viele durch den Beichtpfennig vom Sakrament sich abhalten ließen, gibt er nach kurzem Bedenken in selbstverleugnender Aufopferung diesen Teil seiner geringen Einnahme auf. Ein anderer Kanal, neben dem der Predigt, das Lebenswasser in die Gemeinde zu leiten, ist die Kinderlehre. Bis auf Spener war dieser Kanal wieder verschüttet worden, Die Geistlichen dünkten sich zu vornehm, die Lehrer der Kleinen zu werden. Der kindliche Sinn Francke’s dagegen hatte seine Lust an den Kleinen. Aber auch die Erfahrung, wie wenig von den Erwachsenen der Inhalt der Predigten verstanden wurde, trieb ihn zu fleißigem Katechismusunterricht zu Hause und in der Kirche. Auch Betstunden wurden angefangen, zuerst in seinem eigenen Haus, dann auf andringen der Gegner in der Kirche.

 

Als akademischer Lehrer zuerst seit 1692 Professor der griechischen und orientalischen Sprachen, dann seit 1698 ordentlicher Professor der Theologie, machte er zu seinem Hauptzweck, da die theologische Wissenschaft nur durch den lebendigen Glauben recht verstanden werden könne, jene selbst andererseits als Mittel zu gebrauchen, um neben den anderen Heilsmitteln auch durch sie das Glaubensleben zu wecken und zu fördern. Niemals betrachtet er die Wissenschaft als Selbstzweck, immer nur will er durch sie als Mittel einen ihm höheren Zweck erreichen, die eigene Gründung seiner Zuhörer in Christo und die erhöhte Tüchtigkeit, die Gemeinden zu ihm zu führen. So verbindet er denn nun auch mit seinen an sich schon überall auf praktische Erweckung gebenden Vorlesungen „paränetische Lektionen“ mit dem noch bestimmteren Zweck, „zu zeigen, was angehende Theologen im Christentum und im Studieren an Erreichung ihres Zweckes hindere, und wie sie solche Hindernisse zu überwinden hätten.“ Donnerstags von 10-11 wurden im großen Hörsaal der Fakultät in einer Stunde, wo alle übrigen theologischen Vorlesungen ausfielen, damit alle Theologie Studierenden Teil nehmen könnten, diese Vorträge gehalten, in denen der selige Mann mit Freimut auf alle Gebrechen und Sünden des Studentenlebens einging, und von denen, wie er sagt, er mehr Segen erlebt hat als von allen andern.

 

Was seinen Namen mehr als alles Andere weltberühmt gemacht, sind indes seine Waisenhausanstalten. Wie Alles, was im Geist des Herrn geschieht, die Senfkornart an sich trägt und von kleinem Anfang an hinaufwächst – so auch dieses große Unternehmen der christlichen Menschenliebe – war die Gewohnheit der Bettler, an einem bestimmten Tag an den Häusern sich Almosen zu erbitten. Nicht bloß leibliches Brot zu brechen, ließ sich der Mann Gottes genügen, Alte und Junge fing er zu katechisieren an. So groß war nun die Unwissenheit in der Heilserkenntnis, die sich bei ihnen fand, dass sie den Gedanken, eine Armenschule zu gründen, in ihm erweckte. In einer ausgehängten Büchse sammelten sich zu diesem Zweck kleine Beiträge, und als einst 4 Taler und 16 Silbergroschen auf einmal dafür gegeben wurden, begann er mutig seine kleine Armenschule zunächst in seinem eigenen Studierzimmer. Nach kaum einem Jahre war jener Raum schon zu klein geworden; es wurde aber auch von ihm mit Schmerzen bemerkt, wie das Häusliche Leben wieder einriss, was die Schule aufbaute: so entstand in demselben Jahr 1695 der Gedanke, einige Kinder ganz in Erziehung zu nehmen. Für die Armenschule war ein Haus angekauft worden; 12 Waisenkinder, zu welcher Zahl die anfänglichen vier schnell herangewachsen waren, wurden in dieses Haus mit aufgenommen. Schon im folgenden Jahr musste ein neues Haus gekauft werden, es wurden die in Unterricht genommenen Bürgerkinder von der Armenschule getrennt und für diejenigen, welche in gelehrten Studien unterrichtet zu werden wünschten, wieder eine eigene Abteilung angelegt, wozu dann auch im Jahr 1699 die zu gelehrtem Unterricht befähigten Waisenkinder hinzukamen. So entwickelte sich das Gymnasium des Waisenhauses, die sogenannte lateinische Schule, welche schon 1709 von 256 Schülern, worunter 64 Waisen, besucht wurde. Die bisherigen beiden Häuser erwiesen sich für die wachsenden Zahlen so unzureichend, dass 1698 der Grund zu dem neuen Gebäude des gegenwärtigen Waisenhauses gelegt werden musste. Kein Kapital war vorhanden, auf welches dieses neue Werk sich gründen konnte, als allein das des Glaubens, wie Francke selbst schreibt: „Von Woche zu Woche, von Monat zu Monat hat mir der Herr zugebröckelt, wie man den kleinen Küchlein das Brot zubröckelt, was die Notdurft erfordert.“ Manche Andere haben seitdem es ihm nachtun wollen, und es ist ihnen gegangen, wie von dem Mann geschrieben steht, der da anhub, einen Turm zu bauen, und konnte es nicht hinausführen, so dass die Leute seiner spotteten. „Leer Dich aus, ich will dich füllen!“ ist die erste Lehre für den, welchen Gott reich machen soll. Wo die Demut, die auf alles Eigene verzichtet, nicht eben so groß als der Glaubensmut, kann es nicht gelingen.

 

Wie ein guter Gedanke und Anschlag den andern weckt, so blieb nun die erfinderische Liebe, nachdem der Herr so viel hatte gelingen lassen, dabei nicht stehen. Zuerst schlossen noch folgende Wohltätigkeitsanstalten an das Waisenhaus sich an. Von einem bemittelten Wohltäter waren dem Stifter des Waisenhauses 4000 Taler anvertraut worden, um ein Stift für adlige und bürgerliche fromme ledige Frauenzimmer zu gründen. Abermals wurde eines der Glauchaschen Wirtshäuser, im Jahre 1704 angekauft und in ein diesem Zweck gewidmetes Gotteshaus verwandelt. Ferner hatte im Jahr 1698 der fromme Baron Canstein in Glaucha ein Haus für fromme Witwen angekauft und dem Direktorium des Waisenhauses übergeben. Neben den genannten Unterrichtsanstalten für die Waisen, die Armen- und Bürgerkinder entstand noch ein Pädagogium zunächst für Adlige und Begüterte bestimmt. Auch dabei ein kleiner, ungesuchter Anfang: eine adlige Witwe erbat sich von Francke einen frommen Hauslehrer, er erbot sich die Kinder in Halle unter seiner Leitung unterrichten zu lassen. Auch die Zahl dieser Schüler, unter Leitung berühmter Lehrer wuchs so, dass bis 1713 das eigene stattliche Gebäude für diese Lehranstalt errichtet wurde. In Verbindung mit der Universität wurde ein collegium catecheticum errichtet, die Studierenden bei den Schülern des Waisenhauses in der so vernachlässigten Kunst des Katechisierens zu üben, und ein Collegium orientale theologicum, worin Männer für die höheren Ämter der Kirche durch gründliche Kenntnis des Griechischen, Hebräischen und der morgenländischen Dialekte gebildet werden sollten. Je mehr das Pädagogium gedieh, regte sich der Wunsch, auch für Töchter adliger und begüterter Familien eine eben solche Anstalt zu besitzen: es wurde 1709 eine solche eingerichtet, mit dem ausdrücklichen Zweck, auch diese jugendlichen Seelen dem Herrn zuzuführen.

 

Alle diese Anstalten bedurften vieler jungen Lehrkräfte, und wie, wenn einmal der Glaube angefangen hat, alle seine Kräfte für den Herrn auf’s Spiel zu setzen, immer eine Hand der andern hilft, so wurde nun auch wieder Franckes akademische Tätigkeit aufs Schönste dadurch gefördert, dass so viele junge Studierende mit der Gelegenheit, unter seiner und der ihm geistesverwandten Freunde Aufsicht ihre Lehrgaben zu üben, zugleich Unterstützung erhielten. Im Jahr 1690 wurde ein Freitisch für 24 Studiosen eröffnet, welche in den Schulen Unterricht gaben, und wie diese Zahl wuchs, wurde dieser Tisch auch für solche dürftige Studenten gedeckt, die an den Unterrichtsanstalten weiter keinen Teil hatten – im Jahr 1714 gibt Francke die Nachricht, „dass damals 150 Studiosi theol. den ordentlichen Tisch für 2 Stunden täglichen Unterrichts zu genießen hätten, und an dem extraordinären Tisch des Mittags für 144 arme Studierende zugerichtet würde, denen keine besondere Arbeit dafür auferlegt sei.“

 

Im Jahr 1705 war die Zahl der Waisenkinder auf 125 angewachsen, die der Schulkinder auf 804 und blieb von der Zeit an bis gegen die Mitte des Jahrhunderts fortwährend im Steigen. Es hatten die Feinde selbst dazu beitragen müssen, denn eine auf Betrieb derselben von den Landständen des Herzogtums Magdeburg im Jahr 1700 veranstaltete Untersuchung der Schulanstalten schlug nur zu deren Ehre aus. Im Mai 1714 wurden 1075 Knaben und 760 Mädchen unter 108 Lehrern unterrichtet. Dieser Anwachs machte denn nun auch mancherlei andere zum besonderen Dienst des Personals des Waisenhauses bestimmte Anstalten nötig, die allmälig in sich selbst eine weitgreifende Bedeutung erhielten. Namentlich gilt dieses von der Waisenhaus-Apotheke. Gewisse arcana, die in chemischen Manuskripten, von gottesfürchtigen Leuten dem Stifter des Waisenhauses anvertraut, niedergelegt waren, wurden, nach einigen vergeblichen Versuchen, mit Erfolg bereitet, z. B. die noch jetzt bekannte essentia amara und dulcis, und mit außerordentlichem Segen gebraucht. Unter Leitung des tiefgottesfürchtigen und gelehrten Arztes G. F. Richter, der Francke, seinem geistlichen Vater, den Ertrag seiner Versuche, wie selbst sein väterliches Erbteil gänzlich überlassen hatte, gewann diese Apotheke mit ihren Medikamenten einen solchen Aufschwung, namentlich durch das Vertrauen, welches sie bei allen Kindern Gottes besaß, dass ihre Heilmittel weit über die Grenzen Deutschlands hinaus selbst nach Amerika und Afrika verlangt und verschickt wurden, und der Ertrag derselben in späterer Zeit einen großen Teil der Ausgaben der Anstalt deckte. Teilweise durch das Bedürfnis der gelehrten Schulen selbst und die zahlreichen von Francke selbst herausgegebenen Schriften veranlasst entstand auch eine Waisenhausbuchhandlung, die unter dem ausgezeichneten Knecht Gottes, dem Mann, der alles sein Einkommen der Waisenhauskasse übergab und sich begnügte, Kleidung und Nahrung von ihr zu nehmen, H. J. E. Elers, sich so aufschwang, dass die Handlung auch in anderen Städten, in Stettin, Berlin, Niederlagen anlegte.

 

In minder unmittelbarem Zusammenhang stehen mit den Waisenhausanstalten, wiewohl dadurch ebenfalls wesentlich gefördert, zwei andere große Unternehmungen. Es entstand die Stiftung einer Bibelanstalt zur Verbreitung wohlfeiler Bibeln unter den Armen, welcher Gedanke zuerst vom Baron v. Canstein ausgegangen war: im Verein mit Francke und durch Benutzung der Pressen des Waisenhauses gegründet, wurde sie 1719 nach dem Tode Cansteins von Francke selbst übernommen. Es gelang vermöge des Drucks mit stehenden Buchstaben, dass für die Armen Exemplare des N. T. zu 2 gute Groschen, der Bibel in 10-12 guten Groschen geliefert werden konnten, aber noch über Deutschland hinaus griff die Liebe; auch in estnischer, böhmischer, polnischer Sprache wurden Bibeln und Testamente für die Evangelischen jener Gegenden mit der Unterstützung wohltätiger Christen gedruckt, und für die immer mehr sich ausbreitende Unternehmung wurde 1727 ein erstes, 1734 ein zweites massives Haus erbaut. Ebenfalls auf ungesuchte Weise entstand unter Francke’s Mitwirkung die dänisch-ostindische Missionsanstalt. Durch die Frömmigkeit König Friedrichs IV. von Dänemark war dieselbe begründet worden, vom hallischen Waisenhause gingen aber, von Beiträgen frommer Christen Deutschlands unterstützt, die Missionarien aus und mit besonderer Angelegenheit hatte Francke auch diesem Werk der Menschenliebe sein Herz zugewandt. Im Jahr 1705 wurden die ersten hallischen Kandidaten in Kopenhagen für diese Mission ordiniert, Ziegenbalg und Plütschau, und eine große Zahl der würdigsten Männer, großenteils aus dem Lehrercollegio des Pädagogiums hervorgegangen, sind ihnen gefolgt, bis in die ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts herab. –

 

Endlich verdankt auch die Deutsch-amerikanische Kirche in den vereinigten Staaten ihre eigentliche Gründung den hallischen Anstalten, welches Verhältnis sich indes erst unter dem Sohn des seligen Stifters angeknüpft hat, indem auf die flehentlichen Bitten der von geistlichem Beistand verlassenen Deutschen G. Francke im Jahr 1742 zuerst die Pastoren Mühlberg und Brunnbolz dorthin abordnete, denen, abermals von deutschen Liebesgaben unterstützt, nachher noch andere folgten.

 

Nehmen wir zu dieser ausgedehnten praktischen Tätigkeit des unermüdlichen Arbeiters noch hinzu seine zahlreichen Schriften, teils gelehrte, teils erbauliche, von denen manche, wie seine Anweisung zum fruchtbaren Bibellesen, die weiteste Verbreitung erlangten und durch die Pressen des Waisenhauses in immer neuen Ausgaben vervielfältigt wurden, endlich seine mehrfachen weiten Reisen, auf denen ebenso wenig als zu Haus seine rastlose Tätigkeit für seinen Herrn ruhte – seinen nach allen Gegenden der Welt hin in den mannichfachsten Angelegenheiten ausgedehnten Briefwechsel.

 

Es scheint zu viel für ein Menschenleben, aber seine Treue zeigt uns, wie Gott machen kann, „dass allerlei Gnade unter uns reichlich sei, und wir reif werden zu allerlei guten Werken.“ Als man seinen Freund Elers einst fragte, wer ihn denn das alles gelehrt habe, gab er zur Antwort „Meine Mutter die Liebe. Die Liebe ist auch Franckens Lehrmeisterin gewesen. Ohne helfende und stärkende Hände wäre ihm indes doch nicht so vieles gelungen, aber das ist eben so etwas Erhebendes, mit anzusehen, wie, wo in der Liebe des Herrn ein großes Licht entbrannt ist, gleich eine Anzahl kleinere Lichter rings herum mit zu brennen anfangen. Seine scheinende und brennende Liebe hatte um ihn her solche Geister mit angezündet wie ein Richter, ein Elers, ein Canstein, ein Neubauer, ein Freylinghausen und wie viele Andere! Als König Friedrich Wilhelm der Erste 1713 das Waisenbaus besah und im Buchladen und dessen Niederlagen herumgeführt wurde, geriet er über das große Werk so in Verwunderung, dass er an Elers die Frage richtete: Was hat Er denn aber von dem allen? Ihro Majestät, antwortete er, wie ich geh und stehe.“ Da klopfte der König Francken auf die Schulter und sagte: Nun begreife ich es wohl, wie Er so etwas zu Stande bringt, ich habe solche Leute nicht.

 

Das Ende eines so unermüdlich im Dienst des Herrn verwandten Lebens nahte im Jahr 1727 heran, wo der treue Knecht Gottes in einem Alter von 64 Jahren fruchtbeladen zu seinem Herrn einging, nachdem er noch auf dem Krankenlager aufs Erbaulichste seinen Glauben an den Tag gelegt. In diesem seinen Todesjahr zählte das Pädagogium 82 Scolaren, die lateinische Schule 400, die deutschen Bürgerschulen 1724, das Waisenhaus 134 Waisen; als Tischgenossen wurden außer den Waisenkindern aus der Kasse des Waisenhauses gespeist 255 Studiosi und 360 arme Schüler. Außerdem befanden sich noch in dem Fräuleinstift 15 Fräulein, in der Pension für junge Frauenzimmer 8, in dem Witwenhause 6. Noch lebt die großartige herrliche Stiftung als eine lebendige Predigt für die Stadt, Halle, noch genießen auch ihre Anstalten einen weitverbreiteten Ruhm und große Frequenz. Das Pädagogium zählt 100 Schüler und 18 Lehrer, die lateinische Schule 389 Schüler und 24 Lehrer, die gewerbliche Realschule 378 Schüler, die deutschen Schulen in der Präparandenanstalt für Seminaristen 10 Schüler und 8 Lehrer, die Bürgerschule für Knaben 700 Schüler mit 35 Lehrern, die höhere Töchterschule 130 Schülerinnen mit 12 Lehrern und 4 Lehrerinnen, die Bürgerschule für Mädchen 400 Schülerinnen mit 17 Lehrern und 6 Lehrerinnen, die Freischulen 680 Schüler und Schülerinnen, das Waisenhaus 130 Waisenkinder. Es wird von dem seligen Stifter erzählt, er habe kindlich seinen Herrn gebeten, der Anstalt doch in allen Zeiten wenigstens Einen Mann zu erhalten, der ein Zeuge des seligmachenden Glaubens wäre: und so viel bekannt, hat auch in der Zeit der Herrschaft des Rationalismus diese Bitte ihre Erhörung gefunden, und die Zahl der Lehrer, welche gegenwärtig im Glauben und in der Liebe Christi daran wirken, ist nicht gering.

 

Man wird es von selbst abnehmen, dass der Einfluss einer solchen Wirksamkeit weit über die Grenzen Halle’s hinaus über ganz Deutschland. sich erstreckte. Nach allen Weltgegenden bin ist von den Schülern des Waisenhauses und von den Studierenden der hallischen Universität der von Francke und seinen Mitarbeitern gestreute Same der Frömmigkeit ausgetragen worden. Nach Amerika und von den in den Handelsstädten Asiens zerstreuten deutsch-evangelischen Gemeinden, ja selbst in die griechischen Klöster des Berges Athos wurden badische Theologen als geistliche Hirten und Lehrer begehrt. Wo neue Lehranstalten entstanden und Lehrkräfte bedurften, wo irgend gottesfürchtige Familien Hauslehrer nötig hatten, wurden sie von Halle verschrieben. Wenn sich behaupten lässt, dass keine andere Periode ist, wo Deutschland und die deutsch-evangelische Kirche überhaupt eine so große Anzahl in treuem Glauben wirkender Geistlichen besessen, als gegen die Mitte des 18ten Jahrhunderts hin, A. H. Francke’s Same ist es, der in ihnen aufgegangen. Selbst die katholische Kirche Deutschlands und Frankreichs blickte mit neidischer Bewunderung zu dem Mann auf, den sie, wenn er zu den Ihrigen gehört hätte, unter die Heiligen erhoben haben würde.

  1. Tholuck in Halle.

Antonius

 

Im Leben des Einsiedlers Paul von Theben tritt uns die Bedeutung eines von der Welt zurückgezogenen, in Büßungen und Tugendübungen hingebrachten beschaulichen, der Selbstprüfung und Reinigung gewidmeten Lebens, wie das eigentümliche Gepräge, das ein solches denen aufdrückt, die es führen, schon deutlich entgegen. Dürfen wir ihn auch nicht für den Begründer des Einsiedlerlebens unter den Christen ansehen, das vielmehr durch gleiche Umstände hervorgerufen an mehreren Orten zugleich entsprang, so war er doch der erste christliche Eremit, der großen Ruhm gewann. Bedeutender ward durch einen weitreichenden Einfluß, namentlich auf Verbreitung des Einsiedlerlebens, der heilige Antonius, für welchen die katholische Kirche immer eine große Vorliebe gezeigt hat.

Gleichfalls wie Paulus ein Ägypter, stammte Antonius aus einer wohlhabenden und angesehenen Familie im Dorfe Roma im Gebiet der Stadt Heracleopolis, welche hart an der Grenze der Heptanomis gegen Thebais lag. Um’s Jahr 251 geboren, also in einer Zeit, da die christliche Religion fortwährend mit harten Bedrückungen und Verfolgungen zu kämpfen hatte, erhielt er im Schoße einer christlichen Familie eine fromme, aber nicht eine wissenschaftliche Erziehung; indessen scheint aus seinem späteren Leben hervorzugeben, dass er doch lesen und schreiben konnte. Er war aber nur der koptischen, nicht der griechischen Sprache mächtig, durch deren Besitz doch allein damals die Mittel wissenschaftlicher Bildung zu erlangen waren. In der Bibel war er aber wohl bewandert, mag er sie nun selbst gelesen, oder sich den Wortlaut ihrer wichtigsten Stellen bei wiederholtem Vorlesen eingeprägt haben. Die träumerisch grübelnde Natur des Knaben ließ ihn Alles, was er aufnahm, sich völlig aneignen; am liebsten folgte er aber seinen eigenen Gedanken und hielt sich von Kindern seines Alters uno namentlich von aller lärmenden Gesellschaft fern. Ein tiefes religiöses Bedürfnis trieb ihn aber früh zur Kirche, alle religiöse Anregung und Belehrung drückte sich seinem Herzen tief ein.

Kaum hatte er das zwanzigste Jahr erreicht, als der frühe Tod seiner Eltern ihm die Sorge für ein großes Hauswesen und eine viel jüngere Schwester aufnötigte; diese sagte aber seinem Wesen so wenig zu, dass er gewiss schon sehr bald daran dachte, sich derselben zu entledigen. Dazu konnte ihm die Betrachtung der Zustände der ersten Christengemeine in Jerusalem, wie die Apostelgeschichte sie darstellt, eine willkommene Anknüpfung darbieten; wiederholt hatte er wohl schon sehnsüchtig jener glücklichen Tage gedacht, da alle Einzelnen, ihr besonderes Eigentum der Gemeine hingebend, sich ganz und ungestört der Sorge für ihr ewiges Seelenheil widmen konnten. Oft hing er im Gotteshaus einsam weilend seinen frommen Gedanken nach. Nun geschah es einstmals, dass in demselben Augenblick, da er in die Gemeineversammlung trat, aus dem Evangelium vom reichen Jünglinge die Worte vorgelesen wurden: „Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe was du hast, und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach“ (Matth. 19,21.). Darin glaubte er einen göttlichen Ruf an sich gerichtet zu vernehmen; er ging hin und schenkte seine Güter den Bewohnern seines Dorfs, nur unter der Bedingung, dass er und seine Schwester von allen öffentlichen Lasten frei blieben. Für Letztere hatte er noch einiges Geld zurückbehalten; als er aber bald nachher die Ermahnung hörte, nicht für den andern Tag zu sorgen, gab er auch das noch hin und vertraute sie zur Erziehung einer Gesellschaft christlicher Jungfrauen. Er selbst aber lebte fortan in der Nähe seines Dorfes ganz einsam und höchst einfach, indem er nur Brot und Salz aß und Wasser dazu trank, nicht ohne sich zu schämen, dass sein unsterblicher Geist auch nur so viel bedürfe. Dies erwarb er sich durch seiner Hände Arbeit und schenkte den Armen, was er erübrigte. Hier wohnten damals in der Gegend mehrere Einsiedler, da die Sitte noch nicht aufgekommen war, dass sie sich in Wüsten zurückzuziehen pflegten. Diese besuchte er, stellte sich demütig unter sie und suchte (gleich den kunstfertigen Bienen von Allem sammelnd) ihre Vorzüge sich anzueignen: das fleißige Gebet des einen, das anhaltende Wachen des andern, die Unabhängigkeit von äuBeren Einflussen, die Geduld und Sanftmut, das Streben nach frommer Erkenntnis von noch anderen, von Allen ihre Liebe zu Christo und unter einander. So trachtete, er täglich vollkommner zu werden.

Nun blieben aber die schweren Versuchungen und Kämpfe nicht aus, welche bei solcher widernatürlichen Auflehnung gegen die von Gott eingesetzte Ordnung des äußern menschlichen Lebens selten fehlen, welche aber in damaliger Zeit nicht von verstecktem Stolz und zurückgedrängten Trieben, sondern von dem besonderen Hass des Teufels gegen einen solchen Gott besonders gefälligen Wandel in lauter Enthaltungen und geistlichen Übungen abgeleitet wurden. Durch eine lange Reihe von Jahren bin bis in’s Greisenalter ist Antonius Leben, wie der große Athanasius es uns (in einer den Grundlagen nach wohl echten Biographie) überliefert hat, mit Erzählungen von solchen, teilweise sehr abenteuerlichen Kämpfen angefüllt, welche gewiss oft Gebilde einer erhitzten Phantasie waren, und so betrachtet vielfach Blicke in das Innere des sonst echt christlichen Mannes tun lassen. Zuerst hielt ihm der Teufel die Bilder der aufgegebenen Güter und Annehmlichkeiten, seiner kleinen Schwester, seiner übrigen Familie vor, und erregte viel Staub böser Gedanken in seinem Herzen; dann entflammten sinnliche Bilder sein Inneres, ja, der Teufel erschien ihm sogar in Gestalt eines schönen Weibes, wie es so oft denen ergangen ist, welche gewaltsam Gottes Naturordnung durchbrechen wollen, um einer vermeintlich höheren, ja übermenschlichen Vollkommenheit nachzutrachten. Statt sie durch das Bewusstsein und die Übung eines himmlischen Berufs, durch positive begeisternde Gedanken und Gefühle zu verdrängen, wollen sie mit jenen Bildern kämpfen, durch immer gesteigerte äußere Strenge darüber Herr werden. Dadurch verkörpern sich dieselben gewissermaßen und nehmen immer mehr die Gestalt dämonischer Mächte an, erscheinen z. B. wie Löwen, Ungeheuer und andere Schreckbilder, denen gegenüber die erhitzte Phantasie jene Anstalten macht und Tätigkeiten aufbietet, durch welche Gepolter, Gebrüll und anderes Geräusch entsteht, das wieder den Eindruck der Sache steigert. Auch diese Probe bestand Antonius mit unerschütterlicher Standhaftigkeit und gewann zuletzt eine Heiterkeit, die wohltuend aus seinem Gesicht wiederstrahlte, und eine Gemütsruhe, die durch nichts zu erschüttern war, wie er denn auch nicht rau wie ein Wüstenbewohner, sondern wie ein gebildeter Mann in seinem Äußeren sich darstellte.

Dabei hat es weniger Interesse, im Einzelnen zu verfolgen, wie er sich, je mehr er Bewunderung erregte, in immer einsamere und wildere Wüsten zurückzog, wie er namentlich später in einer verfallenen Veste lebte, die voll war von Ungeziefer und wildem Getier, und wie er mit Dämonen in den verschiedensten Gestalten, die ihn bald mit List, bald mit Gewalt antasten wollten, siegreiche Kämpfe hatte, welche von Malern oft auf anziehende Weise sind dargestellt worden. Sein Siegel und seine sichere Mauer war der Glaube an den Herrn, der ihm auch wohl sichtlich nahte. Der Eindruck dieser seiner Glaubensfreudigkeit war so groß, dass auch in den tiefsten Einöden sich Rat und Hilfe Suchende bei ihm einfanden, denen er sie im Namen des Herrn Jesu Christi, oft auf wunderbare Weise, brachte. Athanasius erzählt eine Menge von Wundern, die durch ihn geschahen; von einer Dämonenaustreibung bei seiner Abreise aus Alexandrien war er selbst Augenzeuge, wie dieselbe auch nichts Unglaubliches hat, „da diese Art dem Fasten und Beten weicht.“ Er selbst hatte auch Gesichte und sah seine Zweifel oft durch göttliche Offenbarungen gelöst, die ihn, wenn auch nicht mit Paulus dem Apostel in den dritten Himmel, doch so zu sagen in die Vorhalle desselben versetzten.

Wichtig ward er für die ganze christliche Kirche dadurch, dass er, ohne es zu beabsichtigen, der Stifter des sogenannten Mönchstums wurde, indem sein Beispiel viele Nacheiferung erweckte und sich überall Jünger um ihn sammelten, welche dann diese „philosophische Lebensweise“ weiter verbreiteten, wenngleich erst ein anderer Ägypter, Pachomius, der unabhängig von ihm einen ähnlichen Weg ging, derselben Regel und Gestalt im eigentlichen Klosterleben gab. Die große Wirkung, welche die Unabhängigkeit dieser Männer von dem, was sonst die Welt reizt oder schreckt, behauptete, gab ihnen, namentlich unter ungebildeten Völkern, eine große Macht, und sie sind in der Hand der Vorsehung ein höchst wirksames Mittel der Verbreitung des Gottesreiches und der Gesittung geworden, sie haben Wildnisse urbar gemacht, die nur durch ihre Entsagung der Kultur gewonnen werden konnten – auf dem Gebiete des äußeren sinnlichen, wie des sittlichen und religiösen Lebens. Das darf auch von dem nicht vergessen werden, der die wüsten Ausartungen im höchsten Grad verabscheut, welche im Klosterleben der werkheiligen katholischen Kirche hervorgetreten sind.

Jene Macht zeigt sich schon in Antonius Leben. In seinem 60sten Lebensjahr lockte ihn eine blutige Verfolgung, die Kaiser Maximin 311 über Ägypten verhängte, nach Alexandrien, wohin er gefangene Christen aus Oberägypten mit andern Einsiedlern begleitete, um sie zu versorgen und zu verpflegen. Seine Erscheinung machte dort großen Eindruck; aber trotzdem und obgleich er unter allen Mönchen allein dem Befehl des Statthalters, dass sie alle die Stadt verlassen sollten, nicht gehorchte, ja beim Verhör der christlichen Glaubenszeugen in glänzend weißem Gewand anwesend war, so dass er bemerkt werden musste, fand er hier nicht den ersehnten Märtyrertod, den aufzusuchen seine Grundsätze ihm nicht erlaubten; wahrscheinlich fürchtete der Statthalter, der Eindruck seines standhaften Märtyrertums möchte ein zu mächtiger werden und schonte ihn deshalb. Kurz, er durfte in seine Einsamkeit zurückkehren, zog aber mit Sarazenen in noch entlegenere Gegenden, um sich den immer mehr Zudringenden zu entziehen und seine Einsamkeit zu bewahren, weil „ein Einsiedler so wenig außerhalb der Einöde leben könne, wie ein Fisch außerhalb des Wassers.“ Doch kam er von jetzt an dann und wann nach Alexandrien, um entweder Bedrückte zu schützen und zu trösten oder Ketzereien zu bekämpfen. So erschien er als ein hochbetagter Greis in den Arianischen Streitigkeiten, wohl nicht, wie man gewöhnlich annimmt, im Anfang derselben, sondern, wie aus der Form seiner Bekämpfung hervorzugeben scheint, wohl erst unter Constantius, vielleicht um 340, da der Arianismus durch weltliche Macht begünstigt wurde. Er wirkte hier mit solchem Erfolg schon durch seine Erscheinung, dass in den wenigen Tagen seines Aufenthalts daselbst mehr Heiden zum Christentum bekehrt wurden, als sonst in einem Jahr. Er war aber auch nicht nur von großer Glaubensstärke, sondern auch ausgezeichnet durch Geisteskraft und Geistesgegenwart. Dies zeigte er namentlich Solchen gegenüber, die kamen, ihn zu verspotten. So fragten ihn einst heidnische Philosophen, wie er doch allein ohne den Trost von Büchern bestehen könne; darauf antwortete er: Sein Buch sei die Natur der Dinge, worin er das Wort Gottes lesen könne, so oft es ihm gefiele. Auch tat er die Gegenfrage: ob der Verstand für älter zu halten, oder die Gelehrsamkeit? und als ihm geantwortet wurde ersterer, sprach er: „So braucht, wer einen gesunden Verstand hat, keine Gelehrsamkeit.“ Sie gingen weg, indem sie eine solche Einsicht in einem ungelehrten Manne bewunderten. Wenn ihn solche mit der Torheit des Kreuzes verspotten wollten, antwortete er ihnen mit Nachweisung des ungereimten und unsittlichen Inhalts der heidnischen Fabeln. Dann kam er zu der entscheidenden Frage: was in der Überzeugung vorangehe, unmittelbarer, aus Erfahrung geschöpfter Glaube oder Vernunftbeweis. Da sie zugaben: ersterer, wies er darauf hin, wie das ganze Christentum sich auf einen solchen Glauben an Christum gründe. Die Folge sei, dass das überall gepriesene Heidentum immer mehr zu Grunde gebe, das geschmähte und verspottete Christentum über Aberglauben und Weisheit desselben den Sieg davontrage. Dann bewies er faktisch des Kreuzes Kraft durch Austreibung der Teufel aus einigen Besessenen. Mit Sokratischer Feinheit ging er zu Werke, da ihm ein paar griechische Philosophen nahten, um sich an ihm zu reiben. „Warum habt ihr, weisen Männer, euch zu mir, einem Toren, herbemüht?“ Da sie sagten, dass er keinesweges ein Tor, sondern ein sehr einsichtsvoller Mann sei, sprach er: wenn ihr mich dafür anerkennt, so werdet doch wie ich; denn das Gute soll man nachahmen, und wäre ich zu euch gekommen, würde ich euch wohl nachgeahmt haben. So aber bin ein Christ. Verwundert über ihn begaben sich jene weg.

Als er, 105 Jahre alt, seinen Tod herannahen fühlte – er starb 356 – sorgte er noch dafür, dass sein Leichnam verborgen bliebe, damit er nicht nach ägyptischer Art einbalsamiert und irgendwo im Haus bewahrt würde. Die beiden vertrautesten Schüler, welche in den letzten Jahren um ihn gewesen, mussten ihn begraben und bewahrten das Geheimnis treulich. Dennoch meinte man zwei Jahrhunderte später seinen Leichnam aufgefunden zu haben, der im 10ten Jahrhunderte nach Vienne in Frankreich gebracht wurde; seitdem ward in der Römischen Kirche bei ihm, der so angelegentlich überall auf Jesum, seinen Herrn und Meister, hingewiesen hatte, wo es die Forderung von Wundern galt, Hilfe gegen Krankheiten aller Art gesucht, namentlich das sogenannte Feuer des heiligen Antonius, eine furchtbare, im Mittelalter einmal herrschende Seuche, bei der die Glieber abfaulten oder abtrockneten.

Ohne ihm aber beizulegen, was er nicht war, dürfen wir doch in ihm einen edlen, wahrhaft frommen und selbstverleugnenden Christen sehen, dessen Ermahnung an seine Mönche, wie Athanasius uns dieselbe mitteilt, beweist, dass die Erfahrungen seines Lebens nicht ungenutzt an ihm vorübergegangen sind. Er sagt darüber in jener Rede unter Anderm (nach Neanders freier, aber treuer Übersetzung):

„Mögen wir uns nur keine Schreckbilder von bösen Geistern vormalen, mögen wir uns nicht betrüben, als wenn wir verloren wären. Lasst uns vielmehr immer getrost und freudig sein als Erlöste, und lasst uns eingedenk sein, dass der Herr mit uns ist, der sie besiegt und zu nichte gemacht hat. Lasst uns immer daran denken, dass, wenn der Herr mit uns ist, die Feinde uns nichts tun können. Die bösen Geister erscheinen uns verschieden nach den verschiedenen Gemütszuständen, welche sie bei uns vorfinden. Finden sie uns feige, so vermehren sie unsere Furcht durch die Schreckbilder, welche sie in uns erregen, und in diesen quält sich dann die unglückliche Seele. Finden sie uns aber freudig in dem Herrn, mit der Betrachtung der zukünftigen Güter und der Dinge des Herrn beschäftigt, daran denken, dass Alles in der Hand des Herrn ist, und dass kein böser Geist gegen den Christen etwas vermag, so wenden sie sich beschämt hinweg von der Seele, welche sie durch solche Gedanken verwahrt sehen.“

Darum verbot er auch denen, die sich unter seiner Leitung zu Einsiedlern oder Mönchen, d. h. Einsamen, ausbildeten, den Müßiggang. Sie sollten ihre Zeit, wie er es auch selbst tat, mit Handarbeiten, geistlichen Übungen, seelsorgerischer Tätigkeit, frommer Selbstbetrachtung usw. ausfüllen. Für solche, die nicht den entschiedenen Beruf für ein beschauliches Leben haben, ist die Gefahr immer groß, in leere Stumpfheit oder in hochmütige Selbstbespiegelung zu verfallen; vor beiden schützte den Antonius ein echt christlicher Sinn und die durch denselben verklärte Eigentümlichkeit einer beschaulichen Natur. Sein berühmtester Schüler war Hilarion.

L. Pelt in Remnis bei Greifswald.

Johann Albrecht Bengel

Johann Albrecht Bengel.

4. November.

Dr. Johann Albrecht Bengel, zuletzt Konsistorialrat und Prälat zu Stuttgart, war einer der geist- und verdienstvollsten Nachfolger Ch. F. Speners. Schon seine Kindheit war reich an ernsten zur Liebe und Furcht Gottes hinleitenden Erfahrungen. Den 24. Juni 1687 in dem Landstädtchen Winnenden geboren, verlor er schon in seinem sechsten Jahre seinen Vater, wenige Monate darauf ward bei einem Einfall der Franzosen das Haus, das seine Mutter sich zum Witwensitz erkauft, samt der väterlichen Bibliothek zu Asche. Aber sein Lehrer Spindler erzeigte Vatertreue an ihm, und nahm ihn überall hin mit sich, wohin ihn die kriegerischen Zeitverhältnisse seine Schule zu verlegen nötigten und als Bengel zur Universität reif geworden war, fand seine Mutter durch ihre Verheiratung mit dem Klosterverwalter Glöckler die Mittel ihn seine Studien fortsetzen zu lassen. Mittlerweile war die Kraft des göttlichen Wortes dergestalt in sein Herz eingedrungen, dass ein kindliches Vertrauen zu Gott, ein Ernst im Beten, ein Verlangen nach dem bessern Leben, ein Vergnügen an Bibelsprüchen und geistlichen Liedern, eine Bewahrung des Gewissens, eine Scheu vor dem Bösen und eine Liebe zum Guten entstand das Beste aber war, dass Niemand viel Aufhebens von seiner Frömmigkeit machte. Es fehlte zwar auch bei ihm nicht ganz an einzelnen Ausbrüchen jugendlicher Torheit und Leichtsinnigkeit, aber wenn je etwas der Art vorkam, so rügte es sogleich der im Innersten der Seele stets aufmerksame Wächter und verhinderte dadurch, dass keine von Außen hereinkommende Verderbnis hängen blieb. Daneben bekam er von der göttlichen Leutseligkeit die innigsten Friedensblicke, insbesondere bei den ersten Gängen zum heiligen Abendmahl. In Tübingen hatte er das gedoppelte Glück sogleich in einen Freundeskreis gottseliger Studierenden eintreten zu dürfen und Lehrer zu finden, welche selbst von lebendigem Glauben an Christum durchdrungen mit dem tätigsten Eifer nicht nur auf die wissenschaftliche, sondern auch auf die Herzensbildung der Studierenden hinarbeiteten, wie namentlich der eifrige Beter Dr. Christoph Reuchlin und Dr. Andreas Adam Hochstetter, ebenso ausgezeichnet in der Seelsorge, wie auf dem Katheder.

Diese Männer suchte sich Bengel wo er nur zukommen konnte zu Nutzen zu machen, zumal nachdem ihm der Sinn dafür noch geschärft worden war durch eine schwere Krankheit, die ihn in der Mitte seines Studienlaufes an den Rand des Grabes geführt und den Entschluss in ihm geweckt hatte, sein ihm gleichsam aufs Neue geschenktes Leben ganz zu Gottes Dienst und Ehre anzuwenden. Unmittelbar nach seinem Abgang von der Universität wurde er kaum 20 Jahr alt zum Pfarramtsverweser in Metzingen bestellt, wo er Gelegenheit fand, sich nun auch damit bekannt zu machen, wie das Volk die Religion ansieht; aber schon vor Jahresfrist wurde er ins theologische Stift zu Tübingen zurückberufen, um als Repetent die Studien jüngerer Freunde zu leiten, während er zugleich den Umfang seiner eigenen Kenntnisse erweiterte. Zum Schluss seiner wissenschaftlichen Ausbildung machte er noch im Sommer 1713 eine Reise durch das mittlere Deutschland und lernte an höheren und niederen Unterrichtsanstalten eine ganze Reihe trefflicher Männer persönlich kennen, welche nach der von Spener empfangenen Anregung mit einander darin wetteiferten, dem nachwachsenden Geschlecht auf der Grundlage lebendiger Religiosität eine tüchtige wissenschaftliche Bildung zu gewähren. Bei Männern der verschiedenartigsten Richtungen forschte er nach den erprobtesten Erfahrungen und kehrte dann mit reichem Gewinn nach der Heimat zurück, wo seiner die Gelegenheit wartete, an der neu errichteten Klosterschule zu Denkendorf als Lehrer und Erzieher zum Studium der Theologie vorzubildender Jünglinge in Anwendung zu bringen, was er gesammelt.

Schon seine Antrittsrede zeigte, was er anstrebte, indem sie den Fleiß in der Gottseligkeit als das zuverlässigste Hilfsmittel zur Erwerbung echter Gelehrsamkeit bezeichnet, weil sie zur kräftigsten und vollständigsten Entwicklung der jedem verliehenen Anlagen führe, am siegreichsten die Trägheit des Fleisches überwinde, das Gemüt vor Verwirrung durch Leidenschaften verwahre und dem Geist eine Lebendigkeit, Kraft und Klarheit gebe, durch welche nicht selten auch der minder Begabte gerade bei der Erforschung der tiefsten Wahrheit die Begabtesten, aber vom Umgang mit Gott Entfremdeten überflügele.

Was er hiermit ausgesprochen, waren keine leeren Worte, es wurde betätigt durch einen in 28jähriger Arbeit nicht ermüdenden, und die gleich Anfangs erwählten Grundsätze bis ans Ende festhaltenden Eifer, die ihm anvertraute Schar nach bestem Wissen und Gewissen zu beraten; über 300 Jünglinge wurden von ihm in dieser Zeit der vaterländischen Kirche zugebildet und nicht wenige derselben unterwarfen sich der heiligenden Zucht des göttlichen Geistes und wurden weise und geachtete Männer, die mit Ehren und Segen den wichtigsten Ämtern vorzustehen vermochten. Allein dies war keineswegs die einzige Frucht seiner Tätigkeit in dieser Zeit, ganz ungesucht schloss sich noch anderes daran an, das in viel weitere Kreise hinauswirkt. Gewohnt mit seinen Schülern alle 2 Jahre das ganze Neue Testament im Grundtext zu durchlesen, wurde er durch seinen amtlichen Beruf sowohl, als durch eignes Bedürfnis auf eine gedoppelte Arbeit hingeleitet. Schon während seiner Studienjahre hatte ihn die Frage bekümmert: Haben wir den Text des Neuen Testamentes genau so vor uns, wie er ursprünglich niedergeschrieben worden?

Damals hatte er darüber weggehen müssen, weil eine gründliche Beantwortung dieser Frage Untersuchungen forderte, zu denen ihm Zeit und Gelegenheit fehlte; aber jetzt konnte er sie wieder aufnehmen und seinem forschenden Geiste die gewünschte Befriedigung gewähren. Zwar Legte ihm der Aufenthalt in dem kleinen Denkendorf keine geringen Schwierigkeiten in den Weg, aber sein unermüdlicher Eifer wusste sie zu überwinden und bald hatte er einen so reichen Vorrat teils alter Handschriften, teils seltener Ausgaben des Neuen Testamentes beisammen, dass er hoffen konnte nicht vergebens an der Lösung seiner Aufgabe zu arbeiten, am meisten aber förderte ihn hierbei, neben seinem eisernen Fleiß ein eigentümlicher Scharfblick, welcher ihn die vorliegenden Materialien nach ihrer Abstammung in Familien ordnen, und von dem Zählen zu dem ungleich, schwereren Wägen der Lesearten übergeben lehrte, und es gelang ihm ein Werk zu Stande zu bringen, das, wenn es auch noch nicht allen Anforderungen genügte, doch alles übertraf, was bis dahin auf diesem Gebiet von den gelehrtesten Forschern geleistet worden war. Das für die Echtheit des hergebrachten Textes im Ganzen höchst günstige Ergebnis legte er nicht allein in einer größeren mit einem Apparatus criticus versehenen Ausgabe dem gelehrten Publikum zur Prüfung vor, sondern veranstaltete zugleich auch eine Handausgabe für Studierende, die bis in dieses Jahrhundert herein immer wieder abgedruckt wurde. Hand in Hand mit dieser die Herstellung des richtigen Textes bezweckenden Arbeit ging eine andere, welche sich die Auslegung zur Aufgabe machte. Die Grundsätze von denen er hierbei ausging waren: die heilige Schrift muss als ein zusammenhangendes Ganze, als eine unvergleichlich herrliche Nachricht von der göttlichen Ökonomie bei dem menschlichen Geschlecht vom Anfang bis zum Ende aller Dinge durch alle Weltzeiten hindurch betrachtet und so viel möglich aus sich selbst erklärt werden. Es muss Grundsatz des Erklärers sein: Trage nichts in die heilige Schrift hinein, aber lass auch nichts zurück, was in ihr liegt und vergiss nicht, dass nur einem frommen und gläubigen Sinn die ganze Kraft und Herrlichkeit der heiligen Schrift sich aufschließt. Was er durch vieljährige, durch fleißiges Gebet geheiligte Forschung auf diesem Wege gefunden, das legte er in einem Kommentar nieder, dem er den bescheidenen Titel: Gnomon gab; denn seine Anmerkungen wollten nur ein Fingerzeig sein, der den Leser in den Text weiter hineinführte. Dieses geistvolle, an inhaltsschweren Hindeutungen auf den eigentlichen Sinn der heiligen Schrift unendlich reiche Werk hat sich im Laufe der Zeit, insbesondere aber in unsern Tagen wieder als so brauchbar erwiesen, dass 1830 eine zweite und 1850 ein fünfte Auflage nötig geworden ist, so vielfach auch von andern in- und ausländischen Erklärern diese bengelische Arbeit zu ihren Kommentaren benutzt wurde.

Der Grundsatz dass die heilige Schrift ein zusammenhangendes System der göttlichen Ökonomie von Anfang des menschlichen Geschlechts bis zum Ende aller Dinge enthalte, führte Bengel insbesondere auch auf chronologische und apokalyptische Studien, in welchen er den Zusammenhang der biblischen Zeitordnung aufzuklären, und mit Hilfe des prophetischen Wortes auch das Fachwerk der künftigen Ereignisse des Reiches Gottes einigermaßen aufzuräumen versuchte, ein ebenso mühsames als kühnes, von ihm aber in der Voraussetzung gewagtes Unternehmen, dass der Bibelerklärer nichts unbenützt liegen lassen dürfe, was die heilige Schrift zur Aufhellung unserer Erkenntnis darbiete. Er selbst verkannte auch keineswegs die großen Schwierigkeiten derartiger Forschung und wenn er gleich meinte, einen besonderen Beruf dazu zu haben, so war er doch weit entfernt, alles mit gleicher Zuversicht zu behaupten und sein apokalyptisches System für fehlerlos zu betrachten. Er hielt es im Gegenteil für möglich, dass seine Aufschließung der prophetischen Zahlen irrig sein könnte, glaubte aber, dass dann doch die von ihm bezeichnete Reihenfolge der kommenden größeren Tatsachen, und die hierauf gegründeten praktischen Erinnerungen ihre Richtigkeit behalten würden. Der Hauptsache nach ging seine Ansicht darauf hinaus: Es stehe eine durchgreifende Veränderung der kirchlichen und politischen Verhältnisse Europas bevor, und ehe das römische Papsttum zum eigentlichen Antichristentum sich entwickle, werden Unglauben und Mystizismus, vielleicht auch sogar Mohammedanismus sich miteinander verschmelzen; erst auf den Sturz des persönlichen Antichrists werden die besseren Zeiten des tausendjährigen Reiches folgen, von dem er jedoch nicht sowohl ein zeitliches Wohlleben, als vielmehr ein ungestörtes, fröhliches Wachstum des Reiches Gottes auf Erden erwartete. Diese Forschungen legte er, was den theoretischen Teil betrifft, vorzüglich in seinem Ordo temporum, Cyclus, Harmonie der Evangelisten, der erklärten Offenbarung und einigen kleineren Schriften nieder, während er die praktische Anwendung in seinen 60 erbaulichen Reden über die Offenbarung Johannis auseinandersetzte.

Mit dem Jahre 1741 verließ Bengel – zum Probst in Herbrechtingen ernannt – sein Klosterpräzeptorat und trat in einen neuen Wirkungskreis ein, er ward Prediger einer kleinen Landgemeinde und nahm später auch noch zum Konsistorialrat ernannt an der Geschäftsführung der Oberkirchenbehörde Anteil. Seine eindringlichen Predigten weckten neues Leben in der Gemeinde und die Leute baten, dass er ihnen durch Privatunterweisung weiter forthelfe in ihrem Christentum.

Gerne gab er sich dazu her; denn er hielt dies für die geeignetste Weise, dem verfallenen Christentum wieder aufzuhelfen. Von denselben Grundsätzen ließ er sich auch beim Kirchenregiment leiten. Es sei, sagte er zwar, jetzt nicht Zeit zu etwas Neuem, man dürfe aber auch nicht auf und davon geben und den verführten Karren der Kirche stehen lassen, oder durch gesetzliches Stürmen und Poltern helfen wollen. Man lasse eben einstweilen sehen, was noch stehen könne, mache sich zu Nutzen, was noch nützlich sein könne, und suche vor Allem gut Freund zu sein mit allen, die Jesum lieb haben.

In diesem Sinn ist namentlich auch sein „Abriss der (Zinzendorffschen) Brüdergemeine“ abgefasst, daher ihn Frohberger den edelsten und verdienstvollsten ihrer Gegner nennt und zugesteht, dass er ihr durch seine Anmerkungen Manches genügt habe. – Was aber Württemberg betrifft, so hat es bis auf den heutigen Tag Ursache, Bengel und seinen Freunden zu danken, dass sie durch ihre milden und weisen Verordnungen über die anderwärts so hart verfolgten Privaterbauungsstunden ihm ein in den nachfolgenden Tagen des Unglaubens und der Revolution sehr heilsam sich erprobendes Bewahrungsmittel bereitet haben.

Endlich dürfte noch erwähnt werden, dass Bengel durch seine Lieder: „Mittler alle Kraft der Worte“ und „Du Wort des Vaters rede du“, zu dem Liederschatz der evangelischen Kirche zwei köstliche Beiträge gegeben hat.

Was sein Privatleben betrifft, so hatte Bengel sich am 5. Juni 1714 mit Johanna Regina Seeger verheiratet, und Gott erhörte sein Gebet, dass er sie ihm bis ans Ende seiner Wallfahrt lassen möchte. Von Anfang an lebte er mit ihr in der herzlichsten Gemeinschaft des Geistes und bezeugt den übergeistlichen Verächtern der Ehe gegenüber: „die ernsthaftesten und wichtigsten Lebenserfahrungen in Leid und Trost sind mir vermittelst des Lebens im Ehestand vorgekommen.“ Von 12 Kindern, die ihm geboren wurden, durfte er nur 4 Töchter und 2 Söhne erziehen. In welcher Weise er das tat, bezeichnen seine Worte: „Die einfachste Erziehungsmethode ist die beste, man vermeide doch ja alle Künstelei. Man verschaffe den Kindern Gelegenheit mit dem Worte Gottes bekannt zu werden, bleibt nicht Alles, so doch hie und da etwas. Man fange aber mit Geschichte an und nicht mit Sprüchen. Exempel machen einem Lust, Befehle nicht. Überladung der Gedächtnis- und Verstandeskraft junger Leute ist die Quelle geistlicher Schläfrigkeit, Sattheit, Sicherheit, Selbstgefälligkeit, Dünkelhaftigkeit. Wenn man nur die Gelegenheit zu groben Ausschweifungen abschneidet, so ist es im übrigen besser, wenn man sie bei ihrer meist unschuldigen Geschäftigkeit, Spielen usw. mehr ihrer eignen, als fremder Willkür überlässt. Vornehmlich suche man die Jugend auf eine wahre Redlichkeit des Herzens und Einfalt des Sinnes auf Christum zu führen.“ Die Frucht dieser Erziehung war, dass er viel Freude und kein Herzeleid von seinen Kindern erlebte.

Der Tod traf Bengel wohl vorbereitet. Von frühester Jugend an hatte er viele tiefe Eindrücke von der Ewigkeit bekommen und mehrere heftige Krankheiten verstärkten diese Eindrücke. Endlich kamen noch die gewöhnlichen Beschwerden des höheren Alters, das bewog ihn je mehr und mehr vom Umkreis zum Zentrum, von den Hilfsmitteln zur Sache selbst zu gehen. „Ich halte mich für einen alten absterbenden Baum,“ sagte er, „und freue mich über junge, grüne Jünglinge und Streiter, die in die Lücke treten. Je mehr ich mich der Berühmtheit unter den Menschen entziehe, desto süßer wird mir der Genuss des Bewusstseins Gottes. Auf seine väterliche Diskretion lebe ich fort, bis er mich am Ende zu sich bringt. Ich weiß nirgends etwas aufzuweisen, als meinen Jesum. Ich befehle mich meinem getreuen Schöpfer, meinem sehr wohlbekannten Erlöser, meinem bewährten Tröster und begehre nichts anderes als aufrichtig vor ihm erfunden zu werden.“ Er starb zu Stuttgart den 2. November 1752.

Philipp Friedrich Hiller

Philipp Friedrich Hiller.

Philipp Friedrich Hiller, der Assaph Alt-Würtembergs, geboren am 6. Januar 1699 in Mühlhausen an der Enz, wo sein Vater Pfarrer war, war frühe schon in der Leidensschule geübt, wie er denn bereits im zweiten Jahr ein vaterloser Waise ward, und als achtjähriger Knabe mit seinem nunmehrigen Stiefvater, dem Bürgermeister Weiß in Vaihingen vor den mordbrennerischen Franzosen, die damals plötzlich ins Land eingefallen waren, eine gefahrvolle Flucht durchmachen musste. Das waren Vorbilder seines ganzen künftigen Lebens, in welchem er durch viele Anfechtungen von außen und innen sich durchschlagen musste, aber auch – wie ihm dies gleichfalls in seiner Kindheit schon durch Rettung von mehreren augenscheinlichen Todesgefahren vorgebildet war – die treue Durchhilfe Gottes reichlich erfahren durfte.

Solche notgepresste Herzen gaben aber von jeher den besten Klang zum Lobe der herrlichen Gnade Gottes.

Des Vaters Beruf sollte auch sein Beruf werden, und so kam er als vierzehnjähriger Knabe in die evangelische Klosterschule nach Denkendorf bei Esslingen, wo er vom J. 1713 – 1716 unter der Geistespflege J. A. Bengels stand, der damals gerade Klosterpräzeptor daselbst geworden war und vor des jungen Hillers Ohren seine Antrittsrede „über den Fleiß in der Gottseligkeit als dem zuverlässigsten Hilfsmittel zur Erwerbung echter Gelehrsamkeit“ gehalten hatte. Der Geist dieses Mannes, auf dessen Stirne einst ein Jüngling das Wort „Ewigkeit“ zu lesen meinte, also dass er darüber Buße tat und selbst auch ein gesegneter Wegweiser zur Ewigkeit wurde, wirkte unter der echt kirchlichen, mit Gebet und Betrachtung des Wortes Gottes reichlich durchwobenen Klosterzucht, wie sie in diesen Pflanzschulen für den Kirchendienst damals noch zu Hause war, mächtig auf sein zartes Gemüt und der Umgang mit diesem seine Schüler stets auch seelsorgerisch beratenden Lehrer hatte den entscheidendsten Einfluss auf seine ganze Lebens- und Geistesrichtung. Nachdem er dann noch von 1716 – 1719 die Klosterschule zu Maulbronn durchlaufen und sofort im Stift zu Tübingen vom J. 1719-1724 Philosophie und Theologie studiert hatte, vikarierte er fünf Jahre lang an verschiedenen Orten Württembergs und kam dann vom J. 1729 – 1731 als Informator zu dem Marktvorsteher von Müller in Nürnberg. Hier war er sehr viel im Geist gebeugt und angefochten, hier war es aber auch, dass ein Lied P. Gerhard’s, das schöne Jesuslied: „O Jesu Christ, mein schönstes Licht“ die Wünschelrute für ihn wurde, die ihn in seinem gottinnigen Gemüt die reiche Quelle der geistlichen Dichtkunst finden ließ. Dieses von Gerhard über ein Gebet in Arndt’s Paradiesgärtlein gedichtete Lied weckte in ihm die heilige Sangeslust, 301 Lieder über sämtliche Gebete des Arndt’schen Paradiesgärtleins zu dichten – die Früchte seiner ersten Liebe zu Christo.

Nicht lange nach seiner Rückkehr ins Vaterland wurde er 1732 Pfarrer in Neckargröningen bei Ludwigsburg, wo er dann auch an der Pfarrtochter von Hessigheim eine „Gehilfin recht nach seinem Herzen, wie er sich eine solche von Gott erbeten hatte, die Gott liebe und die ihn liebe“, gefunden hat. In 37jährigem Ehestand, der mit 11 Kindern gesegnet war, hat er mit ihr stets von Einem Teller gegessen, – so innig Eins waren die Zwei geworden. Auf dieser damals armen Pfarrei lebte er bei allem Mangel und Entbehren doch vergnügt in seinem Gott, musste aber, gerade als seine Frau in den Umständen ihrer ersten Geburt war, abermals vor den einfallenden Franzosen flüchten und eine harte Notzeit durchmachen. Sein Sinn dabei war aber der:

Schickst du mir auch alle Tage \\
Meine Plage,
Du, als Vater, brauchst die Ruten\\
Nur zum Guten; \\
Schweig ich kindlich in Geduld. \\
Mir bleibt wohl bei Deiner Huld.

Auch in Mühlhausen, seinem Geburtsort, wo man ihn 35 Jahre zuvor als einen schwächlichen Waisen hinweggetragen hatte, und wohin er nun im J. 1736 als Pfarrer berufen wurde, blieb die Anfechtung nicht aus. Hier wurde er durch separatistische Bestrebungen, die in seiner Gemeinde zu Tag traten, vielfach geübt, bis er nach 12 Jahren am 11. Juni 1748 zur Pfarrei Steinheim bei Heidenheim auf dem sogenannten Aalbuch, einem Teil der schwäbischen Alb, befördert wurde. Hier führte ihn Gott auf schweren Kreuzeswegen vollends erst recht hinein in die Tiefen der Leidensnächte und Demütigungen. Da konnten dann aber auch seine köstlichsten Leidensfrüchte reifen. Nicht nur, dass er mehreremal in Gefahr war, seine treue Gehilfin in tötlichen Krankheiten zu verlieren, im dritten Jahr seiner Amtsführung traf ihn auch der schwere Schlag, durch eine immer mehr zunehmende Heiserkeit die vorher so klangreiche Stimme zu verlieren, so dass man ihn, obgleich er noch Worte machen konnte, selbst bei mäßiger Entfernung nicht mehr verstand. Nun konnte er nicht einmal seine Söhne mehr selbst informieren, sondern musste sie mit viel Geldaufwand in entfernte Schulen schicken; noch viel weniger konnte er seinen öffentlichen Dienst an der Gemeinde und insbesondere das Predigtamt versehen; doch besorgte er die Privatseelsorge noch selbst und hielt Sonntags Erbauungsstunden in seinem Hause, öfters auch Kinderlehren, wobei er Jung und Alt in der Nähe befragte. Er musste aber eben nun einen Vikar annehmen, was den ihm seither stets beschiedenen Kampf mit Mangel und Entbehrung nur noch vermehrte. Das aber war die empfindlichste Presse seines Gemüts, so von seiner lieben Kanzel und dem kräftigen, allseitigen Wirken in seiner Gemeinde ausgeschlossen zu sein; denn alle ersinnlichen Mittel konnten den Klang seiner Stimme nicht wieder wecken, und die dringendsten Gebete, die er Gott opferte, führten ihn nur zu der Überzeugung, dass es Gottes Wille nicht anders war, als ihn in dieser Schwachheit mit allgenugsamer Gnade zu bewähren.

Und so geschah es auch. Gerade in dieser Unbrauchbarkeit machte ihn der weise Gott nicht nur Einer Gemeinde, sondern der ganzen Kirche viel brauchbarer, als zuvor. Die schwere Anfechtung lehrte ihn nämlich um so ernstlicher aufs Wort merken und führte ihn um so tiefer in die heilige Schrift hinein, dass er aus ihren edlen Bergwerksgründen in den köstlichsten Bibelsprüchen ein Goldkörnlein ums andre zu Tage schaffte und darüber aus vollem Herzen ein Lied ums andre sang, wovon er dann die meisten – im Ganzen sang er 1078 Lieder – nach dem Vorgang von Bogazky’s Schatzkästlein gesammelt herausgab unter dem weltbekannten Namen: „geistliches Liederkästlein“, in der Hitze der Trübsal wohl ausgereifte Früchte eines alten, bewährten Jüngers Christi. Es geht die Sage, er habe manche dieser Lieder in seiner Gartenlaube sitzend und die Harfe spielend gedichtet und die Seinen haben sie ihm, wenn er sie mit seiner heisern Stimme erstmals aussprach, wie sie ihm aus dem Herzen quollen, geheim nachgeschrieben, worauf er sie später verbessert und bereinigt in jene Sammlung aufgenommen. Der erste Teil derselben vom Jahr 1762 enthält Lieder zum Lobe Gottes; und zu solchem Lobe hatte er bei aller Bedrängnis immer auch noch Grund und Ursach genug selbst in seinen äußerlichen Umständen. Denn sehr oft und viel, und gewöhnlich wenn die Not am größten war, kamen von auswärts Geschenke an Geld und Lebensmitteln ohne Namen an ihn, wodurch gläubige Seelen ihm ihre Dankbarkeit für die aus seinen Liedern und Schriften empfangene geistliche Stärkung und Tröstung tatsächlich zeigen wollten. So durfte er geradezu von der Hand seines ihm wohlvertrauten fürsorglichen himmlischen Vaters leben, der ihn dadurch wie im Bitten und Anhalten, so auch im Danksagen und
Loben üben wollte. Recht erfahrungsmäßig und von Grund der Seele konnte er drum singen:

Wenn wir von Tag zu Tagen
Die Notdurft überschlagen,
Und rechnen dann die Menge,
So sind wir im Gedränge.
Doch wenn wir mit Vertrauen
Ihm auf die Hände schauen,
So nähret allerwegen
Uns ein geheimer Segen.

Wie dieses mag geschehen,
Das kann man nicht verstehen;
Allein man sieht am Ende:
Es ging durch Gottes Hände.
Man wundert sich und preiset
Den Herrn, der uns gespeiset;
Man glaubt von Herzensgrunde
Und dankt mit frohem Munde.

Der andre Teil seines Liederkästleins, wie der erste aus 366 Spruchliebern bestehend und von ihm nur zwei Jahre vor seinem Tod herausgegeben, enthält Betrachtungen des Todes, der Zukunft Christi und der Ewigkeit, denen die die Erscheinung Christi lieb haben zum Dienst aufgelegt. Auf was sein großer Meister Bengel, der heute noch als Prophet im Mund des Volkes lebt, in seinen unterdessen 1740 – 1748 erschienenen Schriften über die Offenbarung hingewiesen hatte, das begleiteten und belebten Hillers echt volksmäßig und gemütlich in klarer Schriftmäßigkeit und biblischer Einfalt ertönenden Liederklänge, also dass der Meister und der Schüler, jeder in seiner Weise, in weiten Kreisen eine Bereitschaft auf jenen großen Tag und die Nähe des Herrn und eine Sehnsucht nach der Vollendung des Reichs Gottes auf Erden weckten.

Während Hiller nun dadurch, so wie auch durch Ausarbeitung mancher andern erbaulichen Schriften, z. B. eines Systems aller „Vorbilder Jesu Christi durch das ganze Alte Testament“, in immer weiterem Umfang für die vaterländische Kirche im Segen wirkte, war er in dem kleinern Kreis seiner Gemeinde, obgleich er sie treulich mit der Wahrheit Gottes verpflegte, doch allerlei Schaden, Verdruss, heimlichen Tücken und offenbaren Widerwärtigkeiten ausgesetzt. Viele übelwollende Glieder der Gemeinde beurteilten nemlich die Krankheit ihres Pfarrers mitleids- und liebelos und wirkten für seine Entfernung. Solche Feindseligkeiten suchte er aber stets mit sanftmütigem Ernst zu beantworten, mehr noch aber mit priesterlicher Fürbitte zu vergelten. Sein Sinn war dabei der:

Uns bekriegen
Doch von innen Haß und Lügen
Kann’s gewinnen
Zwar von außen in der Welt;
Wer Geduld und Glauben hält.
Nichts heißt Schade,
Wenn nur Gnade
Unser Herz zufrieden stellt.

Da sein eignes Verhalten in Wahrheit und Gerechtigkeit war, so achtete er mutig die Gottlosen für nichts, dagegen die geringsten und verachtetsten Frommen mit aller herzlichen Liebe für hoch.

Wider alles Vermuten wurde seine schwächliche Gesundheit – sein Leib war schwach und klein – bis zum hohen Alter gestärkt, in welchem er stets frisch und grünend blieb und eine muntere Gottseligkeit zeigte, also dass sein Umgang lebhaft, gewürzt und angenehm war.

Zuletzt wurde er aber freilich des Lebens in gutem Frieden satt und in der Welt ein ganzer Fremdling, dass er gar manchmal ein kaum abgetrocknetes Auge den Seinigen von seiner Bet- und Studierstube mitbrachte und den Herrn oft und viel mit Sehnsucht bat: „nimm mich Müden bin im Frieden, dort wird Niemand lebenssatt.“ Ganz besonders wünschte er sich noch ohne langes Krankenlager aufgelöst zu werden und nach so viel Unruhe einen ruhigen Heimgang zu haben. Und diesen Wunsch erfüllte ihm auch sein treuer Gott, in dessen Arme er nach Vollendung seines 70. Jahres, als er die meisten seiner noch lebenden sechs Kinder versorgt sah, durch einen Schlagfluss, der ihn am 24. April 1769 befiel, ohne irgend einen Seufzer der Schmerzen fallen durfte. So tat ihm der Herr, wie er ihn gebeten hatte:

Herr! meine Leibeshütte
Sinkt nach und nach zu Grab;
Gewähre mir die Bitte
Und brich sie stille ab.

Gib mir ein ruhig Ende,
Der Augen matten Schein
Und die gefaltnen Hände
Laß sanft entseelet sein.

Laß meine letzten Züge
Nicht zu gewaltsam geh’n,
und gib, dass ich so liege,
Wie die Entschlafenen.

So schläft er nun jenem großen Tag entgegen, von dem er so viel gesungen; er lebt aber gleichwohl noch fort in seinen Liedern; die in der Kirche nicht nur, sondern auch und noch vielmehr in jeder der vielen religiösen Gemeinschaften Altwürtembergs, welcher Farbe sie auch angehören mögen, ertönen; denn sein Liederkästlein ist nächst der Bibel und Arndt’s wahrem Christentum eins der vielgebrauchtesten und gesegnetsten Bücher im frommen Schwabenlande, und die Stimme des stimmlosen Albpfarrers von Steinheim erschallt selbst an den Gebirgen des Kaukasus, an den Ufern der Weichsel und in den fernsten Wäldern Amerikas, wo Württemberger sich angesiedelt haben. Das ist der Lohn der Treue und Demut, womit er – wie sein Sohn, der nachmalige Prälat von Anhausen ums J. 1775 sich ausgesprochen – „seine vorzügliche Gabe und Geschicklichkeit in der Dicht- und Redekunst dem Wort Gottes aufgeopfert hat, nicht das Wort Gottes der Redekunst nach Art so vieler neumodischer Dichtkünstler.“

E. E. Koch in Heilbronn (früher in Großaspach).

Francesco Gamba von Brescia

Erlitt den Märtyrertod zu Como 21. Juli 1554.

1. Evangelische Einflüsse, unter welchen Gamba heranwuchs.

Francesco Gamba entstammte einer angesehenen Familie von Brescia, der Vaterstadt des nach ihr genannten evangelischen Märtyrers Arnold. Vom Mittelalter her bekundeten die Bürger dieser norditalischen Stadt ein lebhaftes Streben nach politischer und kirchlicher Freiheit und Unabhängigkeit. Als daher im ersten Viertel des sechzehnten Jahrhunderts von Wittenberg und von Zürich aus die Predigt „von der Freiheit eines Christenmenschen“ durch die abendländische Kirche ertönte, fand sie auch in den Herzen vieler Brescianer einen freudigen Widerhall. Diese freie Geistesrichtung wurde genährt und gepflegt durch Männer, welche, wie der uns bekannte Franziskaner Giovanni Mollio, selbst vom Zug des neu erwachten evangelischen Geistes ergriffen waren und an der Hochschule dieser Stadt lehrten und wirkten. Unter dem Einfluss dieser evangelischen Geistesregungen entfaltete sich die Jugend von Francesco Gamba, der wahrscheinlich noch zu den Füßen Mollios gesessen ist. Wir erblicken auch unter den Männern von Brescia, welche von diesem evangelischen Geisteszug ergriffen wurden, zwei Mitglieder der gräflichen Familie Martinengo von Barcho, die sich dem höchsten Adel Venedigs ebenbürtig fühlte. Ulisses von Martinengo musste zur Rettung seiner evangelischen Überzeugung und seines Lebens sich flüchten und versah sodann eine Zeit lang das evangelische Pfarramt in der Veltlinischen Gemeinde Morbegno; Massimiliano Celso von Martinengo war Augustiner Chorherr geworden und zeichnete sich namentlich auch durch gründliche Kenntnis der griechischen Sprache aus. Als daher Peter Martyr von Neapel nach Lucca als Probst des Stiftes San Frediano daselbst kam, berief er auch Massimiliano Celso dahin, damit er im Verein mit ihm und anderen Gelehrten evangelischer Geistesrichtung die Novizen dieses Stiftes durch Unterricht in den klassischen Sprachen und in der heiligen Schrift zu einer reineren Theologie vorbereiten helfe. Die Chorherren selbst wurden zu gewissenhafter Erfüllung ihrer kirchlichen Pflichten angehalten. Während nun Peter Martyr unter großem Zudrang nicht allein der Mitglieder des Stiftes, sondern auch der Patrizier und Bürger der Stadt die Briefe des Apostels Paulus und eine Auswahl von Psalmen erklärte, hielt Martinengo Vorlesungen über die griechische Sprache. Daneben wurden auch die Kirchenväter, sowie einzelne Schriften der deutschen und schweizerischen Reformatoren fleißig gelesen. Alle Sonntage predigte Peter Martyr oder Martinengo vor einer so großen Zuhörerschaft, dass sie die Stiftskirche zu San Frediano kaum zu fassen vermochte. So entfaltete sich hier infolge der Wirksamkeit dieser Männer sowohl unter den Mitgliedern des Chorherrnstiftes als unter der Bürgerschaft ein vielversprechendes evangelisches Leben, das aber auch bald die Aufmerksamkeit der Inquisition auf sich zog. Zu Pfingsten 1542 reichte der Vikar zu San Frediano bereits vielen Patriziern und Bürgern das heilige Abendmahl nach evangelischem Brauche unter beiden Gestalten, indem er sie ermahnte, „nur des erlösenden Todes Christi dabei zu gedenken.“ Obgleich dieses gegen den Rat Martyrs geschehen war, so wurde doch er als Probst des Stiftes dafür verantwortlich gemacht und in Folge davon gezwungen, um sein Leben und seine evangelische Überzeugung zu retten, sich im Herbste 1542 nach der Schweiz zu flüchten. Inzwischen bestand noch einige Zeit im Verborgenen eine kleine evangelische Gemeinde in Lucca, die durch Martinengo und andere evangelische Männer in der Stille erbaut wurde. Aber sobald die Schergen der Inquisition die Spuren derselben entdeckten, brach auch die Verfolgung mit verstärkter Wut über sie herein. Diesem neuen Sturm musste auch Massimiliano Celso von Martinengo weichen. Er wandte sich nach Norditalien und wäre in Mailand bald ein Opfer der Inquisition geworden. Während des Winters 1550-51 verweilte er in seiner Vaterstadt Brescia und wirkte in der Stille im Dienst der evangelischen Wahrheit, indem er seine alten Freunde in ihrer evangelischen Überzeugung befestigte und neue Jünger für das Evangelium warb. Ohne Zweifel wurde auch Francesco Gamba durch diesen bewährten evangelischen Lehrer in seiner evangelischen Überzeugung befestigt und gefördert, so dass er sich in der Folge durch die Pflicht der Dankbarkeit und durch das Band christlicher Bruderliebe mit ihm aufs Innigste verbunden fühlte. –

2. Francesco Gambas verhängnisvolle Reise oder „des Menschen Herz schlägt seinen Weg an, aber der Herr allein gibt, dass er fortgehe.“

Massimiliano Celso von Martinengo ward, als er sich nach der Schweiz hatte flüchten müssen, 1552 nach Genf berufen zum Prediger der Gemeinde, welche sich aus den evangelischen Flüchtlingen Italiens gebildet hatte. Als Francesco Samba solches vernahm, erwachte in ihm eine heiße Sehnsucht nach der Teilnahme an einem öffentlichen Gottesdienst in der Muttersprache und nach dem Genuss des heiligen Abendmahles mit seinen evangelischen Glaubensbrüdern. Um diese Herzensbedürfnisse zu befriedigen, begab er sich auf Pfingsten 1554 nach Genf, um dieses Fest mit seinen evangelischen Glaubensbrüdern zu feiern und das heilige Abendmahl mit ihnen zu genießen. Wie fühlte sich sein Herz erquickt und gehoben durch den Glaubenseifer, welcher diese kleine Gemeinde beseelte, die sich hier aus den Trümmern so vieler zerstörten evangelischen Gemeinschaften Italiens neu gebildet hatte! An der Spitze der Gemeinde stand der edle Neapolitaner Galeazzo Caracciolo, Markgraf von Vico, der durch Peter Martyr erweckt und für die evangelische Wahrheit gewonnen worden war und nun hier in den bescheidensten Verhältnissen lebte und sich selig im Glauben fühlte, nachdem er um Christi willen die schwersten Opfer gebracht. Auch Christoforo Terna, der Patrizier aus Lucca, vormals ein Mitglied der evangelischen Gemeinschaft in seiner Vaterstadt, war nun eine Zierde der evangelisch-italienischen Gemeinde in der Stadt Calvins. Hier bereitete sich damals Luigi Pasquali für den Beruf eines Predigers des Evangeliums vor, in dem er sich später die Märtyrerkrone errang. Massimiliano Celso von Martinengo erbaute diese glaubensgetreue Gemeinde italienischer Flüchtlinge durch die Predigt des reinen Evangeliums und durch die Spendung der heiligen Sakramente nach ihrer ursprünglichen Einsetzung. Der hohe Glaubenseifer, der diese kleine Gemeinde belebte und die christliche Bruderliebe, welche die Mitglieder derselben unter einander in schönster Eintracht verband – diese Zeugnisse der wahren Jüngerschaft Christi machten auf Gamba einen sehr wohltätigen Eindruck. Gestärkt im Glauben und gefördert in seiner christlichen Erkenntnis wollte er nach Pfingsten wieder nach seiner Vaterstadt zurückkehren. Seinen Rückweg schlug er durch das Gebiet des Herzogtums Mailand ein, wo gerade damals die Stürme der Verfolgungen gegen die Evangelischen mit neuer Stärke wüteten. Schon im Jahre 1543 hatten der Erzbischof und der Generalinquisitor der Herrschaft Mailand ein Mandat folgenden Inhaltes erlassen: „Niemand soll fortan die heilige Schrift lesen oder predigen ohne Erlaubnis des Erzbischofes und Inquisitors bei Strafe der Inquisition und anderen noch schwereren körperlichen Strafen, je nach Ermessen der beiden Herren. Bei gleicher Strafe soll jeder Gläubige innerhalb dreißig Tagen nach gegenwärtiger Bekanntmachung anzeigen, wenn er irgend einen Ketzer in der Stadt oder Diözese Mailand kennt oder von ihm weiß, dass er im Verdachte der Ketzerei stehe. Ebenso soll er alle anzeigen, so über die Artikel des Glaubens, die Sakramente der Kirche, die Zeremonien, die Autorität des Papstes oder andere den katholischen Glauben und die Kirche berührenden Dinge übel redet oder streitet, es sei im Scherze oder im Ernste.“ Nach den Grundsätzen dieses Mandates ließ man überall im Gebiete des Herzogtums durch Spione den Evangelischen nachspüren und sie dann gefangen nehmen. Viele derselben ergriffen die Flucht und fanden eine Zeit lang in der unter der Botmäßigkeit einiger schweizerischen Kantone((Zürich, Bern, Lucern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Glarus, Freiburg, Solothurn, Basel und Schaffhausen.)) befindlichen Landvogtei Locarno eine Zufluchtsstätte. Hier blühte namentlich in Folge der treuen und gesegneten Wirksamkeit eines geistlichen Privatlehrers Giovanni Beccaria im Stillen eine evangelische Gemeinde, welche ein Stützpunkt für die Evangelischen in der Lombardei zu werden versprach. Schon 1531 hatte der Karmeliter Balthasar Fontana von Locarno aus an Zwingli geschrieben: „Wohlan ihr Diener des teuersten Königs und der heiligsten Mutter, der Kirche, schafft nach Kräften, dass eine von Babel in Knechtschaft gehaltene Stadt der Lombardei zur christlichen Freiheit gelange. Wir sind hier zwar nur drei, die sich zum Feldzug im Dienste der Wahrheit verbunden haben. Allein Midian wurde auch nicht durch die Menge der Tapferen Gideons besiegt, sondern nur durch Wenige, die aber Gott sich dazu erwählte. Wer weiß, ob Gott nicht aus diesem kleinen, nur unter der Asche glimmenden Funken ein großes Feuer noch anfachen will?“ – Doch diese Hoffnungen sollten nicht in Erfüllung gehen. Von Rom aus wurde der kleinen evangelischen Gemeinde in Locarno, sowie überhaupt allen evangelischen Regungen in der Lombardi die gespannteste Aufmerksamkeit zugewendet und ihre Zerstörung und Unterdrückung beschlossen. – Der Papst sandte als Legat für das Herzogtum Mailand und für die Schweiz ums Jahr 1554 den Ottaviano Niverta, Bischof von Terracina, um dieses Werk der Zerstörung und Unterdrückung zu vollführen. Zunächst wurde im Gebiet des Herzogtums mit neuem Eifer den Evangelischen nachgespürt und jede Äußerung gegen Lehren und Einrichtungen der römisch-katholischen Kirche mit aller Strenge bestraft. Als Francesco Gamba voll evangelischer Glaubensfreudigkeit von Genf kam, scheint er sich auf dem Comersee unehrerbietig über das Opfer der Messe geäußert zu haben. Sogleich wurde er von den Schergen der Inquisition verzeigt und sodann gefangen genommen und in der Folge zum Feuertode verurteilt. Doch wollen wir darüber einen Augen- und Ohrenzeugen vernehmen, der in einem Brief an den Bruder von Francesco Gamba über den Verlauf des Prozesses, sowie über das Verhalten des evangelischen Märtyrers bis zu seinem Tod ausführlich Bericht erstattet.

3. Franzesco Gamba im Gefängnis und auf dem Richtplatz.

„Vielgeliebter Bruder in Christo!

Gott allein weiß, welch großes Herzeleid ich empfinde, indem ich Ihres und meines seligen Bruders in Christo Tod melde. Zwar zweifle ich nicht, dass Ihr Vetter, welcher hier gewesen, Ihnen das berichtet, was ich damals ihm mitteilen konnte. Da derselbe aber auf meinen Rat hin sich eilig von hier entfernen musste, so konnte ich ihm nur kurz den Hergang der Sache andeuten. Ich habe aber Ihrem seligen Bruder verheißen, Ihnen umständlich und treu zu berichten, wie er sich bis zum Tode benommen und wie ernsthaft und ergeben er denselben erduldet habe. Daher benutze ich nun die gute Gelegenheit, Ihnen einen umständlichen Bericht über den Hergang zu erstatten, damit Sie sich, statt sich über den Tod Ihres Bruders zu betrüben, vielmehr freuen mögen, dass der Herr ihm so große Barmherzigkeit und Ehre erwiesen, indem er ihn zum Zeugen der göttlichen Wahrheit erwählt und ihn auserkoren, das heilige Evangelium Jesu Christi vor den Menschen zu bekennen und seinen Glauben an den Sohn Gottes mit seinem Blut zu besiegeln.

Nachdem es hier bekannt geworden, dass Ihr Bruder gefänglich eingezogen wäre, haben ihn viele Doktoren, Edelleute und andere Personen höheren und niederen Standes mit Ermahnungen bestürmt, dass er sein Heil und seine Wohlfahrt bedenken und diesen törichten und irrigen Meinungen und Einbildungen entsagen solle. Wenn er ihnen willfahren und dieses tun wolle, so sichern sie ihm nicht allein Leben und Freiheit, sondern auch auch ansehnliche Geschenke zu. Solches redeten sie aber als blinde und in göttlichen Dingen unerfahrene Leute und darum antwortete ihnen auch Francesco aus fester Überzeugung mit großer Beständigkeit: was er geredet und behauptet habe, sei keine Einbildung, noch ein irriger falscher Wahn, sondern die Lehre des lauteren Wortes und die heilsame Wahrheit Gottes und unseres Herrn Jesu Christi. Solches bewies er auch Artikel für Artikel mit unfehlbaren Zeugnissen der heiligen Schrift. Dabei erklärte er, dass er weit lieber sterben wolle, als von der von ihm erkannten und bekannten Wahrheit unseres Herrn Jesu Christi abzukehren, und Gottes Sache, die er zu verteidigen entschlossen, durch Untreue zu verraten. So verteidigte er standhaft und unentwegt seinen evangelischen Glauben den Doktoren, Mönchen, Geistlichen und anderen Personen gegenüber, die ihn von demselben abwendig zu machen versuchten.

Als diese unverrichteter Sache abziehen mussten, kamen andere wohlwollende Bürgersleute zu ihm ins Gefängnis, dieweil sie ihn als einen aufrichtigen, frommen Mann kannten. Auch diese baten ihn, dass er seinen Einbildungen entsagen und die von ihm geäußerten Ansichten widerrufen solle. Würde er dieses tun, so wollten sie dafür sorgen, dass ihm in Como das Bürgerrecht geschenkt und eine ansehnliche Beamtung verliehen würde, bei der er ein ehrenvolles Auskommen finde. Aber Francesco wies auch diese Anerbietungen standhaft zurück, indem er seinen Glauben nicht verleugne. Da sie mit freundlichen Ermahnungen und Verheißungen bei ihm nichts ausrichteten, so versuchten sie mit Drohungen, indem sie ihm die Qualen des Feuertodes vormalten, dem er unzweifelhaft entgegengehe, wenn er nicht der Ketzerei entsage. Darauf antwortete Ihr Bruder mit fester Glaubenszuversicht: solches wünsche er vor allem, dass es ihm widerfahren möchte; denn ihm sei keine Botschaft willkommener als die, welche ihm melde, dass er um Christi willen den Tod erleiden müsse.

Bald darauf kam ein Schreiben von Mailand mit der Anzeige, dass Francesco zum Feuertod verurteilt sei. Indessen wurde der Vollzug dieses Urteils noch ausgestellt, weil sowohl der kaiserliche Gesandte in Genf als andere angesehene Männer vom Adel sich für Francesco verwandten, dass ihm die Todesstrafe erlassen werden möchte. Da aber dieser Ihr frommer Bruder bei seinem evangelischen Glaubensbekenntnisse standhaft verblieb und sich durchaus zu keinem Widerrufe verstehen wollte; so kam eine Mahnung von Mailand, dass das Todesurteil nun ohne Verzug vollzogen werden solle. Hierauf ließ der Podesta oder Schultheiß von Como Ihren Bruder vor sich führen und eröffnete ihm das Urteil, dass er, sofern er auch jetzt noch nicht von seinen ketzerischen Meinungen abstehen und sie widerrufen wolle, zum Feuertod verurteilt sei. Darüber bezeugte Francesco große Freude und dankte dem Podesta für die frohe Botschaft. – Auf weitere Verwendung angesehener Männer vom Adel wurde die Vollziehung des Urteils noch um eine ganze Woche verschoben, indem man ihn inzwischen zu einem Widerruf doch zu bewegen hoffte. Während dieser Frist musste er noch viele Gespräche über Glaubensangelegenheiten führen, wobei er stets seine Überzeugung durch klare Stellen der heiligen Schrift begründete und verteidigte. Endlich eröffnete ihm der Podesta, dass er nun nicht länger den Vollzug des Todesurteils verschieben dürfe, sondern am folgenden oder spätestens am nächstdarauffolgenden Tag dem Befehl des Senates von Mailand nachkommen müsse. Wenn er jedoch namentlich seine Äußerungen über das heilige Sakrament der Messe widerrufen wolle, so werde man jetzt noch ihm alles halten, was man ihm früher für diesen Fall versprochen habe. Francesco aber erklärte wiederholt, dass ihm die baldige Vollziehung der Todesstrafe nur willkommen sei. Auf die ihm gemachten Verheißungen achte er gar nicht, indem alle Güter und Freuden dieser Welt sich gar nicht vergleichen lassen mit den Gütern, die er vom Herrn Christo gewisslich empfange, nämlich die unverwesliche Krone der Unsterblichkeit und des ewigen Lebens, welche allen Frommen und Gläubigen zugesichert sei. Bei dieser Erklärung verblieb er beständig, mochte man ihm einwenden, was man wollte. Ja seine Standhaftigkeit nahm täglich zu, so dass sich jedermann über seine gottseligen christlichen Reden verwunderte.

Als der Podesta sah, dass er auf keinen Widerruf hoffen dürfe, indem Francesco immer getroster und freudiger dem Tod entgegenblickte, setzte er endlich auf den folgenden Tag die Hinrichtung fest und kündete auch solches Ihrem Bruder an. Darauf schickte dieser einen Boten zu mir und ließ mich zu sich berufen, indem er mir noch Etwas mitzuteilen habe. Als ich dieser Einladung Folge leistete, bat er mich inständigst, Ihnen zu melden, wie es ihm ergangen und was für ein Ende er genommen habe. Dabei soll ich Sie bitten, sich nicht über seinen Tod zu betrüben, noch ihn zu beklagen, dieweil er ihn um Jesu Christi willen gern erduldet habe. Ja er habe in seinem Herzen großen Trost und eine außerordentliche Freude empfunden im Hinblick auf die große Gnade und Ehre, die ihm widerfahren, indem ihn Gott ausersehen, zeitliche Schmach und einen schrecklichen Tod um Jesu Christi, seines eingebornen Sohnes willen zu erdulden, nachdem dieser zuvor den bitteren Tod am Kreuz für seine Auserwählten und Gläubigen erlitten. Schließlich empfahl er Ihnen seine und Ihre Schwester samt dem Neffen eindringlich, indem er zu Gott flehte, dass Er Sie in gutem Frieden und Einigkeit erhalten und Ihnen allen die Gnade verleihen wolle, Ihr Leben in Seinem Dienst zu vollenden,

Am anderen Morgen früh erschien der Scharfrichter bei ihm im Gefängnis und eröffnete ihm, dass er nun heute gerichtet werde. Dabei bat er Ihren Bruder um Verzeihung wegen dessen, das er an ihm vollziehen müsse. Ihr Bruder erwiderte darauf: er soll getrost alles verrichten, was ihm von der Obrigkeit befohlen werde. Er verzeihe ihm nicht allein gern alles, sondern wolle auch Gott für ihn bitten, dass Er ihm die Gnade verleihe zu erkennen, was zu seinem Heil diene. Wenn er Geld besäße, so würde er ihm gerne solches schenken.

Hierauf wurde Francesco vor den Podesta geführt, der ihn nochmals ermahnte, von seinem Irrtum abzustehen und seine Aussagen zu widerrufen. Aber dieser erklärte standhaft, bei seinem Glauben beharren und denselben mit seinem Tod besiegeln zu wollen. Der Podesta bat ihn sodann um Verzeihung, dass er nach seiner Herren Befehl ihn auf eine so schreckliche Weise hinrichten lassen müsse. Francesco aber dankte ihm für seine Teilnahme und sagte, er wolle Gott für ihn und seine für Beisitzer bitten, dass Er ihnen ihre Sünden verzeihen und sie zur Erkenntnis der Wahrheit führen wolle.

Jetzt ertönte die Glocke, welche das Zeichen zu seiner Hinrichtung gab. Da nahten sich ihm ein paar Mönche und forderten ihn auf zu „beichten“. Er aber sagte ihnen, sie mögen nur wieder hingehen, woher sie gekommen, indem er ihres Geleites nicht bedürfe. Sie hielten sodann nach ihrer Gewohnheit das Kruzifix vors Gesicht und forderten ihn auf, es anzublicken und zu küssen. Francesco aber erwiderte: „Ich habe, wie ich es lebendig fühle, meinen Herrn und Heiland Jesum Christum und das Gedächtnis seines Leidens und Sterbens so lebendig und tief meinem Herzen eingeprägt, dass ich solchen Götzenwesens nicht bedarf.“ Darauf sagten die Mönche weiter: „So wirst du in Verzweiflung fallen, wenn du das Feuer zu empfinden beginnst.“ Francesco aber erwiderte: „Mein Herz ist so voll Trostes und voll Wonne, dass es alles menschliche Begreifen und Verstehen übersteigt. So groß daher auch die Schmerzen des Leibes sein mögen, die ich jetzt zu erdulden im Begriff stehe, so werden sie doch bald ein Ende nehmen. Meine Seele aber wird alsdann der himmlischen und ewigen Seligkeit teilhaftig, in welcher ich mit allen heiligen Engeln und auserwählten Kindern Gottes eine solche Freude und Wonne ernten werde, dergleichen kein menschliches Auge gesehen, kein Ohr gehört noch in eines Menschen Herz gekommen ist.“

Nun wurde ihm die Zunge durchbohrt, damit er nicht weiter vor dem Volk von der Wahrheit Zeugnis geben könne.

Auf dem Richtplatz fiel er auf seine Knie und betete mit zum Himmel erhobenem Blicke und Händen so inbrünstig und andächtig, dass viele sich darob verwunderten. Darauf wurde er vom Henker mit dem Strange erdrosselt und sein Leichnam sodann verbrannt. Da er zum Feuertod verurteilt worden war, muss dieses Verfahren als ein schonendes und mildes betrachtet werden.

Sein Benehmen vor Gericht und auf dem Richtplatz war der Art, dass alle Anwesenden seine Standhaftigkeit und fromme Ergebung bewunderten und Jedermann bekennen musste, dass man einen unschuldigen, frommen Mann und wahren Jünger des Herrn Jesu Christi hingerichtet habe.

Noch viele andere herrliche christliche Reden hat Ihr gottseliger Bruder sowohl im Gefängnis als auf dem Weg zum Tod geführt, die ich aber hier nicht wiederholen kann. Nur Eins sei noch bemerkt. Unmittelbar vor seinem Tod blickte er auf mich, da ich unter vielen Tausenden an einem besonderen Ort stand und gab mir mit der rechten Hand, die nicht gefesselt war, ein Zeichen, dass ich, wie ich es ihm im Gefängnis versprochen, Ihnen Alles schreiben solle und seinen Ausgang vermelden. Es war der 21. Juli 1554, als er den Tod erduldete.

Indem ich Ihnen dieses schreibe, bitte ich den Herrn für Sie, dass Er Sie mit seinem Trost erfüllen wolle. Sie dürfen nun fest überzeugt sein, dass Ihr und mein lieber Bruder in Christo zu Gott gekommen und der ewigen Freude und Herrlichkeit mit unserem Haupt und Herrn Jesu Christo und mit allen heiligen Märtyrern teilhaftig geworden. Bedenken Sie, dass das kleine Häuflein wahrer Christen zu allen Zeiten Verfolgungen erleiden musste. Seien Sie nun getrost und setzen Sie Ihr Vertrauen auf Gott, der in Ihnen seine Gnadengaben vermehren, Sie in Seinem Schutze erhalten und mit Seinem heiligen Geist regieren wolle. Endlich empfehle ich mich Ihnen und den Ihrigen unter Versicherung meiner Freundschaft und Dienstbereitwilligkeit.“

N. N.

So weit der Bericht durch Freundeshand über den Märtyrertod dieses treuen Jüngers des Herrn. Wir fügen demselben noch ein kurzes Schlusswort bei über:

4. Die Zerstörung der evangelischen Gemeinde in Locarno.

Wir haben oben gesehen, dass die neuen Verfolgungen der Evangelischen im Herzogtum Mailand, der Francesco Gamba zum Opfer fiel, durch den päpstlichen Legaten Ottaviano Riverta angeschürt worden. Der gleiche Mann hat auch die Zerstörung der evangelischen Gemeinde in Locarno veranlasst und geleitet. Im Herbst des Jahres 1554 erschien dieser neue Legat auf eine Tagsatzung der schweizerischen Kantone in Baden, um die Zerstörung dieser evangelischen Gemeinde zu betreiben. Hier ward schon durch einen Schiedsspruch entschieden: „dass alle Locarner, welche nicht zum alten römisch-katholischen Glauben zurücktreten wollen, bis zur künftigen Fastnacht mit Habe und Gut aus dem Land ziehen sollen, indem fürohin Jedermann beim alten Glauben bleiben solle.“ Da die evangelischen Kantone, welchen auch Herrschaftsrechte über diese Landvogtei zukamen, nicht zum Vollzug dieses Spruches mitwirken wollten, so betrieb der Legat um so eifriger diese Angelegenheit bei den Gesandten der römisch-katholischen Kantone. Demnach begaben sich die Boten von Lucern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Freiburg, Solothurn und Glarus nach Locarno, um die Bestimmung des schiedsrichterlichen Spruches zu vollziehen. Gleich erschien auch der Legat Riverta von Mailand her, wo er vom spanischen Statthalter ein Mandat folgenden Inhaltes ausgewirkt hatte: „Da aus dem Umgang und den Reden dieser Leute für die Untertanen hiesiger Herrschaft leicht falsche, verpestete Lehren erwachsen könnten, wird verordnet, allen Personen, wes Standes oder Ranges sie seien, die von den Herren Eidgenossen wegen Ketzerei und falscher Religion verwiesen werden, ist bei Lebensstrafe geboten, binnen drei Tagen nach Bekanntmachung dieses Rufes sich aus der Herrschaft Mailand zu entfernen. In die nämliche Strafe verfallen die Angehörigen der Herrschaft, welche sie beherbergen, mit ihnen verkehren oder ihnen Hilfe oder Vorschub leisten.“ So war den Evangelischen von Locarno jede Hoffnung auf eine Niederlassungsstätte innerst den Grenzen des Herzogtums Mailand abgeschnitten. Den 3. März 1555 ergriffen sie den Wanderstab, um jenseits der Berge in der evangelischen Schweiz eine neue Heimat zu suchen. Auf diese Weise ward auf Betrieb des päpstlichen Legaten das Gebiet der Diözese des Erzbistums Mailand von der Ketzerei gereinigt, aber was ein Evangelischer gleich nach der Vertreibung der Locarner nach Zürich über diese Gemeinde schrieb, gilt wohl auch von diesem ganzen Gebiete: „Ich glaube fest, dass es nicht möglich sei, den christlichen Glauben in Locarno ganz auszureuten, denn ich spüre täglich noch mehr Christen, die sich stille halten.“

Giovanni Mollio von Montalcino

Erlitt den Märtyrertod zu Rom 5. Septbr. 1553.

1. Giovanni Mollios Herkommen und Jugendrichtung.

Vor unserem Geist wandelt in der Erinnerung vorüber die herrliche Schar evangelischer Märtyrer Italiens aus dem Zeitalter der Reformation, die alle, wie Paulus (Gal. 6,17) die Mahlzeichen des Herrn Jesu an sich tragen. An der Spitze derselben begegnet uns, geschmückt mit dem Kranz des Märtyrers, der ernste Franziskaner Giovanni Mollio, dessen Lebens- und Leidensbild wir hier zuerst zeichnen wollen.

Das schöne Toskana, das so viele ausgezeichnete Männer unter seinen Söhnen zählt, ist seine Heimat, Montalcino, unweit Siena, sein Geburtsort, nach dem er, wie es die Italiener zu tun pflegen, gewöhnlich genannt wurde. Sein Geburtsjahr kann nicht mehr genau ermittelt werden; indessen muss dasselbe entweder auf den Schluss; des fünfzehnten oder auf den Anfang des sechzehnten Jahrhunderts fallen. Seine Eltern waren arm und daher war auch Armut das Erbteil, das ihm von ihnen zufiel; aber dagegen hatte ihn Gott mit reichen Geistesgaben gesegnet. Frühzeitig bekundete er auch einen ernsten Sinn und eine heiße Begierde nach wissenschaftlicher Bildung und nach christlicher Vervollkommnung. Um dieses doppelte Ziel sicherer zu erreichen, trat er in den Franziskanerorden strenger Observanz.

2. Giovanni Mollios Lehrjahre in Brescia, Mailand und Padua.

Mit großem Ernste und Eifer lag er nun sowohl der Erfüllung seiner Ordenspflichten als dem Studium der Wissenschaften ob und erwarb sich das durch in hohem Grade das Zutrauen seiner Ordensvorsteher. In Folge dessen wurde er, als er noch kaum die Schwelle des Jünglingsalters überschritten, zum Professor an der Hochschule zu Brescia befördert. Hier, wie später in Mailand, erwarb er sich sowohl durch seine gründlichen und vielseitigen Kenntnisse als durch seine glänzenden Lehrgaben den Ruhm eines ausgezeichneten Lehrers. Da dem Franziskanerorden, zumal durch Sixtus IV. (1471 – 84), der selbst Mitglied desselben gewesen, große Vorrechte verliehen waren, namentlich überall, selbst ohne Begrüßung des Ortsgeistlichen, die Seelsorge auszuüben und als öffentlicher Lehrer aufzutreten; so eröffneten sich nun dem reichbegabten Professor glänzende Aussichten auf wissenschaftlichen Ruhm und auf kirchliche Ehrenstellen. Aber das Herz des ernsten Franziskaners ward um diese Zeit von einem Geisteszug ergriffen, der ihn mehr nach den Tiefen christlicher Erkenntnis und evangelischen Glaubens zog, als nach den Höhen des Ruhms und der Ehrenstellen. Wie der gleiche Odem Gottes den Frühling bringt sowohl nach den lieblichen Fluren Italiens, wo die Zitronen blühen, als nach den eichenumkränzten Ebenen Deutschlands und nach den Hochtälern der Schweizeralpen, so war es auch der gleiche Geist des Herrn, der uns „in alle Wahrheit leitet,“ welcher im Zeitalter der Reformation die Herzen derjenigen, welche sich nach der Erkenntnis der Wahrheit sehnten, mit wunderbarer Macht ergriff und zu dem gleichen Ziel, zum Glauben an Christum, aus dem allein das Heil erblüht, hinzog. Von diesem Geisteszuge ward auch Mollio, wie viele andere Mitglieder seines Ordens, in seinem ernsten Streben nach Erkenntnis der Wahrheit und nach dem Frieden der Seele, tief ergriffen; indem er die schmerzliche Erfahrung machen musste, dass weder das raue Franziskanergewand noch die pünktliche Erfüllung der Ordenspflichten die nach der Seligkeit dürstende Seele zu beruhigen und sie ihres Heils zu versichern vermögen. Auch das Studium der neu auflebenden klassischen Literatur gewährte ihm den ersehnten Seelenfrieden nicht; wohl aber wurden ihm unter dem Zuge des Geistes die herrlichen Schriftwerke der griechischen und römischen Weisheitsfreunde Wegweiser zu Christo und zu den Schriften des neuen Testamentes hin, die von ihm zeugen. Der Geist, welcher die Umgebung des jungen Professors durchwehte, war auch ganz geeignet, das Werk der Gnade in seinem Inneren zu fördern. In Brescia, der Vaterstadt des evangelischen Wahrheitszeugen Arnold, wie in Mailand, der stolzen Hauptstadt der Lombardei, ja durch ganz Oberitalien hatte sich auch durch das Mittelalter hindurch, eine dem Evangelio freundlich zugewandte religiöse und kirchliche Richtung erhalten. Unter schweren Leiden der Kriege, welche im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts über diesen herrlichen Ebenen sich zerstörend und verwüstend herüber und hinüber wälzten, hatte sich diese Richtung bei vielen ernsten Gemütern zur Überzeugung gestaltet, dass nur durch die freie Predigt des Evangeliums das schwere Unglück, das auf dem Land lastete, gewendet, und dass den seufzenden Bewohnern desselben, wie allen Menschen, allein aus dem Glauben an Christum das Heil erblühen könne. So schrieb im Jahre 1525 der Augustiner Egidio a Porta von Como an den Reformator Huldreich Zwingli in Zürich unter Anderem: „Mailand und sein ganzes Gebiet sind durch die unaufhörlichen Kriegszüge völlig verarmt. Selbst die, welche sonst ein mäßiges Vermögen besaßen, sind an den Bettelstab gebracht und darben, geschweige denn die Unzahl derer, die schon vorher arm waren. Nicht zu zählen sind die Weiber, welche sich aus Not der Schande ergeben. So schwer lastet Gottes Hand auf diesem Volk, dass aus Verzweiflung alles erdenkliche Unrecht begangen wird. Aber durch Gottes Fügung kannst Du unser Retter werden. Schreibe an den Herrn von Mailand und ermahne ihn, nötigenfalls auch drohend, auf Erlösung seiner Untertanen vom äußeren Elend und vom Geistesdruck bedacht zu sein. Jenes, indem er den Kahlköpfen ihr Geld, das sie doch nur übermütig macht, wegnimmt, dieses, indem er es verschafft, dass jeder, so weit es ihm verliehen, das lautere Wort Gottes ungescheut predigen darf; zumal wenn er bereit ist, über seine Lehre nach Gebühr Rede zu stehen. So wird dann die Kraft des Antichristen schnell dahin fallen!“

Der rege Handelsverkehr zwischen den Städten der Lombardei und denjenigen der benachbarten Schweiz und Deutschlands vermittelte auch die Bekanntschaft mit der evangelischen Lehre, die in Zürich, wie in Wittenberg mit so großem Nachdruck und Segen verkündigt wurde, sowie mit den Schriften der Reformatoren. So bildeten sich schon seit 1524 in Mailand und in anderen Städten der Lombardei und Venedigs kleine oder größere evangelische Gemeinschaften, welche in der Stille sich versammelten und das neue Testament und einzelne Schriften der Reformatoren lasen und sich daraus mit einander erbauten. Diesen evangelischen Kreisen, in welchen der gleiche Geist wehte, der auch sein Inneres ergriffen, schloss sich Mollio an, sie durch sein gründliches Wissen fördernd und von ihnen selbst im Glauben gefördert. Je mehr sich Mollio in das Studium der Schriften des neuen Testamentes und namentlich der Paulinischen Briefe vertiefte, desto klarer und mutiger verkündigte er auch in seinen öffentlichen Vorträgen die Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben an Christum. Von Mailand ward Mollio durch seine Ordensvorsteher für kurze Zeit nach Padua versetzt, wo er ebenfalls einen Kreis von Freunden und Beförderern der evangelischen Wahrheit traf, dem er sich anschloss.

3. Giovanni Mollio in Bologna, sein Sendschreiben an den kursächsischen Gesandten J. von Planitz.

Am Ende des Jahres 1532 kam dann unser Franziskaner-Professor auf Geheiß seiner Oberen nach Bologna. Obgleich damals der aus der deutschen Reformationsgeschichte hinlänglich bekannte Kardinal Campeggio dieser Stadt und Legation vorstand und seinen einst Carl V. erteilten Rat, „das giftige Gewächs der evangelischen Kirche mit Feuer und Schwert zu vertilgen“ in dieser Stellung selbst eifrig betätigte, so fand sich doch auch in dieser Stadt und namentlich unter den Professoren der Hochschule ein Kreis eifriger und mutiger Freunde der evangelischen Wahrheit, welchem sich Mollio anschloss und deren Gesinnungen und Hoffnungen wir aus ihren eigenen Worten kennen lernen wollen.

Mit gespannter Teilnahme verfolgten die Evangelischen in Italien die Entwicklung der evangelischen Kirche in Deutschland und in der Schweiz. Bange ward es ihnen für sie, als Carl V. 1530 den berühmten Reichstag zu Augsburg in der Absicht eröffnete, den Frieden und die Eintracht in der Kirche durch die Unterdrückung der Predigt des Evangeliums wiederherzustellen. „Ganz Italien,“ schrieb Paolo Roselli aus Venedig an Melanchthon, „sieht mit ängstlicher Erwartung dem Ausgang Eurer Versammlung entgegen.“ Freudig atmeten sie wieder auf, als die Kunde über die Alpen zu ihnen gelangte, die evangelischen Fürsten und Lehrer haben mutig und mit solchem Erfolge die evangelische Wahrheit verteidigt, dass der Kaiser jetzt nicht mehr daran denkt, sie zu unterdrücken, sondern vielmehr den Entschluss gefasst habe, ein allgemeines Konzil zu versammeln, um die längst ersehnte und vielseitig geforderte Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern durchzuführen. Als Carl V. daher wieder aus Deutschland nach Italien zurückgekehrt war und mit Clemens VII. in Betreff der Versammlung dieses Konzils in Bologna eine Unterredung hielt, da schien den Evangelischen Italiens die Erfüllung ihrer Hoffnung nahe gerückt. Zu dieser Zeit erschien als Gesandter des Kurfürsten von Sachsen bei Carl V. Johann von Planitz und zwar, wie in Italien allgemein geglaubt wurde, mit dem Auftrag, den Kaiser zu bestimmen, beim Papst die beförderliche Versammlung dieses Konzils auszuwirken. Indem auch die Evangelischen in Bologna diesem Gerücht Glauben schenkten, wandten sie sich an Planitz in einem Schreiben, das wohl der Feder Mollios entflossen sein dürfte, und dem wir zur Kennzeichnung der Gesinnungen und Hoffnungen dieser Männer einige Stellen entlehnen wollen. Nach Erwähnung oben bezeichneten Gerüchtes schreiben sie an den kurfürstlichen Gesandten: „Ist die Sache, wie wir gerne glauben wollen, wahr, so erstatten wir Euch Allen den besten Dank, Euch selbst, weil Ihr Euch bemüht, in dieses Land Babels zu kommen, Eurem Deutschland, weil es eine Kirchenversammlung fordert, und ganz besonders Eurem evangelischen Fürsten, der das Evangelium und den wahren Glauben so eifrig verteidigt. Denn nicht zufrieden, seinen Sachsen und Deutschen Christi Gnade und Wahrheit wieder gegeben zu haben, bestrebt er sich, dasselbe Glück auch England, Frankreich, Italien, Spanien und anderen Ländern zu verschaffen. Wir sind vollkommen überzeugt, dass Euch für Euch selbst gar wenig daran liege, ob die Kirchenversammlung berufen werde oder nicht. Wir sahen ja schon, dass Ihr als edle und treue Christen das tyrannische Joch des Antichrists abgeschüttelt habt. Eure Rechte und heiligen Privilegien auf das freie Königreich Christi habt Ihr gesichert. Demnach könnet Ihr, wo und wie es Euch gefällig ist, öffentlich lesen, schreiben und predigen, die Geister der Propheten hören und sie beurteilen der apostolischen Regel gemäß. Wir Wissen auch, dass Ihr, weit entfernt über die gehässige Anklage der Ketzerei Euch zu ärgern und zu betrüben, vielmehr Euch glücklich schätzen und Euch freuen würdet, wenn Ihr von Allen zuerst für den Namen Jesu Christi Tadel, Schmach, Einkerkerung, Feuer und Schwert erdulden müsstet. Hieraus erkennen wir deutlich, dass Eure Forderung einer Kirchenversammlung keineswegs einen einseitigen Vorteil für Deutschland bezweckt, sondern, dass Ihr, getreu dem Rat der Apostel, das Interesse und Heil anderer Völker im Auge habt. Daher bekennen sich auch alle Christen Euch zu wahrem Dank verpflichtet, und, namentlich wir Italiener, indem wir als nächste Nachbarn des Mittelpunktes der Tyrannei das Glück Eurer Befreiung beneiden müssen, obgleich wir den Tyrannen selbst von Herzen lieben.“

Indem sich dann im Schreiben die Hoffnung ausgedrückt findet, Planitz werde sich ernstlich beim Kaiser für die Berufung des längst ersehnten Konzils verwenden, fährt dasselbe also fort: „Dieses kann Euch wohl nicht missglücken, indem Se. Majestät genau weiß, dass die frömmsten, gelehrtesten und berühmtesten Männer ganz Italiens und besonders Roms sehnlichst ein solches Konzil herbeiwünschen. Wir sind ferner vollkommen überzeugt, dass diese Männer, sobald sie den Zweck Eurer Sendung erfahren, Euch freudig entgegenkommen werden.“

„Endlich hoffen wir, dass man es als sehr vernünftig und der Anordnung der Apostel und Kirchenväter gemäß finden wird, dass man den Christen die Freiheit gewähre, ihre Glaubensbekenntnisse gegenseitig zu prüfen, weil die Gerechten nicht durch die Werke Anderer, sondern durch ihren eigenen Glauben leben, sonst würde der Glaube nicht mehr Glaube sein, noch die Überzeugung, die durch Gottes Geist in unseren Herzen gewirkt wird, Überzeugung genannt werden können, sondern es wäre vielmehr ein gewaltsam auferlegter Zwang, der, wie jeder einsieht, durchaus nichts zur Seligmachung beitragen oder nützen kann. Allein, wenn die Bosheit des Satans noch immer fortwüten sollte, diese Wohltat uns vorzuenthalten, so wird man doch mindestens den Geistlichen und Laien gestatten, Bibeln zu kaufen, ohne gleich der Ketzerei beschuldigt, oder die Aussprüche Christi und des heiligen Pauli anzuführen, ohne gleich mit dem Schimpfnamen Lutheraner beschwert zu werden. Leider haben wir genug Beispiele eines solchen abscheulichen Verfahrens, und wenn dieses nicht ein Zeichen der Herrschaft des Antichrists ist, was ist es denn anders, wenn man sich den Vorschriften der Gnade und der Lehre, dem Frieden und der Freiheit Christi so offenbar widersetzt, sie mit Füßen tritt und verdammt?“

Dieses Schreiben ist ein schönes Denkmal der glaubenstreuen und mutigen Gesinnung, welche die Evangelischen Italiens im Zeitalter der Reformation beseelte. Genährt und gefördert wurde diese evangelische Richtung durch das Lesen der heiligen Schrift, sowie der Schriftwerke der deutschen und schweizerischen Reformatoren, die in Italien meistens unter erdichteten Namen verbreitet wurden. Auf Mollio scheint namentlich Bullingers Schrift: „Über den Ursprung der Irrlehre von der Messe und von der Anrufung der Heiligen“ einen tiefen Eindruck gemacht zu haben, indem er sich in einem Gespräche über diese Schrift mit seinem Freunde Zanchi schließlich also äußerte: „Kaufe Dir dieses Buch, und falls Du kein Geld hast, so reiß Dir lieber ein Auge aus und gib es dafür und lies dann das Buch mit dem anderen Auge.“ – In Bologna las und erklärte Mollio unter großem Beifall seiner Zuhörer die Briefe des Apostels Pauli, die ihm vor allen Schriften des neuen Testaments lieb und teuer geworden waren, weil auch durch seine Seele, wie durch die des großen Apostels, der Riss zwischen Gesetz und Gnade sich schmerzlich vollzogen hatte. Da aber die von Paulo gelehrte Rechtfertigung allein aus dem Glauben mit der päpstlichen Lehre vom Verdienste der Werke, vom Ablass und vom Fegefeuer im Widerspruch steht, so erfuhren auch die Vorlesungen Mollios bald heftigen Tadel von Seite der päpstlich gesinnten Partei. Namentlich glaubte sich ein gewisser Cornelio, Professor der Mathematik, berufen, die von Mollio gelehrte Rechtfertigung aus dem Glauben bestreiten zu müssen. Von diesem aber in einer öffentlichen Disputation mit leichter Mühe überwunden, verklagte Cornelio seinen Gegner in Rom wegen Verkündigung und Verbreitung von Irrlehren. Paul III. (1534-49) hatte jedoch Männer zu Kardinälen ernannt, welche selbst der Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben beipflichteten. Dieses gilt namentlich von den Kardinälen Gaspar Contarini, der in einem besonderen Traktat diese Lehre entwickelt hat, sowie von Reginald Polus und Jacob Sadolet. Unter dem Einfluss dieser trefflichen Männer ward Mollio, der in Rom sich sehr freimütig ausgesprochen und verteidigt hatte, wieder nach Bologna mit dem Entscheid entlassen: „Die von ihm vorgetragene Lehre sei zwar schriftgemäß und wahr, dürfe aber einstweilen noch nicht ohne Nachteil für den römischen Stuhl verkündigt werden. Er solle daher die Erklärung der Paulinischen Briefe unterlassen und dagegen aristotelische Philosophie lesen.“ Aber Mollio fuhr fort, die ihm teuer gewordene Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben auch in diesen Vorlesungen vorzutragen; daher wirkte der Kardinallegat Campeggio beim General der Franziskaner aus, dass er 1538 nach Neapel in das Kloster San Lorenzo als Lektor versetzt wurde.

Diese Versetzung gereichte aber keineswegs der evangelischen Bewegung zum Nachteil, wie es Campeggio beabsichtigt hatte. Den Evangelischen zu Bologna konnte Martin Bucer in einem Briefe vom 10. Sept. 1541 seine Freude äußern: „Dass ihre Zahl sich täglich mehre und sie auch immer mehr in der Erkenntnis Christi wachsen, so dass auch viele Andere durch sie zu dieser Erkenntnis geführt werden.“

4. Giovanni Mollio in Neapel als Mitglied der „seligen Gesellschaft“ des Juan Valdez.

Mollio ward auch selbst durch seine Versetzung nach Neapel in seiner evangelischen Richtung sehr gefördert. Hier begann seit 1536 namentlich bei den Gebildeten der höheren Stände eine Erweckung zu einem christlichen Lebensernst, wie die christliche Kirche ihn nur in Zeiten ihrer schönsten Entwicklung aufweist. Diese religiöse Erweckung war die Frucht der in der Stille betätigten, so gesegneten Wirksamkeit des edlen Spaniers Juan Valdez, der seit 1536 das Amt eines Sekretärs des Vizekönigs bekleidete. Schon in Spanien hatte sich Valdez mit den Schriften der deutschen Mystiker, welche die seligen Geheimnisse des Lebens in der Gemeinschaft mit Christo schildern, bekannt gemacht und namentlich das herrliche Buch „Von der Nachfolge Christi“ und einzelne Schriften Taulers in seine Muttersprache übersetzt. In Deutschland, wohin er im Gefolge Carls V. gekommen war, hatte er die Schriften der Reformatoren kennen gelernt, sich mehrere davon gekauft, und sie mit nach Neapel gebracht, wo ihm 1536 die Stelle eines Geheimsekretärs des Vizekönigs verliehen ward. Aus diesen Schriften hatte er die Lehre von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben an Christum geschöpft und sie mit der ganzen Glut seiner schönen Seele erfasst. Dabei erfüllte ihn, der sich, wie ein Zeitgenosse von ihm bezeugt, „von Gott zum Seelsorger der höheren Stände berufen fühlte,“ ein apostolischer Eifer, auch Andere für die gleiche Glaubens- und Lebensansicht zu gewinnen, aus der ihm der Friede der Seele erblühte. So vereinigte er bald einen Kreis ausgezeichneter Männer und Frauen, die er durch tiefsinnige Unterredungen in die Geheimnisse des Glaubens an Christum und eines in seiner Gemeinschaft geführten Lebens einweihte. Bald versammelten sich diese Freunde der evangelischen Wahrheit in der Wohnung des Valdez im Palaste des Vizekönigs, bald in Vittoria Colonnas Landhaus auf der lieblichen Insel Ischia, bald in der Villa Casertas in der Terra di Lavoro, um sich an den Gesprächen dieses außerordentlichen Mannes zu erbauen, „der,“ wie ein Zeitgenosse von ihm schreibt, „seinen schwächlichen Körper nur mit einem kleinen Teil seines Geistes regiert; mit dem besten und reinsten Teile aber gleichsam außer dem Leibe stets zur Betrachtung der göttlichen Wahrheit erhaben war.“ Mit großem Scharfblicke wusste Valdez die Männer und Frauen herauszufinden, in welchen sich die Bedürfnisse des Glaubens regten und der Zug des Herzens nach Christo hin sich kund tat, und solche in den Kreis seiner „seligen Gesellschaft“ hereinzuführen. So ward auch Mollio, wie seine beiden berühmten toskanischen Landsmänner Bernardino Occhino von Siena und Peter Martyr von Florenz, ein Mitglied dieses edlen Vereins. Diese drei ausgezeichneten Toskaner haben, wie sie selbst durch Valdez in ihrer christlichen Erkenntnis weiter gefördert wurden, die Wirksamkeit des edlen Spaniers auf sehr segensreiche Weise unterstützt. Wenn Valdez vermöge seiner hohen Bildung und Lebensstellung von Gott vorzugsweise zum Lehrer und Seelsorger der durch Adel und Bildung Bevorzugten bestimmt zu sein schien, so waren diese drei Freunde und Gehilfen des außerordentlichen Mannes durch Beruf und Begabung dazu angewiesen, die im Kreise der „seligen Gesellschaft“ besprochenen evangelischen Wahrheiten der Gemeinde zu verkündigen. Namentlich erfüllte der berühmte Kapuzinergeneral Occhino, damals der gefeiertste Kanzelredner Italiens, diese Aufgabe in ausgezeichneter Weise. Wenn dieser hochgewachsene Mann, mit blassem, abgezehrtem Antlitz, schneeweißem Haupthaar und Bart, der bis an den Gürtel hinabreichte, während der Fasten die Kanzel bestieg und in der klangvollen toskanischen Mundart seine wundervolle Beredsamkeit zur Verherrlichung des Glaubens an Christum und eines ihm geweihten Lebens entfaltete, so strömte die ganze Bevölkerung Neapels nach dem Dome San Giovanni Maggiore, so dass die weiten Räume desselben die Zahl der Zuhörer nicht zu fassen vermochte. Als Kaiser Carl V. 1536 einer Predigt Occhinos in Neapel beigewohnt hatte, brach er in den Ausruf aus: „Wahrlich, dieser Mönch könnte Steine zu Tränen rühren.“ Ähnlichen Zulauf und Beifall ernteten Peter Martyr zu San Pietro ad aram und Giovanni Mollio zu San Lorenzo in ihren Vorträgen über die Briefe des Apostels St. Pauli. Eine wunderbare Zeit der Gnade war durch das vereinte Wirken dieser glaubensvollen evangelischen Männer für Neapel angebrochen. Giambattista Falengo schildert diese Erweckung mit dem begeisterten Ausruf: „Wahrhaft wunderbare Erscheinung unserer Tage! Frauen, deren Sinn gewöhnlich mehr zur Eitelkeit als zur Wissenschaft neigt, zeigen sich tief eingedrungen in die Wahrheiten des Heils, und Menschen in den niedrigsten Verhältnissen, selbst Soldaten zeigen uns ein Bild des vollkommenen christlichen Lebens. Jahrhundert! würdig des goldenen Zeitalters. Barmherziger Gott, welch eine reiche Ausgießung des heiligen Geistes!“

So entfaltete sich unter der Wirksamkeit dieser evangelischen Männer hier „auf diesem auf die Erde gefallenen Stück Himmels“ ein Geistesfrühling, welcher an Anmut und Wonne den Naturfrühling in diesem irdischen Paradies weit überstrahlte. Wenn aber hier der heiße Sirocco weht, so welkt augenblicklich die glühende Blütenpracht dahin, so dass die Blume des Feldes, die am Morgen noch Salomons Herrlichkeit überstrahlte, am Abend welk und versengt dasteht, ein sprechendes Bild der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens. Ein ähnlicher versengender Glutwind kam auch über den Geistesfrühling, der damals in Neapel sich entfaltete, und bereitete demselben ein ähnliches Verderben, wie der Sirocco der Blütenpracht des Naturfrühlings.

5. Giovanni Mollio unter der Verfolgung der Theatiner und Jesuiten.

Das große Verderben, welches in der römischen Kirche herrschte und die nächste Veranlassung zur Reformation gegeben, wurde selbst von den eifrigsten Verteidigern des Papsttums anerkannt und bedauert. Statt aber eine Reformation der Kirche nach der Richtschnur des Wortes Gottes zu fördern oder wenigstens eine solche gewähren zu lassen, wollten die Eifrigsten unter den Verteidigern des Papsttums dem herrschenden Verderben steuern durch Belebung der alten Strenge gegen die Irrgläubigen, zu welchen sie die Evangelischen zählten, und durch Schärfung des Pflichteifers der Geistlichen in der Erfüllung ihrer kirchlichen Obliegenheiten. Unter den Männern, welche eine Reformation innerhalb der Schranken der Lehre und Einrichtungen der bestehenden päpstlichen Kirche durchführen wollten, nehmen die beiden Kardinäle Giampietro Caraffa und Gaetano da Thiene die ersten Stellen ein. Ersterer war ein aufbrausender, stürmischer Zelot, letzterer dagegen ein stiller, sanftmütiger, den Entzückungen eines geistlichen Enthusiasmus sich hingebender Mann. Diese beiden Männer sind die Stifter des für die Neubelebung und Erhaltung der päpstlichen Kirche, sowie für die Unterdrückung der evangelischen Erweckung sehr wirksamen Theatiner-Ordens. Auf die evangelische Bewegung in Neapel lenkten die Theatiner gleich ihre scharfe Aufmerksamkeit. Gaetano da Thiene begab sich selbst dahin und nahm Besitz von der San Pauls-Kirche, um von derselben aus dem Valdez und seinen Freunden entgegenzuwirken. Mit großer Eilfertigkeit und Entrüstung meldete darauf da Thiene seinem Freunde Caraffa, welche ketzerische Lehren in Neapel öffentlich verkündigt und verteidigt werden. Wie tief fühlten sich diese Eiferer verletzt durch Erscheinungen, wie sie Giannone, der Geschichtsschreiber Neapels, in folgender Weise schildert: „Diese neue Art der Predigt gibt, indem sie lebhaft die Geist bewegt, Gelegenheit zu häufigen Streitigkeiten über die heilige Schrift, über die Rechtfertigung durch den Glauben oder durch die Werke, über das Fegefeuer, und die bis dahin bloß den Theologen vorbehaltenen Fragen im Bereiche der Schulen traten nun in die Öffentlichkeit des Lebens. Sie wurden von Laien, ja selbst von Menschen ohne alle theologische Kenntnis und Gelehrsamkeit öffentlich besprochen. Ja man sah sogar geringe Handwerker von dem Gelüste ergriffen, über Gegenstände dieser Art zu sprechen, die Briefe des heiligen Paulus auszulegen, über die dunkelsten Punkte reden zu wollen; und die Ketzerei machte täglich neue Fortschritte, sich im Königreiche Neapel zu verbreiten, wie sie es in den meisten Gegenden Italiens bereits getan hatte.“ – Der Kardinal Caraffa, selbst Neapolitaner, beeilte sich den Vizekönig in einem Mahnschreiben vor den Feinden der Kirche in seiner Hauptstadt zu warnen und ihn zu ermahnen, dieselben sofort und mit allem Ernst zu unterdrücken. Inzwischen wurden die Gespräche der Mitglieder der „seligen Gesellschaft“ des Valdez, sowie die Predigten Occhinos und die Vorlesungen Martyrs und Mollios sorgfältig überwacht und auskundschaftet, und jede von der Kirchenlehre abweichende Äußerung sorgfältig bemerkt und nach Rom berichtet. Bis zum Jahre 1540 hatten die evangelischen Lehrer am päpstlichen Hofe ihre Beschützer und Verteidiger an den Kardinälen Contarini, Sadolet, Poole und Fregoso, aber mit diesem Jahr gestaltete sich ihre Lage immer düsterer und bedenklicher. Contarini ging als Legat zum Regensburger Gespräche und ward bald selbst am päpstlichen Hofe wegen seiner Nachgiebigkeit gegen die Protestanten verdächtigt. Valdez starb (1540) in Neapel tief betrauert von seinen Freunden, Occhino und Martyr verließen, müde der Verdächtigungen und Verfolgungen, diese Stadt, um bald durch Auswanderung nach der Schweiz ihr Leben und ihre evangelische Überzeugung zu retten. So befand sich noch Mollio allein von den ausgezeichneten evangelischen Lehrern in Neapel, um die kurz vorher so hoffnungsvoll aufblühende evangelische Gemeinde mit der Predigt des Evangeliums zu erbauen. Seine Beschützerinnen waren die Gräfin von Trajetto und Isabella Manrica, die auch zur „seligen Gesellschaft“ des Valdez gehörten. Letztere ward später selbst gezwungen, ihr Leben und ihre Überzeugung durch die Flucht nach der Schweiz zu retten. Mollios Stellung wurde besonders schwierig und gefährlich nach dem (1542) erfolgten offenen Übertritt Occhinos und Martyrs zur evangelischen Kirche der Schweiz, weil seine enge Verbindung mit diesen Männern bekannt war. Auf der anderen Seite vermehrten und verstärkten sich die Beschützer und Verteidiger der päpstlichen Kirche immer mehr, indem sie zugleich immer heftiger die Evangelischen befeindeten und verfolgten. Neben den Theatinern und zum Teil nach dem Vorbild dieses Ordens organisierte Ignatius Loyola in Venedig die Compagnie Jesu, die vom Papste 1540 bedingt und 1543 unbedingt als ein eigener Orden bestätigt wurde. Auf eifriges Eindringen des Kardinals Caraffa, der dabei vom Kardinal von Burgos, Juan Alvarez von Toledo, sowie von Ignatius Loyola unterstützt wurde, beschloss der Papst die Einführung der Inquisition (21. Juli 1542) zur Unterdrückung der Ketzerei, das heißt, der evangelischen Richtung und Lehre. Furchtbar war namentlich in Neapel die Betätigung aller dieser in einander greifenden Anstalten und Maßnahmen zu ihrer Unterdrückung. Die von den Seggi gestiftete Akademie ward unterdrückt, die frömmsten Christen, die nicht flüchtig ihr Vaterland verließen, eingekerkert und durch das Inquisitionstribunal zum Feuertod verurteilt. Auch Mollio musste 1548 Neapel verlassen, um von nun an zehn Jahre hindurch von der Inquisition und ihren Trabanten, den Theatinern und Jesuiten, umspäht, verfolgt und eingekerkert zu werden. Geronymo Mariano meldete 1544 dem Professor Pellican in Zürich, dass Mollio von Montalcino, der Regens eines Klosters von Mailand, um seines evangelischen Bekenntnisses willen in Gefangenschaft gehalten werde.

6. Giovanni Mollio vor dem Inquisitionstribunal und sein seliges Ende.

Endlich ward Mollio 1453 auf Befehl Julius III. (1540-55) in Ravenna ergriffen und fest verwahrt nach Rom geführt. Während seiner mehrere Monate dauernden Gefangenschaft beendigte er einen Kommentar über die Genesis, der gelobt wird. Den 5. Sept. 1553 wurde in der Kirche St. Maria di Menava mit großem Pomp ein öffentliches Inquisitionsgericht über ihn und einige seiner Schüler gehalten.

Leider verstanden sich die meisten von den letzteren, um ihre Leben zu fristen, zum Widerruf der früher bekannten evangelischen Lehre. Nur der treue Tisserano von Padua blieb bis zum Tod seinem Lehrer und der von ihm verkündigten evangelischen Wahrheit treu. Vor das Inquisitionstribunal, das aus sechs Kardinälen und mehreren Bischöfen bestand, erschien Mollio, mit der ihm dargereichten brennenden Fackel in der Hand, mutigen und festen Sinnes und verteidigte mit der größten Freimütigkeit die von ihm verkündigte evangelische Wahrheit. In seiner Verteidigungsrede behandelte Mollio seine Richter als ein Mann, der keine irdische Rücksicht mehr kennt. „Der Papst,“ sagte er unter anderem, „ist keineswegs der Nachfolger Christi oder des Apostels Petri oder das Haupt der christlichen Kirche, sondern vielmehr der wahre Antichrist, ein verfluchter und verdammter Fürst des antichristlichen Reiches, der sich mit gleichem Recht die tyrannische Herrschaft über die Kirche angemaßt, mit dem der Raubmörder seine unschuldigen Opfer erwürgt. Was Euch, Ihr Kardinäle und Bischöfe, betrifft, so habt Ihr die Gewalt, die Ihr Euch anmaßt, nicht durch ehrliche Mittel erlangt, sondern vielmehr durch ehrgeizige und verwerfliche Umtriebe. Darum kennt Ihr weder Maß noch Zucht, noch achtet Ihr irgend Tugend und Ehrbarkeit. Darum muss ich auch härter mit Euch reden, dass Eure Kirche nicht Gottes, sondern des Satans Kirche sei und das echte Babel. Wenn Eure Gewalt, wie Ihr es Vorgebet, von den Aposteln herstammte, so würde auch Eure Lehre mit derjenigen der Apostel und Eure Lebensweise mit der ihrigen übereinstimmen. Nun aber findet gerade das Gegenteil statt. Ihr verachtet und verstoßt auf die frevelhafteste Weise den Herrn Jesum Christum und sein Wort. Ihr glaubet nicht wahrhaftig, dass ein Gott im Himmel sei. Ihr verfolget und tötet Gottes treue Diener und löst seine Gebote auf. Ihr beraubt die armen Gewissen ihrer Freiheit und unterdrückt sie. Ihr maßt Euch tyrannischer Weise Gewalt über zeitliches und ewiges Leben und Tod an. Darum appelliere ich vor diesem Eurem Gericht und fordere Euch auf den jüngsten Tag vor den Richterstuhl Christi. Da werdet Ihr, es mag Euch lieb oder leid sein, von Eurem Tun und lassen genaue Rechenschaft ablegen müssen; und wenn Ihr nicht vorher Buße tut, so müsst Ihr ewig im höllischen Feuer brennen. Zum Zeugnis dieser Warnung nehmt diese brennende Fackel zurück, die Ihr mir in die Hand gegeben.“ Mit diesen Worten warf er entrüstet dieselbe vor die Füße seiner Richter. Die Kardinäle und Bischöfe knirschten mit Zähnen und schrien, man solle diesen Menschen aus ihren Augen entfernen. Hierauf ward über ihn und über seinen Schüler Tisserano das Urteil gesprochen, dass sie zuerst erwürgt und sodann ihre Leichname verbrannt werden sollen. Bei Anhörung dieses Urteils erhob Mollio seine Augen gen Himmel und sprach: „O Jesus Christus, mein Herr und Heiland, mein oberster Priester und mein getreuer Hirte! Auf der ganzen Welt gibt es nichts, an dem ich mehr Gefallen hätte, als dass ich um Deines Namens willen mein Blut vergießen soll.“

Hierauf wurden sie auf den Campo Fiore hinausgeführt, wo Tisserano zuerst gehenkt wurde, nachdem er noch für seine Feinde gebetet hatte. Mollio dankte noch Gott vor seinem Tod für die unaussprechliche Gnade, dass Er ihn zum Licht seines Wortes geführt und ihn zum Zeugen seines Evangeliums erwählt habe. Hierauf ward er gehenkt und sein Leichnam mit demjenigen des Tisserano sodann verbrannt. So ward dieser treue Diener Christi gewürdigt, seinen Glauben an den Heiland durch den Märtyrertod zu besiegeln. „Wer aber Christo getreu ist bis an den Tod, dem will Er die Krone des Lebens geben.“ (Off. 2,10.)

Der Franziskanerorden, dessen Mitglied Mollio gewesen, wurde einer strengen Untersuchung unterworfen, in Folge welcher noch Mancher, der demselben angehörte, die Flucht ergreifen oder in den Gefängnissen der Inquisition verschmachten musste. Auf päpstlichen Befehl wurde hierauf sämtlichen Professoren dieses Ordens verboten, die Bibel zu erklären. Nur die Werke des großen Meisters ihres Ordens, Duns Scotus, sollten sie ihren Vorlesungen zu Grunde legen. Aber „Gottes Wort ist dennoch nicht gebunden,“ (2. Tim. 2,9) wenn auch die treuen Verkündiger desselben um seinetwillen Gefängnisse und Banden erdulden und tragen müssen. „Selig aber sind die Gottes Wort hören und bewahren.“ Luc. 11,28.

Matthias Claudius - Portrait

Matthias Claudius

Ein Stillleben in der Tat. Schlicht und einfach wie der Mann ist auch sein Lebensgang. Hoch im deutschen Norden in dem holsteinischen Dorf Reinfeld ist er geboren den 15. August 1740 als der zweite Sohn des dortigen Pastors Matthias Claudius, eines ehrenfesten, verständigen, einfach bibelgläubigen Landgeistlichen, und einer stillen, frommen, herzguten Mutter. Bis hinauf zur Reformationszeit war die Claudius’sche Familie eine Pfarrfamilie und die Atmosphäre eines deutschen Landpfarrhauses, darin Matthias aufwuchs, hat er in keinem Augenblick seines Lebens, auf keinem Blatt seiner Schriften verleugnet. Etwa im fünfzehnten Lebensjahr kam der Knabe mit seinem Bruder Josias in die lateinische Schule in der sechs Meilen nordwärts an einem Landsee anmutig gelegenen Stadt Plön, damals dem Sitz eines kleinen Hofes. Dort unter der Leitung des tüchtigen Rektors Ernst Julius Alberti brachte er vier Jahre zu und trieb neben dem Lateinischen und Griechischen, sowie dem Französischen und Englischen mit Vorliebe Mathematik und etwas Physik. Wohlvorbereitet an Kenntnissen, wenn auch unter der nach der Sitte der Zeit etwas steifen Schulregel weder gemütlich noch intellektuell lebendiger aufgeweckt, bezog der neunzehnjährige Jüngling um Ostern 1759, wiederum mit seinem Bruder Josias, die Universität Jena zum Studium der Theologie, das er aber bald teils wegen leidender Brust teils wegen Mangels an Freudigkeit zum Predigtamt unter elterlicher Zustimmung mit der Rechtsgelehrsamkeit und Kameralwissenschaft vertauschte. Und doch, wenn überhaupt zu einem bestimmten Amt, zu welchem Beruf schien Claudius in Wahrheit mehr geschaffen, als zu dem eines Landpredigers? So übte denn auch die Rechtswissenschaft weder mit ihrem historischen Material, noch mit ihrer trockenen damals wie alle Disziplinen von der Wolfischen Philosophie beherrschten Methode eine wirkliche Anziehungskraft auf Geist und Gemüt des jungen Studenten aus. Sein Geist ging ins Weite. Er trieb die alten Sprachen fort, daneben zur Erholung die Musik, trat auch der vaterländischen Literatur zuerst näher, indem er Mitglied der „Teutschen Gesellschaft“ wurde, welche strebsamere und feiner organisierte Geister von dem damals sehr rohen Jenenser Burschenleben weg unter ihrem Banner versammelte. Dass er übrigens bei seiner sittlich-reinen Lebensführung einer weiteren akademischen Jugendlust an den romantischen Ufern der Saale sich keineswegs pedantisch entzog, bezeugt wenigstens ein heiterer Studentenstreich, an dem er sich beteiligte. In bunten Schlafröcken, mit Schlägern bewaffnet, machten etliche Jenenser Burschen einen Spazierritt in die Umgegend. Eine streifende Patrouille preußischer Husaren – es war während des Siebenjährigen Krieges – griff die Gesellschaft, in der sie eine Art verdächtiger Franktireurs sah, auf und brachte sie in ein Nachbardorf vor ihren Kommandanten, der, mit dem studentischen Treiben besser vertraut, sie freundlich bewirtete und in Frieden ziehen ließ. Einen trüben Schatten warf in Matthias Studienjahre der Tod seines treuen Bruders Josias, der an den Blattern starb, während er selbst die lebensgefährliche Krankheit glücklich überstand.

Etwa ums Jahr 1763 verließ Claudius die Universität, mit erweitertem Gesichtskreis, sittlich unverdorben, aber geistig unfertig, ohne weder für einen bestimmten praktischen Lebensberuf sich gründlich vorgebildet, noch nach seiner geistigen Eigentümlichkeit sich tiefer entwickelt zu haben. Sein poetischer Erstlingsversuch: „Tändeleien und Erzählungen“, 1763 in Jena, wahrscheinlich vor seinem Abschied von der Hochschule als dichterischer Ertrag seines akademischen Lebens erschienen, enthält unselbständige, künstlich gemachte Nachahmungen in der Manier Gerstenbergs und Gellerts, und lässt von der Eigenart des Wandsbecker Boten noch so wenig erkennen, als die ersten Leipziger Produkte des Studenten Wolfgang Goethe vom Genius eines Götz und Faust, eines Werther und einer Ephigenie.

Zu seiner geistigen Ausreifung mussten den Lehrjahren erst die Wanderjahre folgen.

Nachdem Matthias zunächst auf ein Jahr in die Stille seines Elternhauses zurückgekehrt, ging er im Frühjahr 1762 als Sekretär eines Grafen Holstein nach Kopenhagen, wie ja damals zwischen der deutschen Schriftstellerwelt und dem zum Teil hochgebildeten dänischen Adel ein sehr reger und freundlicher Verkehr stattfand. Klopstock war der geistige Herrscher in diesen Kreisen. Neben ihm lebten in der dänischen Hauptstadt der Dichter Gerstenberg; der geistliche Liedersänger Johann Andreas Cramer, Klopstocks Freund, dänischer Hofprediger; sowie der originelle Schönborn, früher Konsul in Algier, ein persönlicher Freund des Claudiusschen wie des Goetheschen Elternhauses; die beiden Grafen Stolberg. Der junge Claudius schloss sich lebhaft diesem edlen, geistig bewegten Zirkel an, wie denn Klopstocks Ode „Der Eislauf“ an ihn gerichtet sein soll. – Zwar verlässt er, unbefriedigt von seiner Stellung im Hause, schon nach einem Jahr Kopenhagen wieder, aber nicht ohne entschiedenen Gewinn für seine geistige Entwicklung. Sein Horizont ist erweitert, seine Phantasie geweckt, sein Gemüt vertieft, sein Genius regt die Flügel; er ist hineingezogen in jenen merkwürdigen zukunftsreichen Prozess der Sturm- und Drangperiode, in welchem alle tieferen Naturen, alle jugendlichen Kräfte, alle schöpferischen Mächte der neu erwachenden deutschen Literatur noch ungeschieden durcheinandergärten; in welchem ein Goethe und Lavater, ein Herder und Hamann, ein Klopstock und Heinse, ein Jacobi und Merk in brüderlichem Verkehr, ja zum Teil in enthusiastischer Freundschaft unter einem Banner sich zusammenscharten in der Richtung, der Natur gegenüber der Schule, dem Gemüt und der Phantasie gegenüber der philisterhaften Verständigkeit, dem Deutschtum gegenüber dem Franzosentum Bahn zu brechen. Die Losung ist: „Platz, ihr Herrn, dem Flügelschlag einer freien Seele“, und als heilige Bundesbücher gelten Homer, die Bibel, Ossian, Shakespeare.

Nach einem dreijährigen Stillleben im Elternhaus, wo sich Geist und Gemüt des jungen Mannes wieder sammeln mochte, finden wir ihn seit Sommer 1768 abermals im Geräusch einer Großstadt, in Hamburg, als Mitarbeiter an den “ Adress-Comptoir-Nachrichten“, in die er kleine Gedichte, Erzählungen und Rezensionen lieferte. Ein reges Geistesleben bewegte sich damals in der großen nordischen Handelsstadt; scharfe literarische Kämpfe wurden dort ausgefochten, wie Lessings Fehde mit dem Hauptpastor Göze. Der strebsame Verlagsbuchhändler Bode, der jüngere Reimarus, berühmter Arzt und Patriot, mit seiner geistvollen Schwester Elise Reimarus und seinem Schwager, dem begabten und angesehenen Kaufmann Sieveking, der gebildete Pastor Alberti u. a. bildeten einen lebhaften Gesellschaftskreis, dessen Führer Lessing war und dem sich auch Claudius mit aller Wärme seiner strebsamen, jugendlich-offenen Natur anschloss, Gesellschaften, Landpartieen, Theater harmlos mitgenießend. Insbesondere verband ihn mit Lessing bald eine warme Freundschaft, wie wenn der Gegensatz beider Naturen – hier des kindlich-warmen Gemütes, dort des scharfen kritischen Verstandes – sie zu einander hingezogen hätte. Auch den jungen Herder, dessen Genius ihm noch weit wahlverwandter war und der seine mächtige Anziehungskraft bald und für immer auch an ihm erprobte, lernte Claudius auf dessen Durchreise durch Hamburg im Jahre 1770 persönlich kennen, und es will etwas heißen, wenn der selbstbewusste, seine besten Freunde schonungslos geißelnde Herder, zu einer Zeit, wo er auf den jungen Goethe, seinen begeisterten Jünger, als auf einen etwas spatzenmäßigen „guten Jungen“ herabsah, unseren Claudius in einem Brief an Gleim „eine engelische Seele unter den Menschen“ nennt, wenn derselbe ein paar Jahre später an Lavater schreibt:

„Noch nie hab‘ ich gewünscht, mit einem Menschen zusammenzuleben, wie ich’s mit Claudius wünsche“, und wenn er in seine „Stimmen der Völker in Liedern“, als einziges zeitgenössisches deutsches Lied des „Wandsbecker Boten Abendlied“ aufnahm. Auch Klopstock siedelte 1770 von Kopenhagen nach Hamburg über, auch mit ihm wurde der freundschaftliche Umgang wieder angeknüpft und fortgepflegt.

Aber zum Beweis, dass Claudius in der Atmosphäre solcher Sterne erster Größe nicht zum selbstlosen Trabanten herabsank, ließ er nun sein eigenes bescheidenes Licht leuchten und bahnte sich seinen besonderen Weg, indem er nach Lösung seines Verhältnisses zu den „Adress-Comptoir-Nachrichten“ Redakteur des von Bode herausgegebenen „Wandsbecker Boten“ wurde, einer wöchentlich viermal erscheinenden Zeitung, die neben den politischen Nachrichten kleine prosaische Aufsätze, Poesien und Bücherkritiken brachte und Männer wie Lessing, Herder, Goethe, Stolberg, Voss, Cramer, Eschenburg unter ihren genannten und ungenannten Mitarbeitern zählte.

Hiermit hatte Claudius das Arbeitsfeld gefunden, das er fortan lebenslang mit ebenso viel Lust und Liebe als gesegnetem Erfolg bebaute. Hiermit hatte er auch die Heimat gefunden, wo er nun den eigenen Herd sich gründete und ein echt deutsches, idyllisch-patriarchalisches Familienleben führte.

Um Weihnachten 1770 siedelte er nach dem eine Stunde von Hamburg entfernten stattlichen gräflich Schimmelmannschen Marktflecken Wandsbeck über, der durch Claudius weltberühmt geworden ist. Ein großer, schöner, von Nachtigallen reichbevölkerter Park, durch dessen Baumgruppen man Hamburgs Kirchtürme von fern erblickte und in dessen Laubgängen Claudius und Voss, Klopstock und Hölty, Lessing und Fr. H. Jacobi, Herder und die Stolbergs gewandelt und geträumt haben, bildete den Hauptreiz der sonst flachen Wandsbecker Gegend. Hier in Wandsbeck fand nun Claudius auch den besten Schatz seines Lebens, seine tüchtige, treffliche Gattin, sein „Bauernmädchen“; wie er sie, stolz auf ihren inneren Wert bei dörflicher Abkunft und Erziehung, gern nannte, seine Rebekka, die Tochter des Zimmermeisters Joachim Friedrich Behn. Als er sich eine Mietwohnung im Dorf erfragte, lernte er das sechzehnjährige Mädchen kennen, das ihm in Abwesenheit des Vaters Bescheid gab. Im Herbst 1771 hielt er auf einem Gang in den Wald beim Vater um die Tochter an, und erwiderte bei der Nachhausekunft auf die Frage, ob er etwas geschossen: „Ja, ich habe einen guten Schuss getan.“ Er hatte vom Vater das Jawort erhalten und wandte sich nun erst an die Tochter. Am 15. März 1772 war die Hochzeit und zwar in der improvisierten Weise, wie sie jene, um kirchliche Formen unbekümmerten Geniekreis liebten und wie sie auch Voss in seiner „Luise“ beliebt hat. Claudius hatte, ohne den Zweck anzugeben, einige Freunde, darunter Klopstock, Schönborn, Ehlers und Bode, eingeladen; auch der Ortspfarrer war von der Gesellschaft. Claudius fing wie im Scherz an von Kopulation zu sprechen, zog die königliche Heiratserlaubnis aus der Tasche und die Trauung ging vor sich. „Rebekka wählen ist Geschmack, nicht wahr, Kollege Isaak?“ sagt er in seinem silbernen Abc.

Und seine Wahl war eine glückliche, seine Ehe eine gottgesegnete wie die des sanften Patriarchen. Sein „Bauermädchen“, schön, kräftig, fröhlich, liebenswürdig, von einfacher bürgerlicher Bildung, aber trefflichen Anlagen des Geistes und Herzens, bildete sich an ihm, dem geliebten und verehrten Manne, herauf, pflegte sein mit treuer, verständiger Liebe und gab ihm die volle Freiheit zur Entfaltung seines Geistes und zur Erfüllung seiner Lebensaufgabe. Er selber gewann im Ehestand den festen Grund und Boden für sein inneres und äußeres Leben, den ihm kein Amt, kein förmlicher äußerer Lebensberuf gab, und der Claudiussche Hausstand wurde das Vorbild eines christlichen Bürgerhauses mit seiner Freude und seinem Leid, seinem Kindersegen und seinen Nahrungssorgen, seinen sauren Wochen und frohen Festen, seiner einfachen Hausordnung und seiner weitherzigen Gastfreundschaft, seinen Schätzen von Geist und Gemüt bei äußerer Genügsamkeit, seiner herzlichen Gottesfurcht und reinen Sitte bei harmlos heiterem Humor, seinem frommen Ausblick zum Unvergänglichen und Unsichtbaren bei gesundem gemütlichem Anteil an allem, was die Erde gibt, der Boden trägt, das Jahr bringt im bunten Kreislauf von Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.

Man könnte mit der Gründung seines Hausstandes unseres Claudius Wanderjahre für abgeschlossen halten, unterbräche nicht noch einmal eine merkwürdige Episode die Wandsbecker Idylle, nämlich die missglückte Darmstädter Expedition.

So seelenvergnügt der junge Ehestand sich anließ und so reich das geistige Leben im Hause sich gestaltete durch den teils persönlichen, teils brieflichen Verkehr mit einem immer größeren Freundeskreis die Hainbundsdichter Miller, Höltt, Boie, Bürger, Voss, die Grafen Stolberg (mit ihrer edlen Schwester Auguste) betrachteten den Wandsbecker Boten als ihren Bundesbruder; mit Herder und Fritz Jacobi, mit Hamann, dem Magus aus Norden, und Lavater, dem Propheten im Süden, wurden Briefe gewechselt – ein Schatten ließ sich nicht bannen: Nahrungssorgen klopften an die Tür; der Asmus omnia sua secum portans oder „Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten“, periodisch erscheinend im Selbstverlag des Verfassers, sicherten der schnell anwachsenden Familie ein genügendes Einkommen nicht. Der junge Hausvater glaubte sich nach Amt und Brot umgehen zu müssen. Freund Herder, damals Konsistorialrat in Bückeburg, sollte dazu helfen, und seine eifrigen Bemühungen hatten endlich einen, wie es schien, glücklichen, ja glänzenden Erfolg.

Auf Herders Empfehlung bei dem vielvermögenden Darmstädter Regierungspräsidenten, Freiherrn Karl Friedrich v. Moser, dem bekannten christlichen Staatsmann, Verfasser des Fürstenspiegels: „Herr und Diener“, der als erster Staatsminister und Präsident sämtlicher Landeskollegien das unumschränkte Vertrauen des originellen Landgrafen Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt besaß, wurde dem „lausigen Wandsbecker Avisenschreiber“, wie er sich selber launig tituliert, im Sommer 1775 die Stelle eines Geheimen Kanzleisekretärs angeboten, die sich nach weiteren Verhandlungen im November desselben Jahres zu der eines Oberlandkommissarius mit 800 fl. Gehalt umgestaltete, in Wirklichkeit aber nie zu einer rechten Konsistenz gelangen sollte.

Vorerst zwar ist Claudius in vollem Glück. Mit überströmender Freude dankt er seinem hohen Gönner. „Ich habe eine alte Mutter, die ich, so lange sie noch lebt, uns gern verlasse; aber meine jetzige Situation ist von der Art, dass ich eine irgend erträgliche Versorgung mit beiden Händen ergreifen muss, viel mehr eine so vorteilhafte als die ist, mit der Ew. Excellenz mich beehren wollen. Es bliebe also nur die Frage, ob ich mir getrauen dürfte, eine solche Stelle anzunehmen, da einem ehrlichen Manne eine strenge Erfüllung der Pflichten, die er über sich nimmt, doch immer die Hauptsache bleibt. Wenn ich von meiner Neigung sprechen dürfte, so ist die für ein einsames Leben, für Feld und Wald und Bauervolk von jeher gestimmt gewesen; das darf ich auch noch sagen, dass ich es an gutem Willen, herzlicher Tätigkeit und Treue nicht werbe fehlen lassen; ob ich aber Geschick genug habe ein Rad in der Maschine zu sein, dadurch ein Fürst seine Vatermilde über sein gutes Landvolk ausbreiten will, dass weiß ich nicht, weil ich noch keine Erfahrung davon gemacht habe und ich nichts von mir annehmen mag, als was ich aus gehabter Erfahrung weiß, und ich noch keine Erlaubnis habe, auf die Winke und den guten Rat desjenigen zu rechnen, unter dessen Oberaufsicht die ganze Maschine ihre Wirkung tun soll. Sollten Ew. Excellenz nach diesem Bekenntnis mich dieser oder einer anderen kleinen Stelle einigermaßen würdig finden, so dürfte ich wohl hoffen, dass meine Überkunft bis zur gelinderen Witterung Zeit hätte, da ich vor einigen Wochen erst wieder Vater geworden bin!“

Der leise Zweifel, den er in diesem Schreiben andeutet, „ob er als Rad in die Maschine“ und gerade in diese Maschine tauge, erwies sich als wohlgegründet.

Glücklich zwar trifft er am 16. April 1776 in Darmstadt ein, nachdem er unterwegs seinen Herder in Bückeburg besucht; „nicht gnädig, sondern freundschaftlich“ wird er vom Präsidenten v. Moser, mit Herzlicher Liebe von der Familie Flaxland, der Herders Frau angehörte, empfangen, und immerhin ermutigend bei seinen bescheidenen Ansprüchen lautet sein Bestallungsdekret. „Demnach wir von Gottes Gnaden Ludwig, Landgraf zu Hessen bei der zu Verbesserung des allgemeinen Nahrungsstandes und Polizeiwesens angeordneten Landkommission, Unseren lieben, getreuen Joh. Matthias Claudius, zu Unserem Ober-Land-Commissario, mit dem Rang eines wirklichen Cammer-Raths, dergestalt bestellt haben, dass er unter den Befehlen Unsers zur Ober-Aufsicht des Instituts ernannten Präsidenten, Freiherrn von Moser – den vorfallenden Geschäften mit Treue, Fleiß und Diensteifer abwarten und vor diese Bemühung alljährlich Sechshundert Gulden Besoldung, 2/3 an Geld und 1/3 an Naturalien – zu beziehen haben soll.“

Die geistige Atmosphäre in Darmstadt hatte manches, was einen Claudius sympathisch anwehen konnte. Mit dem Hof zwar kam er in keinerlei Berührung. Der Landgraf residierte gewöhnlich in Pirmasens, wo er seine Soldaten exerzierte. Seine Gemahlin Karoline, die große Landgräfin, die Freundin Friedrichs des Großen, der ihr eine Marmorurne mit der Inschrift: „Femina sexu, ingenio vir“ widmete, die Verehrerin Klopstocks, war kurz vorher gestorben, Prinzessin Luise als Gemahlin des Herzogs Karl August nach Weimar abgegangen. Aber ein Kreis interessanter, gebildeter und gemütvoller Männer und Frauen fand sich dort zusammen. Herder hatte sich dort seine begabte, edle Gattin Karoline Flaxland geholt; Goethes, des genialen jungen Wanderers, anregende Besuche aus dem benachbarten Frankfurt, wirkten noch nach; sein merkwürdiger Freund und Berater, der verstandesscharfe Weltmann und Literaturkenner Kriegsrat Merck, wohnte in Darmstadt. Und doch akklimatisierte sich der Wandsbecker Bote nicht in der rheinischen Ebene.

Sein amtlicher Wirkungskreis war von vornherein zu unbestimmt und schwebte, obwohl es hauptsächlich auf Bildung des Volkes, Verbesserung des Landbaues, Hebung des materiellen und sittlichen Wohlstandes, also auf sehr praktische Ziele, abgesehen war, zu sehr in der Luft, als dass ein Mann von so wenig praktischer Begabung und geschäftlicher Gewandtheit wie unser Freund etwas daraus hätte machen können. Die wohlgemeinten Reformplane seines in Hessen landfremden Gönners Moser waren zwar im Geistes der Zeit christlich-philanthropisch gedacht, erwiesen sich aber in der Durchführung ziemlich utopisch; sie waren im Sinn ihres Urhebers volksfreundlich gemeint, wurden aber durchs aus nicht volkstümlich, stießen vielmehr, weil sie den geschichtlich gewordenen, faktisch bestehenden Verhältnissen des Landes zu wenig Rechnung trugen und zu herrisch und rücksichtslos durchgeführt wurden, auf erbitterten und zähen Widerstand. Welches Rad in dieser Volksbeglückungsmaschine eigentlich Claudius persönlich zu treiben hatte, wissen wir nicht; vielleicht wusste er es selber nicht recht; vielleicht wussten es nicht einmal seine Vorgesetzten genau. Am besten jedenfalls passte für ihn und passte er für die vom Anfang des Jahres 1777 ihm übertragene Redaktion der Hessen-Darmstädtischen privilegierten Landeszeitung, die er im Geiste des Wandsbecker Boten durch volkstümlichen Ton, belehrende Mitteilungen, moralische Erzählungen, Poesie und Humor zu würzen suchte und mit welcher er in und außerhalb des Landes viel Beifall fand. Aber trotzdem wurde ihm nicht wohl. Er fühlte sich nicht an seinem Platz. Vertriebliche Kollisionen mit einzelnen seiner Vorgesetzten und Kollegen blieben nicht aus. Zwischenträgereien trübten selbst sein Verhältnis zu seinem aufrichtigen Freund und Gönner v. Moser. Und als er vollends im März 1777 in eine ernste Krankheit fiel, war sein Entschluss zur Heimkehr gefasst, den er hauptsächlich mit der für ihn und die Seinigen ungesunden Darmstädter Luft zunächst buchstäblich gemeint, aber auch figürlich geltend begründete.

Moser selbst spricht den Ärger über sein rasches Abbrechen noch einige Jahre hernach in den herben Worten aus: „Seine herzliche und populäre Schreibart schien die Erwerbung eines solchen Mannes bei einer Anstalt schätzbar zu machen, wo so wenig auf Befehl und so viel auf Überzeugung ankommt. Er war aber zu faul, mochte nichts tun, als Vögel singen hören, Klavier spielen und spazieren geben, konnte die hiesige Luft nicht vertragen, fiel in eine tödliche Krankheit und ging von selbst zu seinen Seekrebsen wieder zurück.“ Mehr Gerechtigkeit lässt ihm eine Klageschrift der Feinde Mosers gegen den allmächtigen Minister und seine Landeskommission widerfahren, worin es heißt: „Des Herrn Landgrafen Hochfürstliche Durchlaucht werden mit lauter Träumen von hergestelltem Kredit, Wohlstand der Kassen und des Landes unterhalten und das ganze herzige Publikum mit Zeitungsnachrichten hintergangen, des Endes sogar eine neue Landeszeitung angelegt und ein eigener Zeitungsschreiber bestellt, um die Landeskommissionslügen gegen jährliche Besoldung von 800 Gulden durch schöne Einkleidung recht wahrscheinlich zu machen. Es war der bekannte Claudius, ein ehrlicher Mann, der eben deswegen wieder wegging und sich’s zur Ehre seines Herzens machte, lieber jährlich 800 Gulden zu entbehren, als solche durch Windbeutelei zu verdienen.“

Mit einem Reisegeld, das Herder, nunmehr Oberhofprediger in Weimar, ihm von der edlen Herzogin Luise dort verschaffte, kehrte Claudius heim unter sein trautes Wandsbecker Dach. Es mochte ihm ums Herze sein wie dem Psalmisten, da er sang: „Unsere Seele ist entronnen wie ein Vogel dem Strick des Voglers; der Strick ist zerrissen und wir sind los.“ Und auch das andere Psalmwort ging nun an ihm in liebliche Erfüllung: „Der Vogel hat ein Haus funden und die Schwalbe ihr Nest, da sie Junge hecken.“

Die Lehrjahre sind nun überstanden, auch die Wanderjahre sind vorüber, die Meisterjahre beginnen. Was er nicht konnte, hatte er jetzt erfahren, was er konnte, das übte er von nun an immer besser. Sein äußeres und inneres Leben hatte nach unstetem Umhertasten in der Ferne, wobei ihn sein offenes Herz, sein argloses Gemüt, seine Anbekanntschaft mit sich selbst und der Welt mehr als einmal irregeführt, das ruhige Geleise gefunden, in dem er seine Eigenart walten lassen und mit dem ihm anvertrauten Pfunde wuchern konnte, sich selbst zum Behagen, seinem Volke zum Segen.

Im Schoße seiner blühenden Familie, im Kreise alter und neuer Freunde flossen ihm glückliche Jahre und Jahrzehnte dahin. Fünf Mädchen nach einander wurden ihm geboren, denen erst an sechster Stelle 1783 der langersehnte „Dauphin“ folgte, den er schon jahrelang voraus launig besungen hatte. Sodann aber folgten noch eine Tochter und vier weitere Söhne.

Dabei hat das Haus immer offene Türen für Freunde von nah und fern.

Ein Jahr lang ist Joh. Heinr. Voss mit seiner jungen Frau der traute Hausnachbar und Hausfreund; es war ein idyllisches Zusammenleben beider Haushaltungen, bei einfachster Lebensweise gewürzt durch Gemüt und Phantasie, Genügsamkeit und Humor. „Abends“, erzählt Ernestine Voss, „waren wir häufig mit Claudius zusammen, und in dem Haus, wo nach vorhergegangener Untersuchung das meiste Essenswürdige sich fand, ward die Tafel gedeckt. Eine bedeutende Rolle spielte ein Stück kaltes Pökelfleisch oder ein Karpfen, den man vom Fischer im Schlossgarten selbst aus dem Teiche heben sah und ins Schnupftuch gebunden nachhause trug. Wenn Claudius bei uns war, hatte er immer seine älteste Tochter mit einem Kreuzgürtel auf den Rücken gebunden; die ward dann in unser Bett gelegt, bis sie wieder heimgingen.“

Die beiden ältesten Söhne von Fritz Jacobi, einen acht- und einen zehnjährigen Knaben, hatte Claudius zwei Jahre lang bei sich zur Erziehung. Als Jacobi im Sommer 1780 dieselben abzuholen kam, machten die Väter zu gegenseitiger Freude ihre persönliche Bekanntschaft. „Der Wandsbecker Bote“, schreibt Jacobi, „hat in jeder Beziehung meine Erwartung übertroffen. Er ist ein wahrer Bote Gottes, sein Christentum so alt als die Welt. Übrigens erscheint er im Leben ganz so wie in seinen Schriften: erhaben nur insgeheim, voll Scherz und Schalkheit im öffentlichen Umgang.“

Auch Schönborn, Lessing, Campe, Sophie v. La Roche u. a. kehrten ein. Mit dem benachbarten Adel, den hochgebildeten und edelgesinnten gräflichen Familien v. Schimmelmann, Reventlow, Stolberg wurde ein herzlicher Verkehr, brieflich und persönlich, gepflogen. Mit entlehntem Geld kaufte Claudius 1781 ein eigenes Haus; hinter demselben Hof, Garten und Wiese, die sich bis zum Wandsbecker Gehölz erstreckte. Da entfaltete sich ungehemmt jenes in Gott fröhliche Familienleben mit den selbsterfundenen Festen, wovon er in einem Brief an Andres schreibt: „Du weißt, dass in jeder gut eingerichteten Haushaltung kein Festtag ungefeiert gehalten wird und dass ein Hausvater zulangt, wenn er auf eine gute Art und mit einigem Scheine des Rechts einen neuen an sich bringen kann.“

Auch die Nahrungssorgen wurden mit der Zeit beseitigt durch die Großmut des Kronprinzen – Mitregenten von Dänemark – den Claudius im Jahr 1787 im Hinblick auf seine acht Kinder um irgendeine Stelle mit sicherem, wenn auch bescheidenem Einkommen bat.

Gewitzt durch frühere Erfahrungen, sagt er in der Bittschrift: „Wenn es mir auch erlaubt sein würde, so wüsste ich nicht zu sagen, wozu ich eigentlich geschickt bin, und ich muss Ew. Königl. Hoheit untertänig bitten, dass Sie gnädigst geruhen, ein Machtwort zu sprechen und zu befehlen, wozu ich geschickt sein soll.“ Durch Graf Schimmelmanns Vermittlung bekam er die Stelle eines ersten Revisors der Schleswig-Holsteinischen Bank zu Altona mit einem Gehalt von 800 Rthlr., der Ermächtigung, in Wandsbeck zu wohnen, und der einzigen Verpflichtung, alljährlich im Herbst der Rechnungsrevision im nahen Altona beizuwohnen.

Im Verlauf der Zeit allerdings warf auch der Ernst des Lebens seine Schatten herein in den patriarchalischen Frieden des Hauses. Am politischen Horizont stiegen die Sturmwolken der französischen Revolution herauf und entluden ihre Gewitterschläge. In Hamburg und auf den benachbarten Edelsitzen wimmelte es von Emigranten. Dumouriez, Lafayette u. a. siedelten sich auf kürzer oder länger an. Auch im Claudiusschen Freundeskreise spürte man die Erschütterung. Die politischen Anschauungen schieden sich. Die heroischeren Naturen, wie Klopstock und Voss, jubelten, vom süßen Most der jungen Freiheit trunken, der Revolution zu, bis sie, durch ihre blutigen Orgien ernüchtert, sich mit Abscheu abwandten. Die zarteren und bedächtigeren Gemüter, unter ihnen Claudius, Stolberg, Jacobi, sahen in dem großartigen Drama der Revolution von vornherein fast lediglich ein finsteres Spiel dämonischer Mächte, eine frevelhafte Auflehnung gegen göttliche wie menschliche Ordnung. Claudius insbesondere, so freimütig er auch den Großen die Wahrheit sagt:

„Gut sein! gut sein! ist viel getan,
Erobern ist nur wenig;
Der König sei der bess’re Mann,
Sonst sei der Bess’re König!“

und so sehr er sich als Mann des Volkes und Freund des Volks fühlt: so entschieden tritt er aller falschen, zügellosen Freiheit gegenüber. Ein politischer Blick oder ein geschichtsphilosophischer Standpunkt liegt ihm fern. Ein patriarchalisches Verhältnis zwischen Fürst und Volk ist sein Ideal. Und von dieser Anschauung aus verstehen wir ebenso seine zürnende „Klage“ über die Pariser Gräuel von 1793, wie seine „Fabel“ von 1795 gegen die von Struensee in Dänemark eingeführte Pressefreiheit. Im Tierreich kommt man um Abschaffung des Zensors Brummelbär ein. König Löwe genehmigt das Gesuch. Aber nun ziehen sich die edleren Bestien, überschrieen vom Tierpöbel, zurück. Da schüttelt der Löwe das Haupt:

„Ich rechnete aus angestammtem Triebe
Auf Edelsinn und Wahrheitsliebe
Sie waren es nicht wert, die Sudler klein und groß,
Macht doch den Bären wieder los !“

Freund Voss freilich ließ dagegen ein herbes Streitgedicht los: „Der Kauz und der Adler. Keine Fabel.“ Ein Kauz verklagt beim König Adler den Hahn als Trompeter der Aufklärung und begehrt den Uhu zum Zensor.

„Der Adler tat, als hört er’s nicht,
Und sah ins junge Morgenlicht.“

Kant erachtete das Vossche Epigramm „einer Hekatombe wert“.

Auch innerhalb seiner vier Wände blieb dem biederen Boten das Hauskreuz nicht erspart. Wohl war sein Familienleben im ganzen ein in Gott gesegnetes und in Gott vergnügtes. Mit welch dankbarer Freude er am Tage seiner silbernen Hochzeit, am 15. März 1797, auf ein fünfundzwanzigjähriges Eheglück zurückblickte, spricht er rührend seiner Rebekka aus:

„Ich habe Dich geliebet und Dich will ich lieben,
So lang Du, goldner Engel, bist,
In diesem wüsten Lande hier und drüben,
Im Lande, wo es besser ist!“

Wie wohl denen ward, die unter seinem Dach einkehrten und ihn da walten sahen, die kaum mittelgroße Gestalt im bequemen Hausrock, mit dem treuherzigen, durch eine gebogene Nase und hervortretende Unterlippe ausdrucksvollen Gesicht, dem schlicht rückwärtsgestrichenen, von Kamm zurückgehaltenen Haar und den strahlenden blauen Augen, und die seinem meist plattdeutsch geführten, bei allem sanften Ernst harmlos-heiteren Gespräche lauschten, das spricht nach einem Besuche bei ihm der Generalsuperintendent Ewald in Detmold aus: Was man auch von seinen religiösen und politischen Meinungen sagen mag, der Mann ist kein anderer geworden. Er hat keinen finsteren Blick bekommen, ist allen Menschen herzlich gut, ein braver Gatte, Vater, Freund und Mensch. Er lacht herzlich über manche Dinge, worüber sich viele unserer Toleranz- und Humanitäts- und Stoizismusprediger halbtot ärgern würden.“

Ein gesundes praktisches Christentum waltete im Hause. Elterliche Autorität und kindliche Pietät, aber dabei unbefangene Bewegung nach der Individualität jedes Einzelnen, Gebet und Bibellektion die Weihe des Tages, aber darum keine Spur einer trübseligen und engherzigen Frömmelei.

Die Söhne unterrichtete der Vater selbst in Sprachen und Realien, mehr anregend zu eigenem Studium als streng methodisch. Neben der deutschen Literatur, wo „Stillings Leben“, Pestalozzi’s „Lienhard und Gertrud“, „Reineke Fuchs“ Lieblingsbücher waren – wurde Englisch, Französisch, sogar Spanisch getrieben. Auch mit der Astronomie beschäftigte man sich gern. Musik übte alt und jung. Der Vater selbst war ein fertiger Klavierspieler, die Töchter sangen, die Söhne lernten verschiedene Instrumente; Bachs, Händels, Mozarts, Reichardts Melodien durchklangen das Haus.

Doch wurde es allmählich stiller. Vier Söhne nach einander bezogen die Hochschule, drei zum Studium der Theologie; zwei Töchter verheirateten sich, Karoline mit dem Buchhändler Friedrich Perthes, Anna mit dem Arzte Max Jacobi, einem Sohn des alten Herzensfreundes, auf französischem Boden, in der Nähe von Aachen. Nach der Geburt ihres ersten Kindes schreibt der Großvater an Gräfin Katharina Stolberg: „Die kleine Republikanerin trinkt und speit, als wenn sie in einem wohlgeordneten Staat lebte. Aber bei alledem verheirate ich doch keine Tochter mehr nicht allein nach keiner entfernten Republik, sondern nach keinem entfernten Lande. Die Entfernung ist ein halber Tod.“

Auch der ganze Tod trat schmerzlich in sein Haus und an sein Herz. Besonders nahe ging ihm der Verlust seiner zweiten Tochter Christiane, die mit 20 Jahren am Nervenfieber starb. Ihr sang er das rührende Lied nach, das in des „Knaben Wunderhorn“ aufgenommen ist: „Es stand ein Sternlein am Himmel“, sowie das andere: „Bei ihrem Grabe“.

Unter solch ernsten Erfahrungen des äußeren Lebens, verbunden mit dem Einfluss der vorrückenden Jahre, vertiefte sich je mehr und mehr auch das innere Leben des Mannes. Sein religiöser Standpunkt wurde fester und bestimmter. Von einem gemütseligen Gefühlschristentum kommt er immer entschiedener zum positiven Bibel- und zum lutherischen Kirchenglauben. Während er einst auf Lessings Seite gegen den Hauptpastor Göze gestanden hatte, bekämpft er nun immer eifriger nicht nur die flache Aufklärung der Zeit, sondern auch den Kantischen Rationalismus, dem er es nicht verzeihen konnte, dass er das biblische Christentum zu Vernunftideen verflüchtige und die höchsten Wahrheiten des Glaubens, Gott, Unsterblichkeit, Vergeltung, zu bloßen Hilfsideen für die praktische Vernunft herabsetze. Freilich vermochte er trotz der Aufklärungen, die er sich von Freund Jacobi über Kants System erbat, dasselbe philosophisch weder recht zu begreifen noch gerecht zu würdigen.

Um eine gewisse Wendung, wenn auch keineswegs eine Umkehr in Claudius innerem Leben zu bemerken, darf man nur die späteren Teile des Wandsbecker Boten, vom vierten an, mit den früheren vergleichen. Der Ton wird, wie die Gegenstände der Besprechung, ernster. Theologische, philosophische, mystische, erbauliche Schriften beschäftigen den Verfasser, wie Plato, Spinoza, Tauler, Jakob Böhme, Pascal, Fenelon und besonders Luther. Der ästhetische Gesichtspunkt tritt hinter die sittlich-religiöse Tendenz, Scherz und Humor hinter ernste, manchmal trübe Betrachtungen und polemische Artikel mehr und mehr zurück, wenn auch des Verfassers harmlose Laune und gutmütige Weitherzigkeit sich nie ganz verleugnet. Wie er seine Mission nunmehr auffasst, spricht er am deutlichsten und liebenswürdigsten aus im Vorwort zum siebenten Teil seiner Werke vom Jahre 1802: „Es stehet nur wenigen an, dies große Thema [des Christentums] zu dozieren; aber auf seine Art und in allen Treuen aufmerksam darauf zu machen; durch Ernst und Scherz, durch gut und schlecht, schwach und stark und auf allerlei Weise, an das Bessere und Unsichtbare zu erinnern und … durchs Faktum zu zeigen, dass man nicht ganz und gar Ignorant, nicht ohne allen Menschenverstand und [doch] ein rechtgläubiger Christ sein könne; das steht einem ehrlichen und bescheidenen Manne wohl an, und das ist am Ende das Gewerbe, das ich als Bote zu bestellen habe.“

Es konnte nicht fehlen, dass auf dem schmalen Wege, den er seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts immer entschiedener einschlug, nicht nur ein Teil seiner früheren Leser, sondern auch manche der alten Jugendgenossen sich von ihm lossagten. Der grundbrave, aber stockrationalistische, psychisch wie physisch hartknochige Voss schreibt schon 1785: „Claudius versinkt immer tiefer in den grundlosen Morast, der ihm ein Paradies scheint“; doch blieb das persönliche Verhältnis leidlich, wie auch die Freundschaft mit Stolberg durch dessen Übertritt zum Katholizismus bei Claudius keineswegs erschüttert wurde. Desto entschiedener wandte sich Goethe ab. Aus dem Gärungsprozess seiner Sturm- und Drangperiode hatte er sich zur ruhig klaren Klassizität durchgearbeitet und stieß nun was ihm auf diesem Weg in die Quere kam mit einem Widerwillen, ja einer Schroffheit ab, die sich erst im vorrückenden Alter, auf dem Standpunkt von „Wahrheit und Dichtung“, zu mildem Geltenlassen abklärte.

Bekannt ist, wie herb er in jener Periode seines „Julianischen Christenhasses“ den früheren Herzensbruder Lavater beurteilte. Nicht sehr viel glimpflicher kommt Claudius weg, wenn auch ihm gegenüber die Antipathie wie die Sympathie weniger lebhaft hervortritt, weil ein näheres persönliches Verhältnis nie bestanden hatte. Schon in den italienischen Briefen an Herder nennt ihn Goethe „einen Narren, der voll Einfaltsprätensionen stecke“. Noch kälter als Goethe stand ihm Schiller mit seinem sittlich-vornehmen Pathos und seinem selbstbewussten Kantianismus gegenüber. Als die beiden Olympier ihre Xenienblitze ausstreuten, kam denn auch Claudius nicht ungestreift weg. Goethe widmete ihm mit Bezug auf seine Übersetzung von St. Martins „Erreurs et verité“ das Epigramm:

„Irrtum wolltest du bringen und Wahrheit, Bote von Wandsbeck:
Wahrheit sie war dir zu schwer, Irrtum den brachtest du fort.“

Des Boten Repliken gehörten wenigstens nicht zu den allerschlechtesten im famosen Xenienstreit. Unter anderen travestierte er zwei bekannte Distichen von Goethe und Schiller. So mit Bezug auf Goethes „Eislauf“:

„Der berühmte Almanach.“

„Fallen ist der Sterblichen Los. So fällt hier der Schiller
Wie der Meister, doch stürzt dieser gefährlicher hin.“

Sodann:

Das Distichon.“

„Im Hexameter zieht der ästhetische Dudelsack Wind ein;
Im Pentameter drauf lässt er ihn wieder heraus.“

Wird aber so sein literarischer Weg allmählich einsamer, zumal nachdem die ältesten Freunde und Gesinnungsgenossen, ein Hamann, Klopstock, Herder weggestorben, so sammeln sich um den alternden Boten, abgesehen von einem getreuen Leserkreis in allen Ständen, der statt des ästhetischen Genusses sittliche Belehrung und religiöse Erbauung bei ihm sucht, in Anerkennung seiner christlichen Richtung wie seiner eigenartigen Persönlichkeit auch tüchtige jüngere Geister, die verehrend zu ihm aufblicken, wie Schelling, Steffens, Schubert, Franz Baader, Friedr. Schlegel, Seiler, Neander, Runge, Overbeck u. a. Und so steht er mit seinem christlichen Laienevangelium nicht nur in der Periode des herrschenden Rationalismus als ein unerschrockener Prediger in der Wüste da, sondern er gehört auch zu den ehrwürdigen Propheten und Vorläufern des mit den Befreiungskriegen im deutschen Vaterland neu erwachenden christlich-germanischen Geistes, und das Morgenrot dieser besseren Zeit umleuchtet ihm noch vor seinem Scheiden verklärend das greise Patriarchenhaupt. Freilich nicht ohne dass er von den vorangebenden Stürmen noch hart mitgenommen wurde. Die Napoleonische Gewaltherrschaft lastete schwer auf seiner treuen deutschen Seele, und tief ging es ihm zu Herzen, seinen geliebten Landesvater und gnädigen Wohltäter, den König von Dänemark, unter dem Zwang der politischen Verhältnisse gegen Deutschland stehen sehen zu müssen. In seinen eigenen Familienkreis griff der furchtbare Ernst der Zeit herein, indem sein Schwiegersohn, der patriotische Friedrich Perthes, im Frühjahr 1813, als Marschall Davoust den russischen Obersten v. Tettenborn aus Hamburg vertrieb, nur durch schleunige Flucht der Gefangenschaft und dem drohenden Schicksal eines Palm, dem schimpflichen Rebellentod, entging. Und dem alten Mann selber, dem 73jährigen Boten, ging die Not an den Leib, als er im Sommer jenes Jahres vor dem Kriegssturm aus der trauten Wandsbecker Heimat flüchten musste, um in Kiel, später in Lübeck, eine Zuflucht zu suchen. „Wir sind hier so weit wohl“, schreibt er von dort, „wir haben ein kleines Stübchen, darinnen ein Bett und Kanapee stehen, dann aber auch so wenig Raum ist, dass ein Mensch sich kaum umwenden kann. Wir kochen selbst Grütze und Kartoffeln, nur ist die Feuerung überteuer. Aus der Zeitung werdet ihr erfahren haben, dass Wandsbeck in der Alliierten Hände ist. Fritz ist dort und hält Haus und hat die Ruh verkauft. Im Keller sieht es aus wie vor der Schöpfung, wüste und leer.“

Doch durfte er noch den Tag der Befreiung erleben und auf heimischem Boden sterben. Im Mai 1814 konnte er in sein von Franzosen und Russen hart mitgenommenes Wandsbeck zurückkehren und feierte dort inmitten der Seinigen am 15. August den letzten Geburtstag. Aber seine Kraft war gebrochen, die Beschwerden des Alters lasteten schwer auf seinem zart gebauten Körper. Als sich sein Zustand verschlimmerte, zog er auf dringende Bitten mit der Mutter Rebekka zu seinen Kindern Perthes nach Hamburg, um dem Arzt näher zu sein. „Papa ist müde und matt“, schrieb Karoline nach seiner Ankunft, doch können wir Gott nicht genug danken, dass er so leidensfrei ist. Er ist so ruhig und freundlich, ja man möchte sagen vergnüglich, dass ich aus Freude darüber den Schmerz, der in mir ist, nicht zu Worte kommen lasse.“

Sanft entschlief er am 21. Januar 1815. Nachmittags 2 Uhr ließ er sich auf eine Seite legen und den Schweiß abtrocknen, sagte einige Mal: „Gute Nacht, gute Nacht!“ – schlug noch einmal die Augen groß und hell auf, blickte segnend nach seiner Rebekka, tat drei starke Atemzüge und verschied.

Noch 17 Jahre überlebte ihn die treue Gefährtin. Sie starb 1832, in einem Jahr mit den alten Freundinnen Ernestine Voss und Katharina Stolberg. Er selber ward begraben zu Wandsbeck, wo seine Leiche noch einmal vor dem alten trauten Wohnhaus niedergesetzt, dann in die Kirche und von da auf den Friedhof gebracht und neben der vorangegangenen Tochter Christiane beigelegt wurde. Ein gusseisernes Kreuz mit der Inschrift Joh. 3, 16: „Also hat Gott die Welt geliebt usw.“ bezeichnet jetzt seine Ruhestatt. Am hundertjährigen Gedenktag seiner Geburt, 15. August 1840, wurde dem heimgegangenen Boten im Wandsbecker Gehölz ein granitener Gedenkstein errichtet mit Stab, Hut und Tasche, wobei sein ältester Enkel, Matthias Claudius, Worte der Weihe sprach.