Hildegard von Bingen

In des Vaterlandes anmuthigste Gefilde, da wo die Nahe dem Rhein sich vermählt, versetzt uns obiger Name. Doch lieblicher noch strahlt aus dem Dunkel verflossener Jahrhunderte Hildegard selbst, Aebtissin von Rupertsberg bei Bingen, zu uns herüber.

In Bockelheim, im romantischen Nahethal, 1098 geboren, ward Hildegard, die Tochter Hildeberts, eines edlen Burgmanns des Grafen von Sponheim, gemeinsam mit des Grafen Tochter Hildrudis in dem nahegelegenen Kloster Dissibodenberg erzogen, und von den liebenden Eltern für den Himmel bestimmt. Ihr zarter Körperbau in Verbindung mit seltnen Geistesanlagen und einer schwärmerischen Sehnsucht nach dem Himmel mußte ihren Eltern diesen Gedanken nahe legen, während sie selbst durch die sie von ihrem dritten Jahre an fast beständig begleitenden wunderbaren Visionen sich mehr im Himmel als auf der Erde heimisch fühlte. Sie wurde in dem Kloster bald so sehr der Gegenstand allgemeiner Liebe und Bewunderung, daß sie nach dem Tode der Aebtissin Jutta, der Schwester des Grafen von Sponheim, 1136 selbst zur Aebtissin gewählt wurde.

Es ist bekannt, daß die irisch-schottische Missionskirche längs des Rheines, von Dissentis, Chur, St. Gallen an bis Straßburg, Mainz, Trier, Köln, Kaiserswerth rc. herab eine Reihe der blühendsten Niederlassungen und nach apostolischem Vorbild gestalteten Kirchengemeinschaften (Cönobien) besaß, welche bis auf Bonifacius und die Karolinger, in völliger Unabhängigkeit von Rom, in der heiligen Schrift die höchste Autorität, und in der Lehre von der freien erlösenden Gnade in Christo das Heil erkannten und in einem Gemeinschaftsleben, getragen von heiligender Zucht und thätiger Bruderliebe ihr edles Abzeichen hatten. Ein letzter Nachklang dieser köstlichen vorrömischen Tradition tritt uns in Hildegard, Aebtissin von Dissibodenberg entgegen.

Aus den ausgezeichnetsten Familien wurden ihr von Nah und Fern die Töchter vertrauet, um unter ihrer Leitung und nach ihrem Vorbild in deutscher Zucht und Frömmigkeit für des Hauses stillen Frieden, für des Lebens Kampf und Schmuck herangebildet zu werden. Der Andrang war so groß, daß sie noch ein zweites Kloster (Eubingen bei Rüdesheim), wenn auch nicht zu gründen, doch mit dem ihren in Verbindung zu setzen, sich veranlaßt sah, um nur den wachsenden Anforderungen genügen zu können. Kränze und Ringe pflegte sie ihren Liebsten und Besten als Auszeichnung und spornendes Liebespfand zu reichen. Doch dieß Alles würde ihr nur den Ruhm stillen Wirkens innerhalb ihrer Klostermauern verliehen haben. Das, wodurch sie die Augen fast der ganzen damaligen Christenheit auf sich zog, mit vier Päpsten, den beiden Kaisern Konrad und Friedrich J., sowie mit unzähligen Bischöfen, Aebten, Fürsten und Grafen, ja mit den ausgezeichnetsten Gelehrten ihres Jahrhunderts, insbesondere mit dem Abt Bernhard von Clairvaux, in die innigste Verbindung trat, war in etwas anderem gelegen, in der geheimnißvollen Beziehung, in welcher sie zu der höheren Welt zu stehen, und als neutestamentliche Prophetin eine Botin Gottes an die Christenheit zu sein allgemein angesehen wurde.

Unsrer Zeit dürfte es gegeben sein, gleichweit von der wundersüchtigen Uebergläubigkeit vergangener Jahrhunderte, wie von der Zweifelsucht der jüngst verflossenen rationalistischen Periode entfernt, einen unbefangenen Blick in die von den ausgezeichnetsten Geistern des zwölften Jahrhunderts allgemein als göttliche Offenbarung verehrten Enthüllungen der wunderbaren Jungfrau zu thun. Sie selbst hat uns mit einer höchst merkwürdigen Klarheit Beschreibungen ihres erhöheten Geisteslebens gegeben. Von der zartesten Körperbeschaffenheit war sie, von ihrer Kindheit an fast beständig krank, in ihrem Nervenleben auf das tiefste erschüttert. Schon in ihrem dritten Jahre sah sie sich eines Tages von einem Lichtmeer umgeben, daß ihre ganze Seele erzitterte. Mit ihrem achten Jahr in das Kloster gebracht, wiederholten sich solche Erscheinungen – sie wagte es endlich davon zu reden. Sie erstaunte, daß Niemand sonst das Gleiche sah oder hörte, was sie zu hören und zu sehen sich so deutlich bewußt war. Sie erschrak über sich selbst, und verbarg voll Scham von da an Alles, was sie aus der höhern Welt vernahm, und zwar mit wachen Sinnen, mit offnem Aug und Ohr, aber nicht durch diese, sondern durch einen innern Sinn. Aber dieses bis zu ihrem 50. Jahre beobachtete Schweigen hätte ihr fast das Leben gekostet. Stets rief ihr eine innere Stimme, ja, wie sie glaubte, Gott selbst zu, sie müsse den Menschen offenbaren, was der Herr sie habe schauen lassen. Aber theils die Furcht für verwirrt und geisteskrank gehalten zu werden, theils der eigenthümliche Inhalt ihrer Visionen, voll Androhung göttlicher Strafgerichte über Personen, zu denen sie bisher nur mit Ehrfurcht hinauf zu sehen gewohnt gewesen, verschlossen ihr den Mund. Dieses Widerstreben warf sie endlich auf das Krankenlager, dem Tode nahe. 30 Tage lang lag sie in dem furchtbarsten Todeskampfe. „Verzehrendes Feuer, so erzählt sie selbst, wüthete in meinen Adern. Ob meine Seele im Leibe war, ob außer ihm, weiß ich nicht. Im Starrkrampf lag ich unbeweglich da. Meine Oberen, meine Töchter (Schülerinnen und Nonnen) und Anverwandte umstanden laut weinend mein Lager; sie hielten mich für todt. Aber ich sah in diesen Tagen die himmlischen Heerscharen, durch ihre Reihen hörte ich ein Freudengeschrei dringen: Noch ist deine Zeit nicht gekommen; Mägdlein stehe auf!“ – Und ihre Augen öffneten sich und sie sah sich den Ihrigen wiedergegeben. Jetzt fühlte sie sich stark genug, alle Bedenklichkeiten zu überwinden; sie vertrauete ihre inneren Gefühle ihrem Beichtiger. Dieser voll Erstaunen und Zweifel schrieb ihre Mittheilungen, wie sie sie dictirte, nieder (sie selbst war der lateinischen Sprache nur sehr unvollkommen mächtig), legte sie dem Abte vor, dieser dem Erzbischof von Mainz, und da gerade Papst Eugen III. in dem benachbarten Trier (1148) eine Kirchenversammlung hielt, so wurde die ganze Sache dem Papste und der Kirchenversammlung zur Entscheidung vorgelegt. Abt Bernhard, das helle Kirchenlicht des 12. Jahrh., reiste mit mehreren Bischöfen nach Rupertsberg; dort lasen sie das Buch ihrer Offenbarungen, Scivius betitelt, prüften der Jungfrau Sinn und Wandel: und sie, und nach ihnen Papst und Kirchenversammlung, legten vor aller Welt das Zeugniß ab, daß das wörtliche Offenbarungen von Gott seien, aus der Gabe der Prophezeiung, in der die alten Propheten geweissagt. Der Papst selbst schrieb ihr beglückwünschend, und als ihre Schriften später der Pariser Universität vorgelegt wurden, erklärten die Lehrer einstimmig, das seien nicht menschliche Reden, sondern göttliche Offenbarungen.

Wir wollen nun von ihr selbst hören, wie sie solche Offenbarungen überkam.

„Im Jahre 1162 der Menschwerdung Christi (so erzählt sie), da ich 62 Jahre und 7 Monate alt war, geschah es, daß ich den Himmel sich öffnen, und ein feuriges Licht herabwallen sah, das mein Gehirn ganz übergoß, Herz und Brust wie eine Flamme erfüllte, doch nicht brennend, sondern nur wärmend, wie mildes Sonnenlicht. Und plötzlich fühlte ich das Verständniß des Psalters, der Evangelien und anderer Bücher sowohl des alten als des neuen Testaments. Doch aber hatte ich von den einzelnen Worten, Sylben und grammatischen Formen keine Kenntniß.“ Aehnlich schreibt sie an Abt Bernhard: „Ich habe ein tief innerliches Verständniß des Psalters, des Evangeliums und andrer Schriften, die mir gerade in der Vision gezeigt werden, welche in meine Brust und Seele gleich einer leuchtenden Flamme hineintritt, alle Tiefen der Erkenntniß vor mir erschließend, wiewohl nicht in deutscher Sprache, die zu lesen ich nicht verstehe.“ Von dieser himmlischen Flamme giebt sie nun folgende Beschreibung: „So lange ich in dieses Licht hineinschaue, schwindet alle Traurigkeit und aller Schmerz aus meinem Innern; ich trage dann das Gefühl in mir, als wäre ich ein junges Mägdlein und nicht die betagte Greisin. Dieses Licht nehme ich mit ganz wachen Sinnen wahr. Es ist nicht an einen bestimmten Ort gebannt; es ist leuchtender als ein von der dahinterstehenden Sonne erglänzendes Gewölke; doch vermag ich weder Länge, noch Höhe noch Breite an ihm zu unterscheiden. Es heißt mir Schatten des lebendigen Lichts; und wie Sonne, Mond und Sterne sich in dem Wasser spiegeln, so glänzen mir aus ihm Worte und Reden, oder auch Tugenden und Verrichtungen von Menschen entgegen. Und was ich in einer solchen Erscheinung sehe oder gelernt habe, dessen Erinnerung bleibt mir eine lange Zeit. Sehen, Hören, Wissen, Lernen ist das Werk Eines Augenblicks. Was ich sage oder schreibe, gebe ich Alles mit den gleichen Worten, welche ich in dem Lichte höre. Und doch höre ich nicht Worte, wie sie aus dem Munde eines Menschen tönen, sondern ich höre sie gleich züngelnden Flammen, gleich Wölklein im reinen Aether schwimmend. Und dieses Licht entbehrt meine Seele zu keiner Stunde.“

Aus ihren Visionen selbst möge nun ein Bruchstück folgen.

An die geistliche Genossenschaft zu Kirchheim schrieb sie: „Da ich im Jahr 1170 krank im Bette lag, und meine Augen, die des Geistes und Leibes, wach waren, sah ich eine weibliche Gestalt, das schönste Bild, so lieblich und reizend und froh, daß sich der menschliche Verstand keinen Begriff davon machen kann. Die Gestalt war so groß, daß sie von der Erde bis zum Himmel reichte; ihr Angesicht leuchtete wie das hellste Licht, und ihr Auge blickte gen Himmel; ihr Gewand war aus weißer Seide, darüber floß ein Mantel mit Smaragd, Saphir und den schönsten Perlen und Edelsteinen geschmückt; die Schuhe glänzten wie Onyx. Auf einmal bemerkte ich, daß ihr Antlitz von Staub entstellt, ihr Gewand auf der rechten Seite zerrissen, der Mantel seiner Schönheit beraubt, und die Schuhe mit schwarzer Farbe überzogen wurden. Sie selbst erhob eine klägliche Stimme zum Himmel, und schrie laut auf: Höre es du Himmel, daß mein Angesicht beflecket, traure du Erde, daß mein Gewand zerrissen, erzittre du Abgrund, daß meine Schuhe schwarz geworden sind. Die Füchse haben Höhlen, die Vögel der Luft Nester, ich aber keinen Helfer, keinen Tröster, keinen Stab, auf den ich mich stützte, und der mich hielte. Und sie rief wieder: Ich lag im Herzen des Vaters verborgen, bis des Menschen Sohn, der von der Jungfrau empfangen und geboren war, sein Blut vergossen, mich durch dasselbe Blut mit sich vermählt, und mit der köstlichsten Morgengabe bereichert hatte, damit ich die, welche der Schlangen Gift tüchtig zum Bösen und lahm zum Guten gemacht hatte, durch Geist und Wasser zu neuen Menschen neu gebären könnte. Meine Pfleger, die Priester, die mein Angesicht schön wie das Morgenroth, mein Gewand leuchtend wie Blitze, meinen Mantel schimmernd wie Edelgesteine, und meine Schuhe glänzend wie Schnee hätten machen sollen, haben mein Angesicht mit Staub besudelt, mein Gewand zerrissen, meinen Mantel dunkel, meine Schuhe schwarz gemacht, dadurch, daß sie den Leib und das Blut meines Bräutigams durch Wollust und Unreinigkeit aller Art, durch Hurerei und Ehebruch, durch Geiz und Raub, durch Kauf und Verkauf entheiligen Der Abgrund müsse erzittern, ein Nebel wird die ganze Erde bedecken und ihr Grünes dürr und ihr Schönes schwarz machen, weil Rache und Wehe von der gerechten Hand Gottes kommen, Himmel und Erde bewegen werden. Darum werden über euch, ihr Priester, die ihr mir bisher kein Gehör gegeben habt, Fürsten und ein vermessenes Volk hinsteigen, werden euch eure Reichthümer nehmen und sagen: kommet, lasset uns diese Ehebrecher und Räuber aus der Kirche hinauswerfen Und ich hörte eine Stimme vom Himmel sagen: dies Bild stellt die Kirche dar! . . . Und siehe, ich die armselige Gestalt eines Weibes sah ein blankes Schwert in der Luft hängen, dessen eine Schärfe gegen den Himmel, die andre gegen die Erde gekehret war. Und dieses Schwert war ausgezogen über ein geistliches Volk. Und ich sah, wie das Schwert einige Oerter dieses geistlichen Volkes wegschnitt, wie einst Jerusalem nach dem Leiden Christi weggeschnitten ward Das unauslöschliche Feuer des heiligen Geistes wolle sich in euch ergießen, damit ihr zu dem umkehret, was das Bessere ist.“ Diese eine Probe kann genügen. An dem darin wehenden frommen Geiste mag man sich erbauen: für göttliche Offenbarungen wird sie heutzutage kaum Jemand mehr halten. Wir stehen hier vor einer Erscheinung, wie wir sie in unsern Tagen häufig genug an Somnambulen, oder auch bei der höchst merkwürdigen s. g. Predigerkrankheit schwedischer Landleute beobachtet haben. Was nöthigte auch dazu, göttliche Offenbarungen anzunehmen? Was hätte denn Hildegard Neues gesagt? welche Lehre, die nicht schon in der Bibel viel deutlicher und bestimmter stünde, oder Lehre ihrer Kirche wäre? Und die Einkleidung ist ebenfalls nichts anders, als eine offenbar schwache Nachbildung biblischer Gesichte. Das hingegen werden wir ebenso begreiflich finden, daß ein Zeitalter, in welchem der Sinn für das Wunderbare und Schwärmerische allgemeiner Charakterzug war, bei noch unvollkomnmeren Mitteln wissenschaftlicher Prüfung sich vor Hildegard, als einer Prophetin, beugte.

Wäre nun von Hildegard nichts weiter zu berichten, so würde sie zwar in der Geschichte der menschlichen Seele immerhin eine merkwürdige Erscheinung sein; aber in der Geschichte der christlichen Kirche würde sie darum noch keineswegs Anspruch auf einen besondern Ehrenplatz haben. Daß sie aber auch diesen verdiene, haben wir noch unsern Lesern darzuthun.

Es ist eine jene Zeit charakterisirende Erscheinung, daß man, wie die Völker in schwärmerischer Liebe heilige Orte aufsuchten, um dort der Versöhnung mit der Gottheit desto gewisser zu werden, auch ein tiefes Bedürfniß fühlte, hohe, für heilig geachtete Menschen aufzusuchen, und in verehrendem Anschluß an sie die sühnende Vermittelung zwischen Gott und der eignen schmerzlich empfundenen Unwürdigkeit sich zu gewinnen. Die versöhnende Kraft des Todes Christi, sein allgenugsames Verdienst war durch die Kirchenlehre verdunkelt. Daher der inbrünstige Mariencultus, daher auch die schwärmerische Verehrung, mit welcher man sich einer so hochbegabten, im Strahlenkranz prophetischer Verklärung leuchtenden Persönlichkeit, wie Hildegard war, inniger anzuschließen, an ihr sich emporzuheben bemüht war. Mit Recht bemerkt ein Geschichtschreiber, daß der stärkste Beweis für die Ueberlegenheit ihres Geistes, für die weise Besonnenheit und Nachhaltigkeit, für die das tiefste Bedürfniß des Herzens befriedigende Wirksamkeit Hildegards darin gegeben sei, daß sie bis zu ihrem späten Lebensende stets gleicher Verehrung, gleicher Liebe von den Ausgezeichnetsten ihrer Zeitgenossen sich erfreute. Ihr Briefwechsel erfüllt mit Staunen und Bewunderung, sowohl durch seinen äußern Umfang, wie noch mehr durch die darin dargelegte Tiefe und Allseitigkeit ihrer Thätigkeit. Sie war die Trösterin aller Betrübten, die Beratherin der Bedrängten, die Versöhnerin der Hadernden, die Bestraferin der Sünden der Einzelnen wie ganzer Stände und Völker. Hier ermahnt sie einen Bischof zur Milde gegen seine Geistlichen, dort Mönche zur Demuth und Unterwerfung, beide zur Eintracht und Liebe Christi; Jungfrauen, trotz der schwersten Bußübungen von inneren Anfechtungen heimgesucht, warnt sie, in treuer Berufserfüllung und nützlicher Thätigkeit vielmehr, als im Uebermaß von Fasten, was nothwendig zu neuen Versuchungen ausschlage, dem Herrn zu dienen. Tausende von Bedrängten und Verfolgten aus ganz Frankreich und Deutschland wandten sich persönlich an sie, und für Alle hatte sie das rechte Wort, den kräftigen Trost, daß Keines unerquickt von ihrem Angesicht ging.

Mit welchem Ernste sie die Sünden der Geistlichkeit strafte, lasen wir oben. Mit welchem feinsittlichen Gefühle sie dabei aber stets die Schranken der Ehrfurcht und Pietät zu wahren wußte, wollen wir an einigen Auszügen aus ihren Briefen an höher Gestellte darthun.

Dem Kaiser Barbarossa schreibt sie:

„Der höchste Richter hat diese Worte an dich. Höre! es ist wunderbar, daß eine Person wie du, o König, den Menschen so nothwendig ist. Ein König stund auf einem hohen Berge; er schaute hinab in die Thäler, und nahm das Treiben der Menschen wahr. Er hielt einen Stab in seiner Rechten, und ordnete Alles wohl. Grün ward, was eben noch dürre gewesen, wach, was geschlummert. Einmal schloß dieser Mann seine Augen, und siehe, da kam ein schwarzer Nebel und legte sich über die Thäler hin; Raben kamen geflogen und verzehrten die umher liegende Beute. O König, sei wach! Blicke sorgsam umher. Siehe, deine Lande sind umschattet von einer Wolke von Betrügern. Räuber und Schwarmgeister zerstören den Weg des Herrn. Du hast einen herrlichen Namen, bist König in Israel! Erwäge also, wie das Auge des Königs der Könige auf dir ruhet, daß du nicht einst zu Schanden werdest. Fliehe den Weg der Wollust, sei ein Streiter Christi. Entsage dem Geiz und wähle die Enthaltsamkeit. Sei vorsichtig in all‘ deinen Geschäften. Ich sahe dich in einem Gesichte von nächtlicher Verwirrung umlagert. Du hast nur eine kleine Weile hienieden zu regieren. Der Herr wird Rechenschaft fordern. Lebe so, daß die Gnade Gottes von dir nicht weiche.“

Dem Papst Eugen III. meldet sie:

„Das Auge, das über Alle wachet, Alle durchschauet, die Schlummernden wecket, lässet dir sagen: Die Thäler klagen über die Berge, und die Berge fallen über die Thäler. Was heißt das? Die Unterthanen haben die Furcht Gottes verloren, der Geist des Aufruhrs trieb sie, die Gipfel der Berge zu besteigen, um ihre Oberen anzuklagen: ihre eignen Sünden kennen sie nicht. Jeder spricht: wäre ich Obrigkeit, ginge alles besser. Sie sind schwarze Wolken geworden, die gerne oben schweben möchten. Aber zur Arbeit mögen sie sich nicht schürzen, lassen ihr eignes Feld unbebauet. Die Sterne sind von mancherlei Wolken verfinstert, und sie rufen laut: der Mond plaget uns, die Sonne drücket uns. Kein Stern leuchtet, weil Sturmwinde Staubwolken gegen sie aufjagen. Darum, großer Hirte an Christi Statt, sende du Licht den Bergen, Ordnung den Thalern. Unterweise die Lehrer der Völker, stelle Zucht und Ordnung wieder her. Salböl fließe von Oben, Wohlgeruch verbreite sich von Unten. Lehre Alle recht wandeln, daß sie vor der Sonne der Gerechtigkeit bestehen. – Das arme Gebilde zittert, daß es so spricht zu einem großen Lehrer. Aber guter Vater, nicht ich, der große Held, der allmächtige Krieger spricht dies zu dir. Tilge aus die gottlose Tyrannei: doch sei auch mitleidig bei allem Jammer – Siehe, der mächtige König sitzet in seinem Palaste; große Säulen stehen umher, mit Gold umwunden, mit Edelsteinen geschmücket. Aber dem König gefiel es, eine schwache Feder zu berühren, und die Feder flog wunderschön, und ein starker Wind trug sie dahin, daß sie nicht zur Erde sank.“

Trotz der Schwächlichkeit ihres Körpers reiste Hildegard viel umher, predigte öffentlich vor allem Volke, an der allgemeinen Erhebung für Eroberung des heiligen Grabes kräftig mitwirkend. Wahrhaft hinreißend wirkten ihre Ansprachen, wie ihr Erscheinen: Fürsten, Ritter und Volk verehrten sie als eine Heilige. Rührend ist ihr Bekenntniß über diese Zeit außerordentlicher Triumphe für sie: „ich schüchternes armes Weib habe zwei Jahre hindurch viel ausgestanden, da ich vor den Obrigkeiten und den gelehrtesten Männern an allen größeren Orten aufzutreten hatte.“ Es kann uns nicht Wunder nehmen, wenn auch viele Krankenheilungen durch Gebet und Händeauflegen von ihr berichtet werden.

Sie erreichte ein Alter von 82 Jahren und starb am 17. September 1179. Die katholische Kirche hat sie nicht heilig gesprochen. Aber mit Liebe und Bewunderung blickt unsre spätere Zeit auf diese seltne Erscheinung verflossener Jahrhunderte zurück.

Friedr. Haupt in Rimhorn, jetzt in Gronau bei Bensheim.

Evangelisches Jahrbuch für 1856 Herausgegeben von Ferdinand Piper Siebenter Jahrgang Berlin, Verlag von Wiegandt und Grieben 1862