Den symbolisch bedeutsamsten Gestalten der heiligen Geschichte sind die beiden Alten, Simeon und Hanna, beizuzählen, welche, verkörperten Theodiceen vergleichbar, den Gott aller Götter am Ende der mit seinem Bundesvolke eingeschlagenen Wege verherrlichend, als die ersten Bannerträger des hereingetretenen Christusreiches auf der Schwelle des neuen Testamentes uns begegnen. Wie wir in ihnen die Blüthe des wahren Israelitenthums zu ihrer vollen Herrlichkeit sich entfalten sehen, so veranschaulicht sich uns in ihnen zugleich das Endergebnis der zweitausendjährigen göttlichen Führung und Erziehung, deren das Volk der Auswahl sich erfreuen durfte. Nach verschiedenen Seiten hin vertreten sie den Kern, d. h. denjenigen Theil ihrer Nation, der, wandelnd in Jehovahs Wegen, die zu göttlichem Leben befruchtenden Elemente Seiner Offenbarungen und Großthaten sowohl in Gesetzgebung und Weissagung, wie in Gericht und Wunderhülfe gläubig in sich aufnahm, und zeigen uns den Samen Abrahams beim Ziele seiner weltgeschichtlichen Bestimmung angelangt.
Wie in der Hanna vorwiegend die Wirkung des Gesetzes sich kundgibt, so in Simeon vorwiegend diejenige der Verheißung. Während auf jener Stirne, erst spärlich gelichtet, nur noch der Schatte des Berges Sinai dunkelt, gleicht dieser schon einer Alpenhöhe, die vom Morgenstrahl der aufgehenden Gerechtigkeitssonne vergoldet wird. Eine dienende Magd unter dem mosaischen Joche kommt Hanna „Tag und Nacht nicht vom Tempel“. Simeon, schon mehr evangelisch gerichtet, wohnt beschaulich in seiner Hütte, und träumt von der nahen Friedenszukunft, auf die er wartet, süße Himmelsträume. Sie, frühe schon verwitwet, aber, wahrscheinlich, um desto ungetheilter in Fasten und Beten dem Dienste Jehovahs sich weihen zu können, nicht wieder vermählt, war eine „Prophetin“, d. h. sie bestärkte, auf das Wort der alten Seher gestützt und vom heiligen Geist getrieben, ihr Volk im Glauben an die Zukunft des großen Davidssohns. Doch verkündete sie den Ersehnten nur, wie der Glockenschlag oder die Wächtertrompete vom Thurm die Nähe des Tagesanbruchs anzeigt. Simeon hingegen, mehr als Prophet, signalisierte den Nahenden vermittelst seiner ganzen hoffnungdurchleuchteten Erscheinung, wie das Frühroth den Heraufzug der Tageskönigin verkündet.
Simeon birgt ein unvergleichliches Geheimnis in seiner Brust. Seiner auf’s äußerste gesteigerten Sehnsucht nach dem „Troste Israels“ hatte der heil. Geist mit der Eröffnung geantwortet: er solle den Tod nicht sehn, er habe denn zuvor den Christ des Herrn gesehn. Seitdem stand der Alte, während Hanna im Sack und in der Asche im Staube des Tempels lag, Tag und Nacht voll seliger Ungeduld, wie ein Kind am Weihnachtsabend, das mit zitternder Spannung dem ersehnten Schalle des verheißungsreichen Glöckleins entgegen harrt, auf seiner Warte. Weil „der heilige Geist auf ihm war“, so durfte er wohl jede zarte Regung seines Gemüths, jede leise Zusprache, die er in seinem Innern zu vernehmen glaubte, sich darauf ansehn, ob sie nicht eine Weissagung Gottes für ihn in sich berge. Wer wollte es drum als „Geisterseherei“ ihm deuten, daß er, als er eines Tages unversehens einen ungewöhnlich starken Antrieb zum Besuch des Tempels in sich verspürte, hinter diesem Drange sofort eine höhere Mahnung, einen Fingerzeig von Oben zu erkennen glaubte. Einfältig, wie es rechter Kinder Gottes Art ist, gab er dem verborgenen Zuge Folge; in der That sah er sich diesmal von seiner Vorempfindung nicht betrogen.
Zu gleicher Zeit mit Simeon tritt im Festtagsschmucke ein Ehepaar aus dem Handwerkerstande in das Heiligthum hinein, um nach Vorschrift des Gesetzes ein erstgebornes Söhnlein dem Herrn darzustellen, und es zugleich mit dem Opfer der Armuth, nehmlich zween jungen Tauben, vom Dienste an der irdischen Hütte zu lösen. Simeon, Anfangs noch ahnungslos, und wohl nur von dem Wunsche geleitet, der feierlichen Ceremonie als stummer Zeuge mit anzuwohnen, nähert sich an der glücklichen Eltern Seite dem Altar, und die priesterliche Verrichtung nimmt ihren Anfang. Wie aber jetzt das Knäblein aus seinen Umhüllungen hervortaucht, und der Alte ihm in die bellen, holdseligen Augen schaut, da hört dieser auf, ein unbetheiligter Zuschauer bei der Scene zu sein. Nicht satt mehr kann er sich sehen an dem Kinde. Däucht ihm doch, als flüstre schon gedankenvolles Wort von diesen zarten Lippen, als spreche lichthelles Bewußtsein schon aus diesen Augen heraus, ja als leuchte, was in den Zügen des lallenden Säuglings sich spiegelt, wie himmlischer Sonnenstrahl in Wesenstiefen hinunter, die mit menschlichen Maßen gar nicht auszumessen seien.
Mit wachsender Inbrunst steht Simeon ganz in den Anblick des Wunderknaben versunken, während der heilige Geist in ihm das begonnene Erleuchtungswerk vollendet. Aus der Ahnungsdämmerung seiner Seele bricht mit siegender Tagesklarheit die zweifellose Gewißheit hervor, daß er in dem Weibe dort die davidische Jungfrau, in dem Sohne an ihrer Brust den verheißenen Immanuel begrüße.
Mit anbetungsvoll frohlockendem Geiste nimmt er das Kind von der Mutter, oder gar des Priesters, Armen auf die seinen, drückt’s inbrünstig an sein Herz, richtet den seligen Blick gen Himmel, und ergießt sich freudestrahlenden Angesichtes in dem bedeutungsvollen Jubelrufe: „Herr, nun entlässest du deinen Knecht mit Frieden, denn meine Augen sahen deinen Heiland, welchen du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht zu erleuchten die Heiden und zum Preise deines Volkes Israel!“ Joseph und Maria stehen verwundert; nicht darum etwa, weil Simeons Bezeugung einem Zweifel begegnet wäre, der in ihrem Innern wieder Platz gegriffen hätte. Wenn allerdings auch ihr Glaube durch die Knechtsgestalt und die gewöhnliche Lebensentwicklung ihres Säuglings in beständiger Uebung erhalten wurde, so galt doch diesmal ihre Verwunderung nur dem erhebenden Einklange, zu welchem von den verschiedensten Seiten der die Zeugnisse des heiligen Geistes von der göttlichen Größe ihres Kindes sich verschmolzen. Simeon segnet die Hochbeglückten, sie selig preisend um der hohen Gnade willen, deren sie vor allen andern Sterblichen gewürdigt waren. Dann aber, als wollte er sie rechtzeitig der Gefahr entheben, zu irdische Träume zu träumen, lüftet er ihnen, zum Seher Gottes erleuchtet, den Schleier der Zukunft, und spricht zu Maria: „Siehe, dieser wird gesetzt zum Fall und Auferstehn Vieler in Israel, und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird. Und es wird ein Schwerdt durch deine Seele dringen, auf daß Vieler Herzen offenbar werden“.
Während der alte Simeon so in Freudenruf und Seherspruch seinem Herzen Luft macht, kommt, ehe man sich’s versieht, mit geflügelten Schritten auch die achtzigjährige Tochter Phanuels herbei geeilt. Beim Beginn der Scene mochte sie etwa in einem Winkel des Tempels vor Gott im Gebete liegen, als Simeons Worte, ahnungsvollen Glockenlauten gleich, zu ihr herüberdrangen und aus der Vertiefung ihrer Andacht sie weckten. Nachdem sie nun den Grund des lauten Frohlockens ihres silberhaarigen Sehnsuchts- und Hoffnungsgenossen erkundet, und dann an seinem Glaubenslichte das ihrige angezündet hat, vereint sie die Stimme ihres Jubels mit der seinigen, und ein Doppelsang steigt zu Gott empor, der, Lerchen- und Nachtigallenlied zugleich, der Welt den Anbruch welch einer Frühlingszeit verkündet.
In den beiden geistig verjüngten Alten sehen wir das wahre Israel auf die Bühne der Geschichte treten, wie es nach Abschluß des von dem Herrn ihm vorgezeichneten Entwicklungsganges in vollendeter Gestaltung aus den Bildnerhänden seines Bundesgottes hervorging. Der in Abraham einst gepflanzte zukunftsvolle Volksbaum trieb in ihnen, und allen denen, welche durch sie vertreten wurden, seine blüthenreiche, fruchtbeladene Krone. Nation würde um jenen Zeitpunkt nicht anders dagestanden haben, wenn sie ebensowohl, wie jene, der Heilswirkung des Gesetzes, der Verheißung, den Züchtigungen und Gnadenerweisungen des Herrn sich erschlossen hätte. Was läßt sich aber sittlich Schönres denken, als diese Vereinigung tiefster Zerknirschung und kindlichsten Freudenmuths zum göttlichen Erbarmen, wie sie in jenen Alten sich kundgibt? Was gibt es Hehreres und Adelnderes, als die Verschmelzung der vollkommensten Freiheit von des Gesetzes Fluch und Zwang mit der tiefsten Gebundenheit an den Herrn und sein Wort vermittelst der Liebe, zu der sie, nachdem sie den Trost Israels gefunden haben, nunmehr gelangt sind. An der Hanna erweist der erschienene Heiland seine erlösende Macht vorwiegend als derjenige, der des „Gesetzes Ende“ ist. Simeon erfährt den Friedensfürsten vorzugsweise als den, der dem Tode die Macht genommen hat. Jene begrüßt hinfort in Mose, dem drängenden Treiber, in dessen Frohn sie stand, einen höchst willkommenen Wegweiser und Geleitsmann, sintemal sie mit Freuden jetzt, weil mit freiem Gewissen, den Weg der göttlichen Gebote läuft. Dieser umarmt in dem Schreckenskönige, dem letzten Feinde, nunmehr einen wohlwollenden und erwünschten Freund, der ihm ja nur naht, um, was an Banden ihn noch beschwert, ihm abzustreifen, und zu ewiger Wonne in Abrahams Schoß ihn emporzutragen. Beide aber baden sich selig in den warmen Sonnenstrahlen der Liebe ihres Gottes, wie dieselben, in dem Kindlein sich brechend, über die weite Sünderwelt sich ergießen; und Simeons „Herr, nun entlässest du deinen Knecht mit Frieden“, das in Hannas Seele den reichsten Wiederhall findet, ist wie Schwanensang heimziehender Pilger, so Hymnus des Triumphs über Welt, Sünde, Tod und Teufel.
Mit der Erfüllung der individuellen Bestimmung des auserwählten Volkes, welche in jenen Beiden zur Erscheinung kommt, fällt aber, wie wir schon angedeutet, diejenige seiner historischen in eins zusammen. Das „Herr, nun lässest du deinen Knecht mit Frieden fahren“ ist nicht bloß Kundgebung persönlicher Befriedigung im Vollgenusse der verwirklichten Hoffnung, sondern zugleich Ausdruck erfüllten Berufes und Siegesschrei des Israels Gottes am Zielpunkte seiner völkergeschichtlichen Aufgabe. Auf Simeons, seines hochbegnadigten Repräsentanten, Armen zeigt Israel von der heiligen Tempelhöhe der der Welt in dem Sohne der Jungfrau den lebendigen Erweis der Treue Jehovahs, und die der ganzen Menschheit zugedachte reife Himmelsfrucht an dem tausendästigen Baume der göttlichen Veranstaltungen unter dem alten Bunde; und indem es das gebenedeiete Wunderkind, diesen Kern und Stern einer vieltausendjährigen Prophetie und Völkersehnsucht, im Namen und Auftrage des Herrn aller Herrn der gesamten Sünderwelt überantwortet, tritt es selbst aus seiner nationalen Beschränkung heraus, um hinfort als ein, freilich auch jetzt noch zu eigenthümlichen Missionen für die Zukunft aufbehaltenes, Glied mit der großen, Himmel und Erde durchreichenden, aus allen Völkern und Stimmen erwachsenden Gemeine der Kinder Abrahams nach dem Geiste sich zu verschmelzen.
Wie aber in Simeon und Hanna das lebendige Spiegelbild des beim Ziele seiner göttlichen Bestimmung angelangten Israels sich darstellt, so veranschaulicht sich uns in ihnen zugleich die geistliche Gestalt, zu welcher hinanzureifen der Beruf und das Bildungsziel der Menschheit überhaupt ist. Namentlich ist es Simeon, in welchem wir den leibhaftigen Typus des sittlich vollendeten und zum Höhepunkte seiner Menschenwürde hindurchgedrungenen Geschlechts der Sterblichen vor uns erblicken; und so wird denn der jubelnde Herold der erfüllten Weissagung ohne daß er es merkt auch wieder selbst zum herrlichsten Propheten. Wenn die Vergestaltung der Menschheit in sein Bild allseitig und schließlich wird vollzogen sein, und sie gleich ihm und seines Glaubens voll das Kind Mariens auf ihren Armen wiegt, dann hat auch sie das Ziel ihrer zeitlich möglichen Entwicklung und Verklärung erreicht. Welt, Sünde und Satan liegen als überwundene Mächte zu ihren Füßen, und gottgefällig und liebselig fährt sie, gleich Simeon, mit Frieden. Der große Weltsabbath, das ewige Weihnachtsfest ist da, und die Erde eine Hütte Gottes bei den Menschenkindern.“
Fr. W. Krummacher in Berlin.