Johann Ruysbroek

Dieser durch seinen heiligen Wandel und durch seine geistliche Erkenntniß berühmte Johannes ist von dunkler Abkunft. Sein Todesjahr ist bekannt, sein Geburtsjahr nicht: doch da man sein Alter kennt, so läßt sich berechnen, daß er im Jahr 1293 oder 1294 geboren sein muß. Sein Vater wird nirgends genannt, ist wahrscheinlich ein armer Landmann gewesen und früh verstorben; seine Mutter war eine fromme Frau im Sinne jener Zeit: ob sie die Sage veranlaßt hat, daß der Knabe, kaum sieben Tage alt, sich aus Gottes Kraft in dem Becken, worin die Hebamme ihn wusch, frei aufgerichtet, läßt sich nicht nachweisen. Den Namen Ruysbroek, der ihn in der Geschichte kenntlich macht, ist ihm nach einer in den mittlern Jahrhunderten häufigen Sitte von seinem Geburtsort beigelegt, einem Dorfe in Süd-Brabant, an dem Fluß Senne zwischen Brüssel und Hall gelegen: er war ein ächter Niederländer von deutscher, nicht von romanischer Abkunft und hat nur in seiner Muttersprache geschrieben. Von frühster Jugend an war er ganz auf das innere Leben gerichtet, dies zu beobachten und zu heiligen und dieser Sinn wurde in ihm durch den Zustand der Kirche genährt, der äußerlich glanzvoll und wenigstens in den Rheingegenden reich an Bildung, aber sittlich und geistlich verdorben war. Das ganze Rheinthal entlang war unter Priestern und Laien eine. selbständige Richtung auf innere Erkenntniß und Heiligung verbreitet und die trefflichsten Männer in diesen Landen, in Basels Straßburg, Köln und in den Niederlanden neigten sich auf diese Seite, wie die Namen Eckart, Tauler, Suso und viele Andere beweisen. Die Nachfolge Christi, um durch Selbstverleugnung und Reinigung des Geistes zur möglichsten Vollkommenheit, zur Vereinigung mit Gott, zu gelangen, dies war das Ziel, nach welchem die Frommen jener Zeit auf einem von Jahrhunderten her angebahnten Wege strebten.

Als eifriger frommer und fähiger Knabe wurde Ruysbroek von seiner Mutter einem Blutsverwandten, der Augustiner-Chorherr und Canonicus in Brüssel war, übergeben. Dieser nahm ihn in sein Haus und ließ ihn eine Schule besuchen, in welcher er vier Jahre blieb, aber kaum die ersten Schwierigkeiten der lateinischen Grammatik überwand. Länger hielt er es nicht aus und entsagte der Schulgelehrsamkeit, um allein auf dem Wege der innern Erfahrung sich weiter zu bilden. Seine Mutter kam öfter ihn zu sehen, wurde aber mit ihrer noch zu fleischlichen Mutterliebe von Andern und, wie es scheint, auch von dem heranwachsenden Jünglinge selbst, verhindert sich ihm zu nahen, wie sie wünschte. Sein Vorbild wirkte veredelnd auf ihr Herz zurück: sie begab sich in ein Haus, wo fromme Frauen gemeinschaftlich der Andacht lebten, und blieb daselbst bis an ihren Tod, zufrieden von ihrem Sohne zu wissen, daß er in Gottes Liebe wandelte, auch wenn sie ihn nicht mit leiblichen Augen sah.

In seinem 24. Lebensjahre wurde Ruysbroek zum Priester geweiht und bald nachher als Vicar an der St. Gudilakirche in Brüssel angestellt. So diente er als Weltpriester der Kirche bis in sein 60. Jahr und verwaltete sein Amt mit aller Treue, während der Geist ihn immer zur Einsamkeit und zur stillen Beschaulichkeit hinzog. Als er einmal so stillselig in seiner einfachen Priestertracht auf der Straße wandelte, sprach ein Brüsseler Bürger, der ihm nachsah, zu einem andern: „O daß ich doch auch so leben könnte, wie dieser Priester!“ worauf dieser erwiederte: „Um eine ganze Welt voll Gold möchte ich nicht an seiner Stelle sein: dann hätte ich ja keinen fröhlichen Tag mehr!“ Indem er dies Gespräch vernahm, dachte er bei sich selbst: „O du armer Mensch! hast nie erfahren, welche Süßigkeit die kosten, die den Geist Gottes geschmeckt haben.“ Bei allen seinen Entzückungen aber bewahrte ihn sein gesunder Sinn in der Demuth und er bekämpfte auch die geistliche Hoffart, wo er sie bei Andern entdeckte: so bei einer Frau, die damals in Brüssel sich aufhielt und im Rufe hoher Erleuchtung stand, daß man sagte, so oft sie sich dem Tische des Herrn nahe, würde sie von zwei Seraphim geleitet. Sie hatte ein hoch geistliches Buch vom Geiste der Freiheit und von der seraphischen Liebe geschrieben und viele Fromme hingen ihr an. Ruysbroek entdeckte und bekämpfte ihre gefährlichen Irrthümer furchtlos, ohne die Feindschaft ihrer zahlreichen Anhänger zu scheuen.

Zwei Meilen von Brüssel in einem großen Buchenwalde, Soujenbosch genannt, an dessen südlichem Ausgange das durch die Schlacht von 1815 berühmte Waterloo liegt, war ein Kloster Grünthal. Dahin zog sich ein damals neugestifteter Verein von regulirten Chorherrn des heiligen Augustin unter einen Propst Franco zurück: Ruysbroek, 60 Jahre alt, schloß sich ihnen an und wurde von ihnen zum Prior erwählt. Dort in der Einsamkeit des Waldes, in den Entzückungen heiliger Liebe, ganz in Gott verborgen, war er erst völlig in seinem Elemente und genoß im Alter reichlich, was er von Jugend auf gewünscht hatte. Gegen 28 Jahre lebte er daselbst noch in einem blühenden Greisenalter, bis er endlich nach fünfzehntägiger Krankheit im Kreise seiner frommen Brüder am 2. December 1381 sanft und selig entschlief. Als Prior des Klosters hauchte er der ganzen Gemeinschaft den Geist einer innigen aus Gottes Liebe fließenden Bruderliebe ein, daß man in diesem Kreise erfüllt sah, was Christus im hohenpriesterlichen Gebete für alle seine Gläubigen erfleht hatte. Von allen Seiten des Rheines kamen die ausgezeichnetsten Männer gleicher Richtung nach Grünthal, um den gottseligen Greis zu sehen und zu hören und sie fühlten sich in der Gemeinde der Heiligen, die sich um ihn versammelt hatte, wie in das himmlische Wesen versetzt. So Johann Tauler von Straßburg, Gerhard Groote von Kempen aus, der Ruysbroeks in brabantischer Muttersprache verfaßte Schriften gelesen. Gerhard, damals noch ein junger Mann, denn er ist im Jahr 1340 geboren, reiste in Begleitung des Rectors der Schule zu Zwoll, Johann Cele, der in der Liebe Christi mit ihm Ein Herz und Eine Seele war. Thomas von Kempen, der berühmte Verfasser des Buches von der Nachfolge Christi, hat uns in seiner Beschreibung von Gerhards Leben einen Bericht von der Einwirkung und Nachwirkung jenes Besuchs hinterlassen, der uns ganz in die Sphäre dieser Frommen versetzt. Ueberwältigend für Gerhard war sogleich der erste Eindruck, den er von dem ehrwürdigen Greise empfing, als dieser ihm an der Pforte entgegen kam und, wiewohl er ihn noch nie gesehn, wie aus göttlicher Offenbarung ihn mit seinem Namen holdselig begrüßte. Die Aermlichkeit und Einfachheit der Umgebungen diente nur dazu, die Erhabenheit der geistvollen Worte, die aus Ruysbroeks Munde flossen und die ihm nur zum Theil verständlich waren, desto fühlbarer zu machen. Mit neuer noch nie zuvor gekannter Inbrunst in der Liebe zum Herrn reiste Gerhard ab und schrieb dann an die Augustiner zu Grünthal: „Innigst wünsche ich euerm Propst und Prior empfohlen zu sein, dessen Fußschemel zu werden ich begehre sowohl in diesem als im zukünftigen Leben, weil meine Seele mit Liebe und Ehrfurcht an ihm hängt, mehr als an irgend einem andern Sterblichen. Noch brenne ich und seufze nach eurer Gegenwart, um von euerm Geiste erneut, durchwehet und erfüllt zu werden.“ Als im Jahr 1381 Ruysbroek starb, wurde sein Tod – so erzählt ferner der fromme Thomas – durch das Anschlagen der Glocken in Deventer, wo es auch einige Bürger vernahmen, Gerharden offenbart und einigen Freunden theilte er insgeheim mit, daß Ruysbroeks Seele, in Einer Stunde von allen Schlacken gereinigt, zur himmlischen Herrlichkeit eingegangen sei.

Seit dem dreizehnten Jahrhundert pflegten die ausgezeichneten Lehrer der Theologie mit ehrenden Beinamen bezeichnet zu werden. So hieß Bonaventura der Seraphische, ein Andrer der Feine, ein Andrer der Wundervolle, wieder Einer der Tiefsinnige. Ruysbroek, der zwar keine Schulbildung auf einer Universität genossen und noch weniger einen öffentlichen Lehrstuhl eingenommen, empfing von seinen Jüngern und von den Lesern seiner gottseligen Schriften den Ehrennamen des Entzückten (Nestatiens). Diese Bezeichnung war in so fern richtig, als er seine geistlichen Erfahrungen mit hohem Genuß den Stunden der Entzückung, der völligen Sammlung und Erhebung in die Sphäre des tiefsten Innern, verdankte. Es ist aber ein Irrthum derer, die auf diesem Gebiete nicht heimisch sind, wenn man meint, er habe nur in Gefühlen und Phantasieen geschwelgt. Auch die biblischen Allegorien und die Bilder, deren er sich in seinen Schriften bedient, beweisen dies nicht: sie dienen ihm vielmehr nur als Mittel, um sich denen, die seine innern Erfahrungen noch nicht theilten, durch Analogieen aus der Natur und Geschichte verständlich zu machen. Was seine Schriften erkennen lassen, ist vielmehr die schärfste Selbstbeobachtung auf dem abstraktesten Gebiete der inneren Seelenkunde und eine gewisse niederländische trockene Verständigkeit in genauer Sonderung der Zustände, die bei der inbrünstigen Richtung auf den Gottesgedanken, der nach seinem Begriffe ihm der höchste war, in fortgehender Steigerung auf einander folgten. Darin hat er nach seiner Begabung ein unübertroffenes Maaß erreicht und zu dieser Ausbildung trieb ihn nicht nur das Verlangen sich selbst zu verstehen und seinen Schülern die inneren Wege des Geistes verständlich zu machen, sondern auch die Sorge, sich und Andre vor naheliegenden Abirrungen in das Gebiet einer unchristlichen Mystik und pantheistischen Selbstüberhebung zu bewahren. Sah er sich doch von ausgearteten Brüdern und Schwestern des freien Geistes umgeben, die oft aus den Häusern der Frommen hervorgingen und in hochmüthige Selbstvergottung versielen. Seine christliche Demuth und Weisheit machte ihn wachsam und vorsichtig, um diese Abgründe zu vermeiden und Andre davor zu warnen. Dennoch hat die deutsche Theosophie überhaupt und Ruysbroek auch für seine Person dem Vorwurf nicht entgehen können, das Maaß der christlichen Besonnenheit überschritten zu haben. Der berühmte französische Gottesgelehrte und Canzler der Universität Paris Johann Charlier von Gerson, der einige Schriften des Grünthaler Theosophen in lateinischer Uebersetzung gelesen, erregte ernste Bedenken gegen manche kühne Aeußerung desselben, lange nach seinem Tode (im Jahre 1404). Nun fand zwar Ruysbroek bald (1406) einen eifrigen und geschickten Vertheidiger, der durch Vergleichung andrer Stellen aus seinen Schriften jene hochfliegenden Ausdrücke auf das rechte Maaß zurück zu führen wußte, und die christlich bescheidene Gesinnung des Grünthaler Prior wird durch seinen ganzen Wandel über allen Zweifel erhoben. Man muß auch zugestehen, daß die französischen Mystiker, auch die gründlichsten, zu eng auf die Sphäre der psychologischen Reflexion beschränkt, nie zu der speculativen Tiefe der deutschen Forschung sich haben erheben können. Aber trotz diesen Zugeständnissen läßt sich nicht leugnen, daß hie und da, insbesondere in dem von Gerson angegriffenen dritten Buche der Schrift von dem Schmuck der geistlichen Hochzeit, das vom „überwesentlichen beschaulichen Leben“ handelt, eine Ueberschätzung des speculativen Schauens hervortritt. Manche Leser werden es uns vielleicht danken, wenn wir eine kleine Probe aus dem ersten Capitel dieses Buches hier mittheilen. Ruysbroek schreibt:

„Diese Beschauung setzet uns in eine Reinigkeit und über allen Verstand, sintemal es eine sonderbare Zierde und Schmuck oder eine himmlische Krone aller Tugenden und alles Lebens ist. Hierher kann aber weder Erkenntniß noch Witz noch irgend welche Uebung der Askese in Fasten, Almosen und Gebet – kommen, sondern, wen Gott mit seinem Geist im Geist zu vereinigen und mit sich selbst zu erleuchten würdigt, der kann solchergestalt Gott beschauen, sonst kein Anderer. Selbst die verborgene Natur der Gottheit beschauet und liebet zwar ewig wirksam im Bereich der (göttlichen) Personen, aber in der Einheit der Wesenheit genießt sie ewig in der Umfassung der Creaturen. Und in dieser Umfassung sind alle andächtigen und innigen Geister in der wesentlichen Einheit Gottes mit Gott eines durch die liebeselige Versinkung oder Zerfließung in ihm, so daß sie aus Gnaden eben eins sind (und dasselbe), das diese Wesenheit in sich selber ist.“

„In dieser hohen Einheit aber der göttlichen Natur ist der himmlische Vater ein Anfang und Ursprung aller Wirkung, die im Himmel und auf Erden geschieht. Ja, er redet auch in den versunkenen oder verschlungenen Verborgenheiten des Geistes also: Siehe, der Bräutigam kommt! gehet aus ihm entgegen! welche Worte wir in diesem dritten Buche auf die überwesentliche Beschauung beziehen, welche ein Grund und Ende (Ziel) ist aller Heiligkeit und alles vollkommenen Lebens, so in diesem Leben geführt werden mag. Zu welcher Beschauung gewiß Wenige kommen, sowohl wegen ihrer eigenen Ungeschicktheit und Untüchtigkeit, als auch wegen der Schlupfwinkel und heimlichen Wege des Lichts, in welchem diese Beschauung geschieht. Daher auch Niemand das, was wir in diesem Buche sagen werden, nach eigener Betrachtung gründlich verstehen wird. Denn alle Worte und Alles, was nach Art der Creaturen verstanden werden kann, ist weit unter dem Wesen dieser Sache und unter der Wahrheit, die wir abzuhandeln vorhaben.“

„Demnach wer mit Gott vereinigt und durch diese Wahrheit erleuchtet ist, wird selbige durch sie selbst fassen und verstehen können: nämlich, er wird Gott über alle Gleichnisse, so wie er an und in sich selbst ist, fassen und verstehen, d. i. sich Gott mit Gott, ohne Mittel oder einige empfindbare oder vernehmbare Anderheit, welche ein Mittel oder Hinderniß machen könnte, zu sein fühlen: doch so, daß ich den Leser einmal für allemal erinnert haben will, allezeit im Gedächtniß zu behalten, daß die Creatur Creatur bleibe und niemals ihre Wesenheit verliere, welches zu sagen gar ungereimt wäre.“

Mit großer Nüchternheit hat Ruysbroek im zweiten Buche desselben Werkes die letzten Capitel dazu angewendet, den Irrthum zu bekämpfen, als ob Gott mit dem Menschen als Creatur ganz zusammenfließen und so vereinigt werden könnte, daß Gott Alles, der Mensch selbst gar nichts wirkte und daß die Werke eines solchen Menschen, er möchte thun, was er wollte, rein nur als Gottes Werke anzusehen wären, was damals, wie zu anderen Zeiten, unreine schwärmerische Geister behauptet hatten. Er verlangte als erste Vorstufe für die göttliche Beschaulichkeit einen reinen unbefleckten Lebenswandel und zürnte mit heiligem Unwillen den Geistlichen wie den Laien, die in Sünden lebten. Die Grundlage seiner Anweisung zur Vereinigung mit Gott und zum seligen Leben ist das hohepriesterliche Gebet des Herrn und insbesondere die Fürbitte für alle Gläubigen in jenen allerheiligsten Worten Joh. 17, 20-23. „Ich bitte aber nicht allein für sie (die eilf Jünger), sondern auch für die, so durch ihr Wort an mich glauben werden, auf daß sie alle eins seien, gleichwie Du, Vater, in mir und Ich in dir; daß auch sie in uns eins seien, auf daß die Welt glaube, Du habest mich gesandt. Und Ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die Du mir gegeben hast, daß sie eins seien, gleich wie Wir eins sind, Ich in ihnen und Du in mir, auf daß sie vollkommen seien in eins, und die Welt erkenne, daß Du mich gesandt hast und liebest sie, gleichwie Du mich liebest.“ Dieser Grundquelle seiner Gottesweisheit ist er sich auch klar bewußt und drückt dieses im ersten Capitel des dritten Buches der Schrift von dem Schmuck der geistlichen Hochzeit mit folgenden Worten aus: „Da sich nun dieses also verhält, bitte ich alle die, zu deren Händen dieses kommen möchte, daß, so sie es etwa nicht verstehen noch in der genießenden Einheit des Geistes fühlen oder erfahren möchten, sie hieraus keinen Anstoß nehmen, sondern es das, was es ist, sein lassen mögen, sintemal der Herr Jesus selbst, die ewige Wahrheit, solches an unterschiedlichen Orten des Evangeliums gelehrt hat, welches deutlich erkannt werden sollte, so wir es nur geschickt ausdrücken, erklären und auslegen könnten.“ Er fährt fort und weist auf den Weg, den der Herr selbst gezeigt hat, um zu dieser Vollkommenheit zu gelangen, Joh. 3, 3.: „Wer aber dieses verstehen soll, muß ihm selbst gestorben sein und in Gott leben.“ Dieses deutet er weiter aus, nicht unrichtig, aber freilich nur mit beschränkter Beziehung auf seinen nächsten Lehrzweck, die christliche Speculation: „Er muß sein Angesicht in dem Grunde seines Geistes, da sich die geheime und verborgene Weisheit ohne Mittel offenbart, zu dem ewigen Lichte kehren.“ Uebrigens dringt er in allen /einen Schriften, wie die andern theosophischen Theologen seiner Zeit, auf die Reinigung von Fleischeslust und Selbstsucht in jeder Beziehung, also auf die rechte Ertödtung und Verleugnung jeder ungöttlichen Eigenliebe und jedes unlautern Eigenbesitzes, sei dies nun eigen Gold und Gut oder eigne Weisheit und Gerechtigkeit.

Was ihm, wie allen Frommen seiner Richtung, weniger zugänglich war, das ist die Lehre von der Sünde und Versöhnung, wie sie im Briefe an die Römer und an die Hebräer, überhaupt in den apostolischen Briefen entwickelt ist. Aber auf dem Grunde der Bergpredigt unsers Herrn (Matth. Cap. 5-7) steht er fest, indem er den Weg zeigt zur Vollkommenheit in der Nachfolge Jesu. Die Versöhnung des Sünders durch Christi Blut setzte er voraus und genoß derselben täglich in der Messe: aber das Ziel seiner Lehre war die beschauliche Vereinigung mit Gott. Ohne die Schulgelehrsamkeit seiner Zeit studirt zu haben, stand er doch auf dem Grunde einer ererbten aus dem griechischen Alterthum herstammenden wissenschaftlichen Bildung und bildete selbst seinerseits seine theosophische Ethik zum System aus. Er war nicht, wie die meisten Theologen seiner Zeit Neu-Aristoteliker, aber er war Neu-Platoniker und stand mit Gregor von Nyssa, Pseudo-Dionysius, Johannes Erigena, Meister Eckart und den andern deutschen Theosophen des 14. und 15. Jahrhunderts auf den Schultern des Plotinus und Proclus. Darin liegt auch die schwache Seite seines Systems, die er übrigens mit allen jenen „deutschen Theologen“ gemein hat. Der Mangel beruht darauf, daß der Weg, auf welchem der einsame Denker zur Unterscheidung des Gottesbegriffs von dem Begriffe der Geschöpfe hinaufsteigt, schon für den vollkommenen Gottesbegriff gehalten wird, da doch das, was ihm und den andern trefflichen Forschern seiner Art das Höchste und das Ziel der Gottes-Erkenntniß zu sein schien, nur Vorbereitung, nur das Abc dieser Erkenntniß ist. Gott ist nicht, wie die Geschöpfe sind: darin hat er recht. Keine göttliche Eigenschaft, wie sie auch heiße, ist vor und außer Gott da, so daß sie dienen könnte, um das Wesen Gottes aufzubauen: selbst das gegebene Sein, wie es die Geschöpfe haben, ist von ihm nicht auszusagen. Gott ist über dieses Sein erhaben, eben weil er nicht Geschöpf ist. Gott ist überwesentlich, ist über Wesen und Sein in dem Sinne, wie wir beides an den Geschöpfen finden, erhaben. Gott ist in seiner höchsten Einheit gegenstandslos, eigenschaftlos, wesenlos, und als solches das ewig Eine, die absolute Stille, die ist und auch nicht ist. Der Mensch, der dazu gelangen will, Gott zu erkennen, muß daher allem Sein, allem Haben und allem Denken irgend eines Etwas entsagen und in vollkommener Sammlung nur auf das Abziehn seines Geistes von allem Gegebenen gerichtet sein. Dann kommt auch sein Geist in die Stille, in die völlige Freiheit und empfängt in sich den beseligenden Eindruck, zu sein im Allgemeinen, im Vollkommenen, in dem Absoluten. Jeder speculative Denker wird anerkennen, daß der Mensch, um fürs Erste von dem Gewirr eigner und fremder Gedanken und Meinungen, die ihn fesseln und zerstreuen, los zu kommen, diesen Weg gehen muß, und daß er erst, wenn er diesen Vernichtungsproceß alles Eigendünkels durchlebt hat, anfangen kann wirklich zu denken und den Gedanken Gott zu fassen. Aber diese Unbestimmtheit, diese Leere ist nicht Gott, sondern nur ein Zustand der Armuth, in welchem der geschaffene Geist sich anschickt, von Gott Gedanken zu empfangen. Gott ist nie und war nie das Unbestimmte, sondern Er ist der ewig sich selbst und Alles bestimmende, der in steter Eintracht mit sich selbst sich und Alles stets neu und anders bestimmende und geistig zeugende, sich selbst und Alles wissende und erkennende Schöpfergeist, der wirkend spricht: Ich bin; Ich bin, der Ich bin. Zu diesem Begriffe kommt der auf neuplatonischem Grunde stehende christliche Theosoph, ein Eckart, Tauler, Ruysbroek, wohl auch. Aber es bleibt dabei der Fehler, daß jenes Unbestimmte, wovon man ausging, als das Höhere angesehn wird, aus welchem der wirkliche lebendige Gott nur als ein Zweites abgeleitet wird, und daß der Denker meint, die höchste Stufe habe er gerade dann erreicht, wenn er brütend und sinnend noch – nichts denkt. Diese Verwechselung ist sehr folgenreich. Die Offenbarung Gottes in der Schöpfung und Heilsgeschichte ist für diese Geistesrichtung nur in so weit vorhanden und brauchbar, als sie Beispiele oder Bilder für das Abziehen des Geistes von Natur und Geschichte darbietet: die Erkenntniß und das Verständniß der großen Werke Gottes wird nicht gefördert sondern gestört: der Theosoph fürchtet von dieser Seite nur Zerstreuung, weil seine Wissenschaft von Gott ihm keinen Schlüssel dazu darbietet. Schätzbar ist der reine Sinn und Wandel und der starke christliche Charakter, den die Männer dieses Sinnes bewähren und Ruysbroek leuchtet als ein Muster heiliger, gottseliger Milde weit durch die Lande. Was aber die Nachfolge Christi betrifft, so gilt von ihm, wie von den Andern, daß nur das Kreuztragen und die Selbstverleugnung Christi als Vorbild betont wird, da doch der Herr nicht sagt, daß seine Nachfolge lediglich in dieser Entsagung bestehe, sondern nur, daß dieselbe unerläßliche Bedingung der Nachfolge ist. Auch hier sehen wir die Nachwirkung des unvollkommenen Begriffs von Gott, der hauptsächlich nur als eine Abgezogenheit von allen Dingen gedacht wird. Der Herr aber Jesus Christus ist ein Thäter von Thaten und selbst sein Versöhnungsleiden ist eine große hochheilige That und er spricht: „Thuet, was ich euch gebiete“. Die That ist das Höchste, nicht die Beschaulichkeit. Ehren wir dankbar die Gestalt der christlichen Frömmigkeit, die in Ruysbroek und seines gleichen so würdig uns begegnet, aber bleiben wir nicht bei derselben stehen, als ob sie das Höchste wäre.

H. E. Schmieder in Wittenberg.

Evangelisches Jahrbuch für 1856
Herausgegeben von Ferdinand Piper
Siebenter Jahrgang
Berlin,
Verlag von Wiegandt und Grieben
1862