Der Verfasser des zweiten Evangeliums hieß eigentlich mit seinem israelitischen Namen Johannes. Denn der Marcus, welcher uns nach dem Zeugnis der alten Kirche dieses Evangelium hinterlassen hat, ist derselbe, welcher in der Apostelgeschichte zuerst Johannes Marcus genannt wird (Kap. 12, 12. 25.), sodann Johannes (Kap. 13, 5. 13.), endlich aber bloß Marcus (Kap. 15, 39.). Man sieht deutlich, der Evangelist Lucas redet in allen diesen Fällen von demselben Mitglied der apostolischen Gemeine, von demselben Apostelgehülfen, welcher den Christen seiner Zeit allgemein gar wohl bekannt war. Marcus war der Sohn einer angesehenen Christin zu Jerusalem, in deren Hause die Gläubigen nach der Sitte jener Zeit in besonderen Hausgemeinen sich versammelten. Sie muß sich mit Hingebung der Sache Christi geweiht haben, denn damals gerade, als der ältere Jacobus durch das Schwerdt hingerichtet worden war, und Petrus nur durch ein Wunder aus dem Gefängnis entkam, aus welchem ihn Heros des Agrippa zum Tode wollte abführen lassen, waren viele der Gläubigen in ihrem Hause versammelt zum Gebet, und hier war es, wo Petrus zuerst wieder eine Zuflucht fand. Der Sohn einer solchen Christin, welche sich den andern heldenmüthigen Marien der evangelischen Geschichte so entschieden anschloß, konnte mit der Kraft des Christenthums früh vertraut werden. Der Apostel Petrus soll ihn bekehrt haben. Schon früh widmete er sich als Apostelgehülfe der Ausbreitung des Christenthums, indem er sich dem Apostel Paulus und dem Gefährten desselben, Barnabas, der sein Verwandter war, auf ihrer Rückreise von Jerusalem nach Antiochien anschloß und sodann an ihrer ersten Missionsreise über Syrien und die Insel Cypern nach Kleinasien hinaus Theil nahm (Apostelgesch. 12, 25.). Er kam mit ihnen bis Perge in Pamphylien. Hier aber nahm er Abschied von ihnen, und kehrte nach Jerusalem zurück; wie es scheint ohne genügenden Grund. Denn als eine Zeit lang nachher die beiden apostolischen Männer zum zweiten Male auszogen, wünschte Barnabas, der milde Levit aus Cypern, der unter den Ersten gewesen war, welche ihre Habe der apostolischen Gemeine geschenkt hatten, und der Erste, welcher dem neubekehrten Paulus in Jerusalem Vertrauen geschenkt, und ihn bei den Aposteln eingeführt, wiederum seinen Vetter als Begleiter mitzunehmen. Paulus aber hielt es für unzulässig, den jungen Missionsfreund, der auf der ersten Reise seine Festigkeit nicht erprobt hatte, jetzt wieder in die frühere Stellung eintreten zu lassen. Jeder mochte für seine Ueberzeugung besondre Gründe haben, die der Andere nicht ganz sich aneignen konnte; genug: sie kamen in scharfer Spannung dazu, sich zu trennen, um die Reise in verschiedener Richtung anzutreten. Während nun Paulus geradezu von Syrien nach Cicilien reiste, schiffte Barnabas mit dem Marcus nach Cypern. Bei dieser Gelegenheit nennt ihn Lucas zuerst ausschließlich mit dem Namen Marcus((Wahrscheinlich fing Marcus hier zuerst an, seinen römischen Namen statt des jüdischen Namens Johannes ausschließlich zu führen, eben so wie auch Paulus auf der Insel Cypern, ohne Zweifel in der Wechselwirkung mit römischen Sitten, Gebräuchen und Namen den jüdischen Namen Saulus abgelegt hatte, um den Namen Paulus zu führen. So wie aber der Saulus noch einen besonderen Grund fand, sich mit dem bescheidenen Namen Paulus (welcher den Kleinen oder Geringen bezeichnet) zu schmücken im Gegensatz gegen den Bar Jesu, welcher sich Elymas oder Zauberer (den Zauber-mächtigen) nannte; so mochte auch Marcus es gerathen finden, in aller Demuth jetzt den Johannesnamen bei Seite zu legen, da es sich um eine neue Bewährung nach schwerer Demüthigung handelte.)). Es ist ein Zeugnis für den Geist des Friedens, der in den apostolischen Männern lebte, wenn sie auch in ihren Unternehmungen nicht immer die gleichen Wege gehen konnten, daß wir später den Marcus wieder unter den Genossen des Apostels Paulus während seiner ersten Gefangenschaft in Rom antreffen (Coloss. 4, 10. Philem. 24.). Dies war ungefähr um das Jahr 62. Etwas später dagegen finden wir ihn in der Gesellschaft des Petrus zu Babylon (1 Petri 5, 13.), von wo aus Petrus den Christen, an welche er schreibt, Grüße von seinem „Sohn Marcus“ mit bestellt. Da nun Paulus zur Zeit seiner zweiten Gefangenschaft dem Titus den Auftrag gibt, er möge den Marcus mit nach Rom bringen (2 Timoth. 4, 11.), so hat sich Marcus wohl um die Zeit vom Jahre 64 oder 65 ungefähr in Babylon aufgehalten. Wenn wir ihn aber so abwechselnd im Dienste des Paulus und des Petrus finden, so ist er und damit ein lebendiger Bürge für die vollkommene Uebereinstimmung zwischen den beiden großen Aposteln der Juden und der Heiden; eben so wie Silvanus, der ein Freund des Paulus war, auch bei Petrus Gehülfendienste besorgte.
Nach dem Zeugnis der Kirchenväter war Marcus ein Hermeneut (Dolmetscher) des Petrus bei seinem apostolischen Werke. Einzelne derselben berichten uns insbesondere, wie er mit dem Petrus in Rom gewesen, von da nach Aegypten abgeordnet worden, und dort christliche Gemeinen gegründet habe, namentlich in Alexandrien. Mit großem Erfolg wirkte er hier, und gewann namentlich viele der griechisch – jüdischen Asketen für die christliche Kirche. Gegen das Ende der Regierung des Nero soll er ein Opfer der Volkswuth geworden und als Martyrer gestorben sein, nach dem er durch ein himmlisches Gesicht gestärkt worden. Seine Reliquien haben die Venezianer von Alexandrien herüber geholt, und ihn als ihren gefeierten Schutzpatron durch eine prachtvolle Kirche verherrlicht.
Die kirchliche Sage hat sich mit seinem Namen viel beschäftigt. Man unterschied den Evangelisten Marcus von dem Johannes Marcus, und von beiden den Verwandten des Barnabas. Den Evangelisten insbesondere aber verherrlichte man auch dadurch, daß man ihn zu den 70 Jüngern des Herrn rechnete, wogegen freilich schon das Zeugnis eines sehr alten Kirchenvaters, des Papias sprechen mußte. Eine Dichtung, welche allerdings zu der raschen feurigen Art seines Charakters paßt, ist die Sage, er sei mit unter den Jüngern gewesen, welche sich über die Worte Christi, daß man sein Fleisch essen und sein Blut trinken müsse, geärgert (Joh. 6, 66.); ihn aber habe das Wort des Petrus wieder gewonnen. Mit mehr Grund hat man jenen Zug, den er selbst erzählt (Kap. 15, 41.) von einem Jüngling, der in der Nacht der Gefangennehmung Jesu im leichtesten nächtlichen Ueberwurf dem gefangenen Herrn nachfolgte, dann aber entfloh, als ihn die Häscher ergreifen wollten, und dabei das Leintuch, das ihn bedeckt hatte, in den Händen derselben zurückließ, auf ihn bezogen. Denn darin spiegelt sich allerdings seine natürliche feurig rasche, aber auch wandelbare Gemüthsart, deren Sündliches noch nicht ganz überwunden war, als er so rasch bereit war, dem großen Heidenapostel in sein gefahrvolles Missionsfeld zu folgen, und ihn dann mitten im Zuge wieder verlassen konnte. Die Weihung dieser Gemüthsart durch den Geist Christi tritt aber darin erbaulich und erhebend hervor, daß dieser Johannes Marcus später wie ein junger Löwe sich auf dem Kampfplatz der Kirche finden läßt, indem er die gefährlichsten Punkte auswählt, bald in der alten heidnischen Weltstadt Babylon, bald in der neuern, in Rom auftritt, und dabei den gewaltigsten Streitern unter den Aposteln zur Seite steht, bald dem Paulus und bald dem Petrus. Dieses schöne Lebensbild eines vorzugsweise feurigen, herzensfrischen und tapfern Christen, der seinen Herrn am liebsten als den großen Welteroberer anbetet und verkündigt, hat sich denn auch seinem Evangelium aufgeprägt.
Nach der Ueberlieferung der Kirchenväter hat Marcus dieses Evangelium um die Zeit des Märtyrertodes Petri zu Rom, also ungefähr um das Jahr 68 in Rom abgefaßt. Nach Clemens von Alexandrien und Eusebius hätte er das Evangelium noch bei Lebzeiten des Petrus abgefaßt; dem Irenäus zufolge aber erst nach dem Tode des Petrus. Wahrscheinlich bezieht sich die letztere Nachricht auf die spätere Bearbeitung eines früheren Entwurfs. Da Marcus mit seinem ursprünglicheren Namen Johannes hieß, so könnte man die Bemerkung machen, daß wir zwei Johannes-Evangelien besitzen. Allein wie so ganz passend ist dieses zweite Evangelium mit dem römischen Namen unseres Evangelisten geschmückt worden! Die alte Kirche hat dasselbe ganz treffend mit dem Zeichen des Löwen nach jenem geheimnißvollen Thierbilde bei dem Propheten Ezechiel (Kap. 1,10) bezeichnet. Denn dieses für die thatkräftigen Römer zunächst abgefaßte Evangelium des thatfrohen Evangelisten ist eben vorzugsweise das Evangelium von dem Löwen aus Juda, von der welterlösenden That Christi. Und in diesem Geiste stützt es sich auch auf die Erinnerungen und Predigten des thatmächtigsten unter den zwölf Aposteln, des Petrus.
Daher treten in dem Evangelium des Marcus denn auch die Mittheilungen aus der Lehrthätigkeit Christi, besonders der größeren Lehrreden verhältnismäßig sehr zurück. Christus steht in seiner Anschauung vor Allem da als die urfrische, welterschütternde und weltüberwindende Gotteskraft der erlösenden Liebe, und dieser Anschauung entspricht seine gemüthliche, volksthümliche und malerische Darstellung. Marcus ist also der Evangelist des herrlichen Heldenthums Christi, und mithin auch der Verklärung alles frommen Heroenthums in der Welt. Von ihm lernen wir es besonders, wie Christus sich als der ewige Sieger erweisen will in unserem Herzen und Leben, und wie wir in seiner unendlichen Kraft glaubensmuthig überwinden sollen die Welt.
J. P. Lange in Zürich.