Thomas von Kempen

Thomas von Kempen

Thomas a Kempis.

„Bleibet in demüthiger Einfalt und Christus wird in euch bleiben,“ so sprach der fromme Vater Florentius, als er am Tage Maria Verkündigung des Jahres 1400 in einem Alter von 50 Jahren starb. Daß diese letzte Ermahnung des sterbenden Meisters vielen seiner Schüler ein bleibender Segen geworden, unterliegt wohl kaum einem Zweifel. Gewiß aber ward sie von keinem mit größerer Treue und Standhaftigkeit befolgt, als von seinem treuen Biographen – gleichsam der Elisa dieses Elia – von Thomas von Kempen, der schon als Jüngling zu seinen Füßen saß, als Mann sein Andenken ehrte und erst siebenzig Jahre später als Greis ihm in die ewige Ruhe folgte. So sehr war Thomas in demüthiger Einfalt geblieben, daß er sich fast eben so viel Mühe gab, sich dem Auge der Welt zu entziehen, als Andere es sich angelegen sein lassen, die Bewunderung der Menschen zu erlangen. „Trachte unbekannt zu bleiben“ ist lebenslang sein Wahlspruch geblieben und siehe – wir finden wenige Namen in der Geschichte der lebendigen Kirche des Herrn mit höherem Glanze umgeben. Es ist als habe Gott gerade diesen Mann allen folgenden Jahrhunderten hinstellen wollen als eine Bestätigung der Wahrheit: „wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöhet werden.“ Sein Ruhm ist ein allgemeiner geworden. Er gehört nicht allein der oben erwähnten Gemeinschaft vom gemeinsamen Leben an, als deren höchste Zierde sein Name lieblich glänzt. Er gehört nicht einmal ausschließlich der römisch-katholischen Kirche an, die diesen Klosterbruder mit Recht zu den Herrlichsten ihrer Glieder zählt. Der Name Thomas a Kempis gehört der ganzen Christenheit, gehört allen christlichen Confessionen an. Fast überall wohin auch bis jetzt die frohe Botschaft vom Heil in Christo gedrungen ist, da fand auch sein Büchlein von der Nachfolge Christi in mancherlei Zungen den Weg zu den Herzen der Jünger. Und wiewohl er in dem vollsten Sinne des Wortes ein treuer Sohn der irrenden Mutterkirche von Rom gewesen und dies bis zu seinem Ende geblieben ist, so darf sein Bild doch darum keineswegs unter den Lebensbildern zum evangelischen Kalender fehlen. Wir geben deshalb hier eine kurze Uebersicht seines Lebens; stehen dann bei seinem schon genannten Hauptwerke einen Augenblick still und suchen endlich die Stelle anzuweisen, die er unter den Vorläufern und Wegbereitern des großen Reformationswerkes einnimmt.

Thomas Hamerken (Hämmerlein, lat. Malleolus) wurde geboren um das Jahr 1380 in dem kleinen, aber freundlich gelegenen Städtchen Kempen, unweit Köln, in den cleveschen und bergischen Landen, unter dem kirchlichen Gebiete des Erzbisthums Köln. Von diesem Orte (nicht von Kampen in Oberyssel) entlehnte er seinen Namen. Seine Eltern gehörten dem einfachen, unbemittelten Bürgerstande an, doch genoß auch unser Thomas das hohe Vorrecht, welches mehreren hervorragenden Männern der Kirche zu Theil geworden war: er war von einer frommen Mutter erzogen worden. „Schon sehr frühe,“ sagt sein ältester Biograph, „wurde er durch die Ermahnungen seiner ganz besonders frommen Mutter mit Liebe zur Religion erfüllt.“ Zu gleicher Zeit gab sein Vater, ein bescheidener Handwerksmann, ihm ein würdiges Vorbild an Thätigkeit, Ausdauer und Herzenseinfalt, so daß man wohl sagen kann, das ora et labora (bete und arbeite) ward ihm von beiden Eltern schon sehr früh eingeprägt, wie dies denn auch in immer höherem Maße die Lebensregel des Sohnes geblieben ist, der in einem Alter von 12 Jahren die elterliche Wohnung verließ.

Doch es war nicht die Sucht nach irdischer Ehre noch das Verlangen nach Geld und Gut, das ihn antrieb in so zartem Alter nach Deventer in Oberyssel zu ziehen, wohin sein älterer Bruder, Johannes, ihm schon vorausgegangen war. Sein Verlangen war, die damals so berühmte Schule der Brüder vom gemeinsamen Leben in jener Stadt zu besuchen, deren guter Name bis zu seinen Ohren gedrungen war, in welcher Anstalt auch solche Schüler, denen es an den erforderlichen Geldmitteln fehlte, Aufnahme und Unterricht fanden. Gerhard Groot traf er dort nicht mehr an, wohl aber gestaltete sich bald ein freundschaftliches Verhältniß zwischen ihm und Florentius, welcher letztere ihm auch das erforderliche Schulgeld verschaffte. Wie nach ihm der Chorschüler Luther zu Eisenach, so fand auch unser Thomas bei einer gottseligen Frau eine freundliche Aufnahme und liebevolle Unterstützung, welche Liebesbeweise er seinerseits durch einen anhaltenden Eifer, eine aufrichtige Gottesfurcht und eine liebenswürdige Bescheidenheit erwiderte, indem er sich vor vielen seiner Mitschüler gerade hierin vortheilhaft auszeichnete. Außerdem nahm er mit großer Gewissenhaftigkeit Theil an den religiösen Uebungen der Brüder, worauf er auch später definitiv in das Bruderhaus aufgenommen wurde. Hier schloß er eine innige Freundschaft mit dem eifrigen und frommen Jüngling Arnold von Schoonhoven, dessen Bett- und Stubengenosse er war und mit welchem er sich täglich im Schreiben und Lesen der heil. Schrift übte. Aus der Art und Weise, in welcher Thomas über diesen seinen Jugendgefährten hier und da redet geht deutlich hervor, daß er schon frühe der wichtigen Ermahnung des Apostels nachzukommen strebte: „Durch Demuth achte einer den andern höher als sich selbst“ (Phil. 2, 3). Doch noch mehr als das Vorbild Arnolds wirkte das des Florentius auf ihn, dem er als seinem geistlichen Vater dann auch eine unbegrenzte Pietät stets bewiesen hat, und auf dessen Rath er in seinem 20. Lebensjahre beschloß, dem bewährten Drange seines Herzens zu folgen und dem Klosterleben sich zu widmen. Mit einem Empfehlungs-Briefe des geliebten Meisters versehen, begab er sich nach einem Kloster der regulierten Chorherrn des heil. Augustinus, das der heil. Agnes gewidmet war und unweit der Stadt Zwolle in einer gesunden freundlichen Gegend auf einer kleinen Anhöhe lag. Beschränkt und nur wenig bekannt war dieses Kloster, doch unser junger Bruder ließ sich weder durch diesen Umstand, noch durch die Armuth dieser Anstalt zurückhalten – seine Begierde war dort vor der Welt verborgen ganz in der Gemeinschaft seines Herrn und Gottes zu leben. Im Jahre 1399 wurde er zu einem fünfjährigen Noviziate aufgenommen, worauf er später, im Jahre 1406 eingekleidet wurde und das folgende Jahr das Klostergelübde ablegte; erst im Jahre 1413 wurde er daselbst zum Priester geweihet. Wie heilig ihm insonderheit auch dies letztgenannte Amt war, geht aus einer Stelle der „Imitatio“ hervor, welche er etwa um diese Zeit geschrieben hatte: „Siehe, Priester bist du geworden“ – so spricht die Stimme des Herrn zu ihm, 4. B. 5. H. – „und zur Feier des Sacraments geweiht. Siehe nun zu, daß du getreu und andächtig zu seiner Zeit Gott das Opfer bringest, und dich selbst untadelhaft darstellest. Nicht erleichtert hast du deine Last, sondern gebunden bist du nun mit noch engeren Banden der Zucht und gehalten zu größerer Vollkommenheit der Heiligkeit. Ein Priester muß geschmückt sein mit allen Tugenden, auf daß er Anderen ein gutes Beispiel gebe. Er darf nicht wandeln auf den gewöhnlichen und gemeinen Wegen der Menschen, er muß umgehen mit den Engeln im Himmel oder mit den vollkommensten Menschen auf Erden.“

Ein Mann, der so hohe Begriffe von seiner kirchlichen Würde hegte, wird sicherlich auch die täglichen Pflichten, welche das Klosterleben ihm auferlegte, mit einfältiger Treue und regem Eifer erfüllt haben. Und wirklich berechtigt uns Alles, was wir in dieser Hinsicht von ihm kennen, in Thomas ein seltenes Maß jener Treue im Kleinen zu rühmen, der der Herr selbst eine so große Belohnung zugesagt hat. Seine feste Regel war: nie ganz müßig zu sein, sondern die Zeit zuzubringen mit Lesen oder mit Schreiben oder im Gebet oder in Betrachtungen oder in nützlichen Verrichtungen für Andere. Insonderheit hatte er große Freude an schöngeschriebenen Büchern und betrachtete er es als eine eigentliche Andachtsübung, das Gute und Heilige auch auf diese Weise zu ehren. „Noch ist eine ganze Bibel von ihm vorhanden“ – sagt einer seiner ältesten Biographen – „wie auch ein sehr großes Meßbuch und einige Werke des heil. Bernhard, die man der Schönschreibekunst und dem unermüdlichen Fleiße des Thomas zu verdanken hat.“ Auch seine von ihm selbst verfaßten Bücher von der Nachfolge Christi hat er öfter abgeschrieben, in Folge dessen auch der langjährige Streit über die Frage, ob er selbst deren Verfasser sei oder nicht, entstanden ist, indem er sich selbst aus übergroßer Bescheidenheit, oder vielleicht auch mit kindlich naiver Freude über die Schönheit seiner Schrift nur als Abschreiber nennt.

Bei alle dem entzog er sich jedoch nicht den kleineren Pflichten des häuslichen Lebens. Eine Zeit lang war er Procurator oder Oeconom und auch in dieser Eigenschaft suchte er die Marthapflichten, wie er diese in seinem lieblichen Büchlein „von dem getreuen Haushalter“ nennt, mit mütterlicher Treue zu erfüllen, wie wenig übrigens auch solch‘ eine Stelle seiner Privatneigung entsprechen konnte. Der Gedanke erfüllte ihn dabei mit Freude, daß durch seine Sorgfalt die Armen Christi (die Mönche) Erleichterung fänden und durch seine Arbeit die Anderen zu ruhen vermöchten. „Martha,“ schreibt er im Blick auf derartige äußerliche Verrichtungen, „Martha diene, arbeite und schaffe Gutes vor Gott und den Menschen, daß ihre Schwester Maria göttliche Dinge um so freier abwarten kann. Sei nur getreu, Martha, in deinem Dienste, diene also, trage, sorge, rüste, was Noth thut zu diesem Leben, in der Küche, in der Brauerei, im Keller, im Aussäen des Getreides, in der Mühle, was es sein mag, es bedürfen deines Dienstes die Diener Christi und ohne deine Sorge sind sie nicht frei in Gott.“ Er ermahnt sich selbst ausdrücklich, daß beide, der Maria- und der Martha-Stand zusammengehören und daß beide sich befleißen sollen, Christum gemeinsam zu beherbergen. Vor Allem benutzte er auch diese Gelegenheit zur Selbstkenntniß, da gerade die Besorgung zeitlicher Angelegenheiten ihm hierzu ganz besonders geeignet erschien: „ich glaube,“ sagt er, „daß Niemand vollkommen weiß, wie es innerlich um ihn steht, als wenn er anfängt, sich mit zeitlichen Dingen abzugeben und äußere Sorgen zu haben.“ Vor der Gefahr sich zerstreuen zu lassen, war er indessen zu gleicher Zeit auf seiner Hut, denn „alle zeitlichen Sorgen sind gefährlich, daher, so oft Zeit erübrigt, man sich in himmlischen Dingen üben soll. Wer das Amt der heiligen Martha getreu zu erfüllen sich bestrebt, der wird auch wohl zuweilen gewürdigt, die Süßigkeit der sich so selig fühlenden Maria zu genießen und in der Stille göttlicher Vertröstung und Ansprache verweilen zu dürfen.“

Nach solchen Grundsätzen handelte Thomas, solche Grundsätze leiteten ihn sowohl in den kleinsten als in den größeren Verrichtungen und Sorgen des Alltagslebens, und einen solchen Mann wird und darf man ebensowenig zu dem großen Haufen der trägen Bettelmönche zählen, als zu den Anhängern eines kränklichen Mysticismus. Im Gegentheil, man wird sich weit eher geneigt fühlen, Thomas a Kempis mehr unter den ascetischen als unter den eigentlich mystischen Schriftstellern seines Zeitalters einen Platz anzuweisen. Daß aber einem Geiste und Herzen, wie dem seinigen, die Einsamkeit seiner Zelle nicht noch unendlich begehrlicher sein mußte, als die mit dem ihm anvertrauten Schaffneramte verbundenen Berufsgeschäfte, bedarf wohl kaum einer Erwähnung. Die Amtsgeschäfte wurden ihm zuweilen für kürzere Zeit abgenommen, und dann benutzte er diese ihm köstlichen Stunden mit doppelter Freude an dem geliebten Schreibtische zum Studium und zu gottseligen Betrachtungen, oder er nahm es auch bereitwillig an, daß man ihn zum Sub-Prior und später auch noch zum Novizenmeister erwählte, welches letztere Amt ihm um so erwünschter sein mußte, da der Ruf seiner Frömmigkeit allmählig mehrere Jünglinge bewog, die Aufnahme in sein Kloster zu begehren. In seinem 67. Lebensjahre (1447) wurde er zum zweiten Mal als Sub-Prior angestellt und blieb in der Ausübung dieses bescheidenen Amtes, wie es scheint, bis zu seinem Lebensende, mithin noch beinahe 25 Jahre lang.

Natürlicherweise konnte ein Leben wie das seinige nicht ohne große Einförmigkeit sein. Es erinnert uns unwillkürlich an ein stilles, krystallhelles Bächlein, das sich mit leisem Gemurmel durch ein ebenes, flaches Thal hinschlängelt und die Strahlen der meistens unbewölkt scheinenden Sonne in seinem Wasser abspiegelt. Oder wir stellen uns das Kloster, in welchem Thomas über 70 Jahre lang verweilt und das ihm seinen größten Ruhm zu danken hatte, als den sicheren Hafen vor, in welchen er schon frühe sich zurückgezogen und wo er vor den Stürmen des um ihn her tobenden, ungestümen Oceans sicher und ruhig lag. Dennoch mußte auch er erfahren, daß selbst in geweiheten Klostermauern kein ungestörter Friede wohnt. Die Provinz Oberyssel, und mit ihr auch das St.-Agnes-Kloster, wurde nämlich mehrere Male in seinen Jahren durch die Pest heimgesucht, – am schwersten in den Jahren 1421, 1450, 1452, 1454 – deren Schlachtopfer Thomas in seiner unmittelbaren Nähe fallen sah; ihre Namen hat er selbst in der Anstaltschronik verewigt. Auch die Angriffe, welche die katholische Geistlichkeit und insonderheit ein Dominikaner-Mönch, Grabow, auf allerlei Weise gegen die Brüder vom gemeinsamen Leben richtete, brachten ihn in manche Ungelegenheit. Noch mehr aber wurde sein Glaube und seine Geduld auf die Probe gestellt, als er wie auch die anderen Klosterbrüder nicht weniger als drei Jahre in Verbannung leben mußte. Es war nämlich zwischen dem Papste Martin V. und dem Bisthume von Utrecht über die Wahl eines geistlichen Oberhauptes ein Streit ausgebrochen, und dieser Streit hatte zur Folge, daß ein Theil von Oberyssel, der sich dem Statthalter Christi in Rom widersetzt hatte, mit dem päpstlichen Interdict belegt wurde. Da nun die Brüder zu St. Agnes ganz auf der Seite des Papstes standen und also das Abhalten des Gottesdienstes verweigerten, wurden sie durch ihre bürgerlichen und politischen Gegner gröblich beleidigt und selbst gezwungen das Land zu räumen. Dies war im Jahre 1429. Vier und zwanzig Kanoniker aus St. Agnes, unter welchen sich auch Thomas befand, der gerade damals zum ersten Mal Sub-Prior geworden war, wurden genöthigt nach Friesland zu flüchten, wo sie in dem Stifte Lünekerk so lange blieben, bis der im Jahre 1432 erfolgte Tod des Papstes dem Streite ein Ende machte und das Aufheben der Excommunication die Spannung in Oberyssel auflöste, so daß die Klosterbrüder in Frieden zurückkommen konnten. Unserem Thomas wird es in jener Zeit wohl nicht an innerem Streit und äußeren Mühseligkeiten gefehlt haben. Wenigstens versichert der unbekannte Berichterstatter in der Klosterchronik über dessen Absterben, „daß er insonderheit im Anfange große Noth, Versuchung und Arbeit getragen hat“, und er selbst erklärt irgendwo, da er vor allzu großem Vertrauen auf Menschen warnt, nachdrücklich: „ich bin es gelehrt worden zu meinem eigenen Schaden und, wollte Gott, zu größerer Behutsamkeit und nicht um neue Thorheiten zu begehen“.

Mit Ausnahme dieser temporären Stürme, sehen wir in Thomas ein Stillleben von der edelsten Art, ja es ist in seiner ganzen Erscheinung etwas, das unwillkürlich an jene charakteristischen Bilder der niederländischen Malerschule aus dem 15. Jahrhundert uns erinnert. Daß er mit den andern Brüdern stets in Frieden lebte, unterliegt wohl kaum einem Zweifel bei einem Manne, der als Lebensregel für den Umgang mit Anderen die Vorschrift gab: „Besser ist es in Hinsicht auf Dinge, die gethan werden müssen, in bittendem als in befehlendem Tone zu sprechen. Sei bereit, jeden zu befriedigen, der etwas von dir verlangt, aber laß auch niemand neben dir müßig stehen. Handle, was die kleinen, weltlichen Dinge angeht, ohne viel davon zu sprechen, und folge in größeren und geistlichen Angelegenheiten dem Willen deiner Vorgesetzten. Mische dich nicht in Dinge, die deiner Sorge nicht befohlen sind. Der Habsüchtige hat immer Mangel, dem gläubig Vertrauenden gehört die ganze Welt mit allen ihren Schätzen.“ Aber noch gewisser ist es, daß er ein reiches Maß des Friedens für sich selbst genoß und in mancher Hinsicht dem Bilde eines ächten Gottesmannes entsprach, das er irgendwo mit folgenden Worten entworfen hat: „Heiteren Angesichts, ruhig und angenehm im Reden, vorsichtig und ordentlich in allen Thaten, überall Frieden und Segen um sich her verbreitend.“ Er war eine ganz contemplative Natur und in hohem Maße bekannt mit dem bei Gott verborgenen Leben in Christo, wovon der Apostel, Col. 3,3 redet. Selten sprach er ohne Noth, und besonders dann nicht, wenn das Gespräch ausschließlich über weltliche Gegenstände handelte; wie ein Strom flossen hingegen seine Worte, wenn man über Gott und über geistliche Dinge sprach. In eifriger und gewissenhafter Benutzung der Zeit konnte er einem Jeden zum Vorbild dienen. Bei der ersten Frühmesse selbst war er immer der erste, und hatte er einmal sein Lager verlassen, so suchte er dies später, selbst wenn er sich etwas unwohl fühlte, nicht wieder auf, sondern er setzte sich alsbald an die Arbeit, schrieb entweder treffliche Bücher ab oder zeichnete die Frucht seiner eigenen Betrachtungen auf. Nur die allerunentbehrlichste Ruhe gönnte er seinem Körper und wenn spät am Abend der Vesper oder des Gloria letzte Töne verklangen, dann war immer wieder Thomas der letzte Bruder, der das Chor der Klosterkapelle verließ. Wo er nur konnte förderte er die Interessen der Bruderschaft, der er sich mit ganzer Seele verbunden fühlte, und auch dann, wenn Fremdlinge, zuweilen aus fernen Ländern kamen, um ihn zu sehen und zu hören, zog er nimmer sich ängstlich zurück. Er predigte selbst von Zeit zu Zeit, wahrscheinlich in der Landessprache und meistens aus dem Stegreife, nachdem er nur etwas seine Gedanken gesammelt oder auch wohl vorher einen kurzen Schlaf genossen hatte. Insonderheit widmete er seine Zeit mit großer Freude dem Unterrichte und der Bildung der Neuangekommenen, deren Aufsicht ihm besonders anvertraut war, wiewohl er sich überhaupt nie der Erfüllung irgend einer Pflicht entzog, zu der er sich berufen fühlte. Doch aber blieb das heilige Einsam, mit Gott gemeinsam, die höchste Wonne seiner Seele. „Wenn er betete, war sein Angesicht wie verklärt, dann“ – sagt einer seiner Biographen – „stand er gleichsam nur mit den Spitzen der Füße auf der Erde, und es schien, als wolle sein ganzer Körper in den Himmel auffliegen, wo sein Geist und sein Verlangen war.“ Mitten in friedlichen Gesprächen mit den Brüdern fühlte er oft die Ansprache des Herrn im Innern und bat um Erlaubniß sich entfernen zu dürfen. „Ich muß gehen,“ pflegte er zu sagen, „denn es ist Einer, mit dem ich in der Zelle mich besprechen muß.“ Wie die meisten Frommen jener Zeit stellte er von Zeit zu Zeit besondere ascetische Uebungen an. Während er nun in Speise und Trank äußerst mäßig, keuschen Gemüthes und von großer Sittenreinheit war, pflegte er sich an bestimmten Tagen der Woche selbst zu geißeln unter dem regelmäßigen Absingen einer lateinischen Hymne. Kein Wunder daher, daß auch sein Aeußeres mit der herrschenden Stimmung seines inneren Wesens ganz im Einklange stand. Er war von mittlerer Gestalt, frischer wiewohl etwas bräunlicher Gesichtsfarbe und seine Sehkraft blieb bis in sein hohes Alter ungeschwächt. Seinem ersten Biographen Franciscus Tolensis, der sich übrigens beklagt, daß keiner seiner Zeitgenossen eine ausführlichere Skizze von seiner Persönlichkeit gegeben habe, wurde noch ein halb verwischtes Bildniß von Thomas vorgezeigt, welches die Unterschrift trug: In allen Dingen habe ich Ruhe gesucht, diese aber nirgends gefunden als in verborgenen Winkeln und Büchern (im Niederdeutsch: in hörkens ende bökskens). Auch von seinen letzten Lebenslagen ist nur wenig bekannt. Doch gewißlich, dem, dessen Leben eine beständige Betrachtung des Todes gewesen war, konnte auch das Sterben nicht schwer fallen. Schon viele Jahre vorher (1432) hatte er schon seinem älteren Bruder Johannes in dem Frauenkloster Bethanien bei Arnheim die Augen geschlossen, und von weiteren Banden, die ihn an Verwandte gefesselt hätten, vernehmen wir nichts. Um so leichter mußte das Scheiden ihm fallen, als er – in beinahe patriarchalischem Alter – einging in die Ruhe seines Herrn. „Im Jahre 1471 – so berichtet uns die Chronik seines Klosters – am Feste des heiligen Jakobus des jüngeren (25. Juli) starb unser vielgeliebter Bruder, Thomas von Kempen in dem 92. Jahre seines Lebens. Endlich ward er in seinem hohen Alter mit einer Wassersucht in den Schienbeinen heimgesucht und entschlief selig im Herrn.“ Bei dem hohen Ruhm der Frömmigkeit, welchen Thomas mit dem höchsten Rechte genossen hat, könnte es befremdend erscheinen, daß die katholische Kirche ihn nie canonisierte, wie so viele andere vor und nach ihm, die dies weit weniger verdient hätten. Die Ursache hiervon liegt wahrscheinlicher Weise nicht allein darin, daß seiner Geschichte jenes wunderhaft Legendenartige fehlt, das nicht selten den ersten Anlaß zu derartigen Heiligsprechungen gab, sondern auch in dem Umstande, daß die Brüder des gemeinsamen Lebens bei der römischen Geistlichkeit in Mißcredit standen, da sie sich keiner der approbierten Mönchsinstitutionen anschlossen und daher noch einigermaßen zu der Welt gerechnet wurden. Er hat indessen etwas Besseres verdient, als einen so zweideutigen Heiligenschein, den Dank der ganzen Christenheit aller Confessionen für die Erbauung, die sie ihm in hohem Maße zu danken hatte.

Wir denken hier an sein Hauptwerk, von welchem u. a. der große Haller nicht im mindesten Anstand nahm zu behaupten: „Der Verfasser müsse ein Lehrer von übermenschlicher Tugend gewesen sein.“ Somit kann uns nichts leichter fallen als der Uebergang von dem Verfasser zu dem Buche, das seinen Namen verewigt hat, denn Thomas und die Nachfolge Christi sind vollkommen eins in diesem Sinne nämlich, daß das Leben des Verfassers der beste Commentar zu seinem Werke, ja eine in Praxis gebrachte Imitatio Christi genannt werden darf. Es ist hier nicht der Ort, die Literaturgeschichte dieses goldnen Büchleins, das bei weitem den meisten Christen oberflächlich oder doch dem Namen nach bekannt ist, ausführlich zu behandeln, noch viel weniger uns in den wissenschaftlichen Streit zu vertiefen, der über dasselbe geführt wird, ob nämlich Thomas wirklich dessen Verfasser ist, oder ob es, wie Viele wollen von J. Gerson, dem heil. Bernhard oder einem Andern geschrieben worden ist. Es ist ja bekannt genug, daß mehr als zweitausend verschiedene lateinische Ausgaben und ungefähr tausend französische Uebersetzungen davon bestehen, von denen allein auf der Pariser Bibliothek mehr als 700 vorhanden sind, während es außerdem in die meisten bekannten, sowohl lebenden als todten Sprachen übersetzt ist. Zwei Mönchsorden haben um die Ehre gestritten, den Verfasser unter ihre Ordensglieder zählen zu dürfen und sogar das französische Parlament wurde im Jahre 1652 in diesen Streit verwickelt. Dieser achtbare Staatskörper hat allerdings die Frage zum Nachtheil unseres Thomas entschieden, ist aber, wie es uns scheint, etwas übereilt dabei zu Werk gegangen. Uns ist es wenigstens, nach den gelehrten Untersuchungen, welche auch noch in der letzten Zeit darüber geführt wurden, kaum mehr zweifelhaft, daß die Imitatio wirklich aus dem Kopfe und Herzen von Thomas a Kempis hervorgegangen ist, und ist also diese kostbare Frucht auf keinem anderen als niederländischem Boden gezogen. Von höherem Belange ist die Frage, worin das Eigenthümliche (Charakteristische) dieser Schrift wohl liege, und welchem Umstande es wohl die gute Aufnahme möge zu danken haben, welche ihm nun schon seit beinahe vier Jahrhunderten zu Theil geworden ist. Und dann glauben wir nicht zu irren, wenn wir diesen Ruhm insonderheit der ächt praktischen Richtung des Verfassers zuschreiben, wodurch er, ohne sich in theologische Streitfragen oder in Schulgezänke zu vertiefen, den kürzesten Weg zu dem Herzen und Gewissen der Leser gefunden hat. Aus einem literarischen Gesichtspunkte betrachtet, hat das Büchlein nicht viel Außerordentliches. Das Latein könnte hier und da reiner sein, viele Sprüche haben bei dem ersten Blick etwas ziemlich alltägliches, während die Einförmigkeit der Gedanken wohl dann und wann etwas ermüdend ist. Das Ganze aber durchwehet ein Geist tiefer inniger Frömmigkeit und eine sanfte stille Liebesgluth durchströmt es von Anfang. bis zum Ende, so daß man es unmöglich aus der Hand legen kann, ohne innige Liebe für den Verfasser zu fühlen. Oder lieber man vergißt beinahe den Verfasser gänzlich, um allein an den Herrn und an unser Verhältniß zu ihm zu denken. Es liegt etwas Unpersönliches, etwas Objectives in dieser Darstellung der Nachfolge Christi, wobei die Individualität des Verfassers, wiewohl diese allenthalben durchschimmert, sich nirgends in hinderlicher Weise in den Vordergrund stellt und es somit leicht wird an seiner Hand in das innerste Heiligthum des christlichen Lebens einzutreten. In einem sanften Glanz, wie Perlen, die neben einander auf eine oft verborgene Schnur gereihet sind, blinken seine Sprüche hervor und gerade weil kein überflüssiger Redeschmuck hier angebracht ist, wird auch das Auge um so weniger abgelenkt von der großen Sache, auf welche hier stets die Andacht hingewiesen wird. Hierzu kommt noch, daß mit Ausnahme des vierten Buches, welches der Betrachtung des heiligen Sakramentes gewidmet ist und in welchem die katholische Auffassung vom Abendmahl und von dem Priesterthum nachdrücklich in den Vordergrund tritt, das ganze Werk außerdem nicht hinderlich römisch, sondern vielmehr evangelisch-katholisch ist. Der Verfasser steht nicht, wie die römische Kirche, vorzugsweise auf dem petrinischen, nicht einmal, wie die evangelische Kirche, auf dem paulinischen, sondern vielmehr auf dem johanneischen Standpunkte, dessen volle Verwirklichung der Kirche der Zukunft noch vorbehalten bleibt, ja es ist, als ob wir in ihm etwas von dem Geiste Johannis des Täufers verbunden mit dem Geiste Johannis des Evangelisten hier erblickten. Er achtet christliche Erkenntniß und Wissenschaft keineswegs gering, doch nur als Mittel, keineswegs als höchstes Ziel seines Strebens ist sie ihm werth. Was kann praktischer und allgemein nützlicher sein, als Worte wie diese: „Was nutzt das Wissen ohne Furcht Gottes? Besser ein einfacher Bauer, der Gott dienet, als ein stolzer Philosoph, der sich selbst vernachlässigend, den Lauf des Himmels betrachtet. – Was nutzt es dir, hoch über die Trinität zu disputieren, wenn du der Demuth ermangelst, um der Dreieinigkeit zu gefallen? – Jemehr jeder sich stirbt, desto mehr fängt er an Gott zu leben. – Gieb dich stets in das Niedrigste und es wird dir das Höchste gegeben werden. – Ohne die Liebe Gottes und des Nächsten nützen keine Werke, wenn sie auch von Menschen gelobt werden, sondern sie sind wie leere Gefäße, die kein Oel haben, und wie Lampen, die in der Finsterniß nicht leuchten.“ Doch wir würden an kein Ende kommen mit solchen Anführungen, auch wenn wir nur oberflächlich hinweisen wollten auf die reichen Schätze christlicher Weisheit und Gottseligkeit, die hier in der anspruchlosesten Form für künftige Geschlechter niedergelegt sind. Und bedenkt man noch bei alle dem, in welcher Zeit dieser Klosterbruder lebte, wie verhältnismäßig wenig und mangelhafte Hülfsmittel zu seiner Verstandes- und Geistesbildung ihm, im Vergleich mit den Geschlechtern der folgenden Zeiten, zu Gebote standen, und wie weit das mönchische Element, welches wir hier antreffen, sich über den herrschenden Geist der meisten übrigen Orden erhebt, dann fängt man an das hohe Lob zu verstehen, welches Männer wie Leibnitz, Fontanelle, Gysbertus Voetius u. And. der Imitaten gesprochen haben und man sagt dann gewiß auch mit dem Letzten: „Ich möchte wohl die Behauptung wagen, daß ich, mit Ausnahme einiger Kleinigkeiten, nach der heiligen Schrift, nie etwas Einfacheres, Kräftigeres und Göttlicheres gesehen habe.“ Ohne Zweifel steht diesem Lichte auch eine Schattenseite gegenüber. Die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben kommt hier – und wie könnte es auch anders sein – nicht zu ihrem Rechte. Es ist mehr der Christus in uns, als der Christus für uns, auf welchen der liebe Verfasser mit unwiderstehlichem Nachdruck uns hinweist. Der große Gegensatz zwischen Sünde und Gnade ist nicht überall gleich scharf hervorgehoben; auch wäre wohl zu wünschen, daß der Mann, welcher gegen gröbere und feinere Ungerechtigkeit so entschieden eifert, hier und da der Selbstgerechtigkeit weniger Nahrung böte. Und gleichwie er ferner in seiner eigenen Persönlichkeit das menschliche Leben nicht in seiner ganzen Fülle, sondern nur Eine Seite desselben sich angeeignet und wiedergegeben hat, so ist auch sein Buch weit mehr geeignet zu einer Richtschnur des inneren, als des äußeren Lebens. Auf mancher Seite strahlt eine klösterliche Geringschätzung der Angelegenheiten des täglichen Lebens, eine Sucht, so weit wie möglich jeglichem Umgange mit der Welt fern zu bleiben, durch, anstatt daß ein Streben sich offenbare, den Herrn in der Welt zu verherrlichen, ohne darum von der Welt zu sein (vgl. Ich. 17, 15. 16). Es würde in unserem vielbeschäftigten, praktischen, auf das Aeußere hingerichteten Jahrhundert in mancher Hinsicht traurig und sonderbar aussehen, wenn der Typus seiner Frömmigkeit der allgemein herrschende würde. Aber noch weit trauriger würde es in eben demselben vielbeschäftigten, praktischen, auf das Aeußere hingerichteten Jahrhundert mit Vielen aussehen, wenn das Element der christlichen Frömmigkeit, auf welches Thomas in seinem Buche uns hinweist, gänzlich vermißt würde und wenn dem ermatteten Geiste eine Zufluchtsstätte der Einsamkeit müßte verschlossen bleiben, in welcher wir, als nothwendiges Gegengewicht gegen alles Gewühl um uns her, uns jedesmal wieder zurechtzufinden suchen. Nächst der Schrift, könnten wir in mancher Stunde kaum einen besseren Führer und Freund dahin mitnehmen, als gerade denselben Thomas a Kempis. Der Lebens- und Gesichtskreis des Jüngers Jesu im neunzehnten und im vierzehnten Jahrhundert sind unendlich verschieden, aber das höchste Ideal, welches Thomas sich vorstellte, vollkommene Seelenruhe durch unbedingte Uebergabe an Gott und lebendige Gemeinschaft mit Christo, ist für alle Zeiten dasselbe und wo so Viele in unseren Tagen augenscheinlich zu viel von der Welt erwarten, da kann der geistliche Umgang mit einem Manne, der die Welt vielleicht zu wenig würdigte, ein heilsames Correctif ihrer verfeinerten Weltliebe und Sinnlichkeit sein. Niemand wird wenigstens bezweifeln können, daß, gleichwie wir in Johann Wessel die Blüthe der theologischen Wissenschaft unter den Brüdern des gemeinsamen Lebens bewundern, also auch in Thomas a Kempis die Blüthe der reinsten Ascetik und Mystik in demselben Zeitraum uns dargeboten wird.

Und somit kommen wir schon fast von selbst zur Beantwortung der Frage, in wiefern auch Thomas unter den eigentlichen Wegbereitern der Reformation eine Stelle verdient und auch als solcher in dem evangelischen Kalender verewigt werden darf. Allerdings hat man zuzusehen, daß man seine Bedeutung in dieser Hinsicht nicht überschätze. Sowohl in der Theorie, als in der Praxis hat der Verfasser der Imitativ auf einem rein römischkatholischen Standpunkte gestanden. In dem Dienste der Maria, der Agnes und anderer Heiligen kennt er kaum Grenzen; er weiß in seiner kindlichen Einfalt dann und wann von Erscheinungen der heil. Jungfrau zu erzählen und hält sich von den pelagianisierenden Tendenzen der mittelalterlichen Theologie keineswegs frei. Er ist ein entschiedener Vertheidiger der kirchlichen Ablaßtheorie und Transsubstantiationslehre und lehrt den unbedingten Gehorsam gegen die kirchliche Obrigkeit, indem er gegen das Verderbniß der Hierarchie nur sehr im Vorbeigehen aufgetreten ist. Es scheint selbst hier und da, als ob er nie von den Krankheiten seiner Kirche in jenen übelberüchtigten Tagen vernommen habe, und nirgends hören wir ihn, gleich einem Huß, Wiklef od. And. gegen Irrungen und Mißbräuche mit Entrüstung und Nachdruck protestieren. Gleichwie indessen sein Werk über die Nachfolge Christi handelt, so war auch seine ganze Natur weit mehr zur Nachfolge, als zum Vorangehen, weit mehr zum Dienen, als zum Herrschen geneigt, und selbst der Umstand, daß er es lebenslang nicht weiter als zu der Würde eines Subprior gebracht hat, ist in dieser Hinsicht ein charakteristischer, symbolischer Zug seiner Lebensgeschichte. Trotzdem aber war unwillkürlich sein Wirken ein reformatorisches, weniger durch das, was er sagt, als vielmehr durch das, was er verschweigt, und vor Allem durch den Geist, der seine ganze Erscheinung und Wirksamkeit durchathmet. Er hat nämlich der Gottesgelehrtheit ungefähr denselben Dienst geleistet, welchen Sokrates einst der Philosophie erwiesen hat, als er diese aus höheren, unzugänglichen Sphären in die tieferen Regionen der menschlichen Gesellschaft und des praktischen Lebens herunter holte. Er ließ das Dogma der römischen Kirche unangefochten stehen, regte aber ein Streben, ein Verlangen nach der inneren, nach der unmittelbaren, persönlichen Gemeinschaft der Seele mit Gott und Christo an, das für die Praxis der katholischen Kirche in der Folge verhängnißvoll werden mußte und dem Geiste der Reformation kräftig in die Hand arbeitete. Der mechanischen Religiösität des Romanismus seiner Tage (opus operatum) stellte er den Werth der subjectiven, individuellen Frömmigkeit mit Nachdruck gegenüber, ohne welche alles Andere auch nicht von der mindesten Bedeutung ist. Von dem Papste spricht er, merkwürdig genug, kaum ein einziges Mal und dann allein um zu erklären, daß er ein sterblicher Mensch und mit seiner bleiernen Bulle, eben so gut als alles Andere nichts ist. Es ist, als habe er durch sein Beispiel zeigen wollen, daß man ein weit geförderter Christ, ja sogar ein weit geförderter katholischer Christ sein könne, ohne etwas von dem ultramontanisch-jesuitischen Sauerteige späterer Tage im Herzen zu tragen. Das Princip der Freiheit, welches man die Wurzel des Reformationswerkes nennen kann, tritt bei ihm beständig in seinem ganzen Werth hervor. Noch mehr, er empfahl das Bibellesen nachdrücklich, brachte die heil. Schrift durch Abschreiben auch in Anderer Hände, predigte allem Anscheine nach in der Volkssprache und beförderte den Unterricht des jüngeren Geschlechts soviel dies nur in seinem Vermögen lag. Daß aber die Entwicklung aller dieser Principien früher oder später auf eine Spaltung in der befleckten Mutterkirche hinauslaufen müsse, hat ohne Zweifel Niemand weniger als der einfältig fromme Thomas vermuthet. Bemerkenswerth bleibt es indessen, wenn wir z. B. die Aeußerung von ihm vernehmen: „mehr solltet ihr auf Gnade und Barmherzigkeit euch verlassen, als auf eure Gebete und guten Werke. Gehorsam ist besser als Opfer.“ So darf auch nicht übersehen werden, daß er sich fast ausschließlich zur Bestätigung und Vertheidigung seiner Worte auf die Bibel und nur selten auf Kirchenväter oder Lehrer, und noch weit weniger auf Concilien und Decrete beruft. Wir könnten zu alledem noch hinzufügen, daß sich unter seinem Einflusse ein Mann entwickelt hat, der noch mit unendlich höherem Rechte zu den Wegbereitern der Reformation gerechnet wird, der berühmte Johann Wessel nämlich; doch wollen wir lieber, als noch ausführlich auf diese und andere reformatorische Züge in dem Bilde des Thomas hinzuweisen, nun zum Schlusse noch bemerken, daß gerade seine Hauptschrift ein treffender Typusevangelischer Katholicität genannt werden darf. Die Nachfolge Christi weist uns ja fast ausschließlich auf dasjenige hin, worin alle ächten Christen der verschiedensten Kirchengemeinschaften übereinstimmen, und schwerlich wird man von dem Büchlein scheiden können, ohne zugleich das Gefühl mitzunehmen, wieviel auch die beiden Hauptabtheilungen der christlichen Kirche, bei aller Verschiedenheit, doch noch mit einander gemein haben. Der gläubige Katholik und der ächte Sohn der Reformation, welche über dieses Buch hin sich die Bruder-Hand geben können und beide den Hauptinhalt desselben unbedingt annehmen, müssen sie nicht am Ende einer höheren Einheit sich bewußt werden?

Die sämtlichen Werke des Thomas a Kempis sind öfter ausgegeben worden, kein einziges befindet sich jedoch darunter, das so großen Ruhm als seine Nachfolge Christi erworben und das so viele Frucht getragen hätte. Höher noch als sein Werk bleibt indessen stets seine Person bei der Christenheit angeschrieben, nicht allein deshalb, weil er ein hervorragender Vertreter der ächt germanischen Mystik und Ascetik seines Jahrhunderts, sondern vor Allem, weil er ein lebendiger Jünger Christi gewesen ist. Hat er auch die Märtyrerkrone für die Sache des Herrn nicht getragen, so war er doch in einem anderen Sinne des Worts lebenslang sein treuer Zeuge und hat es in der stillen freiwilligen Marter der täglichen Selbstverleugnung um Christi willen so weit gebracht als nur sehr wenige vor oder nach ihm. Darum wird er auch jetzt droben im Lichte die Wahrheit seines eigenen Wortes erfahren, daß der Weg des Kreuzes der königliche Weg des Christen ist, und seine Seligkeit wird nun gewiß nicht mehr dadurch gestört, daß er, der so gerne unbekannt zu bleiben wünschte, jetzt von lausenden gekannt und geachtet wird. Noch aus dem Himmel scheint er mit Paulus uns zuzurufen: „seid meine Nachfolger, gleichwie ich ein Nachfolger Christi bin.“ (1. Cor. 11, 1.) Und wenn Ein Wort desselben Apostels unter seinem Bildniß stehen müßte, dann möchte wohl dies das passendste sein: „Als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden und siehe wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht ertödtet; als die Traurigen aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts inne haben und doch alles haben.“ (2. Cor. 6, 9. 10.)

  1. J. van Oosterzee in Rotterdam, jetzt in Utrecht.

Die Zeugen der Wahrheit
Dritter Band
Piper, Ferdinand (Herausgeber)
Verlag von Bernhard Tauchnitz
Leipzig 1874