Gerhard Tersteegen

Mit großem Wohlgefallen und mit herzlichem Danke gegen Gott sehen die Gläubigen auf diesen Mann, der uns so augenscheinlich zeigt, was das Christenthum in dem schwächsten Werkzeuge vermag, der durch ein edles, frommes, in Christi Nachfolge geführtes Leben als Muster aufgestellt werden darf und dessen Wirksamkeit in Wort, That und Schrift eine höchst bedeutende war, wie namentlich seine Lieder auch noch Tausenden zur Erbauung dienen. Möchte die Kirchengeschichte uns viele solcher Männer nennen können, und doch hat sie ihn bisher kaum der Erwähnung gewürdigt.

Gerhard Tersteegen wurde zu Moers in der Preußischen Rheinprovinz den 25. November 1697 geboren. Sein Vater war Kaufmann reformirter Confession, der bei seinem frühzeitigen Tode 1703 nicht soviel hinterließ, daß die Mutter den talentvollen Knaben, der schon in demselben Jahre in das später durch die Franzosen geschmälerte Gymnasium seiner Vaterstadt aufgenommen wurde, dem Studium der Theologie, wie Plan und Wunsch war, widmen konnte. Von seinen 7 Geschwistern wird uns nichts Erhebliches erzählt, sie starben alle früh, obwohl sie stark waren; der körperlich schwache Gerhard nahm sich der hinterlassenen Familie nach Kräften liebreich an und unterrichtete auch einige Kinder derselben, obwohl er von den Geschwistern wenig Liebe, ja wohl Verachtung erfahren hatte.

Nachdem Tersteegen die lateinische Schule besucht und sich besonders Kenntnisse in den alten Sprachen erworben hatte, wurde er zu einem Kaufmann in Mülheim an der Ruhr geschickt, bei welchem er die Lehrlingszeit aushielt. Die Sprachkenntnisse kamen ihm später zu Gute, und die nicht freundlichen vier Lehrlingsjahre waren für den phantasiereichen Jüngling eine heilsame Übungsschule. Nach Ablauf derselben und einigen fortgesetzten kaufmännischen Versuchen lernte er von einem frommen Leinweber dessen Handwerk und bald darauf, da dieses für seine Schwächlichkeit sich nicht eignete, das Seidenbandmachen, das er mehrere Jahre betrieb, bis er etwa 30 Jahre alt es aufgab, theils weil es ihm zu seinem Unterhalte nicht mehr nöthig war, theils weil er sonst genug und zwar wichtige Dinge zu thun hatte. Der Handwerker war nach gründlicher Erweckung ein tüchtiger Arbeiter im Weinberge seines Herrn und Heilandes geworden und in Seinem Dienste auch ein nicht unbedeutender Schriftsteller.

Er war von frommen Eltern erzogen, namentlich hatte die länger lebende Mutter großen Einfluß ausgeübt; in Mülheim wandte er sich immer mehr dem religiösen Leben zu, wobei ihm guter Umgang und Lektüre dienlich wurde. Bedeutenden Einfluß hatte der gleichfalls in Mülheim lebende Candidat der Theologie, Wilh. Hoffmann, der nie ein Amt bekleidete, in Erbauungsversammlungen aber auch außerhalb seines Wohnortes thätig war und befreundet mit dem bekannten Hochmann, in dessen Geiste, wenn auch stiller, wirkte, auch durch Schriften. Derselbe bestimmte ihn auch in den Übungen, wie damals die Versammlungen genannt wurden, zu reden, und erweiterte ohne Zweifel auch seine Kenntnisse in der hebräischen, lateinischen und griechischen Sprache; sie blieben Freunde bis zu seinem Tode 1746, auch in der letzten schmerzensvollen Zeit nicht getrennt, der eine durch Geduld und Glaubensmuth auch im Tode, der andre durch aufopfernde Liebe und Handdienste erquickend.

Tersteegen wurde durch Gottes Gnade früh erweckt; mannigfaltige zum Theil harte Verhältnisse förderten sein inneres Leben, er mußte durch Kämpfe hindurchgehen wie so viele Glaubenshelden, bis er endlich zu dem Frieden gelangte, den die Welt nicht geben kann und zu der festen Glaubensstellung, so daß er 1724 am Abende vor Charfreitag eine Verschreibung an seinen Heiland niederschreiben konnte, ihm treu zu sein bis an den Tod; er hat Wort gehalten und sein langes Leben hindurch einen weltüberwindenden Glauben bewährt. Christus war ihm das Leben und Sterben sein Gewinn. Wie Zinzendorf kannte er nur Eine Passion, die war sein Heiland. Von Ihm redete, schrieb er; in Mülheim war er der Seelenfreund Unzähliger, und dort wie an anderen Orten verehrten ihn viele als den, der sie zum Heiland geführt hatte. Tag und Nacht stand er seinen Mitmenschen zu Dienste. Er verstand auch einfache Arzneimittel zu bereiten, wobei er sich vorzüglich nach Richter in Halle richtete, und vertheilte sie unentgeltlich an Arme. Sie wurden von vielen begehrt und auch weithin verschickt. Trotz seiner geringen Mittel hatte er von jeher eine bedeutende Wohlthätigkeit ausgeübt und von seinem elterlichen Vermögen nichts behalten. Er lebte stets einfach und kannte den Genuß, Andre genießen zu lassen. Der arme Handwerker ging schon in frühen Jahren Abends, wenn er nicht bemerkt werden konnte, mit Gaben zu Armen und entzog sich was er andern schenkte, während so Viele mit den kleinen Gaben ihres großen Überflusses noch prunken und sie protokollieren lassen. Doch um das geistige Wohl Anderer war er am meisten bekümmert, und hierin hat er Unmögliches geleistet, so daß Jung Stilling behauptet, seit der Apostel Zeiten hätte Keiner so viel Seelen dem Herrn zugeführt. Die Liebe Christi drängte ihn, er hatte selbst Gnade erfahren. Man lese seine geistliche Lotterie, sein Blumengärtlein, das schon früh entstand, 1729 zuerst erschien und allmählig erweitert wurde; welch ein tiefes, frommes, kindliches Gemüth spricht sich überall aus! Das eigne Lob galt ihm nichts; Gott zu preisen und zu dienen, war seine Aufgabe; Ihm überließ er sich, von Ihm nahm er Alles, was sich ereignete, Leid und Freud, mit Dank und Vertrauen. So sagt er:

Wer etwas liebt und will, was Gott nicht selber ist,
Verlängert seine Qual und hindert seinen Frieden;
Rein ab bis auf den Grund, aufrichtig, ohne List;
Wer Gott will sein gemein, muß werden abgeschieden;

und an andrer Stelle:

Gott ist die Sonne; ich ein Strählchen Seines Lichts,
Trenn‘ ich von Ihm mich ab, bin ich ein finstres Nichts;
Halt‘ ich mich stets an Ihn, so wird mir Licht und Leben
Und alle Tugenden sein stiller Einfluß geben.

Der gebrechliche Mann, dessen Sinn auf stille Zurückgezogenheit ging, wollte doch selbst die mit Unruhe verbundene Thätigkeit nicht meiden und wirkte wo und wie er konnte; in jüngern Jahren mag er dem Quietismus sich in etwa zugeneigt haben, wie auch einem strengeren Separatismus. Auch seine Reisen waren missionsartig; jährlich ging er nach Holland, wo ein großer Freundeskreis war, zum Theil aus den höchsten Ständen. Ein dortiger Freund, Pauw, unterstützte ihn reichlich; er, der so viele glänzende Anerbieten ausschlug, nahm von ihm und einigen andern Freunden gern das Wenige, was er bedurfte, die meisten Gaben Dürftigen zuwendend; seine vielfachen Schriften mochten ihm wenig einbringen. Später reiste er oft nach Crefeld, wo er in der Mennonitenkirche auf vielfaches Bitten auch einmal die Kanzel bestieg, und ins Bergische, wo namentlich in Solingen, Wanne, Elberfeld, Gemarke ihm viele in christlicher Brüderlichkeit zugethan waren und ihn als ihren geistlichen Vater ehrten, auch noch nach seinem Tode, z. B. Engelbert Evertsen, Jac. Teshemacher und Wilh. Week. Es war ein lieblicher Brüderbund, alle dem Herrn dienend; Tersteegen, ihr gefeierter Mittelpunkt und ihre Stütze, blieb einfältig und demüthig; seine Liebe und Langmuth war nicht zu erschöpfen und zeigt sich auch in Tausenden von Briefen, die er nach allen Seiten schrieb. Viele sind gedruckt und werden noch mit Segen gelesen. An Anfeindungen fehlte es nicht, namentlich von Geistlichen; man kennt den dürren Zustand der damaligen Kirche und mancher mochte unserem Tersteegen seinen Ruhm und Zuspruch nicht gönnen, wie er wohl auch wegen Unlust an den unerquicklichen Predigten die Kirche nicht besuchte und auch am heiligen Abendmahle nicht Theil nahm, obwohl er andre nicht bestimmte, ein Gleiches zu thun. Er verkannte den damals so verdunkelten Werth der Kirche und führte mehr ein innerliches Leben und hatte eine kleinere Gemeinschaft mit gleichgestimmten Seelen. Mancher Prediger aber schätzte ihn sehr hoch und wandte sich an ihn, um sich seiner großen Erfahrung zu bedienen. Sein Leben floß segensreich für viele dahin, bis es 1750 noch bewegter wurde. Damals entstanden im Mülheimischen geistliche Bewegungen, wozu die Anregung von einem zu Duisburg Theologie studierenden Holländer Chevalier ausging. Tersteegen nahm Theil daran, weil er sie für gut hielt und sprach, nachdem frühere Versammlungen eingegangen waren, wieder öffentlich mit ungeheurem Beifall. Hunderte strömten in sein Haus, um ihn zu hören. Wir haben in den geistlichen Brosamen noch viele seiner damals gehaltenen Reden, in denen ein tiefer Ernst herrscht und eine große Herzlichkeit; aus seinen Gebeten weht den Leser der Hauch der innigsten frommsten Empfindung an. Bald erhob sich gegen ihn ein großer Sturm, indem die Mülheimer Geistlichkeit gegen ihn auftrat und seine Wirksamkeit zu hemmen suchte, besonders der ref. Prediger Wurn. Wir wissen, wie einem Arnd, Spener, Francke von Amtsbrüdern begegnet wurde; dem, Laien mußte es noch übler ergeben. T. vertheidigte sich mit aller Sanftmuth und wurde von der Obrigkeit geschützt. Auch gegen seine Schriften wurde sogar auf Synoden geeifert. An seinem Freunde, dem Oberkonsistorialrathe Heder in Berlin hatte er einen tüchtigen Beschützer und das Blumengärtlein erschien mit Preuß. Privilegium zu Duisburg; derselbe theilte auch ein jetzt unbekannt gewordenes Schriftchen von ihm „Gedanken über die Werke des Philosophen von Sanssouci“ dem großen Friederich mit, der über den Gegner seiner religiösen Ansichten die Worte aussprach: Können das die Stillen im Lande?

Der schwache in beschränkten Lebensverhältnissen lebende Mann blieb unverheirathet, wozu er auch Neigung haben mochte; er hegte sonst gegen den Ehestand wenigstens in spätern Jahren die größte Achtung, nur wünschte er, daß er nicht von Gott abführe. Man hat ihn wohl als Feind der Ehe angeklagt, wie auch als unkirchlichen Mystiker und Separatisten, wie schon oben angedeutet ist. 1. war kein Feind der Kirche und schätzte die tüchtigen Prediger, wie ihn z. B. der 1761 nach Mülheim berufene P. C. Engels; aber er verkannte nicht den damaligen Verfall und hielt sich zurück, eine Genossenschaft warmer Christen bildend, die der Kirche sehr heilsam wurde; auch jetzt noch zeichnen die Tersteegianer sich durch Kirchlichkeit aus und sind dem Separatismus und dem Sektieren feind, wie er es war. Er äußerte sich, er habe etwas wichtigeres zu thun, als eine Sekte zu stiften. Lebendige Christen aus allen Confessionen waren ihm liebe Brüder, er fragte nicht, woher sie kämen, sondern wohin sie gingen. Wollen wir ihn einen Mystiker nennen, so geschiehts im edelsten Sinne; er selbst schätzte den Lodenstein, de la Badie, Berniere, die Guion, wie die älteren Thomas a Kempen, Rusbroeck, Tauler und übersetzte manches aus ihren Schriften. Er hielt sich an die heilige Schrift als Richtschnur seines Glaubens und Lebens und blieb nüchtern, verständig, praktisch, auf die Hauptwahrheiten stets hinweisend ohne sich in dunkle Lehren zu vertiefen. Sein Leben war strenge wie es ein edler Pietismus fordern konnte, aber er blieb weit entfernt von allem mürrischen, sonderlichen Wesen. Vom heiligen Abendmahle hielt er sich zurück weil er mit Calvin und dem Heidelberger Katechismus glaubte, es mit offenbaren Sündern nicht genießen zu dürfen, doch ließ er Andern ihre volle Freiheit und sprach über die Heiligkeit der Sakramente mit großer Ehrfurcht. Er redet oft vom inneren geistigen Genusse des Abendmahles. Er war ein durch und durch religiöser Mann, sein Wandel im Himmel, sein Leben in Gott verborgen mit Christo. Sein Freund Stahlschmidt aus Freudenberg, der in früheren Jahren sich an ihn als seinen Seelenarzt gewendet und liebevolle Aufnahme gefunden hatte, urtheilte nach seinem Tode, er sei ein apostolischer Mann gewesen, in dessen Weltanschauung und Überzeugung alle Confessionen sich hätten wiederfinden und versöhnen können.

T. blieb bis zu seinem Tode in Mülheim wohnen und starb den 3. April 1769 mit ruhiger Ergebung und unter herzlichen Unterredungen mit vielen auch aus der Ferne zum Abschiede herbeieilenden Freunden. Ihr Trost war sein Glaube und seine Hoffnung, worin sie mit ihm übereinstimmten; sein Andenken blieb im Segen und noch nach vielen Jahren grüßten sie sich mit Sprüchen und Versen aus der Lotterie und dem Blumengärtlein, das ihnen von dem höchsten Werthe war, wie es noch ein Lieblingsbuch inniger Seelen ist, mit Recht gepriesen von einsichtsvollen Rennern, wie von Bunsen, Lange, Schubert, Knapp. Das Lied: Gott ist gegenwärtig rc. ist in viele Gesangbücher aufgenommen und bei Missionsfesten hat der Vers aus einem andern: Wann grünt Dein ganzer Erdenkreis rc. schon unzählige erquickt und spricht sein Gefühl für Mission aus, wie es die damalige Kirche nicht kannte. Im Gebiete der inneren Mission war er ein Held, ohne allen Glanz und Namen. Er ruht von seiner Arbeit und seine Werke folgen ihm nach. Allen Christen ist er ein theurer Bruder, sie danken und preisen Gott, daß er ein so herrliches Werkzeug ausgerüstet zum Dienste in der Kirche und zum Segen Vieler.

Das dankbare Mülheim hat ihm 1838 ein Denkmal gelegt bei dessen Einweihung alle evang. Prediger ihre Verehrung gegen den theuren Mann aussprachen. Die schon bald nach seinem Tode durch seinen in Homburg b. d. H. lebenden Freund Dr. Burcard verfaßte sehr bezeichnende Inschrift lautet:

Hier ruht ein Gottesmann, ein Menschenfreund und Christ,
Der recht durch Kreuz bewährt, nunmehr vollendet ist;
Ein Priester von Gott selbst, der stets vor ihn getreten,
Und tausend Seelen Heil durch Christi Geist erbeten,
Der Jesu nur gelebt und Jesum nur verklärt.
Ach daß ein solcher starb! Doch nein, es lebt Tersteegen
Und bleibt bei Zion hier im ew’gen Ruf und Segen.

G. Kerlen in Mülheim a. d. Ruhr.