Charles Haddon Spurgeon

Charles Haddon Spurgeon

Er wurde am 19. Juni 1834 in einem Dorfe in Essex geboren, wo sein Vater Prediger an einer Independenten-Gemeinde war. Schon mit 18 Monaten kam er in das Haus seines Großvaters in Stambourne, wo er bis zu seinem sechsten Jahre blieb. So jung er war, scheint doch der dortige Aufenthalt, wie namentlich aus seinen „Erinnerungen an Stambourne“ hervorgeht, von dauerndem Einfluss auf sein ganzes Leben gewesen zu sein. Später kehrte er ins elterliche. Haus zurück, wo sein Vater ihm und seinem jüngeren Bruder eine so gute Erziehung geben ließ, wie es in damaliger Zeit für einen Dissidenten nur möglich war. Der junge Spurgeon überflügelte bald alle seine Mitschüler; er saß stets bei den Büchern und teilte nachher dem jüngeren Bruder mit, was er gelesen, so dass er das Lehren schon früh begann. In seinem fünfzehnten Jahre war er im Stande, sich sein Brot als Unterlehrer in einer Schule in der Nähe von Cambridge zu verdienen; daneben unterrichtete er nach seiner inzwischen erfolgten Bekehrung in einer Sonntagsschule und zog durch die Ansprachen, die er dort hielt, die Aufmerksamkeit auf sich. In Cambridge war damals ein Verein von jungen Männern, die am Sonntag in den umliegenden Dörfern predigten. Der Vorsteher desselben hatte sein Auge auf ihn geworfen, und da er wusste, dass eine direkte Aufforderung zum Predigen vergeblich sein würde, gebrauchte er eine List, indem er ihn an einem Samstagnachmittag bat, am folgenden Sonntag nach Teversham zu gehen, da ein junger Mann dort predigen sollte, der noch nicht gewohnt wäre, zu predigen. In der Meinung, dass der Gefährte, den er begleiten sollte, der „junge Mann“ sei, willigte Spurgeon ein und hörte erst unterwegs von diesem, dass er selber der Gemeinte sei, und dass sein Gefährte gar nicht im Stande wäre, zu predigen. In einer Hütte waren einige arme Leute versammelt und Spurgeon hielt seine erste Predigt über 1. Petr. 2, 7. Als er sie beendet und zum Schluss ein Lied singen lassen wollte, rief eine alte Frau aus: „Gott segne Sie! Wie alt sind Sie?“ Er erwiderte mit großer Würde, sie dürfe den Gottesdienst nicht stören, und sagte ihr nachher, als derselbe zu Ende war, er sei unter sechzig. „Ja, unter sechzehn auch“, war die Antwort.

Von der Zeit an begann er, nicht nur an Sonntagen, sondern auch an Wochenabenden in den Dörfern der Nachbarschaft zu predigen. „Die Leute waren nicht kritisch und keine Zeitungskorrespondenten waren mir auf den Fersen“, sagte er später, als er oft zu klagen hatte, dass diese ihm überall folgten und häufig seine Worte verdrehten. Einige Zeit darauf ward er Prediger in Waterbeach, einem Dorfe, das wegen der Rohheit und Sittenlosigkeit vieler seiner Bewohner keinen guten Namen hatte. Der gewaltige Ernst des jugendlichen Predigers jedoch brachte bald eine sichtbare Wandlung zum Besseren hervor.

In der ganzen Umgegend gewann er jetzt Ruf als der „boy preacher“, Knabenprediger, und von allen Seiten strömten die Leute herbei, ihn zu hören. Bei einer Predigerversammlung in Cambridgeshire ward er einmal um seiner Jugend willen von älteren Pastoren grob und höhnisch behandelt; seine bescheidenen, aber treffenden Antworten zogen die Aufmerksamkeit eines der Anwesenden auf sich, der ihn einem Bekannten empfahl, der zu den Vorstehern einer Baptistengemeinde im südlichen London gehörte, die sich in früheren Jahren unter tüchtigen, zum Teil sehr gelehrten Predigern in blühendem Zustande befunden, jetzt aber bedeutend zusammengeschmolzen war und einen Prediger suchte, der ihr wieder aufhelfen konnte. Nach einer zweiten Empfehlung von anderer Seite erhielt Spurgeon eine schriftliche Aufforderung, dort eine Probepredigt zu halten; charakteristisch für seine Bescheidenheit und Demut, die er sich auch in späteren Jahren bewahrte, war es, dass er den Brief wieder zurückschickte mit dem Bemerken, er sei wohl falsch adressiert und für einen andern Spurgeon bestimmt.

Erst nach wiederholten Aufforderungen entschloss er sich im Dezember 1853 zu kommen. Die Gemeindevorsteher hatten ihn in einem ziemlich entfernten Kosthause einquartiert, wo mehrere junge Kommis logierten, die sich höchlich wunderten, dass dieser ländliche Jüngling mit ungeheurer schwarzer Krawatte und blau und weißem Taschentuch gekommen sei, in London zu predigen, und beschlossen, ihn in ihrer Weise zu ermuntern, indem sie ihm von den großen Theologen der Metropole erzählten, wie der eine tausend City-Männer zu Hörern hätte; welche herkulische Arbeit es dem andern koste, sein Auditorium zusammenzuhalten usw. Als er nachher in seine Kammer gewiesen ward, die so klein war, dass er kaum Platz zum Niederknien beim Gebet hatte, wälzte er sich auf dem schmalen Bette unruhig hin und her, und alles schien ihm trübe und mitleidlos zu sein. Am andern Morgen machte er sich einsam und allein auf den Weg nach dem südlichen London, und seltsame Gedanken mögen bei diesem Gange seine Seele bewegt haben; trostvoll erschien ihm nur die Hoffnung, bald wieder in die heitern Gefilde seines Waterbeach, das ihm damals wie ein Eden vorkam, zurückfliehen zu können.

Indes, als er erst auf der Kanzel stand, war er, wie der Fisch im Wasser, in seinem Element, und als er die Handvoll Leute vor sich sah, kam ihm der Gedanke: „Ich könnt‘ sie alle aufessen.“ „Ich war ja nur noch ein Knabe“, setzte er, als er dies später einmal erzählte, zu seiner Entschuldigung hinzu. War aber die Zahl seiner Zuhörer auch klein, so waren es doch Leute, die wussten, was sie glaubten und eine Predigt zu beurteilen vermochten. Sie erkannten sofort das ungewöhnliche Genie des jungen Mannes, und ihre Mitteilungen hatten zur Folge, dass am Abend die Hörerzahl eine bedeutend größere war. Die Predigt über Offb. Joh. 14, 5: „Sie sind unsträflich vor dem Stuhl Gottes“ brachte eine ungemeine Aufregung unter den Anwesenden hervor; sie blieben nach dem Gottesdienst in der Kapelle, und die Gemeindevorsteher mussten versprechen, alles aufzubieten, den jungen Prediger für die Gemeinde zu gewinnen. Dies geschah, und im Januar 1854 trat er, neunzehn und ein halbes Jahr alt, sein Amt an. Die Hörer mehrten sich sofort. An einem der ersten Sonntage befand sich unter ihnen ein früherer Schauspieler von bedeutendem Rufe, der später Baptist geworden und an einem Baptistenseminar als Lehrer der Rhetorik angestellt war. Dieser sagte nachher zu seinen Studenten, ob sie den Jüngling aus Essex gehört hätten; den müssten sie hören, wenn sie wissen wollten, wie sie zu predigen hätten. Von ihm könne derselbe nichts mehr lernen; Sprache, Bewegungen, Vortrag, alles sei, wie es sein müsse; und darauf fügte er hinzu, sie sollten sehen, dieser junge Mann würde mehr Seelen zu Christo bringen, als irgendein anderer getan, den Apostel Paulus nicht ausgenommen.

Die Hörerzahl wurde bald so groß, dass die Kapelle gedrängt voll und die Luft erstickend war. Eines Abends rief Spurgeon daher aus: „Durch den Glauben fielen die Mauern Jerichos und durch den Glauben soll auch diese Mauer (auf die Hinterwand der Kapelle zeigend) fallen.“

Ein alter Gemeindevorsteher bemerkte nachher gegen ihn: „Lassen Sie uns davon nie wieder hören.“ „Was meinen Sie damit?“ fragte der junge Pastor, „Sie werden nie wieder davon hören, sobald die Sache getan ist, und deshalb, je eher Sie es tun, desto besser.“ Sehr bald ward denn auch beschlossen, die Kapelle zu vergrößern, und während dieser Zeit wurden die Gottesdienste in Exeter Hall gehalten. Die Menschenmenge, die sich dorthin drängte, so dass der Straßenverkehr durch sie gesperrt ward, erregte Aufsehen, und von der Zeit an begannen die Zeitungen über ihn zu schreiben und ihn mit Spott und Hohn zu verfolgen; Karikaturen von ihm waren in vielen Schaufenstern zu sehen, aber durch all dieses wurden nur noch mehr Leute herbeigezogen. Er selber sammelte alle Karikaturen und Schmähartikel sorgfältig, und wenn er in späteren Jahren bei Krankheiten einmal der Erholung und Zerstreuung bedurfte, sah er sie zuweilen durch, zeigte sie auch wohl Freunden mit einem Lächeln über den jetzt so veränderten Ton der Zeitungen gegen ihn.

Bei der Rückkehr in die alte Kapelle fand sich jedoch, dass diese, trotz der Vergrößerung viel zu klein war; die Leute kamen meilenweit, ihn zu hören und mussten oft zurückreisen, ohne im Stande gewesen zu sein, hineinzukommen. Darum begann er im August 1856 Geld zu sammeln zum Bau eines größeren Gebäudes. Mittlerweile ward ein großer Musiksaal, der 7000 Menschen fasste, gemietet, um Sonntag-abends den Gottesdienst darin zu halten. Das erste Mal, wo dies geschah, ertönte plötzlich, vermutlich von Böswilligen, der Ruf: „Feuer!“ Viele stürzten, von panischem Schrecken ergriffen, hinaus. Der Prediger tat sein Möglichstes, die Leute zu beruhigen, und es gelang ihm auch, eine große Anzahl zum Bleiben zu bewegen; da sie aber zu erregt waren, einer Predigt zuzuhören, ward der Gottesdienst geschlossen, und sie gingen ruhig fort. Da erst ward es Spurgeon mitgeteilt, dass beim ersten Fortstürzen mehrere Personen in dem Gedränge auf der Treppe verwundet und sieben getötet seien.

Diese Nachricht, sowie die grausamen und ungerechten Anklagen, welche die Presse gegen ihn schleuderte, die ihm die Schuld an dem Unglück beimaß, machten einen furchtbaren Eindruck auf ihn. Er war mehrere Wochen lang unfähig zur Arbeit, und auch, als er sie wieder begann, machten sich die Wirkungen auf sein Nervensystem noch lange fühlbar. Die Gottesdienste im Musiksaal wurden nun auf den Sonntagmorgen verlegt, und er predigte dort drei Jahre lang mit großem Segen vor Leuten jedes Standes und Ranges. Im Mai 1861 wurde das Tabernakel, das er gebaut, eröffnet. Es hat 5500 Sitze aller Art und fasst bequem 6000 Menschen, ist aber so proportioniert, dass es auf den ersten Anblick manchem nicht so groß erscheint, wie es in Wirklichkeit ist, weil es weder den Eindruck besonderer Länge, noch den besonderer Breite macht. Die Wände hat Spurgeon inwendig mit Brettern überkleiden lassen, weil weiches Material besser als hartes dient, die Stimme des Predigers überall hörbar zu machen.

Zweimal jeden Sonntag predigte er dort, dreißig Jahre lang, und immer war es voll, oft mussten Hunderte noch wieder fortgehen, die nicht mehr hineinkonnten. Fragt man: „Worin lag die Anziehungskraft dieser Gottesdienste?“ Nun, sie lag nicht in der Kunst. Kein gotisches Bauwerk mit himmelanstrebenden Bogen stimmte zur Andacht, keine gemalten Fenster ließen ein geheimnisvolles, zauberhaft auf die Seele wirkendes Dämmerlicht ein, kein Orgelspiel rührte mit sanften Tönen das Herz oder zog mit vollem, brausendem Klang die Seele hinauf zum unsichtbaren; kein Sängerchor war da, dessen lieblichen Melodien man mit Entzücken lauschen konnte, keine Antiphonien, keine Liturgie nichts, aber auch gar nichts von alle dem. Ein Vorsänger leitete den Gesang der Gemeinde, und wenn auch etwas von den „Stimmen der großen Wasser“ darin war, wenn die Tausende sangen, so war es doch kein eigentlicher Kunstgenuss für musikalische Ohren. Die Anziehungskraft lag ganz allein in dem Prediger und dem Evangelium, das er predigte. Es war der alte Bibelglaube, wie ihn seine Vorfahren, die vor den Verfolgungen des Herzogs Alba aus den Niederlanden geflohen waren, mitgebracht, wie ihn sein Großvater, ein strenger Puritaner, gepredigt; aber kein bloß ererbter, überkommener, sondern ein auf eigene, tiefe Erfahrung gegründeter Glaube. Ihm war die Bibel das Wort Gottes, vom ersten Buch Mosis an bis zur Offenbarung Johannis, und alle neuere Kritik hatte nicht so viel Einfluss auf ihn, wie die Wogen des Meeres auf den Felsen, an den sie schlagen. Er hätte eher an dem Dasein seiner nächsten Freunde und seiner eigenen Frau gezweifelt, als an dem Dasein des Bibelgottes, mit dem er in stündlichem, beständigem Verkehr stand. Eine Verheißung seines himmlischen Vaters war ihm nach einem oft von ihm gebrauchten Gleichnis ein Scheck, den er auf den Zahltisch der Bank legte in der Erwartung, dass er eingelöst würde. Die Verheißung z. B., auf die er sich verließ bei jeder Predigt, die er überhaupt hielt, war die in Jes. 55, 11, dass das Wort des Herrn nicht wieder leer zu ihm zurückkommen solle. Er glaubte, dass Gott jedes Mal, wenn er sein Wort predige, Seelen dadurch erretten werde, und er hielt auch selten eine Predigt, ohne dass er von Bekehrungen hörte, die dadurch gewirkt seien.

Diese ihm häufig zugehenden Nachrichten von den Wirkungen seiner Predigten waren für ihn das, was das Brot für den Körper ist, sie stärkten und erfrischten ihn, und ohne sie hätte er seine fast übermenschlichen Arbeiten gar nicht so lange fortsetzen können.

Er legte seinen Zuhörern die Bibel aus und beschränkte sich dabei nicht auf die sonntäglichen Perikopen oder ähnliche, von Fremden ausgesuchte Abschnitte. Er wählte sich seine Texte selbst, nicht nur aus allen Büchern des Neuen Testaments, sondern auch aus denen des Alten und ließ die reichen Trostschätze der Psalmen und des Hiob, die Mahnungen der Propheten, die Vorbilder des mosaischen Kultus, die praktische Weisheit der Sprüche Salomonis, wie die vielen anregenden und lehrreichen Erzählungen für die Erbauung der Gemeinde nicht unbenutzt. In alle Einzelheiten des Lebens ging er ein und schilderte sie so genau, dass häufig Leute, die ihm ganz unbekannt waren, an ihn schrieben in der Meinung, dass jemand ihn von ihrer besonderen Lage in Kenntnis gesetzt hätte. Eine alte Frau, die regelmäßig seine Predigten las, ist bis an ihr Lebensende der Meinung geblieben, dass ihm jede Woche jemand von ihren Angelegenheiten erzähle, obwohl er von ihrer Existenz nichts gewusst hat, bis ihm nach ihrem Tode ihre Kinder dies geschrieben haben. Mit scharfen Worten strafte er die Sünden der Zeit und schonte die eigenen Gemeindeglieder so wenig, wie die Hohen und Mächtigen des Landes; aber ebenso sanft und freundlich wusste er die Traurigen zu trösten, so dass von Nah und Fern Leute, die in Schwermut gesunken und sich am Rande der Verzweiflung befanden, zu ihm kamen oder sich brieflich an ihn wandten. Sein weiches, liebevolles Herz litt mit jedem und freute sich, wenn es Trost bringen konnte. Er wusste aus Erfahrung zu sprechen, denn er war selber durch viele Leiden, Verfolgungen, Schmähungen, Krankheiten und Anfechtungen hindurch gegangen.

Seine Stimme war von wunderbarer Kraft und Melodie. Mit Recht ist von ihr behauptet, dass sie die Lieblichkeit einer Flöte mit dem Umfang einer Orgel verbände. Von seiner Betonung ward auf einem Kongress der Stenographen gesagt, dass sie nahezu vollkommen sei, und das Gleiche kann von seinem Vortrag gelten, der nie durch eine unschöne Bewegung oder heftige Gestikulation verunstaltet wurde; auch im höchsten Affekt verlor er niemals die dem Redner so nötige Selbstbeherrschung. Seine Sprache war einfach und jedem verständlich, erhob sich zuweilen zu hoher, poetischer Schönheit und ward zu andern Zeiten durch Witz und Humor gewürzt; die Gedanken waren klar und logisch geordnet und stets so ausgedrückt, dass niemand in Zweifel sein konnte über das, was er meinte. Ein Vater nahm einmal seinen kleinen Sohn mit ins Tabernakel; das Kind hörte mit offenen Augen, Ohren und Mund zu und fragte nachher: „Vater, ist das der größte Prediger der Welt?“ – „Das glaube ich.“ „Dann weiß ich, wie man der größte Prediger der Welt wird.“ – „Nun?“ „Man muss nur eben eine hübsche Stelle der Bibel aussuchen und sie vorlesen und sie so erklären, dass jeder es verstehen kann.“ Das Urteil des Kleinen stimmte merkwürdig mit dem überein, was der große Mann von sich selber sagte in einem Privatgespräch, wo von dem „Geheimnis seiner Macht“ die Rede war: „Ich predige Christum, den Gekreuzigten, und ich predige so, dass jeder mich verstehen kann. Das ists.“

Die Predigten wurden stenographiert und kommen nun schon seit 40 Jahren wöchentlich heraus, eine Tatsache, die in der Geschichte der christlichen Kirche ihres Gleichen nicht hat. Alle Prophezeiungen bei seinem ersten Auftreten in London, dass er ein Neuntagswunder wäre, dass er wie eine Rakete aufgestiegen und wie eine solche herabkommen würde, haben sich als null und nichtig erwiesen, denn sein Einfluss wuchs stetig und ward in der ganzen englischredenden Christenheit und darüber hinaus gefühlt. Seine schriftstellerische Tätigkeit war erstaunlich. Außer den Predigten und einem monatlichen Journal gab er jedes Jahr ein oder zwei Kalender und ein oder zwei Bücher heraus, und die ungeheure Anzahl von Exemplaren, in der sie verbreitet wurden, hielt eine große Druckerei und eine große Verlagshandlung fast ausschließlich in Arbeit. Sein Hauptwerk ist ein Kommentar zu den Psalmen, in dem außer seiner eigenen Erklärung das Bedeutendste, was über dieselben geschrieben ist, mit großer Sorgfalt und Vollständigkeit ausgewählt und zusammengestellt ist. Das letzte, von ihm herausgegebene Buch war: „Erinnerungen an Stambourne“, die großväterliche Heimat, an der er mit so großer Liebe hing, und das letzte in diesem Buch ist eine Predigt über Ephes. 2. 8, in welcher er, so zu sagen, noch einmal die Summa und den Hauptinhalt aller seiner Predigten zusammenfasst, ein eigentümlich passender und ergreifender Abschluss seiner Tätigkeit auf diesem Gebiete.

Ebenso groß wie sein Prediger- und Schriftstellertalent war sein organisierendes. Er besaß ein seltenes Maß von gesundem, praktischem Verstand, wusste den rechten Mann für die Stelle und die rechte Stelle für den Mann zu finden und ihm dasjenige Maß von Freiheit zu lassen, das notwendig ist, um geistige Arbeit mit Lust und Liebe zu tun und den Dienst nicht zur Sklaverei werden zu lassen. Er herrschte ziemlich absolut in seinem Kreise, weil er der Beste und der Klügste war, und weil jeder wusste, dass er nichts für sich selbst suchte, weder Reichtum, noch Macht und Ansehen; er wollte nur Gott und seinen Mitmenschen dienen, darum hingen alle seine Mitarbeiter mit der größten Liebe und dem größten Vertrauen an ihm. Er gründete ein „Kollege“ für Pastoren, in dem er 100-120 jungen Männern, die Gaben zum Predigen hatten, aber nicht genügende Kenntnisse, unentgeltlich weitere Ausbildung und freien Unterhalt zu teil werden ließ.

Charakteristisch für seine Weitherzigkeit ist, dass der erste Vorsteher dieses Kollege kein Baptist war, sondern bis an sein Ende Independent blieb. Daneben gründete er ein Waisenhaus, in dem 250 Knaben und ebenso viele Mädchen erzogen werden. Sie sind in Familien eingeteilt, von denen jede unter der Aufsicht einer Matrone steht; denn sein Streben war, ihnen ein wirkliches Heim, ein glückliches Vaterhaus zu schaffen und sie für das künftige Leben in dieser und jener Welt zu erziehen, ohne dass sie den Anstaltszwang mehr als unumgänglich notwendig fühlten. ihm hingen sie wie an einem leiblichen Vater, jedes Spiel ward unterbrochen, sobald es hieß, dass er da sei, und alle drängten sich mit Jubelgeschrei um ihn. Der hellste Sonnenstrahl ist aus dem Leben der armen Kleinen geschwunden, nun dies Herz aufgehört hat zu schlagen, das von seinem Herrn und Meister die Freundlichkeit gegen Kinder in so hohem Grade gelernt hatte. –

Außer diesen beiden großen Anstalten hatte er noch einen Kolportageverein und einen Evangelistenverein, dessen Mitglieder auf den Straßen oder in dazu gemieteten Lokalen predigten, Traktatvereine und eine Menge kleinerer zur Abhilfe geistiger und leiblicher Not. Er selber war ein „Laienprediger“ und verschmähte die Hilfe von Laien nicht, forderte vielmehr beständig zu solcher Tätigkeit auf und erleichterte sie, indem er Abendklassen einrichtete, wo junge Männer, die am Tage ihrem weltlichen Berufe nachgingen, aber die Freistunden dem Dienste Gottes widmen wollten, weitere Ausbildung dazu erhalten konnten. Aus diesen Klassen rekrutierte sich der Evangelistenverein und aus diesem oft wieder das Kollege. So griff eins in das andere ein, und das Ganze war eine gewaltige Maschinerie, deren oberster, alles übersehender Lenker Spurgeon war. Nimmt man zu diesem allen noch eine ungeheure Korrespondenz, nicht nur die geschäftliche, mit all diesen Anstalten und Vereinen verbundene, sondern die vielen Bitten um geistlichen Rat, Bettelbriefe, Bitten um Stellenvermittlung, sogenannter guter Rat rc. und dann das viele Predigen an andern Orten, (denn bis in die letzten Jahre hinein hat er oft außer drei Predigten im Tabernakel und einem Vortrag vor den Studenten noch zwei bis drei andere Predigten die Woche gehalten), so kann man sich einen Begriff von seiner Tätigkeit machen. Nur die Klarheit und Schnelligkeit, mit der er alles ihm Vorgelegte sofort übersah und entschied, die strenge Ordnungsliebe und Pünktlichkeit und das Vertrauen, mit dem er Minderwichtiges den Mithelfern überließ und nicht seine Zeit mit Dingen vergeudete, die auch andere tun konnten, machten es möglich, dass er überhaupt so vieles zu Stande brachte.

Von seiner Freimütigkeit als Seelsorger wollen wir nur ein Beispiel erzählen, möglichst mit seinen eignen Worten, wie sie uns im Gedächtnis geblieben sind. Auf einer seiner früheren Reisen nach dem Kontinent war er zu der Königin des Landes, in dem er sich gerade aufhielt, befohlen. „Ich wäre lieber zu der ärmsten Frau im Armenhause gegangen“, sagte er, aber ich musste ja gehorchen. Im Vorzimmer bat mich eine der Hofdamen dringend, mit der Königin über ihren Seelenzustand zu sprechen. Das ist nun aber nicht so leicht, denn man kann doch nicht auf eine Königin zustürzen, wie ein Stier auf ein rotes Tuch. Dazu kam, dass ich, als ich hereingelassen war, mich einer der liebenswürdigsten und leutseligsten Damen, die man nur sehen kann, gegenüber befand, was die Sache noch schwieriger machte, denn es wird einem leichter, die Leute anzugreifen, wenn sie unliebenswürdig sind. Ich saß also da und wartete auf eine Gelegenheit, die sich erst lange nicht zeigen wollte.

Endlich gab sie mir die trefflichste, indem sie sagte, sie höre, ich sei Baptist, das gefiele ihr doch nicht, es würde ihr schrecklich sein, wenn ihre Kinder nicht getauft wären, worauf ich erwiderte: „Es freut mich, zu hören, dass Ihre Majestät so viel Gewicht auf das äußere Zeichen legen, denn dann werden Sie doch gewiss noch mehr Gewicht auf das legen, was dieses Zeichen abbildet, nämlich auf die Bekehrung Ihrer Kinder, und bitte, Ihre Majestät, sind Sie selber bekehrt?“

Die Königin war erst stutzig geworden, hatte ihn dann aber gebeten, ihr Bücher zu empfehlen, aus denen sie das ersehen könne. Er erzählte dies lange nachher, als er am Morgen die Nachricht vom Tode dieser Fürstin in der Zeitung gelesen, mit der Beifügung, er hätte sich doch gefreut, damals seine Pflicht getan zu haben, und mit der Mahnung an alle Anwesenden, jede Gelegenheit zu benutzen.

Bei seinem Jubiläum im Jahr 1879 ward ihm die Summe von 6238 Pfund als Geschenk überreicht und im Jahr 1884 an seinem 50. Geburtstag die Summe von 4500 Pfund; aber nichts von diesem Gelde behielt er für sich, sondern gab alles seinen Anstalten, die wöchentlich 3-400 Pfund, 6-8000 Mark, erforderten. Nach dem Zeugnis seines ältesten Gemeindevorstehers war er stets der freigebigste Helfer derselben gewesen. Auch seine Privatwohltätigkeit war ungemein groß; wie viele arme Pastoren und andere Hilfsbedürftige er in der Stille unterstützt hat, ist erst nach seinem Tode durch ihre Klagen bekannt geworden. Die zahllosen Briefe mit Bitten um Unterstützung wurden einem seiner Ältesten zugeschickt, der Erkundigungen einzog, und wenn sie nicht von Schwindlern, sondern von wirklich Hilfsbedürftigen waren, Beistand gewährte, wozu er stets Geld von Spurgeon in Händen hatte. Bittgesuche aus fremden Ländern, die auch häufig kamen, mussten freilich, wenn nicht durch Bekannte empfohlen, unberücksichtigt bleiben.

Zwei große Kontroversen hatte er; die erste in seinen früheren Jahren, als er eine Predigt über die Lehre von der Wiedergeburt durch die Taufe hielt und damit die anglikanische Geistlichkeit gegen sich aufbrachte und eine Flut von Schmähungen auf sich herabzog. In späteren Jahren jedoch stellten sich die Geistlichen, namentlich die evangelisch Gesinnten und auch viele der Hochkirchlichen sehr freundlich gegen ihn. Die zweite war die sogenannte Down Grade Kontroverse, die vor ein paar Jahren stattfand und seinen Austritt aus der „Baptist Union“, einem Verein vieler Baptistenprediger, zur Folge hatte, weil in dieser Prediger geduldet wurden, die mehr oder weniger neutheologischen Ansichten huldigten, und er mit solchen in keiner amtsbrüderlichen Gemeinschaft stehen wollte. Da viele seiner besten Freunde darin waren, die selbst noch auf biblischem Grunde standen, aber, mit wenigen Ausnahmen, sich von den andern nicht trennen wollten, sondern einen Vergleich schlossen, so war der Riss ein sehr schmerzlicher und er hat weit mehr darunter gelitten, als die, welche ihn deshalb verurteilten, ahnen mochten. Seine Gesundheit erhielt einen Stoß, den sie nie wieder überwand, doch hat er keinen Augenblick bereut, was er getan, schrieb noch in einem seiner letzten, von Mentone aus an die Gemeinde gerichteten Briefe, dass er, wenn er damals nicht ausgetreten wäre, es seitdem schon öfter hätte tun müssen, und die letzten für sein Journal geschriebenen Worte enthalten die Erklärung, dass kein für die Trennung gezahlter Preis, selbst wenn eine fast tödliche Krankheit ein Teil des Preises sei, zu hoch wäre. Seine Stellung in der eigenen Denomination ward dadurch eine sehr viel andere, dafür aber ward er mehr denn je von den Evangelischen aller Konfessionen als der Vorkämpfer für den Bibelglauben anerkannt und geehrt. Bei solchen Streitigkeiten hielt er sich stets fern von aller Bitterkeit und allen Persönlichkeiten; jeder fühlte, dass es ihm nur um die Sache zu tun war und dass er keinerlei Groll gegen Personen hatte; deshalb mussten auch die Gegner ihm Achtung zollen. Sein Privatleben war fleckenlos, seine Natur eine so durchaus offene und wahre, dass nie, obwohl er seit seinem zwanzigsten Jahre im Lichte der Öffentlichkeit lebte, von den scharfen Augen des Haffes und den noch schärferen des Neides bewacht, auch nur ein Verdacht von irgendetwas Unlauterem oder Unedlem auf ihm geruht hat. Fast einstimmig ward nach seinem Tode von allen Blättern, welcher Richtung sie auch angehören mochten, seine Lauterkeit, seine Furchtlosigkeit und seine Treue gegen seine Überzeugung gepriesen, während diejenigen, die ihm persönlich nahe gestanden, fast ebenso einstimmig seine große Demut, seine Kindlichkeit und sein stetes Gebetsleben rühmten. Ein Independentenprediger, der vor 12 Jahren in Mentone seine persönliche Bekanntschaft gemacht hatte, schrieb in seinem Nachrufe: „Während unseres ganzen dreimonatlichen Verkehrs in Mentone und bei späteren Besuchen in seinem eigenen Hause, traten die Sanftmut, die Selbstvergessenheit, die Bescheidenheit, die Einfachheit im Fühlen und Handeln, welche andere in ihren Zeugnissen von seinem heiligen Leben und seiner Persönlichkeit gerühmt haben, sehr sichtbar hervor. In der Tat, wenn ich gefragt würde, was mir nächst seiner Hingabe an Christum das Bemerkenswerteste an ihm erschienen, so würde ich sagen – der wunderbare Triumph der Gnade Gottes, die ihn in fast unglaublicher Weise sanft und bescheiden und einfach erhielt inmitten der Schmeichelei, die ihn oft so dicht und drückend umgab, dass sie einer Atmosphäre glich. Umringt von all diesem, schien er doch stets eine noch nähere und stärkende Luft zu atmen, die keine Öffnung ließ für das Eindringen der gröberen Einflüsse des menschlichen Lobes und der Bewunderung. Wenn er inmitten des Lobes und des Tadels der Menschen wandelte, wie wenige vor ihm, so war es, weil er immer die höhere Luft der Gegenwart Christi, seines Herrn, atmete.“ Archibald Brown, einer seiner hervorragendsten Schüler und vertrautesten Freunde, schreibt: „Groß wie er im öffentlichen Leben war, so war er doch nach meinem Urteil am größten im Privatleben. Er nahm zu an Größe, je mehr man ihn kannte. Ich wurde es nie gewohnt, mit ihm zusammen zu sein. Es war immer etwas Überraschendes in jeder Zusammenkunft. Es war immer etwas Frisches an ihm. Er bezauberte mich jedes Mal, wenn ich ihn sah, noch mehr als zuvor. Ein Zusammensein mit ihm war stets mit einer tiefen Demütigung meines Herzens verbunden. Nicht, dass er jemals versuchte, uns fühlen zu lassen, dass er groß sei. Gerade das Gegenteil. Ich glaube, die Vorstellung von seiner eigenen Größe kam ihm nie in den Sinn. Er war zu groß, um so klein zu sein. Eben das Fehlen jeder künstlichen Größe ließ uns fühlen, wie wahrhaft großartig sein Charakter war. Seine Einfachheit, seine sichtbare Gemeinschaft mit Gott, sein strahlendes Antlitz, wenn er von Christo sprach, die Tränen, die ihm so schnell ins Auge traten, wenn Golgatha genannt wurde, die kühnen Äußerungen, welche mutigen, von keinem Zweifel beunruhigten Glauben kundgaben, ließen uns fühlen, wie wenig wir noch von seinem Herrn kannten. Manches Mal bin ich von ihm weggegangen mit weinenden Augen und mit dem Gebet: Herr Jesus, lass mich dich kennen, wie Spurgeon dich kennt!“

Im Sommer 1891 fiel er in eine schwere Krankheit, die eine Teilnahme hervorrief, wie sie in dem Umfange wohl noch nie dagewesen ist. Aus fast allen Ländern der Erde kamen Beweise davon, und bis in alle Schichten der Gesellschaft erstreckte sie sich. In London schrieb der Thronfolger mehr als einmal an Spurgeons Arzt, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, während hoch oben in den Bergen Norwegens ein armer Bauer, der reisenden Engländern als Führer diente, sich bei ihnen nach einem „Priester“ erkundigte, der in London so schwer krank sei, womit er, wie nach einigen Fragen herausgebracht ward, Spurgeon meinte. In der Westminster Abtei, der St. Pauls-Kathedrale und vielen andern bischöflichen Kirchen ward ebenso wohl wie in den Kapellen der Dissidenten für ihn gebetet. Protestanten aller Denominationen, Katholiken, Unitarier und Juden sprachen ihre Teilnahme und die Versicherung ihrer Fürbitte aus. Alle Verschiedenheiten des Glaubens, alle Unterschiede von hoch und niedrig, von nah und fern schienen an diesem Krankenbette zu verschwinden, aller Herzen vereinten sich zum Gebet für diesen Mann, dessen rastlose Tätigkeit nur der Ehre Gottes und dem Wohle seiner Mitmenschen geweiht war. Es war ein großartiger Abschluss eines großartigen Lebens und ein Zeugnis, dass der einfache Bibelglaube immer noch eine Macht ist. Er selber hatte, als er am schwersten krank lag, zu einem Prediger, der ihn besuchte, gesagt: „Meine ganze Theologie liegt in vier Worten: Christus starb für mich. Was könnten alle deutschen Theorien jetzt für mich tun?“

Ein paar Monate der Ruhe wurden ihm noch hienieden gewährt, ehe er in die ewige Ruhe einging. Gegen Ende Oktober hatte er sich so weit erholt, dass er die Reise nach Mentone, seinem Lieblingsaufenthalte, antreten konnte, wo er in der Gesellschaft seiner Frau und einiger Freunde noch ein paar heitere, schmerzensfreie Monate voll Frieden und Freude verlebte, bis in der letzten Hälfte des Januars ein Rückfall eintrat, der sehr rasch das Ende herbeiführte. Am 31. Januar, abends 11 Uhr, entschlief er. Der Sarg mit den teuren Überresten ward nach London, in sein Tabernakel gebracht, wo Prediger verschiedener Denominationen sich bei den Gedächtnisfeiern beteiligten. Am 11. Februar war die Bestattung. Auf dem Sarge von Olivenholz lag die offene Bibel, in der Jes. 45, 22 bezeichnet war, der Spruch, durch den er einst nach langem Suchen Frieden gefunden. Einige, aus Mentone mitgekommene Palmen waren der einzige Schmuck. Er hatte den Aufwand, der bei solchen Gelegenheiten mit Kränzen getrieben wird, nie geliebt, und es ward deshalb gebeten, das dazu bestimmte Geld lieber seinem Waisenhause zu geben. Dem sehr einfachen Leichenwagen folgte ein langer Zug von ungefähr 240 Wagen. Der Bischof der Diözese, dem seine Stellung die Teilnahme an der Feier im Tabernakel nicht gestattete, schloss sich unterwegs dem Zuge an. Fast überall, auf dem sechs englische Meilen (eine und eine halbe deutsche Meile) langen Wege zum Friedhofe war eine große Menschenmenge versammelt, in den meisten Pfarreien, durch die der Zug kam, wurden die Kirchenglocken geläutet (die Dissidenten haben keine Glocken), die meisten Läden, selbst die Bierschenken, waren geschlossen, auch in vielen Privathäusern waren die Vorhänge an den Fenstern herabgelassen, als Zeichen der Trauer. So ward im Tode der Mann geehrt, der im Leben „keinen Vergleich“ wollte, weder mit unbiblischer Lehre, noch mit weltlichem Leben; ein letzter, freiwilliger Tribut, der dem „letzten der Puritaner“ dargebracht ward. Auf dem Kirchhofe hielt Archibald Brown eine kurze, ergreifende Ansprache und der Bischof sprach den Segen. Eine zahllose Menschenmasse war dort versammelt, aber keinerlei Unordnung störte den Ernst und die Würde der Feier, bei der kein leeres Gepränge, aber unsagbar viel tiefe, wirkliche Trauer war.