Unter den Vätern des christlichen Alterthums, welche man recht eigentlich als geistige Erzeuger der Kirche anzusehen hat, nimmt eine der ersten Stellen Irenäus ein, merkwürdig insbesondere durch den Kampf, in welchem bei ihm die evangelische Gesinnungsart mit dem sich neu entwickelnden katholischen Bewußtsein liegt. Allein so bedeutend er in beiderlei Hinsicht ist und so hoch sein Name schon in der alten Kirche stand, so sehr verhüllt sich sein äußeres Leben in Dunkel. Wenige Punkte treten aus diesem Dunkel hervor. Dahin gehört sein früher Aufenthalt in Kleinasien, vielleicht seiner Heimath. Daß er Grieche von Geburt war, lernt man schon aus seinem Namen. Und wenn überall aus seinen zumeist auf das Praktische des Christenthums gerichteten Schriften uns etwas von johanneischer Klarheit, Tiefe und Innigkeit anspricht; so bestätigt ein kurzes, aber liebliches, bei Eusebius aufbewahrtes Bruchstück, daß Irenäus in erster Jugend wenigstens mittelbar mit diesem Apostelgreis in Verbindung stand. Bis in das höchste Alter erinnerte er sich mit liebevoller Treue der Tage, wo er, noch Knabe, aber bereits voll der Glaubensgluth seines spätern Lebens, zu den Füßen des ehrwürdigen Bischofs Polykarp von Smyrna saß, seinen Mittheilungen über die Wunder und Lehre des Herrn lauschend. Und die Freudigkeit, mit welcher dieser legte der Apostelschüler ein langes Leben im Dienst des Herrn auf dem Holzstoße schloss, konnte nicht verfehlen, dieses Bild apostolischen Glaubenssieges seinem Gemüth mit Flammenschrift einzuprägen. „Ich sah dich“, schreibt er in einem verloren gegangenen Brief an Florinus „da ich noch Kind war, bei Polykarp in Asien, und erinnere mich sicherer des damals als des erst jüngst Geschehenen. Denn was man in der Jugend lernt, verschmilzt mit der Seele, mit welcher es wächst. Sowohl der Ort, wo der selige Polykarp saß und sich unterredete, als seinen Eingang und Ausgang, seine Lebensweise, seine Körpergestalt, die Reden, welche er an das Volk hielt; ferner wie er von seinem Umgang mit Johannes und Andern, die den Herrn gesehen hatten, erzählte, von ihren Reden und dem, das er von ihnen über den Herrn gehört, in Uebereinstimmung mit der Schrift berichtete: das Alles kann ich angeben. Denn ich hörte es damals eifrig und bewahrte es nicht auf Papier, sondern in meinem Herzen, und erinnere mich dessen durch die Gnade Gottes jederzeit genau.“ Auch mit anderen unmittelbaren Schülern der Apostel pflog er Verkehr und theilte, was er aus ihrem Munde über die Verhältnisse der apostolischen Urzeit Denkwürdiges vernahm, bei Gelegenheit mit.
Später treffen wir ihn als Presbyter in dem blühenden Lyon, einem der mit Strömen Märtyrerbluts gedüngten Ursitze der Kirche im westlichen Europa, von wo christliche Erkenntniß und Bildung über einen großen Theil des Abendlandes ausging. Was ihn in diese damals noch weithin von dem Wahn des Götzendienstes gebundenen Gegenden führte, ob der innere Drang, ob ein äußerer Ruf: wer vermöchte es zu sagen? Aber so viel ist gewiß, daß er durch diese Uebersiedelung nicht bloß der Vermittler griechischer Theologie für die Kirche des Westens, sondern durch Wissenschaft wie praktisches Wirken, das Licht klassischer abendländischen Kirche wurde. Die reichen Talente, durch welche er glänzte, die thatkräftige Liebe für das Evangelium, welche ihn beseelte, mußten in gleichem Maß die Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Beweis dafür ist vielleicht schon die Presbyterwürde, womit ihn sein Bischof ehrte; sicherer die Sendung nach Rom, mit welcher ihn die Kirche von Lyon in Sachen des durch die montanistische Bewegung bedrohten Kirchenfriedens betraute. Mit feurigen Worten bezeugen die Märtyrer in dem Begleitschreiben an den Bischof Eleutherus in Rom seinen Eifer für den Gnadenbund Christi. Um diese Zeit erlag der hochbetagte Bischof Pothinus nach langen Mißhandlungen, aber ungebeugt, der Wuth der Verfolgung, welche die Kirchen des südlichen Galliens verstörte. Irenäus erschien als der Würdigste, welcher den verwaisten Stuhl bestiege. Es waren schwierige Verhältnisse, unter welchen der friedliebende Mann das Heft der obern Kirchenleitung in die Hand nahm (177.). Das Heidenthum, durch die immer sichtbareren Fortschritte der Kirche aufgeschreckt, schien sich zum blutigen Vertilgungskampf gegen die verhaßte Neuerung zu rüsten. Häretiker und Schismatiker, mit allen Künsten der Ueberreizung und Verführung die Einfalt der Ungebildeten überlistend, wühlten im Innern an der Einheit und dem Bestand der Gemeinden. Inmitten des katholischen Kirchenkreises selbst erhoben sich Zwiste über Fragen der kirchlichen Sitte. Aber Irenäus war nicht der Mann, welchen Schwierigkeiten oder Gefahren schreckten. Hätte sein Glaube noch einer Stütze gegen äußere Anfechtung bedurft, so lag sie in dem Bewußtsein: “ des Christen Geschäft ist, daß er zu sterben Sorge trägt.“ Seine bewunderungswürdige Belesenheit in der Schrift und klassischen Literatur, verbunden mit gleich großer Geistesschärfe und praktischer Heilserfahrung, setzte ihn in den Stand, die Irrgewinde der Häresie bis in ihr letztes Geflecht zu verfolgen und, im Netz der eigenen Folgesätze verstrickend, am Schriftzeugniß zu überwinden. Durch Besonnenheit und Milde bildete erden geborenen Vermittler zwischen streitenden Richtungen. Ergriffen von dem Einen großen Gedanken seines Lebens, Ausbreitung der auf den Glauben der Apostel gebauten Kirche, widmete er dem Dienst des Evangeliums das Beste seiner Kräfte. Es mag zweifelhaft sein, ob er auch als Missionar die Fackel des Glaubens austrug unter die umwohnenden Barbarenstämme. Dafür spricht, was er einmal mit der Frische des Augenzeugen erzählt, daß viele Barbaren auch ohne Papier und Dinte das Wort des Heils durch den göttlichen Geist lebendig in ihre Herzen geschrieben trügen. Ebenso mag bloße Dichtung sein, was spätere Jahrhunderte wissen wollten, daß er den Ruhm seines Lebens noch durch die Glorie des Märtyrerthums gekrönt habe (202.). Aber unsterblich sind seine Verdienste als kirchlicher Schriftsteller. Nicht Schönheit oder Schwung der Rede, nicht Genialität oder Neuheit der Gedanken, aber tiefe Ehrfurcht vor dem Worte Gottes, harmonisches Gleichmaaß der Bildung, kindliche Demuth in Sachen des Heils zeichnet ihn als solchen aus. Die Mehrzahl seiner Schriften ist bis auf Bruchstücke oder Aufschriften verloren. Das noch erhaltene Hauptwerk gegen die Ketzer in altlateinischer Uebersetzung, durch deren ängstliche Treue indeß der griechische Urtext noch leicht erkennbar hindurchschimmert, hat zum Gegenstand die Darstellung und Widerlegung des Gnosticismus. Ein Gegenstand, würdig der höchsten Anstrengungen. Denn wie kein Sturm äußerer Verfolgung, kein Riß schismatischer Absonderung, bedrohte damals im innersten Nerv das Leben der Kirche die falsche Weltweisheit, welche vom Streben nach höherer Erkenntniß sich selbst die Gnosis nannte.
Ein solches Streben nach tieferer Einsicht in die göttlichen Dinge war auch auf christlichem Boden an sich nicht unberechtigt. Das Evangelium ist mehr als blinder Glaube. Paulus kennt ein in Christus erschlossenes geistliches Verständniß und empfiehlt es als die Vollendung des Glaubens (Koloss. 1, 9. 2, 2. f.). Und wenn er anderswo dem Wissen die Thorheit der einfachen Predigt vom Kreuz warnend entgegenstellt, so gilt dies nicht dem Streben nach religiöser Erkenntniß an sich, sondern dem hohlen Wissensdünkel, der über das Haschen nach philosophischer Tiefe und Redekunst leichtfertig die Hauptsache im Christenthum, Liebe und Heiligung, aus den Augen verlor (1. Korinth. 1, 17. ff. 8, 1.), oder durch Einmischung altvettelischer Fabeln den Grund des Glaubens verkehrte und die Einheit der Gemeinden zerriß (1 Timoth. 4, 7. 6, 20.). Aber es liegt ebenso im Wesen des Christenthums, daß, wo es als die höhere Macht eintritt, es überall das Verwandte der vorgefundenen Bildung in seinen Kreis zieht und, wo es richtend in die Gewissen greift, die Nachtseite der Menschennatur aufstört. Am gewaltigsten ergriff damals das durch Knechtsinn und innere Zerfahrenheit haltlose Zeitalter sein Evangelium von der Erlösung und Freiheit. So mußte geschehen, daß sich frühe auch an die apostolischen Gemeinden Zeitideen und Schwärmereien aller Art, wie das Geflügel an das Licht, herandrängten; am zudringlichsten die gnostischen mit schweren, sittlichen Verkehrtheiten. Ihr Hauptheerd war Kleinasien, die Geburtsstätte das Judenthum sowohl wie das Heidenthum. Allen gemeinsam war das Brüten über den Verhältnissen der himmlischen Geisterwelt, sammt dem Bestreben, sich ihre Geheimnisse und Kräfte auf jede Weise dienstbar zu machen.
In dieser Absicht verbanden in dem phrygischen Kolossä judenchristliche Irrlehrer mit den Satzungen des Mosaismus einen mysteriösen Engeldienst, zu dem sie durch schmerzhafte Kasteiungen weihten (Koloss. 2, 8. 18. ff.). In Ephesus wie auf Kreta trug man sich mit Mährchen über den Ausfluß der Geisterwelt aus Gott, welche, in Verbindung mit Streitfragen über das Gesetz, anstatt Erbauung Zwiespalt weckten (1 Timoth. 1, 4. ff. Tit. 3, 9.). Anderwärts mißdeutete man das Recht christlicher Freiheit und den Reichthum der Gnade (2 Petr. 2, 19. Jud. v. 4.) auf Entfesselung des Fleisches. So verlockten in Ephesus, Pergamus und Thyatira die Nikolaiten das christliche Volk zur Theilnahme an den Opfergelagen der Götzen und frevelhaften Lüsten, ähnlich wie einst der heidnische Prophet Bileam in Israel Verderben anrichtete (Offenb. 2, 6. 14. ff. 20. ff.). Mit tiefahnungsvollem Schmerz sah Paulus diese bevorstehende Verwüstung der Heerde des Herrn voraus (Apostelg. 20, 29. ff.). Johannes brandmarkt die Verführer als Vorboten des Antichristen (1 Joh. 2, 18.). Mehrere andere Bücher des N. Test. sind voll von Warnungen und Weherufen über sie. Wieweit ihr Uebermuth sich an dem Heiligthum des Glaubens selbst vergriff, entschied theils der sittliche Leichtsinn, theils das altorientalische Vorurtheil von der unbedingten Verderbtheit der Materie. Wohl aus beiden Gründen läugneten abtrünnige Apostelgehilfen die Auferstehung der Todten, vorwendend, daß sie geistig im Christenthum bereits vollbracht sei (2 Timoth. 2, 17. f.). An diesen Widerspruch schloss sich bei Andern Spott über die Wiederkunft des Herrn (2 Petr. 3, 3. ff.). In dem Wirkungskreise des Johannes bestritten Irrlehrer die evangelische Grundthatsache von der Erscheinung des Herrn im Fleisch (1 Joh. 2, 22. f. 4, 1. ff.).
Nach allen Anzeichen war die Gefahr dieser Verführung groß. Aber immerhin waren die Gnostiker des apostolischen Zeitalters erst die Vorläufer eines weit furchtbareren Abfalles. Denn was mit ihnen sich nur noch vereinzelt, keimartig und im Dunkeln schleichend an das Christenthum herandrängte, das faßte sich seit Anfang des 2ten Jahrhunderts zum kunstreich entwickelten System in geschlossenen Sektenkreisen zusammen. Dieser eigentlich sogenannte Gnosticismus verhieß nichts Geringeres als die Geburtsgeschichte Gottes und der Welt in den kühnsten Bildern phantasievoller Dichtung. Die Grundfrage war ihm nicht mehr die praktische des Apostels: was muß ich thun, damit ich selig werde? sondern die altphilosophische: wie die Welt aus dem göttlichen Urgrund entstanden, woher die Mischung des Guten und Bösen in der Stufenleiter ihrer Wesen, welches ihr Endziel sei? Zu ihrer Lösung dichtete er einen allervollkommensten, aber verborgenen Gott, dessen unendliches Wesen erst durch Selbstbeschränkung in einer Reihe von ihm ausgeflossener göttlicher Geister (Aeonen genannt) Gegenstand der Erkenntniß wird. Durch Vermischung dieser Geisterwelt mit der in der Tiefe befindlichen, gleich ewigen, aber gestaltlosen Materie, entstand die sichtbare Welt. Einer der niedrigsten Himmelsgeister, ein beschränktes, hochmüthiges Wesen, wurde der Weltschöpfer (Demiurg), indem er die ihm inwohnenden oder aus der höhern Welt empfangenen göttlichen Ideen dem Weltstoff eindrückte. Dem Judenvolk, welches er sich frei erwählte, verlieh er als Zuchtmittel für bürgerliche Ordnung und Wohlfahrt das Gesetz. Das Heidenthum fiel unter die Herrschaft satanischer Gewalten. Die Erlösung bewirkte der oberste der Himmelsgeister in einem menschlichen Scheinkörper (Doketismus) durch Verkündigung des unbekannten Gottes und Belebung des angestammten Gottesbewußtseins in den empfänglichen Naturen. Das Ende der Dinge wird sein die Wiederkehr alles Gottverwandten in die Himmelsheimath und die Vernichtung oder such Fesselung der Materie sammt den ihr verwandten Naturen. Ein Hauptsatz war, daß der Schöpfer dieser sichtbaren Welt, der Gott des A. Test. nach Wesen wie Wirken durchaus verschieden sei von dem im Christenthum geoffenbarten Gott, dem Vater Jesu Christi. Gesetz und Gnade, Natur und Evangelium traten als völlig getrennte Schöpfungen auseinander. Das Christenthum selbst diente nur als Mittel und Anknüpfungspunkt für philosophische Ideen. Sein Wesen war nicht göttliche That, sondern Lehre. Die wichtigsten Thatsachen im Leben des Herrn, seine Geburt, sein Leiden und Sterben, ja seine Menschheit überhaupt wurden bloßer Schein, inhaltloses Bild. Die Erlösung bestand ebensowohl oder weit mehr in einem physischen als sittlichen Geschehn. Als das Höchste im Christenthum galt das Erkennen. Der Glaube und das thätige Leben hatte nur Geltung als ein mittlerer Standpunkt zwischen der Vollkommenheit der im Anschaun der Gottheit seligen Geistesmenschen und der Unvernunft der von Leidenschaft und Begierde regierten Sinnenmenschen. Und da diese Unterschiede ihren Grund nicht sowohl in vorübergebenden Bildungsverhältnissen, sondern in der Verschiedenheit der Naturanlage haben sollten, so fand in ihnen auch die Kraft der Erlösung eine unüberschreitbare Schranke. Sie erstreckt sich nur auf einen Theil der Menschen, während andererseits die ganze Schöpfung an ihr Theil hat. Entsprechend dieser Weltbetrachtung, schlug die Lebensstrenge, welche die Bessern unter den Gnostikern ihren Genossen zur Pflicht machten, allmählich fast durchweg in die frechste Sittenlosigkeit um.
Man kann leicht denken, welchen Eindruck dieses buntgewirkte Phantasiebild des Christenthums auf ein Gemüth von der Wahrheitsliebe und Keuschheit des Irenäus machen mußte. Gottlosigkeit und Aberwitz: – das ist sein Urtheil. Auch gesetzt, daß in der Hitze des Kampfs überhaupt möglich wäre, Licht und Schatten des Widerparts unpartheiisch abzuwägen: dem Auge des Irenäus konnte sich das Wesen des Gnosticismus zunächst allein von seiner zerstörenden Seite darstellen. Was sich ihm deshalb an Schrift- oder Vernunftbeweisen darbot, wird zum Zeugniß gegen dieses Widerchristenthum. Und in diesem Kampf zumeist stellten sich ihm die Grundsätze fest, durch welche er in so vielfachem Betracht an der Spitze aller weitern kirchlichen Entwickelung steht.
Gegenüber der Vielgetheiltheit der Gnostiker erhebt ihn schon die Einmüthigkeit des kirchlichen Bekenntnisses. „Die Sprachen in der Welt sind ungleich, aber die Ueberlieferung ist ist eine und dieselbe. Man trifft keinerlei Verschiedenheit des Glaubens oder der Lehre bei den Kirchen in Deutschland, in Spanien, bei den Celten, im Orient, oder wo die Kirchen im Mittelpunkt der Welt begründet sind. Vielmehr wie die Sonne in der Welt eine und dieselbe ist, so leuchtet auch die Predigt der Wahrheit aller Orten“, also daß weder Nationalität noch Bildung einen Unterschied macht. Vermaßen sich die Gnostiker, daß ihrer Erkenntniß selbst die Tiefen der Gottheit nicht unzugänglich seien, weil ja der Geist selbst ein göttlicher Funke; so verweist Irenäus auf den unermeßlichen Abstand zwischen Schöpfer und Geschöpf. Es scheint ihm rathsamer, daß der Mensch, bei geringem Wissen durch die Liebe Gott nahe komme, denn bei vielem Wissen sich dem Frevel der Lästerung des Herrn aussetzt, und nichts Anderes wissen wolle, als Jesus Christus den Sohn Gottes und Gekreuzigten, denn daß er durch spitzfindige Fragen in Ruhelosigkeit verfalle.“ Was in den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung gehört oder in der heiligen Schrift deutlich geoffenbart ist, das sind ihm Gegenstände einer gesunden und gefahrlosen Betrachtung. Aber die Schrift hat Dunkelheiten und Probleme. Auch von ihnen soll der Mensch nicht vorwitzig den Schleier wegziehn. Denn es ist höhere Ordnung, daß Gott jederzeit lehrt, der Mensch von Gott allewege lernt. Ihre Lösung ist der Vorbehalt für das ewige Leben. Behaupteten endlich die Gnostiker, daß ihre Lehre nicht minder apostolisch als die der katholischen Christen sei, sei’s weil sie durch eine Geheimüberlieferung von den Aposteln auf die Gegenwart vererbt oder in den biblischen Schriften nach geistiger Ausdeutung verhüllt sei; so antwortete Irenäus mit dem Hinweis auf die wahre Ueberlieferung und Schriftauslegung der Kirche.
Besonders an diesem Gegensatze entwickelte sich seine folgenschwere Ansicht über die Bedeutung der Tradition. „Die in der ganzen Welt verkündigte Ueberlieferung der Apostel“, so versichert er, „läßt sich von Allen, welche die Wahrheit sehen wollen, finden in den von jenen gestifteten Gemeinden. Entsteht daher auch nur über eine geringe Frage Streit, so wende man sich an die ältesten Gemeinden, in denen die Apostel wirkten, und entnehme von ihnen die sichere Entscheidung über die obschwebende Streitfrage. Ja den Fall gesetzt, die Apostel hätten überhaupt keine Schriften hinterlassen, müßte man sich da nicht an die Ueberlieferung halten?“ Eben wegen dieser Allgemeinheit und Unverfälschbarkeit gilt ihm die Ueberlieferung, d. h. eben der Inbegriff apostolischer Lehre, so wie dieselbe unabhängig von der heiligen Schrift in den Gemeinden lebte, als die Hauptstreitwaffe wider die Arglist der Häretiker. Aber in welchem Verhältnisse steht sie zur heiligen Schrift? Denn auch die Schriftwahrheit dient überall als Streitmittel gegen die Falschmünzerei der Häresie. Irenäus ertheilt anderswo den Rath: „will man den vielgestaltigen und veränderlichen Meinungen der Häretiker entfliehen, so hat man sich im Schooß der Kirche nähren zu lassen an den Schriften des Herrn, die vollkommen sind, als vom heiligen Geist eingegeben.“ An sich betrachtet, soll keines dem andern nachstehn. Vielmehr sind Schrift und Ueberlieferung erst in ihrer höhern Einheit die Grundfeste und Säule des Glaubens. Beide sind Stimmen aus Einem Mund. Die apostolische Glaubensüberlieferung trifft man unverfälscht in den Händen der Bischöfe, deren Reihenfolge ohne Unterbrechung bis auf die Apostel zurückreicht, und diese Ueberlieferung selbst ist nichts als die ausgelegte, im Bewußtsein der Gemeinde lebende Schrift.“ So bewährt sich die Einheit des Glaubens wieder an der Uebereinstimmung der Quellen, woraus die bekennende Gemeinde ihn schöpft. „Die wahre Gnosis“, bemerkt Irenäus, „ist die Lehre der Apostel und der alte über die ganze Welt ausgebreitete Bau der Kirche, verfaßt in der Nachfolge der Bischöfe, denen die Apostel die irgendwo befindlichen Gemeinden übergaben, und der Gebrauch der unverfälschten und unverstümmelten Schrift, so wie sie sich selbst auslegt, und der Beruf der Liebe, köstlicher als alles Wissen, ruhmvoller als die Weissagung, höher als alle sonstige Gnadengabe.“
Von höchster Wichtigkeit ist ihm hierbei die Einheit der Kirche, weil sie erst die Aechtheit der Ueberlieferung und Schrift verbürgt. Der Kirche sind alle Schätze der Wahrheit auf das vollständigste von den Aposteln vertraut, so daß allein in ihr volle Glaubensgewißheit, außer ihr nichts als Irrthum und unstetes Meinen ist. Sie ist das Licht Gottes. Die Kirche hat ferner das Amt, daß sie den Geist Gottes und das durch ihn gewirkte Leben mittheilt. Auf ihr ruht somit die Gemeinschaft Christi. Sie ist das Unterpfand unserer Unvergänglichkeit und die Leiter unseres Emporsteigens zu Gott, das Paradies, welches Gott in diese Welt gepflanzt hat. So sehr befaßt die Kirche die gesammte Wirksamkeit des heiligen Geistes, daß, wer nicht in ihren Schooß flüchtet, am Geist keinen Theil hat. Das furchtbarste Gericht droht deshalb sowohl denen, welche das fremde Feuer der Irrlehre auf den Altar Gottes bringen, als denjenigen, welche, um geringe Ursachen vielleicht, den herrlichen Leib Christi zerreißen. Den Frevel solcher Spaltung wiegt keine spätere Besserung auf. Die Hüter jener Einheit aber sind die Bischöfe. Denn sie haben die Nachfolge von den Aposteln und mit ihr das sichere Gnadengut der Wahrheit. Ihnen gebührt deshalb Gehorsam.
Niemand kann leugnen, diese Sätze haben einen gut katholischen Klang. Und so schien die römische Kirche in ihrem Recht, wenn sie, ihre später entwickelten hierarchischen Grundsätze geschäftig hineindeutend, dieselben als Vermächtniß der apostolischen Urzeit erscheinen ließ. Aber dieser Schein läßt gerade die Hauptsache außer Acht. Vom Wesen der Hierarchie ist Irenäus durch keine geringere Kluft als die des Evangeliums getrennt. Nicht als die äußerliche Verfassungskirche ist ihm die Kirche der Leib des Herrn, sondern allein darum und in soweit, als alle Heilswahrheit und alles göttliche Leben thatsächlich in ihr zur Erscheinung kommt. „Wo die Kirche ist“, sagt er in einem berühmt gewordenen Ausspruch, „da ist auch der Geist Gottes; und wo der Geist Gottes ist, da ist die Kirche und alle Gnadengabe.“ In diesem Ausspruch drückt sich noch die volle Unmittelbarkeit der Idee und Wirklichkeit in einander aufhebenden Betrachtungsweise aus, aber zugleich der Wiederschein eines Lebens, von welchem der Weltsinn späterer Zeit noch nicht den zarten Blüthenstaub der ersten feurigen Liebe abgestreift hat. Seine erste Hälfte für sich spiegelt das Eigenthümliche des katholischen, seine zweite das des evangelischen Begriffs der Kirche. Beide Seiten des Verhältnisses aber sind für Irenäus so untrennbar Eines, daß, so wenig er sich eine Heilswirksamkeit des göttlichen Geistes außerhalb des Verbandes der katholischen Kirche denken kann, so unmöglich ihm die Vorstellung von der Kirche ohne ihr lebendiges Durchdrungensein vom Geist ist. „Die nicht Theil haben am Geist“, äußert er in dieser Hinsicht, werden auch nicht an den Brüsten der Mutter (d. h. der Kirche) zum Leben genährt und genießen nicht den dem Leib Christi entströmenden klarsten Quell.“ Ja dieses Durchdrungensein vom Geist ist ihm im Wesen der Kirche so sehr das Bestimmende, daß er Bischöfe, deren Amtsstellung sich nicht durch lebendigen Glauben und göttliches Leben bewährt, gar nicht als wirkliche Bischöfe gelten läßt. Nur den Bischöfen soll die Gemeinde anhangen, welche mit ihrer Amtswürde die gesunde Lehre der Apostel und einen Wandel ohne Flecken verbinden. Solche Bischöfe nährt die Kirche. Wo man sie trifft, da erfüllt sich das Wort des Apostels (1 Korinth. 12, 28. ff.). Wo also die Gnadengaben Gottes niedergelegt sind, da muß man die Wahrheit lernen; dort, wo die von den Aposteln herstammende Abfolge der Kirche und tadelloser Wandel und die unverfälschte Lehre besteht. Sie bewahren unsern Glauben an den Einen Gott der Alles erschaffen hat; sie wahren die Liebe gegen den Sohn Gottes, der so große Veranstaltungen zu unserm Heil getroffen hat; sie legen uns die Schrift ohne Gefahr aus.“
Diesen Grundsätzen entsprach die That. Den Anlaß sie auf ruhmwürdige Weise zu bewähren, gab ein Streit über die Zeit der Osterfeier. Seit Alters hatten die Gemeinden Kleinasiens die Sitte beobachtet, daß sie alljährlich am Abend desselbigen Tages, an welchem die Juden nach gesetzlicher Vorschrift die Passahlämmer schlachteten (d. h. am 14ten des Monats Nisan), ein Mahl zur Erinnerung an den Opfertod Christi als des wahren Passahlammes (1 Korinth. 5,7.) hielten. Die römische Kirche dagegen nahm die Zeitfolge der Leidenswoche zum Vorbild für die Festordnung der Osterwoche, so daß sie die jährliche Auferstehungsfeier regelmäßig an einem Sonntag und den Freitag zuvor die Todesfeier des Herrn beging. Diese Verschiedenheit der Festsitte hatte man lange übersehen. Durch zufällige Veranlassung wurde sie um die Mitte des 2ten Jahrhunderts der Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit. Die Abendländer machten den Kleinasiaten zum Vorwurf, daß sie wider das allgemeine Herkommen mit ihrer Passahmahlzeit das Fasten der Kreuzigungswoche noch vor dem Auferstehungstag unterbrachen, und noch mehr, daß sie die Auferstehungsfeier je nach der Ordnung des jüdischen Kalenders auch auf einen andern Tag, als den Sonntag fallen ließen. Der tiefere Gedanke war wohl schon damals der Wunsch, daß, wie die Erlösung eine einige, so auch die Feier des kirchlichen Hauptfestes von der Gesammtheit der Christen an einem und demselben Tage begangen werden möchte. Das Verlangen nach Einigung gab sich lebhaft auf beiden Seiten kund. Aber die ersten Versuche schlugen fehl, indem den Kirchen das Ansehn ihrer Ueberlieferung höher stand, als die Uebereinstimmung in dem Festgebrauch. Doch störte dies den Frieden der Kirchen nicht. Als sich um das J. 160 der Bischof Polykarp aus Smyrna in Rom befand, gestattete ihm der dortige Bischof Anicet hochherzig die Feier des Abendmahlssakraments, obwohl beide die Meinungsverschiedenheit über die Osterfeier nach wie vor trennte. In Kleinasien selbst setzten sich die Verhandlungen in Schriften und Synoden fort. Da richtete plötzlich der Bischof Viktor I. von Rom (196.) an die Kleinasiaten ein hochfahrendes Schreiben, des Inhalts, daß sie mit Aufopferung ihres Herkommens sich der Festsitte des Abendlandes fügen sollten. Die Urkunde läßt unaufgeklärt, ob blinder Eifer für die Gleichförmigkeit der Kirchen auch in den Ceremonien oder das hierarchische Gelüst, die Tragweite des römischen Einflusses zu erproben, der Beweggrund dieses unerhörten Schrittes war. Die Asiaten, gestützt auf das Ansehn ihrer großen entschlafenen Kirchenfürsten, eines Apostels Johannes und Philippus, eines Polykarp und anderer, antworteten ablehnend. Sofort verwirklichte Viktor seine Drohung und brach mit ihnen als Irrgläubigen die Kirchengemeinschaft ab. Die erste Gewaltthat römischer Kirchenherrschaft! Aber wohl nicht zum ersten Male regte sich damals der Gedanke zu ihr. Der Alles überstrahlende Ruhm der Welthauptstadt; der Umstand, daß die römische Gemeinde im Abendlande die einzige Kirche apostolischer Stiftung und durch das Märtyrerblut der beiden glorreichsten Apostel geweiht war; die große Wohlhabenheit ihrer Glieder; der thatkräftige Geist des alten Rom, der frühe auf ihre Bischöfe überging, mochten ihn wecken. Die keimende Neigung ermuthigte der Erfolg. Schon um den Ausgang des 2. Jahrhunderts tauchte, wie es scheint, der Titel Bischof der Bischöfe auf. Die Verehrung des Abendlandes war eine allgemeine. Auch Irenäus theilte sie. Er gibt der römischen Kirche die Ehrennamen der ältesten, größesten Allen bekannten. Ihre Entscheidungen in Kirchensachen sind ihm von hohem Werth. Da wo er die Unverfälschtheit der Kirchenlehre aus der Stetigkeit der bischöflichen Aufeinanderfolge in den apostolischen Kirchen erweisen will, nennt er sie beispielsweise anstatt aller. Er legt ihr eine bedeutendere Ursprünglichkeit (oder nach anderer Deutung, einen ansehnlichern Vorrang) bei, und ist der Ueberzeugung, daß eben deshalb alle übrigen Kirchen mit ihr übereinstimmen müßten, weil stets in ihr die apostolische Ueberlieferung treu bewahrt sei. Aber daß sie der Fels sei, auf welchen der Herr seine Kirche zu bauen verhieß; davon kommt ihm keine Ahnung. Dieser Fels ist ihm die apostolische Wahrheit. Und auch mit jener Ehrenbezeichnung ist er so weit von der Anerkennung irgend welcher Obergewalt entfernt, daß er dem Bischof Viktor, obwohl im Wesentlichen der Streitfrage mit ihm einig, doch nachdrücklich sein liebloses Verfahren gegen die Kleinasiaten verweist. Er hält ihm das Beispiel seiner eigenen Vorfahren zur Beschämung vor. Er erinnert ihn, daß nie sonst die Gemeinden über Verschiedenheiten in äußern Gebräuchen die Gemeinschaft unter einander zerrissen hätten. Und faßt schließlich sein Urtheil zusammen in dem Ausspruch: „vielmehr verklärt sich an der Abweichung in der Sitte die Einheit des Glaubens!“ So wenig wußten damals noch die treuesten Verehrer Rom’s von einem Kirchenprimat seines Bischofs! So hoch stand Irenäus über Menschenfurcht und Menschenrücksicht hinaus! In so herrlicher Weise vereinigte sich Geistesfreiheit mit Entschiedenheit im Wesentlichen bei ihm! Schon dieser Eine Ausspruch erwirbt ihm seine Stelle unter den Glaubensverwandten und Altvordern des Protestantismus.
Irenäus gehörte nicht zu den erhabenen Gestalten, welche, eine Welt im Kleinen, durch großartige Missionsthätigkeit die Apostel ganzer Länder oder durch schöpferische Ideenfülle die Begründer neuer Richtungen geistigen Lebens wurden. Man trifft keine Spur, daß sein Name im Munde des Volks gelebt hätte. Das Alterthum kennt ihn hauptsächlich als Gelehrten. Und selbst die Ueberzeugungen, welche er mit Kraft vertrat, und durch welche er von so großem Einfluß auf die spätere Gestaltung der Kirche wurde, waren nicht sowohl sein persönliches Eigenthum, als das Gemeingut der Zeit, in welcher er wirkte. Aber was ihn bei alle dem zu einer der bedeutendsten und anziehendsten Erscheinungen macht, das ist seine Treue als Haushalter über Gottes Geheimnisse. Das Schwert des Geistes in der Hand, wacht er über den Heilsschatz der Kirche; sammelt, was sich ihm als Inhalt apostolischer Wahrheit bewährt, in einen bündigen Ausdruck und baut, so viel er kann, mit Umsicht und Milde nebenher am Hause des Herrn. Mit Recht hat ihn das Alterthum einen apostolischen Mann genannt. Er war es, nicht bloß sofern sein Leben noch nahe an das apostolische Zeitalter reichte, sondern mehr noch als Erbe apostolischer Tugend. Möchte sein Geist der spätern Kirche niemals entschwunden sein! Möchte er auch unter uns sich kräftig erneuern!
K. Semisch in Greifswald.