Johann Wessel

Er wurde 1419 zu Groningen geboren, lehrte als Doktor der Theologie zu Köln, Löwen, Heidelberg, Paris, und starb 1489. Er hatte zwei Beinamen, „Licht der Welt“ (lux mundi), weil man staunte über die verborgenen Wissensschätze, die er an’s Tageslicht förderte, und „Meister des Widerspruchs“ (magister contradictionum), weil er so trefflich es verstand, durch seine Dialektik die alten Scholastiker aufs Eis zu führen, bis sie ein Bein brachen. Luther, der von ihm seine Rechtfertigungslehre entnahm, gab auch Wessel’s Schriften heraus.

Historische und biographische Erläuterungen zu
Wilhelm von Kaulbach's
Zeitalter der Reformation
von Franz Löher
Stuttgart
Verlag von Friedrich Bruckmann
1863

Johann Wessel

Unter den Männern, welche in Deutschland die Reformation der Kirche vorbereitet haben und nicht mit Unrecht Reformatoren vor der Reformation genannt worden sind, nimmt eine hervorragende Stellung Johann Wessel ein, den selbst Bayle kurzweg den Vorläufer Luthers nennt und dessen geistiges Wesen und Leistungen sein berühmtester Biograph jenen ersten Lichtstrahlen vergleicht, welche vor dem wirklichen Hervortreten der Sonne die Wolken und Dünste des Horizonts durchbrechen. Dieser Stellung entspricht auch die in den älteren Nachrichten über sein Leben und seine Schicksale vorhandene Mischung von Wahrheit und Dichtung, welche ebenso von dem mächtigen Eindruck, den der weitgereiste und in ungewöhnlichem Maße lehrhafte Zeuge des Evangeliums auf seine Zeitgenossen machte, Zeugniß gibt, als von dem Streben nach Verherrlichung des berühmten Mannes, den die Einen mit dem Namen „Licht der Welt“ beehrten, die Andern durch den Titel „Meister des Widerspruchs“ zu kennzeichnen suchten.

Geboren im Jahre 1420 zu Gröningen in einem an dem Familienwappen Wessels, der Gans, noch jetzt erkennbaren Hause in der Herrenstraße, gestorben am 4. Oktober 1489 gleichfalls zu Gröningen in einem Kloster, welches jetzt ein Waisenhaus ist, genannt das Bürger- oder rothe Waisenhaus, hat Wessel den größten Theil seines Lebens an verschiedenen Orten Deutschlands, Frankreichs und Italiens (der Sage nach sogar in Griechenland und Aegypten) zugebracht, lernend, lehrend, disputierend, unermüdlich im Sprechen und Streiten, aber so anregend und fesselnd, daß Tage wie Stunden verschwanden, wenn man ihn hörte, ebenso klar als tief und in jener Mischung von Ernst und Heiterkeit, die auch aus seinem Antlitz auf den noch vorhandenen Abbildungen spricht, welche ein kräftiges, offenes Gesicht zeigen, zwar von derben Zügen, aber nicht ohne freien geistigen Ausdruck: Ernst auf der Stirne, Verstand in den Augen und eine gewisse Schalkheit um den Mund. Sein Vater Herrmann, ein‘ ehrsamer Bäckermeister, dessen Familie aus dem Dorfe oder Gute Gansfort auf dem linken Emsufer in Westfalen stammte (daher Wessels Beiname Gansfort, holländ. Goesfort), war früh gestorben; desgleichen seine aus der angesehenen Familie der Clanten stammende Mutter. Eine reiche und durch weibliche Tugenden ausgezeichnete Verwandte Oda (Ottilie) Clantes nahm sich des verwaisten Knaben an und ließ ihn mit ihrem einzigen Sohne anfänglich in Gröningen, dann in der berühmten Anstalt der Kleriker vom gemeinsamen Leben in Zwoll erziehen. Hier entwickelte sich in dem Gemüthe des begabten Knaben einerseits seine Richtung auf die Innerlichkeit der religiösen Beziehungen, anderseits aber auch das Gefühl des Widerspruchs, mit welchem die Bezeugungen der Frömmigkeit auch in jenem Kreise tiefer und lebendiger angeregter Männer noch an sich selbst behaftet waren. Dies Gefühl gibt sich deutlich in Aeußerungen kund, welche uns aus dem Umgange Wessels mit dem etwa 40 Jahr älteren Thomas von Kempen aufbewahrt sind. Letzterer lebte als Kanoniker auf dem eine halbe Stunde von Zwoll entfernten Agnesberge und machte durch sein damals verfaßtes Buch „Von der Nachfolge Christi“ einen solchen Eindruck auch auf Wessel, daß dieser später bezeugte, er habe aus diesem Buche die ersten kräftigen Anregungen zur Frömmigkeit empfangen und dasselbe sei ihm eine Grundlage der wahren Theologie geworden. Ja, der einen mystischen Zug überhaupt in sich tragende Jüngling war nahe daran, in demselben Kloster in welchem Thomas lebte, in das Mönchsleben einzutreten. Aber, wie er nach dem Ausdruck seines ältesten Biographen „von der Knabenzeit an stets etwas Besonderes, allem Aberglauben innerlich Widerstrebendes“ hatte, so war seine ganze Anlage nicht auf ein beschauliches Leben gerichtet, sondern seiner warmen und tiefen Frömmigkeit ging stets ein starker Trieb nach Erkenntniß und eine unermüdliche Strebsamkeit und Mittheilungslust zur Seite, welche sich frühe als eine evangelisch-reformatorische entwickelte und ankündigte. Als Thomas einst den jungen Wessel zur besonderen Verehrung der Jungfrau Maria aufforderte, erwiderte dieser: „Vater, warum führst du mich nicht lieber zu Christo, der doch alle Mühseligen und Beladenen so gütig zu sich ruft?“ Dieselbe vom wahren und lebendigen Glauben ausgehende Opposition spricht sich in seiner Antwort auf eine Aufforderung zum Fasten aus: „Gebe Gott, daß ich stets rein und nüchtern lebe und faste von Sünden und Lastern.“ Wenn nun erzählt wird, daß Thomas, als er Dieses und Aehnliches hörte, in Verwunderung gerieth und davon Veranlassung nahm, Manches in seinen Schriften zu ändern was jetzt weniger Spuren menschlichen Aberglaubens an sich trage, so spricht diese Nachricht wenigstens für die hohe Meinung, welche man schon von des Jünglings kritischer Begabung, wissenschaftlicher Selbständigkeit und kühnem Freimuth hegte. Diese Eigenschaften haben auch in Verbindung mit dem tiefen Ernst und der lebendigen Innerlichkeit seiner Frömmigkeit ihm jene eigenthümliche Stellung unter den Bahnbrechern der Reformation gegeben, welche durch einen seiner eigenen späteren Aussprüche charakterisiert werden kann: „Jesus will in den Menschen das durch ihn wieder hergestellte göttliche Ebenbild: Wahrheit, Klarheit, Liebe; soweit diese nicht in uns leben, ist es Nacht in unserm Innern.“

Eine weitere Förderung seines geistlichen Lebens empfing Wessel noch in der Anstalt zu Zwoll durch seinen Stubennachbar Johann von Köln, dem er dagegen wissenschaftlichen Unterricht ertheilte. Seine Lehr- und Disputiergabe zu entwickeln fand er Gelegenheit darin, daß er aus der Zahl der Scholaren als Unterlehrer ausgewählt und zum Lektor der dritten Klasse bestellt ward. Die in dieser Stellung an ihm gerühmte Demuth darf als ein Kennzeichen des Ernstes seiner Frömmigkeit gelten und als ein Charakterzug, der sich später noch bestimmter ausgeprägt hat, seine frühere Neigung zum Spott in Schranken hielt und an dem ihm eigen gebliebenen trockenen Witze die Herbigkeit sänftigte. Das innig und geistvoll von ihm aufgefaßte biblische Christenthum war nicht bloss die Grundlage seiner Theologie, sondern auch die bewegende Kraft und das Vorbild seines Lebens geworden, gemäß seinem Spruche: „Wer bei der Lesung der Bibel nicht täglich geringer denkt, sich nicht immer mehr missfällt und gedemüthigt wird, der liest die heiligen Schriften nicht allein vergeblich, sondern auch nicht ohne Gefahr.“ In diesem Sinne vertheidigte er sich auch später bei seinem Streit über den Ablaß gegen den Vorwurf, daß er sich hartnäckig zeige und in allen seinen Aussprüchen nach einer gewissen Singularität strebe, in folgender bezeichnenden Weise: „Wenn du mir in die Seele und ins Herz blicken könntest, wahrlich du würdest darin nicht Stolz, sondern vielmehr eine niedergeschlagene Stimmung finden, womit ich oft vor Gott im Gebete seine Barmherzigkeit anrufe, daß er mich nicht um meiner Hartnäckigkeit willen, die mir selbst bisweilen verdächtig ist, auf verwerfliche Meinungen verfallen lasse. Glaube mir, wenn ich irre, werde ich nicht sowohl durch Leidenschaft als durch Schwachheit verführt, indem ich mit gutem und heiterem Gemüthe mir bewußt bin, stets mit solchem Eifer die Wahrheit des Glaubens gesucht zu haben und zu suchen, daß ich, auch wenn ich sie gefunden zu haben glaube, stets bereit bin, nicht bloss durch deinesgleichen gelehrte und erprobte Männer, sondern durch Jeden auch den Geringsten, ja durch mich selbst, mich belehren zu lassen und es zu bekennen.“ In seinem späteren Alter fühlte der ermüdete Kämpfer sich zu der stillen Stätte seiner Jugendbildung zurückgezogen und weilte oft und gern in ihr. In seiner Jugend jedoch befriedigte sie weder seine Lernbegierde noch gewährte sie ausreichenden Raum für das Kundgeben seiner bei dem Herkömmlichen sich nicht beruhigenden Meinungen. Nach Abfassung einer Vertheidigungsschrift verließ er Zwoll und ging zur Universität Köln in die Laurentiusburse, ein von einem aus Gröningen stammenden Professor gestiftetes Collegium. Hier lernte er von Mönchen, die aus Griechenland geflüchtet waren, die griechische, von Juden die hebräische Sprache, was für sein eifriges Bibelstudium von größestem Werthe war, ersetzte durch fleißige Benutzung der Bibliotheken die Mängel des öffentlichen Unterrichts und gewann durch wiederholtes Lesen der Schriften des Rupert von Deuz ebenso eine Kräftigung der mystischen Richtung seiner Natur wie durch ernstes Studium des Plato eine philosophische Bildung, welche ihn zur Kritik der herrschenden auf aristotelischer Grundlage aufgebauten scholastischen Theologie befähigte, zu deren Studium er nach Erwerbung der philosophischen Magisterwürde überging. In Köln fand aber sein Trieb nach reinerer Erkenntniß der Wahrheit keine Befriedigung, nicht einmal Verständnis Zum Forschen und Fragen, zum Lernen und Erkennen durch das damals gewöhnliche Mittel öffentlicher und privater Disputationen zog es ihn aber mächtig. Er lehnte deshalb einen Ruf als Lehrer nach Heidelberg ab und ging zunächst auf die neugegründete Universität Löwen, dann nach Paris, wo der neuentbrannte Streit zwischen den beiden Hauptschulen der Scholastik, Realismus und Nominalismus genannt, den unterdeß zum Manne gereiften Forscher sechzehn Jahr lang fesselte und ihn bald in das Lager der Nominalisten, welchem die meisten Männer von reformatorischer Richtung angehörten, hinüberzog. An diesem Sammelplatze der europäischen Gelehrsamkeit, der damals zugleich Mittelpunkt der Bildung und des geistigen Einflusses war, empfing Wessel, in griechischer Umschreibung auch Basilius genannt, sehr einflußreiche Anregungen durch den Kardinal Bessarion und durch den General der Franziskaner Franz von Rovere, den nachmaligen Papst Sixtus IV., und wirkte seinerseits namentlich auf Joh. Reuchlin und Rud. Agrikola, nachdem er inzwischen einige durch Bildung hervorragende französische Städte des wissenschaftlichen Wettkampfes wegen besucht hatte. Wessel war jedoch kein literarischer Klopffechter, sondern ein eifrig die Wahrheit suchender Mann, stets bereit, sich belehren zu lassen und sogleich entschlossen, das bisher von ihm befolgte Schulsystem aufzugeben, sobald er „etwas dem Glauben Widersprechendes in ihm zu finden überzeugt werden“ konnte. Seine religiösen Ueberzeugungen, die mit den sittlichen Grundsätzen des Evangeliums unlösbar vereinigt waren, änderten sich nicht; wandelbar war nur die wissenschaftliche Form, in der er sie geltend machte, und auch die Aenderung dieser Form entsprang nicht aus Neuerungssucht, sondern aus offenem Wahrheitssinn. Er bekennt von sich selbst: „Wahrheit habe ich vor allen Dingen von Kindesbeinen an gesucht und jetzt mehr als je, weil durch die Wahrheit allein der Weg zum Leben geht.“ Und anderwärts bezeugt er: „der Wahrheitskampf ist ein solcher, daß ich sowohl als Sieger wie als Besiegter wachse in der Freiheit der Kinder Gottes. Denn es ist eine Verheißung der Wahrheit, daß sie die, welche in ihr stehen, befreien wird. Und das ist der Kampf, den der Herr Jesus zu bestehen geboten hat, damit wir eingehen in sein Reich.“ Auch seine Freude am Disputieren scharfsinniger Geister hing zwar mit seiner Lust am Lehren und Lernen überhaupt zusammen; aber diese Lust hatte ihren Ursprung in der Liebe zu Christo als der wesentlichen Wahrheit und in der Ueberzeugung, daß die Liebe im Licht der Wahrheit sich bewähren und verklären müsse, wie die Erkenntniß stets im Leben und in der Liebe wurzeln müsse. „Das Wissen,“ sagt er, „ist nicht der höchste Zweck; denn wer bloß weih um zu wissen ist ein Thor, weil er keinen Geschmack hat an der Frucht der Wissenschaft und auch sein Wissen nicht mit Weisheit zu ordnen weiß.“ Der ganze Kern seiner Gesinnung wie seiner Theologie ruhte in seiner tiefen Frömmigkeit und diese war ihrem Wesen nach lebendige Gottes- und Menschenliebe. In seinem höheren Alter schreibt er in einem Briefe: „Nur in der Liebe ist Leben und nur in heiliger Liebe ein heiliges Leben. Wir müssen also den erstgebornen Bruder lieben und durch ihn zum Vater der Liebe zurückgeführt werden. Denn wenn wir diesen nicht mit reinem Herzen lieben, so können wir sein Angesicht nicht schauen.“ Und in seinen Meditationen sagt er: „Was soll ich dem wiedergeben, dem ich nichts wiedergeben kann was nicht sein ist, was ich nicht von ihm habe, was er mir nicht geschenkt hat? Wie kann ich aber dankbar sein? Ich, der ich unermeßlich verpflichtet und doch arm bin, kann es nur sein durch Anerkenntnis Bekenntniß, Zurückführung auf Gott, durch Bewunderung, Liebe, Verherrlichung und süßesten Genuß seiner Güte. Und so bin ich denn dein, o Gott, und mehr dein als mein; und Alles, was etwa in mir ist, das ist nur weil du es gewollt hast. In allen Lagen sei dies der feste Anker für mein schwankendes Schiff, allein zu wollen weil du willst.“

Bei einer solchen Gesinnung ist es begreiflich, daß Wessel nicht bloss den Ablaß, die Todtenmessen und ähnliche Einrichtungen mißbilligte, sondern auch diejenigen bekämpfte, welche viele Gebete, lange Litaneien, zahlreiche Rosenkränze und Psalmen als die beste Ausrüstung zur Frömmigkeit empfahlen. „Zu Jesu,“ sagt er, „kommt Niemand außer durch Jesum und nach der Regel Jesu; der richtige Weg aber ist lebendiger Glaube.“ Ferner: ‚ „Unsere guten Werke nähren und stärken den Glauben, aber sie beleben ihn nicht, sondern sie stärken nur das Band des Lebens. Christus allein und der Geist belebt uns und das Opfer Christi heiligt uns.“ Desgleichen: „Keine Pflichtleistung des Liebenden gefällt dem Liebhaber, außer wenn sie aus der Quelle der Liebe entspringt. Die Liebe ist also mehr als alle Pflichtleistungen. Weil aber die Quelle der Liebe der Glaube ist, so ist der Glaube auch wegen seines Erzeugnisses angenehm.“ Diese letztere Aeußerung darf nicht so verstanden werden, als habe Wessel den Glauben doch nur als etwas in sich Verdienstliches betrachtet, das an die Stelle der Werke zu setzen sei. Er hat kurz vorher gesagt: „Wir glauben, daß der Mensch gerechtfertigt werde durch den Glauben an Jesus Christus ohne die Werke.“ Aber sein Interesse ist, zu zeigen, daß die Apostel Paulus und Jakobus zwar „verschieden, aber nicht entgegengesetzt“ lehren. Deshalb entwickelt er genauer, daß man aus gewissen Thätigkeiten erkennt, daß ein Mensch lebe der doch nicht durch diese Thätigkeiten lebe, sondern durch die Quelle derselben; und wendet dies dann auf den Glauben an, welchen er sich nur als einen lebendigen denken kann, welcher mit der Liebe ein untrennbares Ganze bildet und so als Band der Gemeinschaft mit Gott und Christo den Menschen von her Sünde reinigt und fortwährend heiligt. Durch die starke und häufige Betonung der Liebe, welche eine wesentliche Bedeutung für seine Lehre von der Erlösung, Rechtfertigung und Heiligung hat, hängt Wessel nach Ullmanns richtiger Wahrnehmung rückwärts mit der mystischen Theologie und namentlich mit Thomas von Kempen zusammen, während die Hervorhebung der paulinischen Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben vorwärts auf die reformatorische Theologie deutet.

Dieses Herandringen zu der Kernlehre der Reformation, welches sich auch bezeichnend in den Worten ausdrückt „durch den Glauben reinigt er die Herzen der Gläubigen, aber nicht um des Glaubens willen,“ hängt bei Wessel mit seiner Kenntniß der heil. Schrift und dem biblischen Charakter seiner ganzen Theologie eng zusammen. Wie hoch er die Bibel schätzte, ergibt sich aus folgender zugleich die wahrhaft evangelische Gesinnung Wessels kund gebenden Geschichte. Als Franz von Rovere Papst geworden, forderte er den ihm befreundeten Wessel auf, sich eine Gnade auszubitten. Dieser erwiderte mit bescheidener Freimüthigkeit: „heiliger Vater, Ihr wißt, daß ich nie nach großen Dingen gestrebt habe; aber da Ihr nun die Stelle eines obersten Priesters und Hirten auf Erden bekleidet, so wünsche ich, daß Euer Ruf Eurem Namen entspreche und daß Ihr Euer erhabenes Amt so verwaltet, daß wenn einst jener Erzhirte kommt, dessen höchster Diener Ihr hienieden seid, er dann sage: ei du frommer und getreuer Knecht, gehe ein zu deines Herrn Freude! und Ihr darauf getrost sagen könnet: Herr, fünf Pfunde hast du mir gegeben, siehe hier fünf andere Pfunde, die ich dazu gewonnen habe.“ Als darauf der Papst bemerkte, dafür habe er zu sorgen, Wessel möge jetzt für sich etwas erbitten, sprach Wessel: „nun so bitte ich, daß Ihr mir aus der vatikanischen Bibliothek eine griechische und hebräische Bibel gebet.“ Das soll geschehen, fuhr Sixtus fort, aber, du Thor, warum hast du dir nicht ein Bisthum oder etwas dergleichen ausgebeten? „Weil ich dessen nicht bedarf“ schloß Wessel und empfing eine Bibel.

Auch wird erzählt, daß Wessel, als er einst in einem Cisterzienserkloster eine mit abgeschmackten Fabeln ausgestattete Schrift bei Tische vorlesen hörte, in seiner lieblichen Art vor sich hinlächelte, dann aber, als er befragt wurde, sagte: ich lache über die groben Lügen; es wäre besser, den Brüdern die heilige Schrift oder Bernhard’s Devotalien vorzulesen. – Sein ächt evangelischer Grundsatz war: „Nur, wenn die Geistlichen und Lehrer mit dem wahren und einzigen Lehrer übereinstimmen und zu ihm hinführen, muß man sie hören.“ Darum wollte er auch, daß alle Aussprüche der Prälaten und Doctoren, Bischöfe und Concilien mit dem verglichen würden, was zuverlässig aus dem Geiste Gottes hervorgegangen sei, mit den prophetischen und apostolischen Schriften.

Diese wahrhaft protestantische Stellung zeigt sich ferner darin, daß Wessel in bewußten Gegensatz zu des Augustinus berühmter Aeußerung trat: ich würde dem Evangelio nicht glauben, wenn mich nicht die Auctorität der katholischen Kirche dazu bewöge. Wessel bemerkt hiergegen polemisch: „Um Gottes willen glauben wir dem Evangelio, und um des Evangeliums willen der Kirche und dem Papst, nicht aber dem Evangelio um der Kirche willen.“ In gleichem Sinne lehrt er von der Kirche: „Man muß eine katholische Kirche bekennen, aber diese Einheit setzen in die Einheit des Glaubens und des himmlischen Hauptes, in die Einheit des Ecksteins (Christi), nicht aber in die Einheit Petri als des Lenkers der Kirche oder seines Nachfolgers.“ Demgemäß wollte er auch mit der Kirche glauben und gemäß der Kirche, aber nicht an die Kirche, weil Glauben ein Akt gottesdienstlicher Verehrung sei und ein Opfer der theologischen Tugend, welches nur Gott dargebracht werden könne.

Auf die Entwickelung seiner Ansichten und auf seine Befestigung in der schon frühe von ihm eingenommenen Stellung hat unzweifelhaft sein Aufenthalt in Italien und namentlich in Rom beigetragen, wohin alle strebenden Männer und Jünglinge damals strömten, aber von wo zu verschiedenen Zeiten immer nicht Wenige mit denselben Eindrücken und Erfahrungen heimkehrten, welche von Luther bekannt sind und auch von Wessel berichtet werden. Seine Abneigung gegen den Eintritt in den geistlichen Stand war noch gewachsen.

Dies zeigte sich besonders als Wessel nach seiner Rückkehr aus Italien und nach vorübergehendem Aufenthalt in Paris und Basel, wo er 1475 abermals mit Reuchlin verkehrte, einen Ruf nach Heidelberg zur Hebung der dortigen Universität zwar annahm, jedoch lieber der Lehrthätigkeit in der theologischen Fakultät entsagte und in die philosophische eintrat, als daß er die vor Erlangung der theologischen Doctorwürde dort erforderte Priesterweihe sich hätte ertheilen lassen. Sein Aufenthalt daselbst war nur kurz, doch reichlich gesegnet; die Spuren seiner Wirksamkeit lassen sich in der Pfalz deutlich bis zur Reformation hin verfolgen.

Zum reformatorischen Handeln war jedoch die Zeit noch nicht gekommen, auch die Eigenthümlichkeit Wessels nicht geeignet. Es war ihm zwar Ernst mit der Versicherung: „Ich fürchte keine Gefahr, der ich für die Reinheit des Glaubens entgegengehen könnte; nur bleibe die Verleumdung fern;“ eine Versicherung, die er aussprach, als nach seiner Rückkehr in die Heimath die Nachricht von dem durch die Kölner Inquisitoren gegen Johann von Wesel eingeleiteten Prozeß zu ihm kam und seine Phantasie in der Ferne schon den eigenen Scheiterhaufen lodern sah. Aber der Aufenthalt des schon alternden Mannes an den Stätten seiner Jugendbildung und seine dortige Beschäftigung während des letzten Decenniums seines Lebens zeigt doch, daß der mystische Zug seines Wesens wieder stärker hervorgetreten war und daß die unter dem Schutze des Bischofs David von Burgund ihm gewährte Sicherheit und Muße dem des Disputierens müde gewordenen Greise eine willkommene Gelegenheit bot zur stillen Sammlung und geistlichen Einkehr, zur wissenschaftlichen Verarbeitung seiner Erfahrungen und Gedanken, zu erwecklichem Umgange mit Gesinnungsgenossen in Gröningen, auf dem Agnesberge bei Zwoll und in der nahen, durch ihre Unterrichtsanstalten ausgezeichneten Abtei Adwert, wo damals, wie ein gleichzeitiger Schriftsteller sich ausdrückt, nicht wenige Vorbilder des reineren Mönchthums lebten. „Der Dürstende“, sagt Wessel, „freuet sich nicht so sehr der klaren Quelle, der Hungernde nicht des dargebotenen Brodes und der Liebende nicht über frohe Botschaft aus fernem Lande, wie sich der Weise freuet eines verborgenen, ruhigen, treuen, zuverlässigen, fruchtbaren, heiteren, verständigen Gesprächs mit seiner Meisterin, der Weisheit.“ Mit klarer Einsicht in die Lage der Kirche wies er seine jüngeren Freunde auf das Nahen der Zeit hin, in welcher die Lehren der Scholastiker von allen wahrhaft christlichen Gottesgelehrten würden verworfen werden, und bildete den Mittelpunkt eines einflußreichen Kreises begabter und frommer Schüler und Freunde. Seine Abneigung gegen allen Formalismus und Methodismus gab er hier wiederholt und entschieden zu erkennen; aber er verwarf nicht eine gewisse Ordnung und Gewohnheit, wenn damit in die Uebungen und Bezeugungen der Frömmigkeit nur nichts Mechanisches und Gemachtes kam. Er selbst pflegte an dem Tage, wo er das Abendmahl genoß, den Brüdern auf dem Agnesberge das Abschiedsgebet Jesu Joh. 17 vorzulesen und darüber einen Vortrag zu halten. Am meisten liebte er das Gebet des Herrn. Von den Brüdern befragt, ob er nie bete, weil er weder Brevier noch Rosenkranz gebrauchte, antwortete er: „Mit Gottes Gnade strebe ich dahin, immer zu beten; nichts destoweniger spreche ich jeden Tag das Gebet des Herrn; aber dieses Gebet ist so rein und erhaben, daß es hinreichend wäre, wenn ich es nur einmal im Jahre läse.“ Er hat über dasselbe eine besondere Schrift verfaßt, in welcher er sagt: „Es hat dieses Gebet ich weiß nicht welche verborgene Kraft vor allen übrigen Gebeten und verheißt dem, der sich seiner mit Sorgfalt bedient, eine große Fülle der Andacht. Denn ein fruchtbares Land bringt unter der Sonne des Frühlings und des Sommers nicht so viele Früchte als bei einem entflammten Beter das Gebet Christi; aber freilich verlangt es einen aufmerksamen und fleißigen Pfleger.“

Es ist eine sehr zu beachtende Erscheinung, daß grade im geistlichen Leben sehr geförderte Christen nicht selten beim Nahen ihres Endes noch die schwersten Anfechtungen zu erdulden haben. Ein solcher innerer Kampf, der selbst bis zu Zweifeln an der Wahrheit der christlichen Religion sich zu steigern drohete, ward auch diesem tapferen Kämpfer und viel erprobten Zeugen nicht erspart. Aber wie er schon früher den Tag selig gepriesen, da er hindurchdringen würde zu einem unendlich vollkommenen Leben der Liebe, so half ihm auch der Herr in seiner letzten Noth und schon im Angesicht des Todes zu dem schließlichen Bekenntniß: „Ich danke Gott; alle jene nichtigen Gedanken sind verschwunden und ich weiß nichts als Jesum den Gekreuzigten.“ Und so entschlief er sanft und selig im Herrn, dieser Mann, von welchem Luther später sagte: „Wenn ich den Wessel zuvor gelesen, so ließen meine Widersacher sich dünken, Luther hätte Alles vom Wessel genommen, also stimmet unser Beider Geist zusammen.“

  1. B. Moll in Königsberg.

Evangelisches Jahrbuch für 1856
Herausgegeben von Ferdinand Piper
Siebenter Jahrgang
Berlin,
Verlag von Wiegandt und Grieben
1862