Elie Neau

Neau, Elie

„Gott, der die Regungen meines Herzens sieht, weiß, ich liebe meine Feinde, die, die mich gerichtet haben und die, die mich noch gefangen halten. Ich beklage ihr Elend. Ich bitte den Herrn von Herzen, daß er ihnen vergebe.“
Elie Neau an Pfarrer Morin in Bergopzoom am 10. März 1698.

Elie Neaus Geburts- und Heimatdorf, Moize, liegt in der Küstenlandschaft Saintonge, im Nordwesten Frankreichs. Dort ist Elie Neau um 1662, im zweiten Jahr, da Ludwig XIV. König von Frankreich war, als armer Leute Kind geboren worden. Es wundert uns nicht, daß der Knabe schon mit zwölf Jahren als Matrose aufs Meer kam, an dessen Strand er oft genug in die Ferne geträumt haben mag. Noch öfters aber muß er gearbeitet haben, mit zäher Ausdauer, denn nur durch rastloses Streben konnte er, der Mittellose, dem sich keine höheren Schulen auftaten, die gottgeschenkten Gaben so früh entfalten. Er war ganz ein Kind des Volks dieses rauhen Landstrichs, wo die Männer sozusagen von Kindsbeinen auf als Matrosen, als Fischer oder Salzgewinner aufs Meer kamen. Im Kampfe mit Sturm und Wetter wurden sie furchtlos und stark auch zum Kampfe gegen die Stürme der Verfolgung. Seit mehr als einem Jahrhundert waren die Schiffer und Fischer dieser Dörfer treue Anhänger des reformierten Bekenntnisses. Moize bildete eine blühende Gemeinde, bis seit 1681 die Verfolgung auch über diesen Strich des französischen Königreichs fuhr. Es ist bezeichnend, was ein Priester der römischen Kirche von Soubise einem seiner Freunde schrieb: „Ich kann Ihnen bekennen, daß ich gegen die Hugenotten, die nicht das leiseste Wörtchen zu sagen wagen, einen ununterbrochenen Krieg führe. Man faßt sie beim Schnabel wie die Schnepfen, und beim geringsten Widerstande führen wir sie in die Kerker von Rochefort . . .“ Unter den nichtigsten Vorwänden wurden die reformierten Gemeinden ihrer Kirchen beraubt. Schon das bloße betreten eines Tempels – wie die reformierten Gotteshäuser verächtlich genannt wurden – durch einen sogenannten Relaps bildete für die Verfolger Grund, der Gemeinde ihre Kirche zu entziehen oder sie gar niederzulegen. (Relaps, d. h. Rückfällige, wurden jene Protestanten genannt, die, nachdem sie ihren Glauben abgeschworen hatten, aus Reue wieder zu ihm zurückkehrten.) Auf das Zeugnis eines siebenjährigen Mädchens wurde den 6000 Reformierten der Gemeinde Moize der Gebrauch ihrer Kirche untersagt: Es habe, erklärte es auf Befragen, zu Moize gleich wie zu Soubise eine Kanzel, und Pfarrer Morin habe sie bestiegen. Also, so schloß man, müsse das Mädchen diese Kirche einmal betreten haben, als ob es sein Wissen um diese Kanzel nicht ebenso gut vom Hörensagen sich angeeignet haben konnte. Und dabei vermochte dieser Zeuge noch nicht einmal mit Sicherheit sein rechtes vom linken Händchen zu unterscheiden . . . So wurde denn der Großteil der Einwohner dieser Dörfer vor die Wahl gestellt, entweder den Kopf zu beugen oder auszuwandern. Die meisten wählten den Wanderstab. Nichts schreckte dies tatkräftige und willensstarke Volk zurück. Das Meer war für sie die große Befreierin vor der Verfolgung. Man verbarg sich auf den Kauffahrteischiffen unter der Handelsware. Man fürchtete weder die Korsaren, die darauf ausgingen, die feindlichen Schiffe auf offenem Meere zu kapern, noch die Stürme. Selbst Frauen und Kinder überwanden diese Mühen und Strapazen mit ebensoviel Mut und Aufopferung, als unternähmen sie eine Lustfahrt. So entvölkerten sich denn diese einst so volksreichen Gemeinden. „All unsere jungen Leute ziehen fort“, schreibt der Priester eines dieser Dörfer, „und es bleiben uns nur noch Greise und Kinder.“ Bald wurde auch für den jungen Elie Neau die Heimat zur Fremde und die Fremde zur Heimat. Im Jahre 1679, mit siebzehn Jahren, verließ er die Heimat, um seinen Glauben zu retten. so stark war schon damals die Treue zu seinem Glauben, der, wie es scheint, weniger durch das Vorbild seines Elternhauses als durch den Einfluß seines Seelsorgers, des Pfarrers Jean Morin, geweckt und gepflegt worden war.

Zunächst siedelte sich Elie Neau wie viele seiner Landsleute auf der Insel St-Dominique an. Fahrten zwischen den französischen und holländischen Besitzungen im Dienste eines Handelshauses bildeten seinen Tageslauf. Als die Verfolgung mit dem Rückruf des Edikts von Nantes ihre Wellen auch auf die ferne Meeresinsel warf, wandte sich Elie Neau der Neuen Welt zu. Er ließ sich in Boston nieder. Sechs Jahre lang weilte er in dieser damals noch kleinen Stadt. Er ahnte nicht, welche Bedeutung sie für sein Leben gewinnen sollte. Hier war es, daß er dem Apostel der Indianer, John Eliot, begegnete, von dessen Persönlichkeit und Missionswerk unter den wilden Stämmen von Massachusetts er unverlierbare Eindrücke empfing.

In der neuen Heimat suchte Elie Neau nun fürs Leben heimisch zu werden. Im Jahre 1688 schloß er die Ehe mit Suzanne Pare, der Tochter einer angesehenen Flüchtlingsfamilie. Von drei Kindern, die ihm die Gattin schenkte, starb das erste im zarten Alter; ein Sohn zählte 18 Monate, als der Vater in Gefangenschaft fiel, und das jüngste Kind, ein Mädchen, kam einen Monat nach des Vaters Gefangennahme zur Welt. Elie Neau sollte Frau und Kinder erst nach sechs Jahren schwerer Mühsale wiedersehen.

Um Kommandant eines englischen Schiffes werden zu können, ließ sich Elie Neau im Jahre 1690 ins englische Bürgerrecht aufnehmen. Mit seinen Schwägern siedelte er nun nach New York über. Von hier aus stach er am 15. August 1692 als Kommandant eines kleinen Kauffahrteischiffs „La Marquise“ im Dienste des New Yorker Kaufmanns Gabriel Le Boiteux in See. Sein Ziel war Jamaika, die große Insel in den Antillen. Am 9. September wird sein Schiff auf offenem Meere auf der Höhe der Bermuda-Inseln, 120 Meilen von seiner neuen Heimat entfernt, von einem französischen Korsaren gekapert. Der Korsar, Julien Boussaut, Herr du Motte von St-Malo, zwingt den Kommandanten des gekaperten Schiffs, zu dessen Führung er selber nicht genügend Leute hat, ihm die Fracht um 3500 Pfund zurückzukaufen. Und da Elie Neau über diese Summe nicht verfügt, läßt ihn der Korsar mit seinem Leben für diese Summe bürgen, indessen das Schiff nach seinem Heimatport zurückfahren darf. Den Bürgen seiner Beute aber, den unglücklichen Elie Neau, entführt der Korsar an die französische Küste nach St-Malo. Dort läßt er ihn ins Staatsgefängnis legen, bis er das Lösegeld entrichtet hätte. Als Franzose und Protestant, als den sich Elie Neau freimütig zu erkennen gibt, erregt er das besondere Interesse der Gerichtsbehörden. Man meldet den Fall nach Paris und erbittet sich Weisung, wie mit dem Gefangenen zu verfahren sei. Inzwischen gelingt es Elie Neau, mit seinen Freunden in England Fühlung zu nehmen. Man verhandelt über Wege und Mittel, den Gefangenen auszulösen. Man verhaftet sogar zwei französische Kapitäne, in der Hoffnung, Frankreich lasse sich auf einen Tausch ein: zwei gegen einen. Indessen zerschlagen sich alle diese Versuche. Wir wissen nicht, weshalb. Doch einer weiß es. Es ist Elie Neau selber; der die Gewißheit empfängt. Gott wolle seinen Glauben seine Treue und Standhaftigkeit erproben. Vom Pariser Hof kommt Weisung, der Fremde sei zum Widerruf seines Bekenntnisses und zur Unterzeichnung einer Formel seiner Abschwörung zu zwingen. Weigere er sich des Widerrufs, so sei er nach der ganzen Strenge der königlichen Gesetze zu richten. Mit verlockenden Versprechungen und unverhüllten Drohungen gab man dieser Weisung Nachdruck. Man ließ durchblicken, man würde dem Gefangenen den Kaufpreis seiner Fracht erlassen. ja man ließ ihn hoffen, man würde ihm ein hohes Amt oder ein Kommando anvertrauen. Solchen Versuchungen gegenüber aber blieb Elie Neau fest: Diese Angebote wären wohl gut für einen Mann, dem die Welt und ihre Reichtümer lieb wären; aber nicht für ihn. Um einen solchen Preis könne er das, was er mehr liebe als alle Güter der Welt, nicht hingeben, nämlich seine Seele, die Jesus Christus um einen unermeßlichen Preis losgekauft habe.

Nun setzten die Drohungen ein: Elie Neau solle bedenken, daß er keineswegs so unschuldig sei, wie er glauben machen wolle. Er habe gegen die Gesetze des Königs das Land verlassen und sei auf einem feindlichen Schiffe verhaftet worden. Er könne sich aber leicht aus der Sache ziehen, wenn er nicht länger widerspenstig sei und die Richter nicht zwinge, ihn nach dem Wortlaut der königlichen Befehle, deren Strenge er ja kenne, zu richten. Die größte Gunst, auf die er dann rechnen dürfe, wäre eine Verurteilung zu den Galeeren. Daran solle er denken, solange es noch Zeit sei.

Elie Neau macht geltend, er sei englischer Bürger, und zwar seit mehr als zehn Jahren. Dieser Einwand erschien den Richtern von St.-Malo nun doch so gewichtig, daß sie beschlossen, Elie Neaus Bürgerbrief nach Paris zu schicken. Mochten die Hofjuristen zu Paris den Rechtsstreit entscheiden! Wohl hatte Elie Neau seine Heimat nach dem Edikt vom Jahre 1669 verlassen, das die Auswanderung und den Aufenthalt in fremden Ländern ohne besondere königliche Erlaubnis verbot. Doch bestand daneben die Tatsache, daß er seit zehn Jahren schon das englische Bürgerrecht besaß. In Paris wurde der Rechtsstreit zuungunsten von Elie Neau entschieden. Nach vier Monaten, am 12. Februar 1693, wurde er vom königlichen Sitz der Admiralität zu St-Malo dazu verurteilt, sogleich in Ketten gelegt und auf die Galeeren Seiner Königlichen Majestät geführt zu werden, um daselbst als Gefangener für die Zeit seines Lebens zu dienen, denn er sei überwiesen worden, daß er ohne Erlaubnis und gegen die Erlasse und Weisungen Seiner Majestät sich in einem fremden Lande aufgehalten habe.

Elie Neau machte von seinem Rechte der Appellation an das Parlament zu Rennes Gebrauch. Hiezu führte man ihn in das Gefängnis dieser Stadt. Noch ehe das Parlament das Urteil von St-Malo bestätigte, begab sich der Generalprokurator in den Kerker, um dem Gefangenen die Freiheit anzubieten unter der Bedingung: die Messe oder dann die Kette. „Ich wählte die Kette“ schreibt Elie Neau in seiner schlichten Weise seinem Freunde dem Pfarrer Morin. Mit den Worten „Sie tun mir leid, aber da Sie dieses Sinnes sind, können wir nichts mehr für Sie tun!“ verließ der hohe Richter den Gefangenen. So wurde denn das Urteil bestätigt und Neau schon am 3. April 1693 in die „Kette“ 18 eingereiht, in einen jener Transporte von bis zu zweihundert zum Galeerendienst verurteilten Männern aus jedem Stand und Alter. Mit gemeinen Verbrechern, mit Mördern, Räubern, Dieben, Fahnenflüchtigen wurden auch die um ihres Glaubens willen auf der Flucht in die Fremde eingebrachten Glieder der verfolgten Reformierten in wochenlangem Marsche durch das Land dem Süden zu nach Marseille, dem Hauptquartier der Galeeren, getrieben. 37 Tage währte der mühselige Marsch. Ein glaubwürdiger Zeuge, der zehn Jahre später den Weg in der „Kette“ vom Norden Frankreichs bis nach Toulon erlebt hatte, gesteht in seinen Erinnerungen, er habe in diesen Wochen mehr gelitten als sonst in seinem zehn Jahre langen Galeerendienste. Elie Neau litt unterwegs zwar schwer an einer schmerzhaften Dysenterie, erreichte aber dennoch das Ziel der Reise in leidlich guter Verfassung. Es war am Abend vor Pfingsten, als er den Boden von Marseille betrat. Zunächst wurde er der Galeere „Vieille Dame“ zugeteilt. Das war eine Art Sammellager der neu eingelieferten Opfer. Sechs Monate weilte er hier und ebenso lange auf der Galeere. „La Magnanime“.

Über seine Erlebnisse sind wir durch eine Reihe von Briefen unterrichtet, die Elie Neau seinem fernen Freunde und Lehrer, dem Pfarrer Morin, der längst in Holland ein neues Arbeitsfeld und eine neue Heimat gefunden hatte, zu schreiben vermochte. In diesen Briefen erzählt Elie Neau nicht nur sehr eingehend von seinem äußeren Ergehen, von den Mühen und Nöten des Galeerendienstes; er bekennt seinem Seelsorger rückhaltlos und voller Vertrauen auch die Nöte seiner Seele den Wechsel von Bangen und Hoffen, die Niederlagen und Siege in seinem Ringen im Kampf um die Treue zu seinem Glauben. Wenn Elie Neau das Leben auf diesen Galeeren weit erträglicher fand, als er es erwartet hatte, so dankte er dies nicht zum kleinsten Teile dem tapferen Beispiel und Vorbild einzelner Glaubensbrüder die ihn in seiner Haltung bestärkten und ermutigten, sie die schon seit Jahren unerschrocken den Namen ihres Herrn bekannten. „Ihr Vorbild in der Reinheit ihrer Sitten wie im Dienste des wahren Gottes hat mir die Liebe zu allem, was liebenswert ist, eingeflößt“, schreibt er im ersten der uns erhaltenen Briefe an seinen Pfarrer. „Doch bin ich erst ein Liebhaber ihrer christlichen Tugenden, aber noch kein wahrer Nachahmer.-Ich liebe die Wahrheit und die Reinheit. Aber diese Liebe ist schwach, wie sie nur schwach sein kann; sie war nicht immer so stark, und ich muß Innen gestehen, daß es noch nicht lange her ist, daß sie mir geschenkt wurde. Ich bin darum wie ein durstiges Erdreich; ich beginne nach der Gnade zu hungern und zu dürsten. Ich erkenne wohl, es sind meine Sünden, die mich an die Kette geschlossen haben.“ Seit seinem 16. Lebensjahre habe er begonnen, seine Pflicht gegen Gott zu erkennen. Und eben diese Erkenntnis mache ihn heute vor Gott nur um so schuldiger, „denn ich habe seinen Willen erkannt, ohne ihn zu erfüllen. Oft habe ich die Hand an den Pflug gelegt, aber nicht ohne Unruhe habe ich ihn wieder fahren lassen“.

Über das Geschick seiner Familie war Elie Neau lange im ungewissen, da kein Lebenszeichen aus der neuen Heimat ihn erreichte, bis ihm sein einstiger Brotherr nach zwei Jahren gute Nachrichten über Gattin und Kinder senden konnte. Aber auch aus der alten Heimat drang jahrelang keine Stimme zu ihm. Wohl zehnmal habe er an seinen Vater geschrieben, doch nie sei auch nur ein schwaches Echo hinab an den fernen Strand gedrungen. Ein Trostbrief seines Seelsorgers, der unserem Gefangenen in seiner Einsamkeit eine mächtige Hilfe hätte sein können, vermochte nicht bis zu ihm zu kommen, da er inzwischen aus den Galeeren in einen Kerker der nahen Zitadelle St-Nicolas eingeschlossen worden war.

Elie Neau mußte in dem Maße, als er durch seine tapfere Haltung sein stilles Dulden und seine menschenfreundliche Güte die Herzen seiner Gefährten gewann, den Dienern der römischen Kirche, denen die Seelsorge auf den Galeeren anvertraut war, ein tägliches Ärgernis sein. Denn täglich übte er die Mahnung Christi an seine Jünger, ihr Licht vor den Menschen leuchten zu lassen. So wurde denn der Bischof von Marseille ins Vertrauen gezogen, und bald genug erhielt der Minister der Marine aus Paris die Weisung, die Reformierten, die mit ihrem Psalmensingen die andern Gefangenen beunruhigt hatten, unverzüglich in Ketten zu legen und vor allem den Elie Neau in die Zitadelle einzuschließen und ihm jeglichen Verkehr mit der Umwelt zu verwehren.

Es war am 5. Mai 1694, als man Elie Neau als Pestträger und Vergifter der Mannschaft in diesen Kerker überführte. Der Gouverneur, in dessen Obhut Elie Neau nunmehr übergeben wurde, war indessen ein Mann von menschenfreundlichem Sinne. Er gab dem Gefangenen die Erlaubnis, seine Freunde in der Heimat um Hilfe für seinen Unterhalt zu bitten unter der einen Bedingung, daß er ihn all diese Briefe lesen lasse. Doch führte der Tod dieses humanen Gouverneurs bald zu einem Wechsel im Kommando der Zitadelle. Der Major, der in dieses Amt eintrat, nahm an Elie Neaus Psalmengesang Anstoß und ließ den frommen Sänger in ein anderes Gemach bringen in dem dieser bis zum July 1696 blieb. Nichts, was zu seinem Troste hätte dienen können, wurde ihm vergönnt, weder Bücher noch Schreibzeug. Doch kann auch ein noch so geringes Mittel einem Einsamen dienen. In seiner Tasche fand Elie Neau ein Endchen Kreide, das ihm ermöglichte, seinem einstigen Chef nach Boston zu schreiben. Und siehe, die Antwort blieb nichts aus: Nachrichten über seine Familie seit seiner Gefangennahme. Und auch das, was ihm für sein inneres Leben am meisten not war, ließ Gott ihn finden: eine Bibel in englischer Sprache, die ihm zum kostbarsten Besitz wurde. Mochten die äußeren Umstände noch so elend sein, feucht der Kerker, karg die Nahrung, streng die Bewachung, in seiner demütigen Ergebung kamen die Worte Christi über seine Lippen: „Sein Joch ist sanft und seine Last ist leicht, denn er selber macht sie mir leicht und angenehm.“

Ein Brief vom 14. November 1695 an Pfarrer Morin enthüllt uns beides: das äußere Elend, in dem der Gefangene lag, aber auch die unerschütterliche Kraft seiner glaubensstarken Ergebung in den Willen Gottes: Wo die Elenden Trost darin finden, daß sie nicht allein sind und sich gegenseitig Mut zusprechen können, da sieht sich Elie Neau von aller Welt geschieden. „O wie elend müßte ich sein, wenn mir der Gott meiner Seele nicht die Gewißheit gäbe, ich bin nicht allein, denn ich habe meinen Geliebten bei mir. In Wahrheit, er ist’s allein, der in seiner väterlichen Güte die Tränen trocknet. – Mein Gefängnis hat sich wunderbarerweise in eine Stätte der Freiheit verwandelt. Doch wie wir unter Trübsalen ins Reich Gottes eingehen müssen, so dauern auch diese Freuden nicht ewig; jeder Tag hat seine Zeit. Hier ist die Stadt der Kämpfe. Ich bin mitten im Feld der Feinde. Ich muß siegen oder ewiglich verderben. Es gibt keinen Kampf ohne Schläge und wenig Schläge ohne Wunden.“ Drum bittet er seinen Freund, ihm in diesem Kampfe mit seiner Fürbitte beizustehen.

Kaum hatte sich Elie Neau in das neue Leben in der Festung St-Nicolas zurechtgefunden, als er – es war im Juli 1696 – in eine andere Festung übergeführt wurde, ins Chateau, in jene Festung auf einer Insel in drei Kilometer Entfernung von Marseille. Es war, wie Elie Neau Pfarrer Morin erzählt, am 1. Juli, an einem Sonntagmorgen, da der Großprofos in aller Herrgottsfrühe mit vier seiner Trabanten den Kerker öffnete und in aller Heimlichkeit die Überführung vollzog. Vorsichtig schloß man die Fenster der Zitadelle, um keine neugierigen Blicke auf sich zu lenken. Mit Elie Neau wurde dessen einziger Gefährte herausgeholt, ein armer Glaubensgenosse, der durch die harte Behandlung den Verstand verloren hatte und kindisch geworden war und kaum noch ein Wort sprach. „Stellen Sie sich Menschen vor“, schreibt Elie Neau seinem Seelsorger, „die man von Gefängnis zu Gefängnis führt, die ihren Leib dahinschleppen, der nur noch Haut und Knochen ist, weiß wie Gips, der Bart so lang wie die Haupthaare, voller Läuse und Wanzen, die an uns nagen. In diesem elenden Zustande führte man uns in diese Festung.“ Und wieder erlebte es Elie Neau als eine göttliche Fügung, daß er seine Bibel in den neuen Kerker hinüberretten durfte. Wohl hatte er sie mit allen andern Büchern beim Auszug aus der Zitadelle in die Hand des Großprofosen übergeben müssen; doch auf der Überfahrt zur Insel händigte sie ihm dieser auf seine Bitte wieder aus, sei’s, daß dem Profosen die englische Sprache fremd war, sei’s, daß er dem Gefangenen, der ja nun einer noch größeren Einsamkeit entgegenfuhr, wirklich eine Gunst erweisen wollte. Zunächst wurde Elie Neau in das Obergemach eines der Türme des Schlosses gelegt, wo ihn der Blick auf das Meer erquickte und zu frommen Betrachtungen inspirierte. Fünfzig Tage erfreute er sich dieser Gunst. Dann schloß man ihn in die Tiefe eines der untersten Verliese ein. Nach abermals sechs Monaten, die er allein in diesem Gewölbe, das jeden Sonnenlichts entbehrte, zugebracht, mußte oder durfte er mit drei Glaubensbrüdern ein anderes benachbartes Loch teilen. Denn es erschien dem Gefängniswärter bequemer, die karge Kost der Gefangenen nur an einen Ort hintragen zu müssen. Im übrigen waren die äußeren Umstände hier ebenso bedrückend wie in den früher bewohnten Kerkern. Doch blieb Elie Neau auch hier dank seiner seelischen Kraft Sieger über all das, was ihn von außen her zu verderben suchte. Tastend fand er sich in der Finsternis, die ihn und seine Gefährten umhüllte, zurecht. Bald fand sich auch Gelegenheit, durch Briefe mit den fernen Freunden und durch deren Hilfe mit seiner Familie Verbindung zu finden; vermochte er doch einmal an ein und demselben Tage gleich drei Briefe – und zwar Briefe von ordentlicher Länge und tiefem geistigem Gehalte – zu schreiben, einen an Pfarrer Morin, den zweiten an seine Gattin und den dritten an den Vermittler dieser Briefe, den Kaufmann Le Boiteux in New York. „Wäre es mir erlaubt, alles auszumalen, was wir leiden, man würde es nicht glauben. Man müßte den Pinsel eines Seraphs haben, um ein Bild davon zu geben. Das äußerliche Bild, das es Ihnen von unserer Lage zeigen würde, ließe Sie ohne Zweifel erzittern. Wäre unser Inneres nicht von einer ewigen Macht getragen, wir vermöchten in dem traurigen Zustande, in dem wir uns befinden, nicht zu leben. Ich bitte Sie, zu bedenken, welch ein Leben ein Mensch in einem Kerkerloch ohne Licht, außer dem, das durch die Türe dringt, führen kann! Ich habe einen Sack auf dem Rücken und das Käpplein des Sklaven auf dem Haupte, und der Gott, den ich anbete, weiß, daß es schon drei Jahre sind, daß ich dies Käpplein auf dem Haupte trage; die Hemden aus Sackleinwand, ohne Schuhe, denn man gibt uns keine, jedermann verboten, mit uns zu reden oder uns irgendwelche Bücher zu geben, nicht einmal katholische, ohne Licht und ohne Kerze. Ich würde Sie ermüden, wenn ich ihnen alle Einzelheiten, die man gegen uns beobachtet, schildern wollte. Müssen Sie nicht, liebe Herren, zugeben, daß man unser Leben einen lebendigen Tod nennen kann? Aber was würden Sie sagen wenn ich ihnen bekenne, daß an Stelle des natürlichen Sonnenlichtes die Sonne der Gnade ihre göttlichen Strahlen in unsere Herzen leuchten läßt, die uns mit ihrer Kraft unaussprechliche Freude einflößen, die nur verstehen kann wer sie erlebt; wenn ich ihnen bekenne, daß diese Art Leben süßer und köstlicher ist als alles zeitliche Glück?“ Und nun erfahren wir auch, daß nicht bloß die Psalmen, die Elie Neau gesungen, Grund gewesen, ihn auf diese Inselfestung zu verbringen, sondern ebensosehr der Umstand, daß er Briefe in ferne Länder geschrieben und Geldgaben empfangen hatte. Das gab dem Verdachte Nahrung, er und seine Gefährten seien Spione; die Gaben, die sie für sich und ihre Brüder auf den Galeeren und in den Kerkern erhielten, seien Lohn für staatsfeindliche Tätigkeit. Ähnlich erging es einem der Gefährten Elie Neaus im Chateau d’If, dem Graubündner Paul Ragatz, der jahrelang unter diesem Verdachte, Spionage für fremde, Frankreich feindliche, Staaten getrieben zu haben, von Kerker zu Kerker geschleppt worden ist.

Daß Elie Neau in aller äußeren Not aus der unversieglichen Quelle des Wortes Gottes täglich neue Kraft schöpfen und mit seinen Gefährten in brüderlicher Gemeinschaft leben durfte das ließ sein Herz immer wieder in Lob und Dank überfließen: „Ich bin gewiß, daß ich reicher bin als meine Feinde. Oh, wenn sie wüßten, wie reich ein Mensch ist, wenn er vom Antlitz seines Gottes durchstrahlt ist! Wenn sie den Besitz dieser unaussprechlichen Freude erfahren hätten, sie würden uns ohne Zweifel noch ganz anders behandeln. Hier erfahren wir, wie wahr die Verheißung ist: Meine Kraft vollkomnet sich in der Schwachheit.“

Aus dem Dunkel seines Kerkers konnte Elie Neau getrosten Sinnes schreiben: „Ich bin in einen kleinen Winkel eingeschlossen, doch zum Glück ist’s nur mein Leib: mein Glaube ist’s in keiner Weise.“ Daß seine Gattin und seine Kinder drüben in der Neuen Welt frei ihres Glaubens leben durften, war ihm Grund zu täglichem Danken; daß seine Eltern in der alten Heimat im Abfall von ihrem Glauben lebten, war ihm Gegenstand tiefer Trauer. Wie sehr hoffte er, er würde für seine Brüder, die noch daheim weilten, einst ein Joseph, d. h. ein Helfer und Retter, werden. Und wirklich, ihrer zwei hatten auf seine Stimme gehört und die Heimat verlassen und lebten nun, treu ihrem reformierten Bekenntnis, in Boston. Und nun vernimmt Elie Neau eines Tags die Nachricht vom Hinschied seiner Mutter, nachdem der Vater schon früher das Zeitliche gesegnet hatte. Am 14. September 1696 gibt er seinem Schmerz über diese Nachricht in einem Brief an seine Schwester Rahel Ausdruck: „Sie haben mir das Herz mit tiefem Schmerz erfüllt, als Sie mir den Tod meiner geliebten Mutter meldeten. Ich sehe vor mir den Weg gezeichnet, den jeder gehen muß. Ich weiß, das ist der Wille des Allmächtigen und die Fügung, die seine unbestechliche Gerechtigkeit über das ganze menschliche Geschlecht getroffen hat. Die Großen und die Kleinen, die Reichen und die Armen, die Könige und die Sklaven stehen unter dem gleichen Los. Alle müssen wir vor dem Richterstuhl erscheinen und Rechenschaft ablegen vor dem, der Herzen und Nieren prüft. Aber das größte aller Übel ist dies, daß wir fast nie daran denken, oder wenn wir schon bisweilen daran denken, doch nur ganz flüchtig.“ Und nun knüpft Elie Neau an diese Feststellung eine ergreifende Mahnung an seine Schwester, sich von der Sünde des Abfalls vom evangelischen Glauben zu lösen und dies ewige Gut höher zu schätzen als die Güter dieser Welt. Denn es sei schwer, die Welt zu brauchen, ohne sie zu mißbrauchen. Gott will keinen, Teil; er will das ganze Herz. Vierfach sei dies gesagt im Worte der Heiligen Schrift: Du sollst Gott lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken. Er will geliebt sein mit einer Liebe voller Dankbarkeit, voller Gehorsam, voller Erkenntnis und voller Beharrlichkeit. Darum: Fliehen Sie aus der Verderbnis Ihrer Sünden; weinen Sie Tag und Nacht darüber, daß Sie diesen großen und furchtbaren Gott beleidigt haben! Verschieben Sie ihre Reue nicht auf morgen denn der morgende Tag ist nicht in unserer Gewalt. –

Tatsächlich erlebte Elie Neau die Freude, daß seine Schwester die Heimat verließ und sich in Boston ihrem reformierten Glauben wieder zuwandte. In diesem getrosten Glauben lebte und webte der Mann, der über dem Heil seiner eigenen Seele das Heil und das Wohl der wenigen Mitmenschen, die sein Wort erreichen konnte, nie vergaß. Welch ein Kontrast: die Nacht seines Kerkers und das hell strahlende Licht in seinem Herzen!

„Es gibt hier kein Licht, als hätte Gott die Sterne nicht geschaffen, um im unendlichen Raume des Himmels auf die Erde zu leuchten. Wir liegen auf einem Haufen schlechten Strohs, und Gott. der mein Herz sieht, weiß daß die Würmer aus unseren Lumpen kriechen und die Wände hinaufklettern. In dieser Not macht man unser Los noch drückender, da man nicht zugeben will, daß wir eine andere Kost erhalten als die gemeine Kost der Sträflinge. Man weiß sehr wohl, daß man für fünf Sous in einer Zeit, in der alles so ungemein teuer ist, nicht viel bekommt. Wir verlangen ja nicht, daß man uns von unserem Gelde aushändige, sondern es uns in Lebensmitteln gebe. Doch man will nicht auf uns hören. Und als ob dies nicht genüge, uns zu zermürben, steigert man die Grausamkeit auf die höchste Spitze. Wenn wir krank sind, verweigert man uns die Hilfe des Arztes. Man erbat, da wir beim Eintritt in diesen Kerker Fieber hatten, vom Kommandanten die Erlaubnis, uns schröpfen zu lassen. Er erwiderte, lieber würde er uns mit einem Pistolenschuß enden lassen.“ Doch, so triumphierte Elie Neau, der Höchste spottet ihrer. „Es kommt mir vor, ich höre seine Stimme aus der Tiefe meines Herzens. die zu mir spricht wie einst zum Propheten Jesaja: Sprich laut und schweige nicht ! Ich mache deine Stimme wie zu einer Trompete. Zeige meinem Volk deine Leiden und verkünde ihnen den Reichtum meines Erbarmens!“ (Jes. 58, 1).

Wer waren die drei Männer, die ihren Kerker mit Elie Neau teilten? Aus einem Briefe an Pfarrer Morin erfahren wir ihre Namen. Da Elie Neau die Spenden seines Seelsorgers mit ihnen brüderlich teilte, schlossen sie sich dem Danke ihres Freundes an den fernen Wohltäter an und setzten auch ihre Namen unter den Brief.

Am besten sind wir über den ersten dieser drei Männer unterrichtet, den zu Lyon geborenen Graubündner Paul Ragatz aus Tamins, der den aus der Heimat fliehenden Hugenotten als Guide, als Führer, diente und auf einer dieser gefährlichen Fahrten 1686 im Cevennenedorfe Aubaret verhaftet und der Spionage verdächtig, zum Galeerendienste verurteilt, nach grausamer Behandlung aber als zum Ruderdienst untauglich befunden und erst in die Tour de Constance in Aigues-Mortes hernach ins Chateau d’If geworfen wurde. Wir besitzen von Ragatz eine ergreifende Schilderung seiner Erlebnisse und etliche Briefe, die er an die Obrigkeit der Evangelischen Orte zu schreiben vermochte. „Man müßte ein Buch schreiben, wollte man die Leiden darstellen, die man ihm angetan hat“, schreibt Elie Neau über diesen tapferen Dulder.

Der zweite der drei Gefährten, Antoine Capion aus Montpellier, hatte schon 1681 das Land verlassen, war dann auf der Heimkehr von Venedig 1696 verhaftet und verurteilt worden. Der dritte, Jean Mogniere genannt La Croix, aus den Cevennen, wurde 1695 verurteilt, weil er eine Assemblée, eine gottesdienstliche Versammlung seiner Glaubensgenossen, veranstaltet hatte. Während seine drei Gefährten, einer nach dem andern, den Kerker verlassen und in ihre Heimat zurückkehren durften, sollte Mognier sein Leben im Kerker beschließen müssen. Er litt vor allem im strengen Winter 1708, da zu Paris das Thermometer auf 23 Grad unter Null sank und in der Provence fast alle Olivenbäume und das Getreide erfror, unsäglich unter Kälte und Entbehrung. Er starb am 4. März 1709 im Chateau d If.

Elie Neau genoß bei allen Gefangenen, mit denen er in Berührung kam, höchstes Ansehen und ein unbedingtes Vertrauen bei seinen Glaubensgefährten. Sein Einfluß auf die drei Männer, die durch Monate und Jahre hindurch das karge Brot und die Entbehrungen und Leiden der Gefangenschaft mit ihm teilten, muß für ihren Glauben und ihre Standhaftigkeit bestimmend gewesen sein. Paul Ragatz sowohl wie Jean Mognier waren Männer aus dem einfachen werktätigen Volk, ohne besondere geistige Bildung und gelehrte Schulung. Im täglichen Verkehr mit Elie Neau wuchsen sie dank ihrer Aufgeschlossenheit für die Dinge der unsichtbaren Welt immer tiefer und fester in die göttlichen Wahrheiten und Erkenntnisse hinein und gewannen eine große Fähigkeit, ihrem Denken und Empfinden in einer mehr als gewöhnlichen Weise Ausdruck zu geben. Brüder, die Mognier kennen lernten oder seine Briefe lasen, glaubten, einen gebildeten Pfarrer vor sich zu haben, und doch war Mognier bis zu seiner Verhaftung ein schlichter Bauer und Hirte gewesen.

Am 10. März 1698 fand Elie Neau wieder eine jener seltenen Gelegenheiten, seinem Pfarrer zu schreiben. Daß es der letzte Brief sein würde, den er aus dem Kerker an den Freund in Holland schrieb, konnte er nicht ahnen. zunächst war es die Freude über den endlichen Empfang jenes ersten, verlorengeglaubten Briefes, der ihn zum Danken drängte. In kurzem geht der Empfänger auf die Gedanken jenes Briefes ein. Da ist die uralte Hiobfrage, die Not des Sängers des 73. Psalms, die auch ihm und seinen Gefährten von ihren Spöttern immer wieder entgegengehalten wurde: Wo ist nun euer Gott? Warum befreit er euch nicht, wenn doch eure Kirche die wahre sein soll? Gleich den Frommen des Alten Testaments hat sich auch Elie Neau, nachdem seine ersten Antworten taube Ohren gefunden, in demütiges Schweigen gehüllt.

Als der Sommer des Jahres 1698 ins Land kam, schlug für Elie Neau ganz unerwartet die Stunde der Befreiung. Es war der König von England, Wilhelm III. „, der sich durch seinen Gesandten, Mylord Postland, von Ludwig XIV. die Freilassung Elie Neaus und etlicher anderer um des Glaubens willen Gefangener erbat. Ungern genug mögen die Minister den Weisungen des Königs Folge gegeben haben. Mit Elie Neau wurde zugleich auch Antoine Capion freigelassen, und zwar schon am 13. Juni, während sich die Freilassung von Elie Neau durch ein Versehen verzögerte. Der Paß, der ihm ausgehändigt werden sollte, wurde dem Gouverneur der Zitadelle übergeben; der Kommandant des Chateau d‘lf aber wagte nicht, Neau zu entlassen, er wäre denn im Besitze eines besonderen, an ihn gerichteten Befehls des Königs. Am 3. Juli scheint nun auch Elie Neau seinen Kerker verlassen zu haben. Der Paß, der ihm den Kerker öffnete, verschwieg den wahren Grund seiner Verurteilung, schrieb dem Befreiten aber vor, innerhalb sechs Wochen das Land zu verlassen. Aus Bemerkungen in einem Briefe des Ministers Pontchartrain gewinnt man den Eindruck, daß man es in Paris gern gesehen hätte, Elie Neau würde Calais, wo er sich nach der Neuen Welt einschiffen mußte, nicht auf direktem Wege durch Frankreich, sondern auf dem Umwege über Italien zu erreichen suchen, damit ihm verwehrt wäre, in Frankreich neue Unruhe zu stiften oder die Neubekehrten zum Abfall zu ermuntern . . .

In Marseille, wo er sich alsbald zur Reise nach Genf rüstete, gab Elie Neau seinem Freunde Pfarrer Morin die erste Kunde von seiner Freilassung: „Wie lieblich sind die Füße des Boten auf den Bergen, der gute Botschaft bringt, der meinem Herzen den Frieden verkündet und der zu meiner Seele spricht: Zion, dein Gott, regiert (Jes. 52, 17). Meine Worte und Gedanken sind nicht fähig, Ihnen, lieber Herr, die Empfindungen zum Ausdruck zu bringen, die ich fühle. Ich bin stumm angesichts der Güte meines Beschützers, und mein Schweigen bringt ihm ein höheres Lob dar als meine Worte.“ Mit Betrübnis erfüllt es ihn, daß er seine treuen Kameraden, Mognier und Ragatz, in dem Graben zurücklassen mußte, in dem sie lebten. „Ich empfehle sie ihrer Fürbitte. Sie haben mich gebeten, es zu tun.“ Er selber bittet um die gleiche Hilfe der Fürbitte, damit er in seinem Glücke seines Befreiers nicht vergesse, sondern seinen heiligen Willen lobe bis ans Ende seines Lebens. „Ich bitte Sie, entschuldigen Sie mich; ich schreibe unter viel Zerstreuung, mit Augen, die noch geblendet sind wie die einer Eule im Licht des Sonnenglanzes, den ich so lange nicht mehr gesehen halbe.“ Über Orange und Lyon, wo seine Freilassung von seinen Glaubensgenossen mit tiefer Freude vernommen wurde, eilte der Befreite nach Genf, dem „andern Kanaan“, wie die Hugenotten in der überschwenglichen Sprache jener Zeit diese alte Zufluchtsstätte so vieler Flüchtlinge nannten. In Genf waren es vor allem die Diener der Kirche, die Pfarrer und Professoren, die Elie Neau willkommen hießen und ihn nach den jahrelangen Mühen und Entbehrungen pflegten. Doch kaum daß er sich einigermaßen wieder gestärkt fühlte, setzte er seinen Wanderstab weiter. Sein Ziel war Bern wo er den Leitern des Staates und der Kirche das harte Los der noch in Ketten schmachtenden Brüder schilderte und ihnen insbesondere die Not ihres Landsmanns Paul Ragatz ans Herz legte.

( Als wir im Berner Staatsarchiv nach Spuren von Elie Neaus Besuche fahndeten, stießen wir wirklich im Ratsmanual zum 1. August 1692 auf folgende Notiz des bernischen Staatsschreibers: „Zedul (Befehl) an Hrn. Seckelschreiber: Ihr Gnd (Gnaden) habind einem forcat (Sträfling) Elie Neau, so in die S. Jahr lang in Marseille gefangen gesessen von der religion wegen und nun nach Engelland verreisen wolle, pro viatico (al. Wegzehrung) aus comiseration (aus Erbarmen) zehn Taler uszerichte und zu verrechnen.“ )

Im Herbstmonat finden wir Elie Neau bereits auf holländischem Boden. Zwei Anliegen bewegten sein Herz: der Dank für die erfahrene Hilfe und Befreiung und die Fürbitte für die Brüder, die er in den Kerkern und auf den Galeeren zurückgelassen hatte. Wilhelm III. kehrte soeben von einem Feldzug aus Deutschland nach Holland zurück, wo Elie Neau ihm und seinem Minister persönlich Dank abstatten durften, gewiß hat er auch seinen Seelsorger, Pfarrer Morin in Bergopzoom, aufgesucht. Dann aber es zog ihn mit allen Fasern heim, hinüber in die Neue Welt. In einem Begleitschiff der königlichen Flotte fuhr er nach London hinüber, von wo er sich nach einem Aufenthalt von etlichen Wochen nach Amerika einschiffte. In New York fand er die Seinen in häuslicher Gemeinschaft mit zwei Schwestern und ihren Familien. Dreizehn Personen saßen um seinen Tisch. „Sie werden es gut verstehen“, schrieb er am 27. September 1698 in einem Dankbrief an Professor Calandrini in Genf, dem hingebenden Freunde aller Verfolgten, „daß wir die Luft von unseren Lobgesängen auf unseren Schöpfer erklingen ließen, der seine Kraft so herrlich in meiner Schwachheit hat triumphieren lassen. Unsere ganze Kirche, die recht zahlreich ist, vereinigte sich mit ihren Wünschen bei uns, und all das gab ein liebliches Zusammenspiel des Lobes und Dankes gegen meinen Befreier, dessen Macht, Weisheit, Güte und Gerechtigkeit ich bewundere.“

In der Heimat nahm Elie Neau zunächst seine Tätigkeit als Kaufmann wieder auf. Schon 1701 steht sein Name auf einer Liste der angesehensten New Yorker Kaufleute. Neben seinen Kindern und nächsten Verwandten saß auch ein Neger, wohl als Diener, an seinem Tische. Denn bald stellte sich der einstige, Gefangene in einen besonderen Dienst seines Meisters. Der starke Eindruck den Elie Neau vor seiner Gefangenschaft von John Eliot, dem damals 87 jährigen „Apostel der Indianer“, empfangen hatte, war keineswegs verblaßt. Die Not der von den Weißen verachteten Menschenklasse brannte ihm auf der Seele. So begann er denn einzelne dieser Menschen in seinem Hause zu versammeln und im christlichen Glauben zu unterweisen, da er wohl erkannte, daß mit einer bloß oberflächlichen Bekehrung das Werk an ihnen nicht erschöpft sein konnte. Und im Jahre 1703 schloß sich Elie Neau der „Gesellschaft zur Ausbreitung des Evangeliums in Neuengland“ an. Am 4. August 1704 erhielt er das Brevet als Katechet, d. h. als Unterweisungslehrer der Rot- und Schwarzhäute. Nur am Abend, nachdem sich diese in ihre Winkel zurückgezogen hatten, durfte sich Elie Neau ihnen nähern. Denn eifersüchtig wachten ihre Herren darüber, daß ihre Diener und Sklaven der Arbeit nicht entfremdet oder gar durch unnötige Bildung mit ihrem Los unzufrieden gemacht würden.

Im Jahre 1708 zählte die Schar, die sich abends in Elie Neaus Hause zu versammeln pflegte, schon über 200 Zöglinge, von denen manche die Taufe empfangen hatten und am heiligen Abendmahle teilnahmen. Um als Lehrer und Missionar wirken zu dürfen, hatte Elie Neau die Gemeinschaft der Französischen Kirche zu New York, in der er auch das Amt eines Ältesten bekleidet hatte, verlassen und der Anglikanischen Kirche beitreten müssen, so engherzig standen sich damals die Kirchen auch der verschiedenen evangelischen Bekenntnisse gegenüber. Er wurde nun auch Vorsteher der neuen Gemeinschaft, die sich die anglikanische Kirche der Dreieinigkeit nannte. Ein zweites Opfer, das Elie Neau seiner neuen Arbeit brachte, bestand in der Aufgabe seiner Tätigkeit als Kaufmann. Er verzichtete dadurch auf ansehnliche Einkünfte und begnügte sich mit dem bescheidenen Gehalte von 50 Pfund für seine Missionsarbeit. In ihren Dachkammern und Kellerlöchern und wo immer diese Parias der amerikanischen Gesellschaft wohnten suchte Elie Neau sie auf, tröstete die Kranken, betete mit ihnen, kurz, ward ihnen Bruder und Freund. Und das Beispiel seiner Hingabe, seiner Sittenreinheit, seiner Frömmigkeit blieb nicht ohne Wirkung. Zum Bersten voll war der Obersaal seines Hauses, wenn sich die Indianer und Negersklaven mit ihren Frauen und Kindern am Mittwoch und Freitag zugleich mit englischen, schottischen und französischen Lehrlingen zum abendlichen Gottesdienst versammelten.

Wider Erwarten sollte Elie Neau noch einmal an seinem Lebensabend schwerste Prüfungen zu bestehen haben. Im Jahre 1706 wurden die angesehensten Franzosen, unter ihnen auch Elie Neau, verdächtigt und angeklagt, verräterische Beziehungen zu Frankreich zu unterhalten. Doch konnte das Widersinnige dieser Anklagen rasch erhärtet werden. Weit schwerer aber wurde eine Erhebung der Bürgerschaft New Yorks, die sich im Jahre 1712 gegen die Farbigen richtete. Diese Menschen hätten überhaupt keine Seele, behauptete man, da sie ja von Ham abstammten. Die Schule Elie Neaus wurde geschlossen. Tagelang durfte er es nicht wagen, sein Haus zu verlassen. Der Widerstand einiger Sklaven gegen ihre Herren wurde mit ihrer Unterweisung durch Elie Neau in einen ursächlichen Zusammenhang gebracht. Man befürchtete einen allgemeinen Aufstand der Farbigen gegen die Weißen. Angst und Schrecken gingen durch die Stadt. Neunzehn Farbige wurden vor Gericht gestellt und hingerichtet. Mit Ruhe und Geduld suchte sich Elie Neau zu rechtfertigen. Nur einer der Neunzehn hatte seinen Unterricht besucht. So endete denn der ganze Sturm mit einer Rechtfertigung des selbstlosen Missionars, daß er sich, wie das Schlußurteil über ihn lautete, „in allen Dingen als guter Christ und treuer Bürger der Stadt erwiesen, daß er auf seinem Posten als Lehrer zu großer Förderung der Religion im allgemeinen und zum Segen, der freien Indianer und ,,der schwarzen Sklaven und anderer Heiden seinen Dienst mit Eifer und unermüdlicher Hingabe dreimal in der Woche versehen und daß keiner in so hohem Maße den Schutz der Gesellschaft verdiene wie er“.

Elie Neau durfte seine Arbeit, wenn auch nicht mehr in bisherigem Umfang, wieder aufnehmen. Bis zu seinem Tode blieb er der hingebende, aufopfernde, Freund seiner farbigen Brüder und Schwestern. Mit der französischen Gemeinde blieb er auch nach dem Übertritt zur anglikanischen Kirche freundschaftlich verbunden. Sein weiter Geist vermochte auch mit Gliedern anderer Kirchen Gemeinschaft zu halten, wenn sie nur den Einen Herrn und Meister liebhatten. Im Dienste seines Meisters ist Elie Neau am 3. September des Jahres 1722 im Alter von 60 Jahren gestorben. Auf dem Friedhof der Trinitätskirche zu New York wurde sein Leib neben den seiner Gattin gelegt, die zwei Jahre zuvor das Zeitliche gesegnet hatte. Auf seinem Grabstein war vor 60 Jahren —und wohl noch heute— zu lesen:

Hier liegt begraben der Leib von
Elie Neau
Katechet zu New York,
geboren zu Soubise
in der Provinz Saintonge in Frankreich
im Jahre 1662.
Er verließ dieses Leben
am 3. Tag des Herbstmonats 1722
im Alter von 60 Jahren.

Vor seinem Hinschied bestimmte Elie Neau, daß 500 Pfund seines Vermögens, das er seinen Neffen und kirchlichen Hilfswerken vermachte, zur Drucklegung von 150 Hymnen, die er in den Kerkern zu Marseille sich und den Brüdern zur Erbauung gedichtet hatte verwendet würden. Wir wissen nicht, warum sein Wunsch unerfüllt blieb.