Thomas von Aquin

Der große Lehrer des dreizehnten Jahrhunderts, Thomas von Aquino, der aus einem sehr angesehenen alten neapolitanischen Geschlecht stammte, wurde geboren im Jahr 1225, auf dem seiner Familie gehörenden Schlosse zu Rocca Sicca an der Grenze zwischen dem Neapolitanischen und dem Kirchenstaat. Eine fromme Mutter Theodora streute dem kindlichen Gemüthe früh den Samen christlicher Frömmigkeit, der nachher so große Frucht brachte, ein. Nachdem er von seinem fünften Jahre an in der berühmten Benedictiner-Abtei zu Monte Cassino erzogen worden, begab er sich nach der Universität zu Neapel. Es begannen damals die beiden Bettelmönchs-Orden der Franziskaner und Dominikaner einen großen Einfluß auf die Völker auszuüben. Man darf diese Institute nicht nach den Auswüchsen des Verderbens in späterer Zeit beurtheilen; anfangs ging von ihnen viel Gutes aus; sie waren die Männer der innern Mission: sie vertraten in Predigt und Seelsorge die Stelle der unwissenden oder verweltlichten Geistlichen, worauf sich Thomas zur Vertheidigung dieser Orden gegen ihre Widersacher berufen konnte. Sie suchten in aller Hitze und aller Kälte und allem Regenwetter, Schneegestöber, auf dem Lande umherstreifend, in den elendesten Hütten die Verwahrlosten, von allem geistlichen Unterricht und Trost Verlassenen auf; sie theilten mit den Armen die dürftigste Kost, mußten oft zufrieden sein mit einem Stück verschimmelten Brotes, ließen sich nicht zurückschrecken, wo ihr Besuch, da sie noch unbekannt waren, mit Verachtung und Schmähungen zurückgewiesen wurde.

Wie nun die Jugend von allen großen Bewegungen, welche eine Zeit ergreifen, leicht fortgerissen wird, so machte der glühende Eifer, mit welchem ausgezeichnete Prediger aus diesen Orden wirkten, besonders auf die warmen Gemüther der Jugend großen Eindruck. Thomas wurde als Jüngling auch durch solche Predigten fortgerissen und schloß sich im Jahr 1243 mit begeisterter Liebe dem Orden der Dominikaner an. Seine fromme Mutter war anfangs damit zufrieden, sie wünschte nur ihren geliebten Sohn noch einmal zu sehen. Die Mönche aber, unter denen Thomas sich befand, wollten über die heiligen Gefühle der Natur herrschen, und den Sohn der Mutter entziehen, aus Furcht, daß es derselben gelingen könnte, einen so viel versprechenden Jüngling ihrem Orden zu entfremden. Die dadurch empörte Mutter wußte es durch andre ihrer Söhne, welche in dem Heer des Kaisers Friedrich II. in Italien dienten, zu bewirken, daß Thomas mit Gewalt den Mönchen entrissen wurde. Aber es zeigte sich hier die eigenthümliche Festigkeit seines Geistes, er konnte nicht dazu bewogen werden, die Ordenstracht abzulegen, man mußte Gewalt anwenden, um ihn von dem Orden fern zu halten. Zwei Jahre lang wurde er als Gefangener in einem Schlosse bewacht; er benutzte die Einsamkeit, um mit andächtigem Gebet und sich in Gott versenkender Betrachtung die heilige Schrift zu studiren. Da die Mutter endlich erkennen mußte, daß ein solcher Wille nicht gebrochen werden könne, machte sie selbst es ihrem Sohne leicht, aus einem Fenster seines Gefängnisses an einem Seile sich herabzulassen. Hier erwarteten ihn Männer aus jenem Orden, die mit großer Freude ihn zu sich nahmen. Er besuchte nachher die Universität zu Köln, wo einer der tiefsten Denker seiner Zeit, Albert der Große lehrte; dessen Schüler wurde Thomas. Das Große, was in ihm war, verbarg sich in anspruchslosem Wesen und sinnender Stille des Geistes; die Studenten hatten ihm, weil er so schweigsam war, den Namen des stummen Ochsen beigelegt. Da aber einst bei einer Disputation seine großen Geistesgaben zum Erstaunen Aller hervorleuchteten, sprach Albert der Große weissagend: Dieser stumme Ochse wird die ganze Welt von dem Rufe seiner Wissenschaft ertönen lassen. Er wurde späterhin nach der ältesten Universität, nach Paris gesandt, um die akademischen Grade sich hier zu erwerben. Im Jahre 1253 wurde er dort Doctor der Theologie.

In den zwanzig Jahren bis zu seinem Tode verfaßte er die großen und mannichfaltigen Werke voll tiefen Denkens und inniger Frömmigkeit, durch welche er Lehrer seines Jahrhunderts und nachfolgender Jahrhunderte wurde, in denen er Wahrheiten aussprach, die für alle Zeiten fruchtbar werden konnten. Seine vielseitige schriftstellerische Thätigkeit ist desto mehr zu bewundern, da es nicht seine einzige war: er hatte zugleich als Universitätslehrer eine sehr große Wirksamkeit, er predigte eifrig, lehrte abwechselnd auf den Universitäten zu Paris und Neapel und mußte viele Zeit mit Reifen zubringen, auch wurde er wegen vieler Angelegenheiten häufig um Rath gefragt, wie seines klaren Geistes wegen der König Ludwig IX. von Frankreich, das Muster eines christlichen Königs, ihn oft zu sich kommen ließ, um seines Raths auch in den Angelegenheiten seiner Regierung sich zu bedienen. Sein mündlicher Vortrag hatte eine so gewaltige Anziehungskraft, daß in Paris kaum ein Hörsaal zu finden war, der die große Zahl seiner Zuhörer fassen konnte. Es ist ein Beweis seines vielseitigen reichen Geistes und seiner Geistesgegenwart, daß er zu derselben Zeit zwei, drei, vier Schreiber, denen er über verschiedene Gegenstände dictirte, beschäftigen konnte. Er war der Mann des Denkens, der Betrachtung und des Gebetes, durchdrungen von der Ueberzeugung, daß durch das Gebet das Licht entzündet werden müsse, welches dem Geiste vorleuchte, um die Tiefen der göttlichen Dinge zu erforschen. Zu Allem, was er unternahm, zu Disputationen, Vorlesungen, schriftstellerischen Arbeiten bereitete er durch das Gebet sich vor. Um nicht durch eine einseitige Richtung des Denkens von der Innigkeit des Gefühls und der Andacht abgeführt zu werden, pflegte er sich häufig aus solchen Schriften, die auf Erbauung besonders berechnet waren, vorlesen zu lassen. Wenn er in schwierigen Untersuchungen des Denkens keinen Ausweg finden konnte, pflegte er auf die Kniee zu fallen und Gott um Erleuchtung zu bitten, und erst wenn er eine belebende Wärme im Herzen fühlte, setzte er seine Forschungen fort. Davon zeugen auch seine Schriften; daher jene Durchdringung von Innigkeit, Tiefe des Gemüthes, Tiefe und Schärfe des Denkens, daher jene Demuth des Wissens, welche ihn bei allem seinem Streben, die göttlichen Wahrheiten mit dem Denken tiefer zu ergründen, Vernunft und Glauben in Einklang zu bringen, doch auch die Grenzen alles Forschens in göttlichen Dingen erkennen, das Gebiet des Glaubens heilig halten ließ. Der tiefe Denker fühlte sich gedrungen auch zu den Bedürfnissen des unwissenden Volks sich herabzulassen. Wenn er in Italien sich befand, predigte er in der Landessprache, und so faßlich, daß Jeder es verstehen konnte; man hätte den großen Meister der Schule nicht erkannt, und das Volk strömte begierig zu seinen Predigten hin.

Der Glanz und die Ehre der Welt hatte für ihn nichts Anziehendes. Als er einst wie öfter von dem König Ludwig IX. zur Tafel geladen war, vergaß er Alles, was um ihn her vorging, versunken in das Nachsinnen über einen schwierigen Gegenstand der Gottesgelehrsamkeit, der ihn viel beschäftigt hatte, und plötzlich rief er aus, auf den Tisch schlagend: „Ich habe es gefunden!“ Sein Prior, der neben ihm saß, klopfte ihm auf die Schulter und sprach: Bedenkt ihr nicht, daß ihr an der Tafel des Königs sitzt? Ludwig IX. aber wußte einen solchen Gast zu schätzen; er ließ sogleich Schreiber kommen, welchen Thomas die Ergebnisse seines Denkens, die ihn so erfreut hatten, dictiren mußte. Einst, da er mit seinen Schülern von einem Spaziergang nach Paris zurückkehrte, zeigten ihm diese die glänzende Stadt und sagten: Möchtet ihr nicht Herr einer solchen sein? Er aber antwortete: Nein, lieber möchte ich die Predigten des Chrysostomus besitzen. Zur Theilnahme an einem Concil, das sich mit Verbesserung der Kirche beschäftigen sollte, zu Lyon im Jahre 1274 berufen, starb er auf der Reise dahin.

Wir erwähnen unter den zahlreichen Schriften dieses großen Lehrers besonders die beiden Werke, welche sich mit Untersuchungen über die christliche Glaubens- und Sittenlehre beschäftigen, und dasjenige, welches die Vertheidigung des Christenthums gegen die Angriffe der Ungläubigen zum Zweck hat. Wie sein ganzes geistiges Leben von der Beseelung durch das Christenthum ausgehend, aus Einem Stücke war, Glauben und Denken zu innigem Einklang bei ihm miteinander verbunden; so war es sein Streben, von diesem Einklang in seinen Schriften zu zeugen: und er wurde dadurch von segensreichem Einflusse nicht allein für die Entwicklung des Denkens und der Wissenschaft, sondern auch für die Erhaltung des lebendigen aufrichtigen Glaubens und der innigen Frömmigkeit. Denn es drohte in seiner Zeit von manchen Seiten her eine Richtung des verneinenden Verstandesfanatismus oder der Gefühlsschwärmerei um sich zu greifen, welche dem kindlichen Glauben sehr gefährlich hätte werden und aus der ein gefährlicher Zwiespalt zwischen Glauben und Denken hätte hervorgehen können.

Wenn wir mit tiefem Schmerz den alles Göttliche verneinenden Unglauben und die Selbstvergötterung der Vernunft in unserer Zeit um sich greifen sehn, dürfen wir doch nicht meinen, daß solche Richtungen erst auf einmal entstanden wären. Der natürliche Mensch, der von dem, was nur geistlich gerichtet werden kann, nichts vernimmt^ hat solche Richtungen immer in sich getragen, und sie sind bei manchen Anlässen auch hervorgebrochen; aber es war nur die Zeit noch nicht gekommen, daß sie allgemeinen Eingang finden konnten, die Macht eines christlichen Geistes, der das Leben der Zeit erfüllte, stand ihnen noch zu sehr entgegen und es waren große Geister von solchem harmonischen Einklang zwischen dem Interesse der Frömmigkeit und der Wissenschaft, wie ein Thomas von Aquino, durch deren Einfluß solche Richtungen im Keim unterdrückt wurden. Damals drohte von arabisch-muhamedanischen Philosophen in Spanien her eine solche Richtung in der christlichen Welt sich zu verbreiten. Es wurde ein auf falsche und unlautere Weise hervorgehobener Gegensatz zwischen einer der Gottesgelehrsamkeit und einer der Weltweisheit angehörenden Wahrheit, ein unvermittelbarer Gegensatz zwischen Offenbarung und Vernunft benutzt, um unter der Larve der Heuchelei solche Lehren zu verbreiten. Man trug jene Lehren des Unglaubens, wie die Läugnung eines persönlichen, überweltlichen Gottes, des den Gläubigen bestimmten ewigen Lebens, die Behauptung, daß in allen Menschenseelen nur ein und derselbe Geist sei und daher die einzelnen Seelen als nur vorübergehende Erscheinungsformen dieses Einen Geistes der Vergänglichkeit anheimfielen, man trug solche Lehren als Sätze, die freilich der Vernunft einleuchteten, vor, unterwarf sich aber doch nachher dem Ansehen der Kirche, da die Glaubenswahrheiten mit dem Lichte der Vernunft in Widerspruch ständen. Es hatten solche Lehren, wenn auch zuweilen nur halb verstanden, schon unter Laien so vielen Eingang gefunden, daß ein Ritter, der zur Buße wegen seiner Laster ermahnt wurde, diese Ermahnung zurückwies, indem er sagte: Ist der Apostel Petrus selig geworden, so werde ich es auch, denn in mir und Petrus ist ja derselbe Geist. Thomas von Aquino nun hat durch seine Schriften, welche das Bedürfniß der Frömmigkeit und das der Wissenschaft zugleich zu befriedigen suchten, beseelt von dem lebendigen Glauben an die Offenbarungswahrheiten, der Verbreitung dieses verhassten Unglaubens mächtig entgegenwirkt. Er bekämpft jenen vorgeblichen Widerspruch zwischen dem Licht der Vernunft und dem Licht des Glaubens, er sucht zu zeigen, daß von dem Schöpfer, der zugleich der Urheber der Offenbarung sei, ein solches entgegengesetztes Licht nicht herrühren könne, weil sonst in Gott selbst ein Widerspruch sein müsse, daß aus einem solchen innern Widerstreit nie eine Ueberzeugung hervorgehen könne, daß es nicht zwei entgegengesetzte Wahrheiten gebe, sondern wenn man auch die durch die Offenbarung mitgetheilten, über die Vernunft erhabnen Wahrheiten nicht beweisen könne, den Glauben überflüssig zu machen, so könne doch, was sich ihr entgegenstelle, nur auf Scheingründen ruhen, und diese zu widerlegen, sei die Aufgabe der Wissenschaft. Er sagt, wie die Gnade die Natur nicht vernichte, sondern sie zur Vollendung führe, so müsse auch die natürliche Vernunft dem Glauben dienen, gleichwie auch die natürlichen Neigungen der christlichen Liebe dienen müßten. Darauf, wie die göttliche Wahrheit dem innersten Wesen des Geistes nicht widerspreche, sondern dazu geeignet sei, sich ihm immer mehr zu verinnerlichen, darauf wendet Thomas auf geistvolle Weise die Worte des Apostels Paulus Röm. 10, 8 an. Zwar, sagt Thomas, werden wir die Glaubenswahrheiten erst dann, wenn wir zur Anschauung des göttlichen Wesens gelangt sein werden, vollkommen begreifen können, aber wohl wird schon hienieden die Vernunft manche Anschließungspunkte in dem Wesen des Geistes und der Schöpfung als Bild für diese Wahrheiten auffinden können. Zwar reicht dies nicht hin, jene Wahrheiten begreiflich zu machen, doch frommt es dem menschlichen Geist, in diesem wenn auch noch so schwachen Versuche sich zu üben, wenn nur nicht die Anmaßung begreifen oder beweisen zu wollen vorhanden ist, weil es das Erfreulichste ist, von den höchsten Dingen auch nur etwas Geringes erkennen zu können.

A. Neander in Berlin

Die Zeugen der Wahrheit
Dritter Band
Piper, Ferdinand (Herausgeber)
Verlag von Bernhard Tauchnitz
Leipzig 1874