Liudger

Schon vor mehr als zwei Jahrhunderten war das Licht des Evangeliums über den Bewohnern des Rheinufers, den ripuarischen Franken aufgegangen, als das Sachsenland (Westfalen) noch immer in tiefer heidnischer Finsterniß dalag. Unter den westlich wohnenden Friesen hatten Willibrord und Winfried Bonifacius nicht fruchtlos gearbeitet; im Gebiete der südöstlich wohnenden Katten war von Bonifacius und seinem Schüler, dem Abt Sturm von Fulda mancher Stein zum hehren Gottesbaue gelegt und selbst im Norden unter Friesen und Dänen war die Botschaft des Heils in Christo nicht unbekannt geblieben, bis sie unter Willehads Pflege in Bremen die ersten Wurzeln schlug. So glich das Gebiet der Sachsen einer ringsumlagerten Festung, welche beharrlich dem sanftwöchigen und demüthigen Könige den Einzug in ihre Thore verwehrte. Suitbert machte einen vergeblichen Versuch bei den Bructerern (in der jetzigen Grafschaft Mark) Eingang zu finden, er mußte sich nach dem fränkischen Kaiserswerth zurückziehen. Die Arbeiten des Abt Sturm erlagen meist selbst den verwüstenden Ueberfällen der östlichen Sachsen und die angelsächsischen Brüder Ewald (Heuwald), die Gefährten Willibrords, büßten ihren Versuch, von Friesland aus das Sachsenland mit dem Evangelium zu erfüllen, mit ihrem Leben. Der unbeugsame Sinn dieses naturkräftigen deutschen Stammes und das pietätsvolle Festhalten an dem von den Vätern Ueberkommenen, wonach man alles Fremde besonders alles Fränkische entschieden abstieß und abwies, der Widerwille gegen die Anbetung vor bildlichen Zeichen und in geschlossenen Tempelgebäuden, dem der christliche Gottesdienst verächtlich war, die Weigerung des kirchlichen Zehnten, der als Zeichen schmachvoller Knechtschaft angesehen ward, der enge Zusammenhang des religiösen und politischen Lebens – das waren in Karls d. Gr. Augen alles Hindernisse, die mit der Schärfe des Schwerdtes weggeräumt werden mußten. Vielleicht gut gemeint aber nicht minder verkehrt! „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.“ Darum war durch den 32jährigen Krieg und Sieg im Grunde wenig gewonnen und den ersten Stein des wirklichen Baues aufzuführen, mußte der Herr ein anderes Rüstzeug bereiten und berufen als Kaiser Karl, das war Liudger (nach westfäl. Mundart Lüdger gesprochen).

Wursing (Würsching) mit dem Beinamen Ado, ein vornehmer Mann unter den Friesen, war schon als Heide gottesfürchtig wie der Hauptmann Cornelius. Als ein Richter von strenger Gerechtigkeit, als Wohlthäter der Armen, als Vertheidiger der Unterdrückten ward er der Gegenstand der allgemeinen Liebe des Volkes aber auch des Hasses des ungerechten und grausamen Königs Radbod. Vor seinen Nachstellungen mußte er sich durch die Flucht zu den Franken retten. Das war so Gottes Gnadenwille und – weg. Denn daselbst ward er mit Willibrord und Winfried bekannt, vom Worte Gottes ergriffen und mit seinem ganzen Hause getauft. Nach Radbods Tode kehrte er dann als der Erstling der künftigen Gemeinde in sein Vaterland zurück und leistete den Missionsarbeiten jener beiden Glaubenszeugen gesegneten Vorschub. Sein Sohn Thiatgrim und dessen Gattin Liafburg wandelten in den Wegen des Vaters. Als sie zu Wirum in Ostfriesland wohnten, ward ihnen ums Jahr 744 ein Knäblein geboren, dem sie in der Taufe den Namen Liudger beilegten. Schon vor seiner Geburt erfuhr er die sonderlichste Bewahrung Gottes, als Liafburg ihrem von langer Reife zurückkehrenden Gatten entgegeneilte und über der Thürschwelle so gefährlich zu Falle kam, daß ihr ein Pfahl in die Hüfte ging, und sie für todt hinweggetragen werden mußte. Die fromme Mutter mochte darüber dieselben Gedanken in ihrem Herzen bewegen wie die Mutter des theuren Gottesmannes Chr. Scriver bei einer ganz ähnlichen Erfahrung. Von ihr nicht blos zum Diener des Evangeliums bestimmt, sondern auch mit treuer Sorgfalt von frühster Jugend an erzogen, wuchs Liudger zu einem hoffnungsvollen Jünglinge heran.

Ein ebenso großer Fleiß als reiche Begabung und Lernbegierde erfüllte die Eltern mit hoher Freude. Wenn er mit seinem jüngern Bruder Hildegrim den Erzählungen der Mutter von den Werken und Wegen Gottes aus der Zeit des Alten und Neuen Bundes, von den Worten und Wundern unsers geliebten und gelobten Heilandes lauschte, erglänzten ihm Aug‘ und Angesicht. So ward er mit der Milch des Evangeliums genährt, zu weiterer Ausbildung nach Utrecht zum frommen Abt Gregor, dem Schüler und Nachfolger des Bonifacius, gesandt. Dessen ganze Liebe gewann der begeisterte und begabte Jüngling. Da kam ums Jahr 760 ein Angelsachse Alubert nach Utrecht, mit dem Entschlüsse das Werk des Bonifacius unter den Friesen fortzuführen. Gregor aber rieth ihm, erst wieder nach England zurückzugehen, um sich dort zum Bischofe weihen zu lassen. Dem gab er unsern Liudger als Begleiter mit, auf daß derselbe ein Jahr lang den Unterricht des berühmten Alcuin zu York genießen möchte. Mit Kenntnissen bereichert und zum Diakon geweiht, kehrte er dann nach Gregor’s Befehlt zurück. Aber es war ihm, wie wenn einer aus einem lieblichen Traume geweckt wird und ein tiefes Heimweh ergriff ihn auf dem heimischen Boden nach dem geliebten York. Erst nach 10 Jahren durfte er die Erfüllung seines sehnlichen Wunsches erfahren und aus Gregor’s Erlaubniß noch einmal 3 1/2 Jahr den Umgang und Unterricht Alkuins in York genießen. Und das war nach Gottes Rath von großer Bedeutung für ihn wie für das Werk, wozu ihn der Herr berufen hatte. Alcuin war es, der in echt evangelischem Sinne wider die oft sehr äußerliche Weise der Heidenbekehrung eiferte und in seinen köstlichen Briefen an Kaiser Karl, seine Bischöfe und Beamten den allein rechten und erfolgreichen Weg der Missionsarbeit anwies. „Drei Dinge müssen beisammen sein (schreibt er einmal mit Berufung auf Matth. 28,19.): die Verkündigung des Glaubens, die Mittheilung der Taufe und die Verhaltung der Gebote des Herrn. – Der Glaube ist etwas Freiwilliges, nichts Erzwungenes. Der Mensch kann zum Glauben gezogen, nicht gezwungen werden. Zur Taufe kann man gezwungen werden, aber das nützt für den Glauben nichts. – Darum müssen die Prediger der Heiden das Volk auf eine freundliche und weise Art im Glauben unterrichten. – Wenn man es sich so angelegen sein ließe, das sanfte Joch und die leichte Last Christi den hartnäckigen Sachsen zu verkündigen, wie man es sich angelegen sein läßt, den Zehnten von ihnen einzutreiben oder die geringste Uebertretung der auferlegten Satzungen zu strafen (man ahnte das Fleischessen in der Fastenzeit mit dem Tode!), so würden sie sich nicht so sehr gegen die Taufe sträuben.“ – „Seid Glaubenszeugen, nicht Zehnteneintreiber!“ ruft er einmal dem Erzbischof Arno von Salzburg zu. Das war die rechte Schule für Liudger, aus der er mit reichem Segen 776 zurückkehrte, um zunächst seinem eignen Landsleuten die Botschaft des Heils zu bringen.

In Cöln zum Priester gemacht, zog er aus, um die von den Sachsen zerstörte Kirche und Gemeinde in Deventer wiederherzustellen. Fast 7 Jahre bearbeitete er den Acker, welcher mit dem Märtyrerblute des Bonifacius befruchtet war, indem er zur Herbstzeit alljährlich 3 Monate in der Lehranstalt zu Utrecht mit dem ihm anvertrauten Pfunde seiner Kenntnisse und Lehrgaben treulich wucherte. Um diese Zeit hatte er einen bedeutsamen Traum. Er sah seinen väterlichen Freund Gregor, der eben (781) zu seiner Ruhe eingegangen war, auf ihn zukommen und vernahm von ihm den freundlichen Zuruf: „Bruder Liudger, folge mir!“ Liudger stieg mit ihm auf einen Hügel, Da sprach Gregor, indem er eine Menge kleiner Stücke Pergament und Tuch vor ihn hinwarf: „Sammle sie zu Haufen!“ Liudger brachte drei große Haufen zusammen und nun verschwand Gregor mit den Worten: „Theile Alles gut ein im Werke des Herrn und Du wirst die Fülle haben!“ Als er erwacht, theilte er den Traum seinem Mitarbeiter Marthelm mit. Dieser deutete ihn also: „Die drei Haufen, die Du gemacht hast, bedeuten drei Völkerschaften, welche Deiner geistlichen Pflege anvertraut werden.“ In diesem Sinne ist er erfüllt. Dazwischen fällt aber noch eine Zeit, in welcher die so geweckten Hoffnungen scheinbar ganz begraben werden sollten. So geht’s in Gottes Rath und Reich, Ein neuer Einfall der Sachsen zerstört 782 die junge Pflanzung in Friesland und nöthigt Liudger das Land vorerst zu meiden. Diese Mußezeit benutzt er mit seinem Bruder Hildegrim und seinem Schüler Gerbert zu einer Reise nach Rom. Alcuins Schule gleichsam zu ergänzen, sollte er den damals schon so traurigen Verfall der Kirche an ihrem Hauptsitze sehen. Bekümmerten Herzens zog er sich in das Benedictinerkloster Monte Cassino zurück und widmete seine Zeit dem Studium und Abschreiben der heil. Schrift und der Werke der Kirchenväter. Als er dann 785 sich seiner Heimath wieder zuwandte, hatte Kaiser Karl abermal die Sachsen besiegt. Der Kaiser, der nun wohl mehr und mehr eingesehen, was noth that, um die Sachsen für den Herrn Jesum zu gewinnen, bestimmte Liudger auf Alcuins Empfehlung zum Bischof über die westlichen Sachsen, indem er ihm zugleich die Aufsicht über die angrenzenden fünf friesischen Gaue übertragen ließ. Sieben Jahre arbeitete er nun mit heiligem Eifer auf seinem weit ausgedehnten Arbeitsfelde und ersah sich Mimigardefort, einen Complex von fünf Gehöften in Westfalen, zum Anhaltepunkte für die sächsische Mission, als ein verwüstender Zug der sächsischen Häuptlinge Unno und Eilbrat ihn abermal zur Flucht selbst aus Friesland nöthigte. Da reifte in ihm der Plan einer festern, gesichertern Gründung, welche ebensosehr zum Zufluchtsorte bei Verfolgungen aus Friesland und Sachsen dienen, als zugleich die Strahlen des evangelischen Lichtes in diese beiden Länder aussenden könnte. Dies Bedürfniß befriedigte weder das ihm 793 zum Zweck einer kirchlichen Stiftung geschenkte kleine friesische Erbgut in Wigtmund an der Issel hart an der Grenze von Sachsen, noch auch ein Koten, den er in Franken nahe bei dem jetzigen Neuss an der Erft erwarb. Darum brachte er um 796 durch Kauf und Tausch ein Stück Landes an der Ruhr an sich, welches in Franken gelegen doch ebenso wohl das sächsische als das friesische Gebiet berührte. Da erhob sich dann das berühmte Stift Werthina (Werden) mit der Kirche und dem Kloster, in welchem er unter der Ordensregel des Benedikt Geistliche sammelte und für die Verkündigung des Evangeliums heranbildete. Dabei finden wir ihn aber doch stets und unablässig auf Missionsreisen in Westfalen, deren eine 798 ihn weit nach Norden hinaufführte, nach Minthium (Minden), wo Karl d. Gr. gerade sein Heerlager aufgeschlagen hatte. Dieser Reise verdankt auch wohl das Kloster Helmstädt im Braunschweigischen seine Entstehung, dessen bleibende Abhängigkeit von dem so weit entfernten Werden nur bei einer Gründung von der eignen Hand Liudgers erklärlich wird. Im Sachsenlande aber sammelte der treue Knecht des Herrn mit rastlosem Eifer hin und her Häuflein derer, die sein Wort annahmen und gläubig wurden an den Herrn Jesum, besonders in der Gegend zwischen Werden und Mimigardefort, durch die ihn sein Weg am häufigsten führte. In dem zum Bischofssitze ersehenen Mimigardefort nämlich erbaute er ein Kloster (monasterium daher: Münster), nachdem er selbst (wahrscheinlich i, J. 802) in Cöln sich auf vieles Zureden mit der Bischofswürde hatte betrauen lassen. Doch blieb das Kloster Werden stets seine eigentliche Heimath. Von da aus reiste er mit der Botschaft des Heiles im Munde in die Gaue der heidnischen Sachsen; dahin kehrte er zur Ruhe und Sammlung nach seinen ermüdenden Reisen wieder zurück; da pflegte er in den Erholungszeiten die hoffnungsvolle Pflanzschule der Glaubensboten, mit welchen er die von ihm ins Leben gerufenen jungen Christengemeindlein versorgte. In diesen ging’s doch zumal sehr schwach her. Krankte die Kirche jener Zeit schon an manchen Irrthümern, so kränkelten auch ihre jungen Saaten. Man schonte der heidnischen Gebrauche und Sitten gar sehr, wie es die römische Kirche später in noch höherm Maaße gethan, man legte großes Gewicht aus die äußern Satzungen der Kirche, man fing schon an das Verdienst Christi durch die Verehrung der Heiligen zu verdunkeln und was deß mehr war. Davon hielt sich selbst der Schüler Alcuins nicht frei. Sehen wir doch diese Missionare unsres deutschen Volkes sich auf allen ihren Reisen mit den Reliquienkästchen, den Knochen der Heiligen tragen. Aber in Liudger war bei alle dem ein guter Grund und er legte guten Grund darin und damit, daß das Wort Gottes seiner Augen Licht und seines Lebens Kraft war. Das trieb er täglich mit seinen Zöglingen und in den jungen Gemeinden, wie er’s außer von Alcuin auch von dem ehrwürdigen Gregor gelernt hatte, dem er noch in einer Lebensbeschreibung ein erkenntliches Denkmal setzte.

Unermüdet wie er war, finden wir Liudger bis an sein Ende in seiner Missionsarbeit. Auch im Frühling des Jahres 809 nahm er den Wanderstab wieder in die Hand, ob seine Gesundheit auch sehr geschwächt war und einen ruhigen Aufenthalt in Werden erheischt hätte. In der Nähe von Münster verkündigt er am Tage des Herrn – es war der 25. März – noch in Coesfeld und Nachmittags in Billerbeck das Evangelium. Da brach die schwache Hütte unter der Arbeitslast zusammen. Der Diener Christi unter den Heiden ward geopfert über dem Opfern des Evangeliums. Der Herr rief den treuen Arbeiter in der folgenden Nacht in seinem 65. Lebensjahre aus der unruhvollen Arbeit ab und hieß ihn eingehen in Seine ewige Ruhe. Die sterbliche Hülle dieses Apostels der Friesen und Sachsen wurde, nachdem er zuerst in der Marienkirche zu Münster aufbewahrt, seinem eignen Wunsche gemäß in Folge kaiserlichen Befehls, den sein Bruder und Nachfolger Hildegrim (bis dahin Bischof in Chalons) auswirkte, nach Werden gebracht und daselbst an der östlichen Seite der von ihm erbauten Kirche bestattet. Ihn selbst aber haben wir unter denen zu suchen, welche die Verheißung überkommen haben: „die Lehrer werden leuchten wie des Himmels Glanz und die Viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.“

A. Nische in Lippspringe.