Johann Gerhard.

Wer die großen kirchenhistorischen Werke von Gottfried Arnold und Weismann studiert, dem ist es auffällig, nicht die leiseste Notiz über Paul Gerhard zu finden. Selbst da, wo man seinen Namen zuerst suchen sollte, in der zweibändigen Kirchengeschichte des siebzehnten Jahrhunderts vom Württemberger Prälaten Andreas Carolus, wird er nicht einmal erwähnt. Er ist damals ganz verschwunden hinter seinem großen Namensverwandten Johann Gerhard, von welchem in den genannten Werken überall und überall mit Auszeichnung die Rede ist. In unsrer Zeit hat sich das Verhältniß ziemlich umgekehrt. Während Paul Gerhard selbst in der Kinder Munde lebt, die populärste Gestalt aus der evangelischen Kirche des siebzehnten Jahrhunderts, ist Johann Gerhard’s Gedächtniß für die Mehrheit der evangelischen Christen erloschen Hagenbach in der zehntheiligen populären Kirchengeschichte hat seiner anmerkungsweise in zwei Zeilen gedacht – und lebt fast nur noch fort in der theologischen Wissenschaft, welcher er seine Spuren tief eingedrückt hat. Freilich ist’s naturgemäß, wenn der Mann der Wissenschaft, der im Idiome der Gelehrten meist für Gelehrte schrieb, nicht der Popularität sich erfreut, wie der gefeierte Liederdichter. Und doch darf vor dem protestantischen Kirchendichter nicht ganz vergessen werden der protestantische Kirchenvater, er, den die Zeitgenossen nur dann nach Gebühr zu ehren meinten, wenn sie ihn neben Luther und Chemnitz als den dritten im Dreigestirn, stellten, den sie den Architheologen seines Jahrhunderts nannten1).

Johann Gerhard ist am 17. October 1582 geboren .zu Quedlinburg, wo sein Vater Bartholomäus Gerhard Senator war. Trübe Gedanken bemächtigten sich des 15 jährigen Jünglinge, als er in eine schwere, langwierige Krankheit fiel. Damals in der geistlichen Anfechtung hat er ein Gebetbüchlein geschrieben, reichlich benetzt mit seinen Thränen; der sechste Psalm, dem er die Aufschrift gab, „Geistliche Anfechtung vom Zorne Gottes um der Sünden willen,“ ist damals sein Lieblingslied, Johann Arndt sein geistlicher Vater geworden. Im Jahre 1599 bezog er die Universität Wittenberg, studierte Philosophie und unter Leonhard Hutter und Salomo Gegner Theologie, aber nach dem Willen seines Verwandten, des sächsischen Prokanzlers Andreas Rauchbar vorzugsweise Medicin, setzte selbst zu öffentlicher Disputation medicinische Thesen auf und hat nachmals als hoher Kirchenbeamter auch gern und freigebig ärztlichen Rath ertheilt. Aber nach des Prokanzlers Tod sich selbst überlassen und eines Jugendgelübdes eingedenk versenkt er sich in Jena unter Ambrosius Raudenius und dem als Kalendermärtyrer bekannten Georg Mylius2) ganz in die Theologie. Arndt hat ihm den Studienplan gemacht. Er vertieft sich vor Allem in die heil. Schrift, der er nur nahet betend, daß Gott ihm die Pforte der himmlischen Weisheit öffne, und mit geistgesalbten Exegeten, auf welche Arndt ihn verwiesen. Seine Freude an der Schrift und deren Auslegung ist nachmals übergegangen auf seinen Lieblingsschüler und Amtsnachfolger Salomo Glassius, welcher auf Gerhard’s Rath und Ermahnung eine heilige Philologie begründete, die für das ganze Zeitalter lutherischer Orthodoxie ausreichend erfunden wurde. 1603 erwarb sich Gerhard den philosophischen Doctorgrad und schon nach 3 Tagen beginnt er auf Bitten einiger Studenten ein Collegium über Logik, Politik und, als der Erste in Jena, über Metaphysik nach dem Compendium des Helmstädter Aristotelikers C. Martini, in der Weise jener Zeit, wo die jungen Docenten gern ihre academische Laufbahn mit philosophischen Vorträgen begannen, um später in die höhere (theologische) Facultät einzutreten. Damals wogte auf den deutschen Universitäten der Kampf zwischen den exclusiven Aristotelikern und den Anhängern des Pariser Popular- und Utilitätsphilosophen Petrus Ramus, welcher die Herrschaft des Aristoteles zu zertrümmern suchte. Weil er so das Orakel der Menschheit angetastet, zerfleischten wüthende Aristoteliker seinen Körper in der Bartholomäusnacht, und für den Stagiriten begeisterte Studenten nannten nach Ramus Namen ihre Hunde. Gerhard hat in diesem Streite um philosophische Autoritäten aus inneren und polemischen Gründen die Partei des Aristoteles (mit den Erklärungen von Zarabella, Scaliger und Sagittarius) genommen, ohne doch eine Vergleichung mit Ramus um der Methode willen auszuschließen. Mitten in einer gesegneten Lehrthätigkeit wirft ihn zum zweiten Male eine gefährliche Krankheit danieder, welche das Aeußerste befürchten ließ. Damals setzte er sein Testament auf, ein merkwürdiges Actenstück, in welchem die Stimme der Frömmigkeit in uns fremd gewordener Weise zusammenklingt mit der Rechtgläubigkeit. Er dankt zuerst seinem lieben Herrn und Seligmacher Jesu Christo, daß er ihn durch sein rosinfarbnes Blut von Sünde, Tod und ewiger Verdammniß erlöst hat, bekennt seine Sünden und Schwachheiten und bittet Gott um des theuern Verdienstes Christi willen gnädiglich um Verzeihung. Dann folgt sein Glaubensbekenntniß, daß Gott der Herr einfältig im Wesen und dreifach in Personen, daß in Christo zwei unterschiedliche Naturen, aber eine einige Person, welche aus und in den zwei Naturen bestehet, ja nichts anders ist, denn die zwei Naturen, göttliche und menschliche, unvermischbar und untrennbar, persönlich verbunden, daher denn die Communication der Idiome entspringet. Und nachdem er so das Bekenntniß durch alle Glaubens-Artikel und -Geheimnisse, welche die Christen, weil sie nur die Erstlinge des Geistes haben, anerkennen müssen, hindurchgeführt, bittet seine lieben Herrn Collegas um Verzeihung, da er etwa zu viel speculationibus philosophicis indulgiert oder eine falsche Lehre (welches ich doch nicht hoffen will) approbiert. Wider alles Erwarten genesen bezieht er mit einem seiner Aufsicht anvertrauten Zögling, Michael Rauchbar, das durch Balthasar Mentzer und Johann Winkelmann theologisch hochberühmte Marburg. Er hat beide gehört, unter ihnen disputiert und auch selbst philosophische Vorträge gehalten. Mentzer erwählte ihn zu seinem Gefährten auf einer Gesundheits- und Gelehrtenreise (1605). Bei ihrer Zurückkunft nach Marburg hatte Landgraf Moritz der Gelehrte die gänzliche Umformung der Universität zum Calvinismus unter gewaltigen Volksaufständen begonnen. Da zog sich Gerhard mit seinem Schutzbefohlenen auf das Rauchbarsche Landgut Hemsendorf zurück, um nach kurzer Frist wieder in sein geliebtes Jena zu eilen, womit er zugleich einen Lieblingswunsch seiner Mutter erfüllte. Hier studiert er weiter unter Petrus Piscator und eröffnet selbst theologische Vorlesungen, nicht ohne Belästigung von Seiten der theologischen Facultät. Seine Aufnahme unter die Adjuncten der philosophischen Facultät (gegen Ende des Jahres 1606) bezeichnet seine Abhandlung „Ueber die Wahrheit“, worin er sein Urtheil abgab über den Streit, den Daniel Hoffmann damals in Helmstädt entzündet hatte, indem er die alte nominalistische These von der Doppelten Wahrheit (es könne etwas in der Philosophie wahr sein, was in der Theologie falsch sei) dahin steigerte, daß er nächst dem Teufel keinen gefährlicheren Feind für die Kirche sah, als die Philosophie, welche nothwendig zum Atheismus und Pelagianismus führe. Noch in demselben Jahre trifft ihn, den Vierundzwanzigjährigen, der Ruf zur Superintendentur in Heldburg. Als er zur Abwehr seine Jugend vorschützt, lautet der Bescheid: nicht seine Person, sondern die Sache stehe in Frage. Mit dem theologischen Doctorate geziert trat er sein hohes Kirchenamt in Heldburg an, mit welchem die Verpflichtung verbunden war, in allen schwierigern Fällen den Sitzungen des Coburger Consistoriums beizuwohnen und als Inspector des Gymnasium Casimirianum monatliche Disputationen über theologische Gegenstände abzuhalten. Wiederholt war er in dieser Zeit der theologische Reisebegleiter des Herzogs Johann Casimir, auch 1612 bei der Kaiserkrönung in Frankfurt. Derselbe, um seinen Gerhard noch näher bei sich zu haben, ernannte ihn 1615 zum Generalsuperintendenten von Coburg. Dennoch schwermüthig sind Gerhards Briefe aus dieser Zeit. „Du lebst nicht glücklich, schrieb ihm Mentzer, so du nicht an einer Universität lebst.“ Sein Kummer war die Sehnsucht nach dem akademischen Catheder, welches er der beneideten bischöflichen Hoheit, die er inne hatte, vorzog. „Außer der Akademie gibt’s kein Leben, wie außer der Kirche kein Heil.“ Prag, Gießen, Altorf, Wittenberg (wohin er einen fünfmaligen Ruf hatte und gleich zur ersten Facultätsstelle), Helmstädt hatten ihn zum Professor, die bedeutendsten Städte Deutschlands zu ihren obersten Kirchenämtern begehrt. Beharrlich verweigerte sein Landesherr die Entlassung, indem er für unrecht erklärte, den einen Altar zu schmücken mit des andern Beraubung. Endlich als 1615 ein wiederholter Ruf von Jena aus an ihn ergeht und der Kurfürst von Sachsen, Johann Georg, sich vermittelnd dazwischen legt, darf Gerhard ziehen, jedoch so daß sein Herzog immer noch ein gewisses Eigenthumsrecht an ihn sich vorbehält. Seine Bescheidenheit begnügt sich mit der letzten Facultätsstelle. Johann Gerhard im Vereine mit dem etwas starren, auf seine Senioratswürde eifersüchtigen Johann Major und dem frommen Eiferer Johann Himmel bilden die „preiswürdige johanneische Trias“, durch welche Jena nicht bloß zu einer Wittenberg ebenbürtigen Stellung hinaufgehoben wurde, nein alle Universitäten strichen, so lange Gerhard lebte, vor Jena die Segel und mitten im Elende des dreißigjährigen Krieges blühte es wie eine Rose zwischen Dornen. Seiner Verwendung verdankt die Universität, deren steter Repräsentant (z. B. bei der Leichenfeier Gustav Adolphs) der dienstwillige Gerhard war, den botanischen Garten und ihre Güter, die Herrschaften Remda und Apolda. Und so treu hat er an Jena gehangen, daß er 24 Berufungen um seinetwillen von sich wies. „Lieber will ich hier, schreibt er einmal an den Eisfelder Superintendenten Andreas Keller, im Schatten dunkeln, als zu Wittenberg im Lichte leben.“ Von den Fürsten hoch angesehn ist er von ihnen zu wichtigen politischen und finanziellen Geschäften, gelegentlich auch als Brautwerber verwendet worden. Denn die damalige Diplomatie pflegte mehr nach christlichen Grundsätzen, als nach Interessen ihre Actionen zu regeln. Um einen Einblick in Gerhard’s unermeßliche Thätigkeit zu erhalten, betrachten wir zuerst seine Antheilnahme an den theologischen Regungen und Kämpfen, die seine Zeit bewegten.

Von Helmstädt war seit dem zweiten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts eine moderate, verführende Theologie ausgegangen, die Gegner nannten sie Synkretismus. Als der sächsische Oberhofprediger Hoe von Hoenegg seinen ersten Theologenconvent 1621 auf dem Schloß zu Zena hielt, kamen auch die Neuerungen der Helmstädter Georg Calixt und Cornelius Martini zur Sprache und die Mittel zu ihrer Beseitigung. Damals erklärte Gerhard die Helmstädter für unverbesserlich. Aber bei einem persönlichen Besuch in Jena hat Calixt ihm das Herz abgewonnen und damit erhielt die Jenaische Theologie durch das ganze 17. Jahrhundert jenen milden Accent, der sie so vortheilhaft vor dem streitbaren Wittenberg auszeichnete. Seit 1616 war die subtile Controverse ausgebrochen der Kryptiker und der Kenotiker oder der Theologen zu Tübingen und Gießen. Die Tübinger behaupteten, daß Christus seiner menschlichen Natur nach auch im Stande der Erniedrigung den Creaturen stets allgegenwärtig gewesen und das Universum auch mitten im Tode, jedoch auf heimliche Weise, regiert habe. Weil dadurch ein magisches und doketisches Element in das Leben Jesu zu kommen schien, lehrten die Gießener, daß der Gottmensch seiner menschlichen Natur nach im Stande der Erniedrigung göttliche Majestät zwar immer wahrhaft und real besessen, aber auf ihren durchgehenden Gebrauch verzichtet habe. Das hochärgerliche Gezänk, von den Dillinger Jesuiten lutherischer Katzenkrieg genannt, zu schlichten, ward 1624 ein Theologenconvent zu Leipzig gehalten, dem auch Gerhard anwohnte. Er aber hat sein Urtheil in dieser Sache suspendiert und geseufzt über die Ilias von Jammer, die aus solchen Zwisten komme, ganz im Einklang mit jener ungenannten Friedensstimme, die im Nothwendigen zur Eintracht, im Zweifelhaften zur Freiheit, in allen Dingen zur Liebe diejenigen ermahnte, welche über die Allgegenwart Christi disputierten, ohne ihn gegenwärtig zu haben im eigenen, gläubigen Herzen.

Weiter hatte um dieselbe Zeit der Danziger Diaconus Hermann Rathmann einen Streit begonnen über das Verhältniß der Wirksamkeit des h. Geistes zur Wirksamkeit des göttlichen Wortes. Während die lutherische Orthodoxie die Erleuchtungs- und Bekehrungskraft dem göttlichen Worte immanent sein läßt, nicht zwar aus physischer Nothwendigkeit wie bei einem Heilmittel, sondern nach göttlicher Institution, erklärte Rathmann das Wort Gottes für ein an und für sich unwirksames Werkzeug. Soll dieses an sich passive Instrument zu einem activen werden, so muß, wie zur Art die Kraft des Holzhauers, der h. Geist von Außen wirkend hinzutreten. Die Bekehrungskraft ist dem Worte Gottes nicht immanent, sondern coexistent – derselbe Streit, den im Mittelalter die Thomisten mit den Scotisten führten rücksichtlich der Wirksamkeit der Sacramente. In Jena kam eine harte Censur der Rathmann’schen Ketzerei durch Johann Major zu Stande, von Gerhard als mehr oratorisch, denn logisch und theologisch bezeichnet. Er selbst aber hatte Antheil an dem auf dem Theologenconvent zu Leipzig 1628 beschlossenen Gutachten, worin Rathmann als ein Verächter des göttlichen Wortes erscheint. Auf demselben Convente wurde über gewisse katholische Angriffe auf den Protestantismus verhandelt. Die Jesuiten zu Dillingen fingen nämlich nach Beginn des dreißigjährigen Krieges an, die Gültigkeit des Passauer Vertrages und des Religionsfriedens, als dem Kaiser abgezwungen, vom Papste nicht bestätigt, durch das Tridentinum aufgehoben, in Frage zu stellen, zumal die Lutheraner von der ungeänderten Confession, welche doch der Religionsfriede voraussetze, abgewichen wären, und Einige wollten Lutheraner wie Calvinisten, als im Glauben Abgefallene, in die heißen Mohrenländer verbannt wissen. Dadurch sahen sich nun die in Leipzig versammelten Theologen genöthigt, unter hervorragender Betheiligung Johann Gerhard’s, die neuabgedruckte Augsburgische Confession zu schützen als des heiligen, römischen Reichs evangelischer Kurfürsten und Stände Augapfel. Worauf katholische Polemiker, welche diesen Augapfel einen schädlichen, gewachsenen Wurm und die große Leipziger Wurst, die, man mache mit ihr was man wolle, nichts als ein leerer Balg ist, nannten, die Confutation als die Brille auf diesen Augapfel drucken ließen. Als darnach die Protestanten die Apologie der Augsburgischen Confession, als des evangelischen Augapfels Brillenbutzer, an’s Licht stellten, erschien in Dillingen ein Ausbutzer des evangelischen Brillenbutzers und andere „giftige, lärmbläserische Scarteken und Lästerschriften“, welchen auf dem Convente zu Leipzig 1630, wiederum unter Gerhard’s vorzüglicher Mitwirkung, eine nochmalige, unvermeidliche und gründliche Hauptvertheidigung des hochwerthesten Augapfels entgegengesetzt wurde.

Aber Gerhard ist außer dieser vereinten Polemik auch auf eigene Hand dem Katholicismus entgegengetreten. So in einem dreitheiligen Werke gegen Robert Bellarmin, diesen Atlas und Goliath des Papstthums, den er widerwilliges Zeugniß für die lutherische Rechtgläubigkeit ablegen läßt, worüber die Katholiken, wie Veit Erbermann, außerordentlich aufgebracht waren. Der Bellarminus orthodoxiae testis war aber nur der Vorläufer zu dem noch bedeutenderen Werke „Confessio catholica“3), worin Gerhard, wie vor ihm Flacius, die Stimmen katholischer Schriftsteller zur Bestätigung der evangelischen Lehre sammelte. So wahrheitsmächtig war dieses Werk, daß es noch hundert Jahre nach seinem Erscheinen Convertiten machte, für welche in Darmstadt ein Proselyteninstitut errichtet wurde (1738). Aber gewissermaßen zur Amtspflicht eines gutlutherischen Theologen gehörte auch, eine Lanze zu brechen mit Calvinisten und Socinianern. Johann Gerhard hat dieser Ritterpflicht genug gethan. Durch seine Bekämpfung des Calvinismus hat er die Polemik Markus Friedrich Wendelin’s (Rectors am Gymnasium zu Zerbst), des Bellarmin der Reformirten, gegen sich hervorgerufen. Der Socinianismus oder neue Photinianismus, welcher der gesamten protestantischen Orthodoxie als ein unter Zweideutigkeiten versteckter Umsturz des Christenthums erschien, hat auch unsern sonst so milden Gerhard zu ungewohnter Härte fortgerissen. Er will den Faustus Socinus lieber infaustus Scotinus (unglückseligen Finsterling) heißen und ruft einmal aus: „erhebe dich, Herr, und strafe mit himmlischem Blitze oder vielmehr mit höllischem Feuer die Blasphemien dieser Ketzer!“ Die Grundlagen des in den Symbolen als jüdische Träumerei verworfenen Chiliasmus, den in mehrern Schriften der Reußische Kanzler Heinrich Gebhard in Gera unter dem Namen M. Gottlieb Heiland vorgetragen hatte, zerstörte Gerhard in einem besondern Tractate.

Von den polemischen wenden wir uns zu seinen friedlichen Werken, die seinen Ruhm in der theologischen Welt vorzüglich begründeten. Martin Kemnitz in Braunschweig hatte eine große Evangelienharmonie begonnen, der Dresdener Hofprediger Polykarp Leyser, eine Zeit lang Kemnitz Amtsnachfolger, hatte sie fortgesetzt. Der Jenaer Theologenconvent vom Jahre 1621 wünschte Vollendung des „goldenen Werkes“. Gerhard übernahm die Arbeit und hat sie in dreijährigem Fleiße zu glänzendem Abschluß gebracht. Wir übergehen seine großentheils nach seinem Tode veröffentlichten Commentare über fast alle Bücher der heiligen Schrift, verfaßt nach dem Grundsatze, daß der wahre Sinn der Schrift aus der Schrift hergeleitet werden und buchstäblich sein müsse, um noch seinen Antheil an dem großen Weimarischen Bibelwerk (vom Druckorte Nürnberger Bibel, von seinem fürstlichen Begünstiger Ernst dem Frommen Ernestinische Bibel, von den beigefügten Porträts Kurfürstenbibel genannt) zu erwähnen. Auf den Rath des Evenius, ehedem Rector in Magdeburg, dann im Kirchendienste Ernst des Frommen, ward dieses Bibelwert, die Deutsche Uebersetzung Luthers mit orthodox-lutherischer Interlinearerklärung, unternommen, zuerst unter Direction Johann Gerhard’s, nach dessen Tode unter der von Salomo Glassius. Gerhard hat für dieses Bibelwerk die Genesis, den Propheten Daniel und die Apokalypse bearbeitet. Unmittelbar akademischen Zwecken diente seine im Geiste Melanchthons geschriebene „theologische Methodologie“ (1620). Das Studium der Theologie, durch Abwaschungen aus Helikonischem Quell (d. h. durch Sprachkenntniß und Philosophie) vorbereitet, durch Beten geweiht, hat im fortlaufenden Schriftstudium seine Grundlage, in Dogmatik und Polemik seine Spitze. Im vierten und fünften Studienjahr soll Predigtübung eintreten und quellenmäßiges Studium der Kirchengeschichte. Nur im Vorübergehn gedenken wir seiner eigentlich nur für seinen Privatgebrauch zusammengestellten Patrologie und seiner zahlreichen Disputationsschriften. Denn die Theologen des 17. Jahrhunderts wirkten auf ihre akademischen Zuhörer am meisten durch Disputierübungen, von deren entschiedenem Werthe sie so überzeugt waren, daß die Rede aufkam, eine Disputation, wenn sie gut eingerichtet, könne mehr nützen, als zwanzig Lectionen. Das Reformationszeitalter freilich hatte geurtheilt, die christliche Wahrheit werde schneller durch Beten gefunden, als durch Disputieren. Das Werk aber, welches vor Allem Gerhard’s Namen unsterblich gemacht hat, das sind seine loci theologici (b. i. theologische Hauptstücke). Um ihretwillen besonders hat man ihn den zweiten Origenes genannt und gesagt, daß er meraritischen Schweiß d. h. (mit Hinblick auf das Levitengeschlecht der Merariten, denen es nach 4. Mos. 4, 29 ff. oblag, das heilige Geräth der Stiftshütte im Schweiße ihres Angesichts durch die arabische Wüste zu tragen) großen Schweiß vergossen habe im Dienste des Heiligen. Als 27 jähriger Jüngling hat er sie 1610 zu Heldburg begonnen und 1625 in Jena beendigt. Sie wurden zuerst in Jena gedruckt (1610-25), dann kam eine Genfer (1639), dann eine Hamburger (1657) Folioausgabe; hierauf folgte die schöne Tübinger Ausgabe, besorgt von Johann Friedrich Cotta in 20 Quartanten und 2 Bänden Register (1762-88), endlich die neueste Ausgabe (Berlin 1863 ff.), besorgt von Ed. Preuß. Dieses nur vom Neid bemängelte(Nur der streitsüchtige Albert Grawer, ein Schüler von Aegidius Hunnius, erst Schulmeister, dann Professor der Theologie in Jena (1611-16), zuletzt Generalsuperintendent in Weimar (gest. 1617), suchte eifersüchtig an Gerhard’s dogmatischem Ruhm zu mäkeln. „Dr. Graweri Sinn, schreibt einmal Gerhard, benimmt mir alle Lust weiter auf Academien zu leben, denn ich höre, daß er meine locos theologicos mit recht schändlichen Glossen schwarz machet und den Studenten vorleget, auch überall solche emblemata dazu geschrieben hat: absurdum est, falsum est, sibi ipsi contradicit, nescit quid loquatur, non satifacit argumentum etc. Doch wird er’s nimmermehr von mir erhalten, daß ich mich mit ihm in Streit einließe. Wollte Gott, wir sorgten mehr für die Gottseligkeit, für das Gewissen und die Ruhe der Kirchen. Ich werde aber durch diese List von meinem vorgesetzten Zweck gar sehr abgehalten.“)) Werk, der Stolz der lutherischen Kirche, stellt den orthodoxen Lehrbegriff in seiner ganzen damaligen Vollständigkeit auf und erweitert sich zu einer wahren Fundgrube theologischer Gelehrsamkeit.

Die Kirchen- und Ketzergeschichte, Alterthümer, scholastische Philosophie, Kirchenrecht und Kirchenzucht werden herangezogen bis zur casuistischen Frage über die theologische Berechtigung des Tanzens. Das lutherische Dogma hält nach Gerhard’s Ansicht die rechte Mitte zwischen den Extremen. Er hat es vertheidigt mit Gründen der Schrift und der Vernunft, zuweilen auch verschärft wie durch Behauptung der Aechtheit der Dreizeugenstelle 1. Joh. 5,7, der ehemaligen biblischen Hauptbeweisstelle für die Trinität, und der Gleichaltrigkeit der hebräischen Vocale und Accente mit dem Texte. Aber die Fülle des Stoffes, wie er hier aufgespeichert liegt aus der gesamten Literatur der Kirche, hat doch nicht vermocht, des Verfassers Geist und Wärme zu begraben. Ueberhaupt darin ist das Eigenthümliche Johann Gerhard’s, wodurch er zu einer so edlen Erscheinung wird, zu setzen, daß die orthodoxe Formel ihm nicht ein Objectiv-Starres, eine unlebendige Größe, mit welcher der Verstand rechnet, während das Herz kalt bleibt, war, sondern daß bei ihm das Dogma in lebendige Verkettung tritt mit tiefinnerlicher Frömmigkeit, daß in ihm Arndt’s Mystik und lutherische Rechtgläubigkeit ihre Ausgleichung und Durchdringung vollziehen, daß er ebensosehr in der Geschichte der Gelehrten als in der Historie der Wiedergeborenen seine Stelle hat. Diese praktische Seite seiner Natur offenbart sich schon in seiner Ansicht von der Theologie. Diese ist ihm allerdings zunächst eine durch das Wort Gottes gewonnene Einsicht in die göttlichen Geheimnisse, aber sie ist nicht bloß Erkenntniß und subtile Theorie, sondern auch der Wegweiser zum Heile. Was frommt es, sagt er mit Erasmus, zu streiten über die Formen der Sünde, ob bloße Privation sie sei, oder ein der Seele inhärierender Makel? das vielmehr erstrebe der Theologe, daß die Sünde Alle verabscheuen und hassen. Statt nach den immanenten Unterschieden der Trinität zu forschen, suche man ihrer Majestät rechte Verehrung. Sie zeigt sich ferner darin, daß er in seiner Dogmatik nie verfehlt, am Schlusse eines abgehandelten Lehrsatzes den usus practicus und consolatorius anzumerken. So nachdem er die Lehre von der h. Schrift abgehandelt hat, setzt er eine doppelte Nutzanwendung, einmal, weil die Schrift die von Gott an uns geschickte Epistel ist, um das göttliche Wesen und Wollen kund zu thun, sollen wir täglich sie lesen und durchdenken, und sodann die Güte Gottes daran erkennen, daß er die heilige Schrift uns zum Troste gegeben hat. Auch der in der lutherischen Dogmatik künstlichen und scheinbar unfruchtbaren Lehre vom doppelten Stande Christi weiß er zwei praktische Momente zu entlocken:

1) Christus erniedrigte sich, also daß derjenige beinahe nichts zu sein schien, ohne welchen nichts geworden ist, und du, o Mensch, rühmest dich ungemessen und glaubst etwas zu sein, da du doch nichts bist. Wie ungereimt und verkehrt ist’s, daß, während die höchste Hoheit sich erniedrigt, die höchste Niedrigkeit sich erheben will?

2) Christus hat sich erniedrigt, darum hat ihn Gott erhöht: auf gleiche Weise wirst du nicht zur Höhe gelangen, es sei denn auf dem Wege der Erniedrigung. Christus, da er vermöge seiner göttlichen Natur nicht hatte, wie er zunehmen konnte, fand durch sein Herniederkommen eine Weise, wie er zunähme: auf gleiche Weise wird auch dir nur durch Erniedrigung der Weg sich öffnen zum Hohen.

Endlich hat sein praktisch-frommer Sinn einen vorzüglichen Ausdruck gefunden in verschiedenen ascetischen Büchern, vor Allem in seinen „ Heiligen Betrachtungen“, dem geistreichen Erbauungsbuche in der Weise von Augustin, Tauler und Bernhard, welches seiner alten und kalten Zeit dienen sollte zur Erwärmung. Darin finden sich Ermahnungen folgender Art: „In deinem Umgang sei Allen angenehm, Niemandem beschwerlich, Wenigen vertraulich, Gott lebe fromm, dir züchtig, dem Nächsten gerecht, mit dem Freunde pflege die Liebe, mit dem Feinde die Geduld, mit Allen das Wohlwollen, und Wohlthun übe an wem du nur kannst.“ Gerhard denkt die Wirksamkeit des göttlichen Wortes zwar unabhängig von der Beschaffenheit des Dieners am Worte, wie es keinen Unterschied macht, ob das Wasser durch steinerne oder silberne Röhren fließt, aber doch muß aus dem Herzen kommen was zu Andrer Herzen dringen soll und nur dem erglänzt das Licht geistlicher Erkenntniß, der in der Finsterniß der Sünde nicht wandelt. Solche Aussprüche, zumal auch Gerhard den Stein der Weisen gelegentlich mit dem Eckstein der Kirche parallelisiert hatte, stempelten damals zum Rosenkreuzer und Weigelianer. Eiferer, schreibt er an Arndt, schonen auch meiner nicht, sondern geben mir in öffentlichen Predigten solche Irrthümer schuld, die mir niemals in den Sinn gekommen sind, und er hat seinen Sykophanten folgende Verse entgegengestellt:

Welchen der Eifer anitzt zur Frömmigkeit sonderlich hintreibt,
Wer sich nach beiderlei Seit_ heiliger Weisheit befleißt,
Rosenkreuzer sofort heißt der und Weigelianer,
Schimpfliches Ketzermal drückt auf die Stirne man ihm.
Derlei redet auch mir dreist nach ein giftiger Leumund,
Fordert auch ungescheut Glauben dem losen Geschwätz.
O verblendeter Sinn der Menschen, verblendete Herzen!

O wie urtheilslos schwächliche Denker ihr seid! Lernt doch zuvor, wer wirklich ein Weigelianischer Ketzer, Rosenkreuzer wer sei, lernt es, ich bitt‘ euch, zuvor. Strahlende Sonne verscheuche die düsteren Nebel am Himmel, Dämmerndes Wahrheitslicht herrlicher glänze herauf!

Doch ist Gerhard durch solche Angriffe ängstlich und um den Ruf seiner Rechtgläubigkeit besorgt worden. Zwar jenes heftige Gutachten, welches Lucas Osiander gegen Arndt’s Bücher vom wahren Christenthum, als ein Werk der Hölle schleuderte, er hat es eine Schandsäule genannt, aber er selbst ist doch nur als ein gemäßigter Vertheidiger seines väterlichen Freundes Arndt aufgetreten, als dessen theologisches Urtheil, weil er hauptsächlich Medicin studiert habe, durch Disputationen weniger gebildet gewesen, und seine kalte „Schola pietatis das ist christliche und heilsame Unterrichtung, was für Ursachen einen jeden wahren Christen zur Gottseligkeit bewegen sollen“ (1622) hat die Bestimmung, gegen Arndt zu zeigen, daß man die Menschen in rechter Frömmigkeit unterweisen könne ohne Paracelsus und Weigel.

Zum Schlusse fügen wir einige Notizen aus Gerhard’s Privatleben bei. Seine erste Gattin, eine Tochter des Weimarischen Bürgermeisters Johann Georg Neumeyer, führte er 1608 heim, sie ward ihm aber schon im dritten Jahre seiner Ehe durch den Tod entrissen. Nach dreijährigem Witwerstand feierte er seine zweite Vermählung mit der Tochter des Gothaischen Arztes Johann Mattenberg, aus welcher Ehe ihm ein Sohn, Johann Ernst, geboren wurde, der nachmals in Jena eine theologische Professur bekleidete. Gerhard hatte durch das Heirathsgut seiner Frauen und durch fürstliche Freigebigkeit ein schönes Vermögen sich gesammelt, aber so wenig hing sein Herz daran, daß er über seiner Güter Verlust im Kriege sich tröstend ausruft: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt!“ Als die Kriegsknechte seinen Landsitz Rosla niederbrannten, sprach er: „Gott schenke den Brandstiftern Reue, mir aber Geduld.“ Und seine Geduld in der Hoffnung wurde nicht zu Schanden, er hat nachgehends mit heiterer Stirne seinem Collegen Major erzählt, daß er jetzt gesegneter noch sei an irdischem Gut, als früher. Er hat auch, ein seltenes Beispiel, was er an Gehalt mehr hatte, als seine Collegen, mit diesen getheilt und es ausgesprochen: lieber Weinberge und Gärten wolle er verkaufen, als einen Armen mit rauhem Worte oder ohne Almosen von sich lassen. Auch wird ihm nachgerühmt, daß er die Kirche nicht bloß eifrig besucht, sondern der Predigt auch aufmerksam zugehört habe, so daß der Schlaf ihn niemals übermannte. Erst 55 Jahre alt entschlief er in Gegenwart seiner Collegen Major und Himmel, in den Armen seines Beichtvaters, des Archidiaconus Adrian Beier, am 17. August 1637 mit den Worten: „Komm, Herr, komme. Amen.“ Noch kurz vor seinem sanften Hintritt gedachte er ein Buch zu schreiben von den Mängeln und Gebrechen der Kirche und von dero aufhelflichen Mitteln eine Weissagung auf Jacob Spener’s Pia Desideria. An ihm, der als der Adler der Theologen, dessen Haus als das Museum des christlichen Erdkreises bezeichnet wurde, schien, wie Einer der Leichenredner es aussprach – und es ist auf drei Universitäten ihm parentiert worden – die Universität nicht Einen ihrer Lehrer, sondern die Lehrer eine Universität verloren zu haben. Sein lebensgroßes Bildniß ist aufgestellt in der Stadtkirche zu St. Michaelis in Jena, wo auch seine sterblichen Ueberreste ruhen.

Gustav Frank in Wien.

1)Die beste Biographie ist immer noch die Vita Joannis Gerhardi (Lipsiae 1723) von Erdmann Rudolph Fischer, damals Diaconus, späterhin Generalsuperintendent in Coburg, welcher die Handschriften Gerhards auf der Bibliothek in Gotha und das eigenhändige Diarium b. Gerhardi, welches im Besitz des Kirchenrathes Cyprian war, benutzte. Der Verleger änderte nach einigen Jahren ohne des Verfassers Vorwissen „betrüglicher Weise“ den Titel also: Historia ecclesiastica Seculi XVII. in vita Joannis Gerhardi illustrata. Lips. 1727. Danach ist entworfen Jo. Friderici Cottae, Prof. Tubing., Vita, fata et scripta Jo. Gerhardi als Praefatio zu der von ihm besorgten Ausgabe von Gerhard’s Dogmatik. Außerdem hat neuerdings D. A. Tholuck ein Spicilegium ex commercio epistolico Joh. Gerhardi (Halae 1864) veröffentlicht
2)Mylius gab lieber sein Augsburger Pfarramt auf, als daß er in die Annahme des neuen Gregorianischen Kalenders gewilligt hätte, in dessen Einführung die Protestanten nur des Papstes Schlangenverstand und Fuchslift sahen, womit er oblique seine Macht wieder in die evangelische Kirche einschwärzen wolle.
3)Confessio catholica, in qua doctrina catholica et evangelica, quam ecclesiae Augustanae Confessioni addictae profitentur, ex Romano-Catholicorum scriptorum suffragiis confirmatur. 4 T. Jenae 1633-37.