Wenn ein Mann nur sich selbst und das Seine gesucht hat, so mag er noch so strahlend geleuchtet haben, seine Spuren verwischen sich schnell und sein Gedächtniß bleibt nicht im Segen. Wer aber in seinem Leben Gottes Werk getrieben, seiner Wahrheit gedient, sein Reich gefördert hat, dessen Segensspuren sind bleibend. So Wiclif. Er war am Jahresschluß 1384 gestorben. Aber sein Geist lebte fort. Nicht nur in den „armen Priestern“, die von ihm gelernt hatten, das Evangelium „frei und treu“ zu verkündigen, und welche nach wie vor „Gottes Gesetz“, statt nur menschliche Satzung, predigten; nicht nur in Tausenden vom Bürger- und Bauernstande, die aus dem Munde der „armen Priester“ Gottes Wort gerne hörten und lernten; sondern auch in zahlreichen Anhängern von Rang und Stand, in Rittern und Herren, welche überzeugt waren, daß sie ihren Einfluß und ihr ansehnliches Vermögen nicht besser anwenden könnten, als zu Gunsten einer Sache, welche zugleich zur Ehre Gottes diente und Freiheit und Wohlstand des Vaterlandes erhöhte. Denn in dem Charakter der Lollarden vereinigte sich das Anliegen heilsbegieriger Seelen und das Reformbestreben treuer Patrioten.
Einer der hervorragendsten Gönner und Schutzherrn der wiclifitischen Partei unter den Großen des Reichs war im Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts der Mann, dem dieses Lebensbild gewidmet ist. Eben um seiner wiclifitischen Gesinnung willen wurde er eine Zielscheibe von Angriffen, welche zuletzt zu einer furchtbaren Katastrophe führten, in der er als treuer Bekenner evangelischer Wahrheit eines schrecklichen Märtyrertodes gestorben ist.
Sir John Oldcastle war ein edelgeborener Herr, der jedoch den Lordstitel, als Baron von Cobham, mit Sitz und Stimme im Oberhaus, nur dem Erbrechte seiner Gemahlin verdankte. Er war ein ganzer Ritter, persönlich tapfer, ein tüchtiger Feldhauptmann, nebenbei ein gewandter Hofmann und ein weiser Rathgeber. König Heinrich IV. von England, in dessen Gunst er hoch stand, hat ihm einmal ein Commando bei den Hülfstruppen anvertraut, die er im Herbste 1411 dem Herzog von Burgund zusandte, um das belagerte Paris zu entsetzen. Allein der edle Mann schätzte dessen ungeachtet die Gnade Gottes höher als die Gunst seines Königs. Und er verdankte seine Erweckung nächst Gott niemand anders als Wiclif und seiner Lehre. Er hat in einem Verhör vor dem Erzbischof einmal offen bekannt, daß er erst aus Wiclif’s Lehre einen Abscheu vor der Sünde geschöpft habe. Seitdem war er entschlossen Christo nachzufolgen, und die „freie und treue“ Predigt des Wortes Gottes nach Kräften zu fördern. Er hat nicht nur den Predigten wiclifitischer Reiseprediger für seine Person fleißig beigewohnt, und ist denjenigen, welche Widerspruch gegen dieselben zu erheben Lust hatten, nachdrücklich entgegengetreten, hat Mitglieder der Lollardenpartei, wenn sie von der Kirchengewalt bedroht wurden, mit seinem Ansehen und Einfluß, nötigenfalls sogar mit Waffengewalt, in Schutz genommen; sondern er hat auch selbst Reiseprediger ausgesandt, ohne bischöfliche Genehmigung einzuholen.
Begreiflich war ein solcher Mann der papistischen Hierarchie ein Dorn im Auge. Allein es fehlte geraume Zeit an Muth oder wenigstens an Gelegenheit, den hochgestellten und bei Hofe angesehenen Herrn persönlich und unmittelbar anzutasten. Anfangs wagte man sich nur an seinen Kaplan, Namens Johann, welcher unter dem Schutze des Lords an mehreren Orten der Grafschaft Kent, welche zu den Besitzungen desselben gehörten, ohne Erlaubniß des Bischofs von Rochester, als Reiseprediger aufgetreten war. Der Erzbischof ließ den Kaplan im Jahr 1410 zur Verantwortung vorladen, und belegte die Kirchen, in welchen er zu predigen pflegte, mit dem Interdikt.
Nachdem aber im Jahr 1413 Heinrich IV. gestorben war, und sein Sohn, der als Prinz von Wales sich einem tollen Leben hingegeben hatte, als Heinrich V. den Thron bestiegen hatte, ging man dem Lord selbst näher zu Leibe. Zuerst handelte es sich nur um ein Buch, welches in seinem Besitze gewesen war; man wußte den König durch Mittheilung anstößiger Sätze aus demselben, welche Lord Cobham zu vertheidigen nicht gewillt war, gegen ihn selbst einzunehmen. Nun erhob die Convocation vom 26. Juni 1413 Anschuldigungen gegen den Lord und beantragte, eine Untersuchung gegen ihn zu eröffnen, weil er Irrlehren hege und unbefugte Reiseprediger in Schutz nehme. Allein der Erzbischof Thomas Arundel hielt es für gerathen, sich zuvörderst an den König selbst zu wenden, und trug diesem die Sache vor. In Folge dessen gab sich Heinrich V. alle Mühe, durch persönliche Unterredungen den Lord umzustimmen, aber ohne allen Erfolg, indem derselbe seine Ueberzeugungen durchaus nicht verleugnete, im Gegentheil nachdrücklich festhielt. Schließlich ertheilte ihm der König im August 1413 im Schlosse zu Windsor einen höchst ungnädigen Verweis. Daraufhin verließ der Lord eigenmächtig das Hoflager, begab sich auf seine Burg Cowling in Kent, und befestigte dieselbe. Nun setzte der König den Erzbischof von der Erfolglosigkeit seiner Bemühungen in Kenntniß und forderte ihn auf, kraft kirchlichen Rechts gegen den Lord einzuschreiten.
Der Erzbischof schickte sofort eine schriftliche Vorladung nach Schloß Cowling. Der Lord nahm dieselbe gar nicht an. Eine zweite Vorladung an ihn wurde an dem Portal der Cathedrale zu Rochester öffentlich angeschlagen. An dem darin anberaumten Termin erschien der Vorgeladene nicht. Jetzt sprach der Erzbischof über Lord Cobham den Bann aus wegen beharrlichen Ungehorsams, unter abermaliger Vorladung wegen Verdachtes der Ketzerei. Bald darauf befand sich der Edelmann im Staatsgefängniß, wahrscheinlich hatte er sich freiwillig dem König gestellt. Am 23. September 1413 wurde er vom Tower aus in den Kapitelsaal der Paulskirche dem Erzbischof und dem geistlichen Gerichtshof desselben vorgeführt. Der Primas bot ihm Aufhebung des über ihn verhängten Bannes und Absolution an, falls er darum bitten würde. Allein hiezu verstand sich der Lord schlechterdings nicht, wohl aber bat er um die Erlaubnis sein Glaubensbekenntniß, das er in englischer Sprache aufgesetzt hatte, vortragen zu dürfen. Dieses Bekenntniß klingt einerseits versöhnlich, indem es sich der römischen Lehre möglichst nähert, ist aber andererseits so freimüthig und würdevoll abgefaßt, daß es den Eindruck wahrer Gottesfurcht und eines edlen männlichen Muthes macht, und jedem Unbefangenen unwillkührlich Achtung abnöthigt. Es spricht sich über Abendmahl und Buße, über Bilder und Wallfahrten aus. Der Erzbischof konnte, nach genommener Rücksprache mit seinen Beisitzern, den Bischöfen von London und Rochester so wie mehreren Doctoren der Theologie und Rechtsgelehrten, nicht umhin laut anzuerkennen, daß in seiner schriftlichen Auseinandersetzung manches Gute und Rechtgläubige enthalten sei; er forderte jedoch eine genauere und unumwundene Aeußerung über etliche Fragen, namentlich in Betreff der Wandlung im h. Abendmahl und der Ohrenbeichte. Lord Cobham verweigerte indeß jede weitere Erklärung, und war schlechterdings nicht zu bewegen, die Vollmacht des Papstes und der Prälaten zu bindenden Entscheidungen über Lehrfragen anzuerkennen.
Er wurde in den Tower zurückgeführt. Am 25. September fand ein nochmaliges Verhör statt, wobei ihn der Erzbischof nochmals aufforderte, um Absolution zu bitten. Der Ritter erwiederte: „Nein, das werde ich wahrlich nicht thun; denn ich habe mich noch nie an Euch versündigt, deshalb werde ich Euch auch nicht um Vergebung bitten!“ Bei diesen Worten kniete er aber auf den Fußboden nieder, hob seine Hände gen Himmel auf und betete: „Ich bekenne dir, du lebendiger ewiger Gott, daß ich in meiner schwachen Jugend dich, o Herr, schwer beleidiget habe mit Stolz, Zorn, Begierden und Ueppigkeit. Vielen Menschen habe ich Leid angethan in meinem Grimm, und viel andere schreckliche Sünden begangen. Guter Herr, ich bitte Dich um Erbarmen!“ Und damit stand er unter Thränen wieder auf, und rief den Umstehenden mit mächtiger Stimme zu: „Sehet, guten Leute, seht, wegen Uebertretung von Gottes Gesetz mit seinen großen Geboten haben sie mich noch nie verflucht; aber um ihrer eigenen Gesetze und Ueberlieferungen willen handeln sie auf’s grausamste mit mir und anderen Leuten! Deshalb werden sie selber samt ihren Gesetzen, laut Gottes Verheißung, völlig vernichtet werden!“
Der Erzbischof schritt sodann zu dem Verhör und befragte den Angeschuldigten über seinen Christenglauben, unter Bezugnahme auf einige ihm zuvor schriftlich vorgelegte Fragen. Hiebei legte der Lord ein freimüthiges unumwundenes Bekenntniß ab über die Lehre von der Wandlung so wie über Ohrenbeichte, Kreuzeszeichen und die Schlüsselgewalt des Papstes und der Prälaten. Insbesondere scheute er sich nicht auszusprechen, Rom sei das ächte Nest des Antichrist, der Papst sei das Haupt, Prälaten Priester und besitzende Mönche seien der Leib, Bettelmönche der Schwanz des Antichrist. Einmal breitete er die Arme aus und rief den bei dem Verhör Anwesenden laut zu: „Diejenigen, welche mich richten und verurtheilen wollen, werden Euch und sich selbst verführen und in die Hölle bringen; nehmt Euch in Acht vor ihnen!“ Hernach fiel er wiederum auf seine Knie, und betete für seine Feinde und Verfolger um Vergebung. Da Lord Cobham seiner Ueberzeugung durchaus treu blieb und dem Erzbischof wie den ihm assistirenden Doctoren auf jeden Vorhalt mit Unerschrockenheit und Geistesgegenwart antwortete, so wurde von dem geistlichen Gerichtshof schließlich das Urtheil gefällt, dahin gehend, daß Sir John Oldcastle, Lord Cobham, als verderblicher Ketzer, nebst allen seinen Gesinnungsgenossen und Helfern in den Bann gethan und dem weltlichen Gericht übergeben werde.
Vollzogen wurde das Urtheil nicht sofort. Man ertheilte dem Lord eine Bedenkzeit von 40 Tagen. Und gegen das Ende dieser Frist gelang es dem Ritter, aus dem Tower zu entkommen. Eine Schaar entschlossener Bürger von London rückte in einer dunkeln Nacht, vom 27/28. October 1413 vor den Tower, befreite den verehrten Helden und geleitete ihn zu seiner Wohnung auf Smithfield. Hier verweilte Lord Cobham unbehelligt gegen drei Monate.
Ein Bericht, den freilich nur erklärte Feinde der Lollarden überliefert haben, schreibt dieser Partei den Plan zu, den König und seinen Bruder auf dem Landsitz Eltham zu überfallen; als dieser Kunde davon bekam und sich nach Westminster begab, sollen sie sich verabredet haben, in der Nacht auf den 7. Januar 1414 sich in St. Giles bei London zu sammeln, um dann, durch Zuzug aus der Stadt verstärkt, gegen Krone und Adel, Prälaten und Mönche loszubrechen, in der Hoffnung, Sir John Oldcastle werde sich an ihre Spitze stellen. Allein der König kam ihnen zuvor, besetzte die Ebene St. Giles, und ließ die zusammengelaufenen Banden überfallen. Ihrer 39 wurden in Folge eines sehr summarischen Processes schuldig befunden, und als Hochverräther theils gehangen theils verbrannt.
Thatsache ist, daß in der Nacht vom 6/7. Januar ein Auflauf auf St. Gilesfield stattgefunden hat. Wer jedoch die Urheber und Anstifter gewesen, liegt völlig im Dunkeln. Aber die ganze angebliche Verschwörung wurde auf Lord Cobham’s Rechnung gesetzt. Einen Beweis für seine Schuld hat niemand beizubringen vermocht.
Da indessen am 11. Januar 1414 eine königliche Proklamation gegen ihn erging, so hielt er sich geraume Zeit verborgen, ohne daß man weiß, wann er seine Wohnung in der Stadt verlassen hat. Erst im Jahre 1417 gelang es, ihn in Wales ausfindig zu machen, und nach tapferer Gegenwehr sich seiner Person zu bemächtigen. Er wurde sofort nach London gebracht. Am 14 December wurde er vor dem Hause der Lords verhört, begab sich jedoch aller Vertheidigung, indem er auf das Erbarmen Gottes hinwies, dem allein die Vergeltung zustehe. Zuletzt erklärte er: „Mir ist es ein geringes, daß ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Tage“ (1. Kor. 4, 3).
Schließlich wurde das Urtheil dahin gefällt, daß er als Hochverräther gehängt und als Ketzer verbrannt werden solle. Und dieses Urtheil wurde buchstäblich an ihm vollzogen. Er wurde auf eine Schleife gelegt mit auf den Rücken gebundenen Händen, und so vom Tower durch die Stadt hinaus nach der Ebene St. Giles geschleppt. Hier angekommen wurde er von der Schleife herabgenommen; nun fiel er auf die Knie und bat den allmächtigen Gott, seinen Feinden zu vergeben. Dann stand er auf, und ermahnte die Menge der Zuschauer, dem Gesetze Gottes, wie es in der Bibel geschrieben ist, zu folgen, und sich in alle Wege vor solchen Lehrern in Acht zu nehmen, deren Leben und Wandel sichtlich Christo zuwider sei.
Nun wurde er in der Mitte zwischen zwei Galgen an Ketten aufgehängt, und ein Scheiterhaufen unter ihm angezündet, so daß er von unten auf langsam verbrannt wurde. So lange Leben in ihm war, pries er Gott und befahl seine Seele in Gottes Hände. So starb der an Rang und Stand hervorragendste, aber auch durch sittliche Würde und christlichen Muth ausgezeichnete Wiclifite, mit einer Standhaftigkeit ohne Furcht und Tadel, als Märtyrer.
G. Lechler in Leipzig.
Die Zeugen der Wahrheit
Dritter Band
Piper, Ferdinand (Herausgeber)
Verlag von Bernhard Tauchnitz
Leipzig 1874