Der Evangelist oder genauer der Apostel Johannes ((Nach der etymologischen Bedeutung des ursprünglich hebräischen Namens ist Johannes so viel, als den Jehova geschenkt hat, Gottesgabe, Gottesgnade, vielleicht dem deutschen wie es scheint nicht sehr alten Namen Gotthold oder Gotteshuld, entsprechend.)) ist nach sicheren Zeugnissen der drei ersten Evangelien (Matth. 4,21. Mark. 1,19. Luk. 5,10. Matth. 10,2. Mark. 3,17.) der Sohn des Zebedäus und der Salome, der Bruder wahrscheinlich des jüngeren, des Apostels Jakobus, den man zum Unterschiede von dem Apostel Jakobus, dem Sohne des Alphäus, so wie dem Jakobus, dem Bruder des Herrn, in der alten Kirche den älteren Jakobus genannt hat, und dessen früher Märtyrertod unter Herodes Agrippa, (bald nach dem Märtyrertode des ersten Blutzeugen Stephanus, nach welchem im Kalender sehr sinnig der zweite Christtag benannt wird,) in der Apost.-Gesch. 12,2. erzählt ist.
Der Vater Zebedäus war ein galiläischer Fischer am See Genezareth, dem fischreichen, ob in Bethsaida, dem Orte des Petrus und Andreas, wohnhaft, wie die Alten vermuthen, weiß man nicht; ja es ist sehr unwahrscheinlich. Während der Vater in der evangelischen Geschichte nicht weiter vorkommt, niemals auch nur genannt wird unter den an den Herrn Gläubigen aus Galiläa, gehörte die Mutter Salome wahrscheinlich zu den galiläischen Frauen, welche den Herrn auf seinen Messianischen Wanderungen begleiteten und von ihrem Vermögen unterstützen, Luk. 8,1-3.; ihr Name wird von Lukas hier nicht genannt; aber nach Matth. 27,55.56. und Mark. 15,40. ist sie unter diesen, welche den Herrn auch auf seinem Wege nach Jerusalem zum letzten Osterfeste begleiteten und an seinem Kreuze standen; nach Mark. 16,1. ist sie auch unter den Frauen, welche nach dem Tode Jesu Spezereien zur ehrenvollen Bestattung seines Leichnams kauften und am dritten Tage, dem Auferstehungstage, in der Frühe zum Grabe gingen, um dem geliebten Herrn und Meister die letzte Ehre zu erweisen. Man sieht schon hieraus, daß die Familie des Johannes nicht zu den Armen im engeren Sinne, den sogenannten Proletariern, sondern zu dem galiläischen Mittelstande, dem Erwerbsstande, gehörte. Zu den nichtshabenden und erwerblosen Armen gehörte überhaupt keiner der galiläischen Apostel mit ihren Familien. Ja, sie waren wohl Arme, aber in einem anderen Sinne, in dem nemlich, in welchem der Herr in der Bergpredigt die Armen am Geist selig preist. Leiblich arm wurden sie um des Herrn willen in ihrem apostolischen Amte, wie er selbst um unsertwillen arm wurde und nicht hatte, wohin er sein Haupt legte.
Ob die Familie des Johannes mit der Familie Jesu durch die Salome verwandt war, wie man späterhin in der Kirche meinte und wünschte, ist höchst ungewiß. Im Neuen Testament haben wir für diese Vermuthung keine einzige irgend sichere Stelle. Dagegen ist im höchsten Grade wahrscheinlich, daß die Familie unseres Evangelisten zu denjenigen gehörte, in welchen bei gewöhnlicher Kenntniß der alttestamentlichen heiligen Schrift, wie sie der damalige Volksunterricht, namentlich in den Synagogen gewährte, Eltern und Söhne, und diese wohl vorzugsweise, an den Messianischen Hoffnungen der Zeit mit besonderer Lebhaftigkeit Theil nahmen. Vom Vater Zebedäus wissen wir es nicht bestimmt; er scheint ein in seinem nächsten äußeren Berufe thätiger Mann gewesen zu sein. Aber er gestattete doch den Söhnen, daß sie dem Herrn nachfolgten, und so war er wohl auch ein auf den Messias hoffender Mann. Die Mutter freilich scheint sich gegen die Messianische Neigung und Richtung der Söhne mehr als bloß gestattend verhalten und ihnen geistig näher gestanden zu haben, wie denn oft in der christlichen Geschichte religiös begabtere Männer vorzugeweise aus dem tieferen religiösen Gemüthsleben der Mütter, welche, wie die Frauen überhaupt von Gott zu den Pflegern und Hütern des heiligen Feuers auf dem häuslichen Heerde erwählt und bestellt sind, die Gabe, Weihe und Bestimmung zu ihrem Heiligen Lebensberuf empfangen haben. Nach der Erzählung, Ev. Joh. 1,33 ff., scheint Johannes, der jüngere Sohn, aus seiner Familie der erste gewesen zu sein, den die Botschaft des Täufers Johannes von dem herannahenden Himmelreiche und dem Erschienensein des Messias aufregte. Denn der ungenannte Jünger, der mit dem Andreas, dem Bruder des Petrus, in der Jordanaue bei dem Täufer steht, als dieser über den herannahenden Jesus von Nazareth das große Wort ausspricht: Siehe, Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt! ist wahrscheinlich eben unser Johannes, der als Augenzeuge erzählt, was damals geschah, und der noch genau die Stunde wußte, wo er nach der Weisung des Täufers dem noch im Hintergrunde der Geschichte, wie eine halbverhüllte Gestalt, wandelnden Herrn folgte und mit ihm zusammenkam, wahrscheinlich zu weiterem Gespräch in einer Herberge. Beide Jünger, scheint es, beeilten sich, die Runde von dem in Jesu von Nazareth gefundenen Messias den Ihrigen mitzutheilen. Andreas führt seinen Bruder Petrus zum Herrn. Daß der andere Jünger, wenn es eben unser Johannes ist, wie zu erwarten wäre, seinen Bruder Jakobus zu Christo geführt habe, wird nicht erzählt. Anderen Tages schließen sich dann noch Philippus und von diesem gerufen Nathanael an den nach Galiläa zurückkehrenden Christus an, und am dritten Tage erscheint der Herr auf der Hochzeit zu Kana, mit seinen Jüngern dazu geladen, wo er sein erstes Herrlichkeitswunder in Galiläa thut, durch welches die Jünger sich in ihrem Glauben an ihn bestimmt entscheiden. Unter diesen ist denn auch Johannes. Nach Matthäus, Markus und Lukas aber scheint Johannes, wie auch Andreas und Petrus, in dieser Zeit noch nicht beständig bei dem Herrn geblieben, sondern zu den Ihrigen und zu ihrem Fischergeschäft am galiläischen See zurückgekehrt zu sein. Die Aufeinanderfolge der Begebenheiten ist hier nicht klar. Aber, wenn doch alle vier Evangelien, jedes in seiner Art, glaubwürdig sind, so muß man annehmen, daß Jesus erst, als er in Galiläa sein heiliges Lehramt in zusammenhängender Weise verwaltete, den Johannes mit seinem Bruder Jakobus, sammt den beiden Brüdern Andreas und Petrus, von ihrem bürgerlichen Geschäft weg und zur bleibenden Nachfolge und zum Apostelamte berief; aber in Folge jenes ersten bedeutungsvollen Zusammentreffens mit ihnen in der Jordanaue.
Johannes war, sagt man, als er Jünger Jesu wurde, noch sehr jung, unter allen der jüngste. Man schließt dies daraus, daß er unter den Aposteln am spätesten starb. Der Schluß ist unsicher. Aber es ist allgemeine Ueberlieferung in der Kirche, und die Malerkunst hält sich dadurch für berechtigt, den Johannes vorzugsweise als Jüngling darzustellen. Alle Apostel waren unstreitig junge frische Männer, als sie zu Jesu kamen. Nur solchen konnte er das schwere Amt der apostolischen Mission, welche frische junge Manneskraft forderte, anvertrauen; nur von solchen hoffen, daß sie noch empfänglich genug waren für seine Lehre und Jüngerschaft. Aber bei aller Vorbereitung darauf durch Weissagung und Sehnsucht im Volke, war sein Evangelium doch etwas so Neues, Erhabenes und Schweres, daß nur jugendliche Gemüther aus dem schlichten Volke im Stande waren, sich allmählig in dasselbe hineinzufinden, und sich vom Judenthum loszureißen. Es mag sein, daß Johannes unter diesen der jugendlichste und frischeste war. Indessen war auch er, wie die anderen, in den Vorurtheilen seines Volkes und seiner Zeit befangen. Der Täufer hatte ihn nur vorbereitend auf Christus hingewiesen. Das volle Verständniß des Evangeliums vom Himmelreich konnte ihm auch der Täufer nicht geben; er besaß es selbst nur in einem dunklen prophetischen Worte, und blieb vor der Pforte des Messianischen Himmelreiches stehen. Wie empfänglich auch Johannes von Natur sein und in seiner ganzen individuellen Art dem Herrn nahe stehen mochte, er bedurfte, wie alle Jünger, der Wiedergeburt, der Entwöhnung von dem alten und der Gewöhnung zu dem neuen Leben. Die einzelnen Momente seiner Entwickelung, seiner Bildung zum Apostelamte kennen wir nicht. Aber unstreitig hat darauf ganz besonderen Einfluß gehabt, daß er mit Petrus und seinem Bruder vom Herrn eines besonderen engeren Umganges gewürdigt wurde. In diesem engeren Verhältnisse ist er mit den beiden anderen Zeuge besonders merkwürdiger Zustände im Leben des Herrn, ist gegenwärtig bei der Erweckung der Tochter des Jairus (Mark. 5,37.), bei der wunderbaren Verklärung auf dem Berge (Matth. 17,1. ff.), und in Gethsemane bei dem inneren tiefen Gebetskampfe (Matth. 26,37.). Aber noch mehr! Er wird gerade im vierten Evangelium als derjenige bezeichnet, der dem Herrn noch näher stand, als die beiden anderen, den der Herr besonders lieb hatte, der bei dem letzten Mahle dem Herrn zunächst saß an dessen Busen, der Busenfreund, den die anderen Apostel auch dafür ansahen, so daß sie glaubten, er habe, als der Herr von dem Verräther sprach, ohne ihn zu nennen, eine Frage frei an ihn, die sie nicht zu thun wagten (Joh. 13,23. ff.). Ihm empfiehlt Jesus sterbend seine Mutter zu kindlicher Pflege an seiner Statt (Joh. 19,26. u. 27.). Aber bei aller dankbaren Gegenliebe und Treue ist er, doch nur ein schwacher menschlicher Freund des Heiligen. Er flieht, wie die übrigen Jünger, bei der Gefangennehmung Jesu. Allein er sammelt sich bald wieder und folgt mit Petrus seinem Herrn auf dem Leidenswege bis in des Hohenpriesters Palast (Joh. 18,15.16.), und war, wie es scheint, ziemlich anhaltender und dreister Zeuge der letzten Begebenheiten. Er steht mit der Mutter Jesu und anderen galiläischen Frauen unter dem Kreuze, und nach dem Tode des Herrn ist er derjenige Jünger, der auf die Nachricht der Maria Magdalena, daß der Leichnam des geliebten Meisters nicht mehr im Grabe sei, mit Petrus zum Grabe eilt, aber schneller läuft, als dieser. Die Erzählungen von den Offenbarungen des auferstandenen Christus an seine Jünger am See Tiberias (Joh. 21.), auch selbst die wunderliebliche Erzählung, wie der Herr den Petrus, der ihn dreimal verläugnet hatte, dreimal fragt: liebst du mich? und dreimal ihm das Hirtenamt anbefiehlt, und ihm dann seinen Märtyrertod voraussagt, u. s. w. haben manche historische Schwierigkeit und Dunkelheit, das aber geht klar und gewiß daraus hervor, daß das innigere persönliche Verhältniß Christi zu seinem Lieblingsjünger auch nach der Auferstehung sich fortsetzte und immer mehr verklärte.
Diese besondere persönliche Freundschaft Jesu zu Johannes gibt diesem einen besonderen Glanz, und macht ihn der Christenheit besonders lieb und theuer. Man wüßte gern, welcher Art dieselbe gewesen und worauf sie sich gegründet. Der heilige Gottessohn liebte, wie Johannes selber sagt 13,1., die Seinen alle mit gleicher Liebe bis zu Ende. Dies schloss aber so wenig die besondere persönliche Freundschaftsliebe zu den Einzelnen aus, als sie dadurch irgendwie verkümmert und verletzt werden konnte. So stand ihm auch unter seinen Jüngern der eine näher, als der andere; zunächst freilich, je nachdem sie zur Jüngerschaft und dem Apostelthume begabter, tüchtiger waren; aber auch wohl, je nachdem ihre Individualität der seinigen verwandter war, innerlich und äußerlich. Es ist freilich nur Vermuthung, wenn man sagt, es sei im Johannes eine gewisse Andacht zum Herrn gewesen, ähnlich wie in der Maria, der Schwester des Lazarus (Luk. 10,38. ff.), ein idealer, sich gern vertiefender Sinn, und dies müsse sich auch in seiner äußeren jugendlichen Erscheinung und seinem ganzen Benehmen gezeigt, und den Herrn besonders angezogen haben. Aber diese Vermuthung wird allerdings insbesondere durch das Evangelium und den ersten Brief bestätigt, obwohl beide Schriften aus einer Zeit im Leben des Johannes sind, wo das persönliche Freundschaftsverhältniß zu dem Herrn in seiner irdischen Erscheinung schon durch den verklärten jenseitigen Christus verklärt und ganz pneumatisch geworden war. Es wird uns von Mark. 3,17. erzählt. daß Christus die beiden Söhne des Zebedäus einst Donnersöhne genannt habe. Wir wissen nicht, wann dies geschah, was dazu den Herrn veranlaßte, ja selbst der Sinn des Beinamens ist zweifelhaft. Wahrscheinlich ist, daß der Beiname sich auf eine Temperamentseigenthümlichkeit der beiden Brüder bezieht, und daß er eine gewisse natürliche Heftigkeit und schnelle, gleichsam detonierende Affectuosität bezeichnen soll. Christus will damit die Brüder nicht gerade tadeln. Das natürliche individuelle Temperament hat auch in der Jüngerschaft Christi sein Recht, es wird die Naturbedingung entsprechender sittlicher Virtuositäten der Individuen. Und so kann es sein, daß der Herr die Brüder durch den Beinamen darauf aufmerksam machen wollte, in welcher Art und Richtung sie sich weiter auszubilden, welche besondere Aufgabe sie hätten, entsprechend ihrem natürlichen Charisma. Ein Beispiel dieser Temperamentsart der Zebedaiden finden wir bei Luk. 9,51 ff., ein anderes von Johannes allein Luk. 9,49 ff. vergl. Mark. 9,38 ff. Solche Aufgeregtheiten, Zornigkeiten aus edlen Motiven, mögen zu dieser Namengebung Veranlassung gegeben haben. Aber aus beiden Erzählungen sieht man deutlich, wie sehr dem Herrn daran lag, die Temperamentsart der beiden Brüder durch den heiligen Geist zu verklären und von ihrer natürlichen Unart zu befreien. Was insbesondere den Johannes betrifft, so scheint dieser Donnersohn sich vorzugsweise in der Auffassung der christlichen Idee des scheidenden Gerichts und des ausschließenden Gegensatzes zwischen Wahrheit und Irrthum, Gut und Bös verklärt zu haben. Davon zeugen sein Evangelium und erster Brief.
Nach der Auferstehung und Himmelfahrt des Herrn treffen wir den Johannes zuerst wieder in der apostolischen Stiftung der Muttergemeinde von Jerusalem; neben Petrus erscheint er (Apost.Gesch. 3,1 ff.) im Tempel lehrend, dann auch mit diesem auf einer apostolischen Mission in Samarien, zur Befestigung und Mittheilung des heiligen Geistes an die neuen Christen (Apost.Gesch. 8.). Er kehrt mit Petrus von da nach Jerusalem zurück (Ebend. 8,25.). Aber seitdem schweigt die Apostel-Geschichte gänzlich von ihm. Nur von Paulus erfahren wir (aus Gal. 2,1-9.), daß, als dieser in Jerusalem war, um sich über seinen besonderen Heidenapostolischen Beruf mit den Zwölfaposteln und der Muttergemeinde zu verständigen, Petrus und Jakobus (der Bruder des Herrn) und Johannes daselbst anwesend waren und vorzugsweise als Säulen der Gemeinde galten. Ist dies, wie wahrscheinlich, dieselbe Anwesenheit des Apostels Paulus in Jerusalem, von welcher Apost.Gesch. 15,1 ff. erzählt wird, so war Johannes etwa um das Jahr 53 (nach Christus) noch in Jerusalem. Bis dahin scheint er auch keine auswärtige apostolische Mission gehabt zu haben. Wann er Jerusalem für immer verlassen, ob noch vor der Zeit, wo Paulus das letzte Mal in Jerusalem war und daselbst nur den Jakobus an der Spitze der Muttergemeinde fand, also im Anfange der sechziger Jahre, (Apost.Gesch. 21. ff.), oder etwas später, erst im Anfange des Jüdischen Krieges, wissen wir nicht. – Aber unstreitig ist die Zeit, wo er außerhalb des heiligen Landes das apostolische Amt antrat, eine Hauptepoche in seiner geistigen Lebensentwickelung.
Die älteste Ueberlieferung der Kirche bezeugt einstimmig, daß Johannes, – wahrscheinlich nach dem Tode des Apostels Paulus, welcher bis zuletzt selbst noch von Rom aus in seiner Gefangenschaft die kleinasiatischen Gemeinden, deren Mittelpunkt oder Muttergemeinde Ephesus war, leitete, durch Sendschreiben und Sendboten aus seinem engeren Schülerkreise, – in dem kleinasiatischen Gemeindekreis an die Spitze der apostolischen Mission trat, apostolisches Oberhaupt, gleichsam Oberhirt dieses Kreises wurde. Polykrates, Bischof von Ephesus, im zweiten Jahrhundert, nennt in seinem Osterschreiben an den römischen Bischof Victor den Johannes eben den Jünger, der bei dem letzten Mahle am Busen des Herrn lag, den Zeugen und Lehrer, den neutestamentlich priesterlichen Mann, einen großen Gründer der asiatischen Kirchen, und bezeugt, daß derselbe in Ephesus gelebt und gestorben sei. Dasselbe bezeugt nach der Aussage des Bischofs Polykarp von Smyrna, der für einen Jünger des Apostels gehalten wurde, der Bischof Irenäus von Lyon, ein geborener Asiat, am Ende des zweiten Jahrhunderts, welcher den Polykarp noch in seiner Jugend gesehen und gehört hatte. Eben nach Irenäus soll Johannes in Ephesus lange gelebt und gewirkt haben, und im hohen Alter zur Zeit des Kaisers Trajan, welcher im Jahre 98 zur Regierung kam, gestorben sein. So gewiß dies ist nach dem einstimmigen Zeugnisse der alten Kirche, so wenig hat es irgend Grund, was auch erst späterhin in der Kirche gesagt wurde, daß Johannes auch unter den Parthern das Evangelium verkündigt habe. Aus der Zeit seiner ephesinischen Wirksamkeit hat uns Klemens von Alexandrien, einer der gelehrtesten griechischen Väter aus dem Anfange des 3ten Jahrhunderts, eine Erzählung aufbewahrt, welche er selbst für vollkommen sicher hält, und welche eine der schönsten Erzählungen des christlichen Alterthums, uns von dem Charakter des Apostels und der Art seiner ephesinischen Wirksamkeit ein deutliches anziehendes Bild gibt. Nachdem, so erzählt er, Johannes nach dem Tode des Tyrannen Domitian, aus seinem Exil auf der einsamen Insel Patmos (Palmosa), wohin ihn jener verwiesen hatte, nach Ephesus zurückgekehrt sei, habe er schon im hohen Alter, er heißt vorzugsweise in der Erzählung der Greis, von Ephesus aus eine Missionsreise zu den benachbarten Völkerschaften seines apostolischen Sprengels unternommen, um hier Gemeinden, Bischöfe und Klerus zu ordnen. Auf dieser apostolischen Ordinations- und Visitationsreise habe er in einer Stadt in der Versammlung der Brüder einen Jüngling erblickt, welcher ausgezeichnet an Körper und Geist seine besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen habe. Bei seinem Abschiede habe er dem Bischof der Gemeinde jenen Jüngling zu besonderer Obhut und Pflege empfohlen. Anfangs habe dieser auch die christliche Lehre und Zucht des Bischofs gern angenommen, aber nachdem er getauft worden, und der Bischof von seiner strengen Zucht nachgelassen, sei er ein Raub der Verführung geworden, und so dem christlichen Leben immer mehr entfremdet, habe er sich unter eine Räuberbande begeben, und sei deren Haupt geworden, und der blutdürstigste, grausamste unter den bösen Gesellen. Als Johannes nach einiger Zeit die Gemeinde wieder besucht und von dem Abfall und dem Verderben des jungen Mannes gehört, habe er sich im tiefen Schmerz darüber eilends auf den Weg gemacht, die Bande aufgesucht, sich von ihr gefangen nehmen und zu ihrem Anführer bringen lassen. Durch bewegliche, väterlich liebevolle Rede habe er dann diesen endlich dahin gebracht, daß er in aufrichtiger Reue und mit neuer Glaubenskraft zur Gemeinde zurückgekehrt sei.
Unverkennbar ist in dieser Erzählung der Donnersohn Johannes, der rasche, erschütternde, und zugleich der Lieblingsjünger des Herrn, der Apostel der heiligen Liebe.
Die Geschichte des Johannes besonders in der ephesinischen Periode seines Lebens ist späterhin in der Kirche vielfach durch allerlei Mythen und Legenden ausgeschmückt worden. Aber der wahre Schmuck des Apostels ist eben seine wahre Geschichte, und der unvergängliche Kranz um sein edles apostolisches Haupt sind für uns seine Schriften im Neuen Testament. Wir wollen daher von den späteren mehr und weniger unsicheren Erzählungen aus den letzten Jahren seines Lebens nur zwei noch hervorheben, weil sie im Zusammenhang mit seinen Schriften zu stehen und eine Art von Reflex derselben zu sein scheinen. Die erste, schon von Irenäus auf das Zeugniß aus der Umgebung des Polykarpus mitgetheilt, erzählt, daß Johannes einst in Ephesus mit dem judenchristlichen gnostischen Häretiker Cerinth in einem öffentlichen Bade zusammengetroffen sei, dasselbe aber augenblicklich verlassen habe, mit den Worten, daß er fürchte, das Gebäude werde zusammenstürzen, weil Cerinth der Feind der Wahrheit darin sei. Später heißt es, nicht Cerinth, sondern Ebion sei dieser Ketzer gewesen. Eine solche Aeußerung des Johannes würde dem scharfen Worte (2. Br. V. 10.) entsprechen, wo er verbietet, die Gegner der Wahrheit aufzunehmen und zu grüßen. Außerdem aber reflectiert sich in dieser Erzählung die polemische Beziehung des Evangeliums und auch des ersten Briefes auf Häresien, wie die des Cerinth und Ebion. Die andere, von Hieronymus im 4ten Jahrhundert zuerst und allein erzählt, läßt den Apostel, als er schon zum Sterben schwach war, von seinen Schülern in die Versammlung der Brüder tragen. Nicht mehr im Stande, zusammenhängend zu reden, habe er, wird erzählt, wiederholt nur das eine Wort ausgerufen: Kindlein, liebet Euch unter einander. Als man verwundert ihn gefragt: Meister, warum immer nur dasselbe Wort? habe er geantwortet, weil es das Gebot des Herrn ist, und die Beobachtung desselben alles befaßt, was ein Christ zu thun habe. Das Wort des sterbenden, abscheidenden Apostels, ist es nicht die kurze Summe seines ersten Briefes? Man hat es das Testament des Johannes genannt.
Schon Ev. 21,21 ff. wird erzählt, daß aus dem Worte Christi an Petrus: Wenn ich will, daß Johannes bleibe, bis daß ich wiederkomme, was geht das dich an, Petrus? schon sehr früh durch einen Mißverstand die Sage hervorging, Johannes werde nicht sterben. Späterhin setzte man hinzu: Johannes sei wohl begraben, aber er schlafe nur im Grabe und sein Athem bewege die Erde auf seinem Grabhügel. Im Mittelalter wird diese Sage vielfach wiederholt und geglaubt. Der Mißverstand ist klar und wird schon im Evangel. 21,23 ff. widerlegt. Man mag ihn als ein Bild davon betrachten, daß der Apostel, wie freilich die anderen Apostel auch, unsterblichen Namens und Lebens sei in der Kirche, vornehmlich durch seine Schriften.
Was nun diese Schriften betrifft, so haben wir im Neuen Testamente fünf Bücher unter dem Namen des Johannes: das Evangelium, drei Briefe und die Offenbarung des Johannes. Unter diesen entsprechen das Evangelium und der erste Brief am meisten, am unmittelbarsten dem aufgestellten Lebensbilde des Apostels, wie denn auch beide uns die eigenthümliche Art des Lieblingsjüngers so in der Darstellung wie im Inhalte am anschaulichsten machen; so daß, je nachdem der zweite und dritte Brief und die Offenbarung jenen beiden Schriften entsprechen oder nicht, darnach sich der Grad der Sicherheit bestimmt, mit welchem wir dieselben für Schriften desselben Verfassers anerkennen.
Es ist nicht der Ort, die Schriften genauer im Einzelnen zu charakterisieren. Es genügt, darauf aufmerksam zu machen, daß das Evangelium das Leben des Herrn, wie es der Verfasser selber angeschauet hatte, nach seinen Hauptmomenten darstellt als das Leben, Lehren, Wirken, Leiden, Sterben und Auferstehen des fleischgewordenen uranfänglichen Wortes, des eingeborenen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit, als das wahre Licht und Leben der Menschen, als die heilige Liebe, welche zum Heil der Menschen das irdische Leben frei in den Tod gibt — den bitteren, schmachvollen Kreuzestod. Je mehr der Evangelist in das innerste Leben und Denken des Herrn, gleichsam in das Herz desselben eindringt, und aus tiefstem Verständniß seiner Person und seines Wortes ihn darstellt, desto mehr kann man von seinem Evangelium in Vergleichung mit den drei anderen sagen, was schon ein alter griechischer Kirchenvater, Klemens von Alexandrien, sagt: es sei das wahrhaft geistige Evangelium, oder wie unser deutscher Kirchenvater D. Luther, es sei das einzige, zarte, rechte Hauptevangelium und den anderen weit vorzuziehen und höher zu halten, womit aber Luther nicht gemeint war, die drei ersten zu verachten, da er sie so gut für Gottes Wort und heilige Schrift hielt, wie das Evangelium des Johannes. In demselben Sinne sagte der große Leipziger Philolog und Theolog J. v. Ernesti von dem Evangelium, es sei das Herz Christi (pectus Christi), und dann Herder, es habe einen stillen Zauber, sei ganz Herz und Seele, das bleibende Evangelium, der Geschichte Christi Geist und Wahrheit.
Nicht weniger fesselt uns der erste Brief durch Inhalt und Darstellung. Johannes zeigt darin denselben Lesern, für welche er das Evangelium bestimmt hat, daß, wer in Jesu Christo, dem Sohne, Gott den Vater erkenne und an der Gnade Gottes in der Sendung seines Sohnes im wahren Glauben Theil habe, eben in diesem Erkennen und Glauben sich für verpflichtet halten müsse, das Gebot Gottes, die Summe aller Gebote, das Gebot. der Liebe streng und treu zu beobachten, Gott über Alles zu lieben und die Welt und ihre Lust zu verleugnen, in dieser Liebe aber allezeit Gott und die Brüder in der That und Wahrheit zu lieben, so, daß er seine Liebe zu Gott bethätige und bewähre in der Liebe zu den Brüdern, diese aber auf jene gründe, nach dem ewigen Vorbilde des heiligen Sohnes Gottes. Wer diesen recht im Glauben festhalte, der habe damit auch den Vater, und in diesem kraft seines Geistes die Welt überwunden, wer aber die Welt überwunden habe, dem sei es auch nicht schwer, die Gebote Gottes treu zu halten und sich vor der Sünde wie vor der Lüge zu bewahren.
Die beiden anderen Briefe an einzelne Personen unter besonderen historischen Verhältnissen, die wir nicht kennen, sind nach Inhalt und Form aus dem ersten zu verstehen.
In der Offenbarung, dem letzten Buche, dem einzigen prophetischen im Neuen Testament, enthüllt der Verfasser, was ihm der Herr auf Patmos im Exil geoffenbaret hatte über seine nahe Wiederkunft, und die Zeichen derselben in der Zeit, nicht zur Befriedigung einer müßigen Neugier, sondern zur Buße und zur Tröstung in schwerer, gefahrvoller Zeit. Er beschreibt diese Wiederkunft als die Zerstörung des Antichrists, jener bösen Weltmacht, deren Mittelpunkt das heidnische Rom war, als die Ueberwindung des Satanas, des Urhebers aller antichristlichen Macht und Gewalt in der Welt, und als die darauf erfolgende Vollendung seines Reiches, als das Herabkommen des himmlischen Jerusalems, der wahren Gottesstadt, Des wahren, unverlierbaren Paradieses u. s. w.
Man kann zweifeln, und hat es vielfach von Anfang an in der Kirche gethan, ob dieses prophetische Buch wirklich ein Werk des Apostels Johannes sei. Die frommsten und besonnensten Theologen, unter denen auch unser D. Luther war, haben großes und gegründetes Bedenken getragen, diese Schrift dem Apostel Johannes beizulegen. Aber wenn es auch nicht von unserem Apostel verfaßt ist, – Gott hat es so geordnet, daß die Kirche es in die heilige Schrift des Neuen Testamentes aufgenommen hat, und wir haben alle Ursach, ihm zu danken, daß wir in diesem Buche die schönste und wahrste Weissagung des heiligen Geistes Christi von dem Ende der Dinge und dem von Gott geordneten Gange der Weltgeschichte, das heißt eben seines Reiches auf Erden haben, durch welche wir uns in jeder Zeit orientieren können über den Stand, Fortgang und Rückschritt seiner heiligen Kirche in der Welt. Wer aber das Buch eben dazu, wozu es Gott in seiner Kirche bestimmt hat, recht gebrauchen will, der muß es lesen nach den Gesetzen der Wissenschaft mit christlicher Weisheit und christlichem forschenden Verstande, nicht in leichtsinniger oder trübsinniger frommer Schwärmerei und mit eitler, unchristlicher Neugier die Zukunft wissen, und Tag und Stunde, wann der Herr kommt, berechnen zu wollen. Dies ist strafbarer Vorwitz, den das Buch selbst verbietet. Wer es nicht so liest, wie er soll, der liest es sich zum Verderben, zur Verwirrung des Geistes und zum Gericht.
Friedr. Lücke in Göttingen.