Johann Albrecht Bengel.
4. November.
Dr. Johann Albrecht Bengel, zuletzt Konsistorialrat und Prälat zu Stuttgart, war einer der geist- und verdienstvollsten Nachfolger Ch. F. Speners. Schon seine Kindheit war reich an ernsten zur Liebe und Furcht Gottes hinleitenden Erfahrungen. Den 24. Juni 1687 in dem Landstädtchen Winnenden geboren, verlor er schon in seinem sechsten Jahre seinen Vater, wenige Monate darauf ward bei einem Einfall der Franzosen das Haus, das seine Mutter sich zum Witwensitz erkauft, samt der väterlichen Bibliothek zu Asche. Aber sein Lehrer Spindler erzeigte Vatertreue an ihm, und nahm ihn überall hin mit sich, wohin ihn die kriegerischen Zeitverhältnisse seine Schule zu verlegen nötigten und als Bengel zur Universität reif geworden war, fand seine Mutter durch ihre Verheiratung mit dem Klosterverwalter Glöckler die Mittel ihn seine Studien fortsetzen zu lassen. Mittlerweile war die Kraft des göttlichen Wortes dergestalt in sein Herz eingedrungen, dass ein kindliches Vertrauen zu Gott, ein Ernst im Beten, ein Verlangen nach dem bessern Leben, ein Vergnügen an Bibelsprüchen und geistlichen Liedern, eine Bewahrung des Gewissens, eine Scheu vor dem Bösen und eine Liebe zum Guten entstand das Beste aber war, dass Niemand viel Aufhebens von seiner Frömmigkeit machte. Es fehlte zwar auch bei ihm nicht ganz an einzelnen Ausbrüchen jugendlicher Torheit und Leichtsinnigkeit, aber wenn je etwas der Art vorkam, so rügte es sogleich der im Innersten der Seele stets aufmerksame Wächter und verhinderte dadurch, dass keine von Außen hereinkommende Verderbnis hängen blieb. Daneben bekam er von der göttlichen Leutseligkeit die innigsten Friedensblicke, insbesondere bei den ersten Gängen zum heiligen Abendmahl. In Tübingen hatte er das gedoppelte Glück sogleich in einen Freundeskreis gottseliger Studierenden eintreten zu dürfen und Lehrer zu finden, welche selbst von lebendigem Glauben an Christum durchdrungen mit dem tätigsten Eifer nicht nur auf die wissenschaftliche, sondern auch auf die Herzensbildung der Studierenden hinarbeiteten, wie namentlich der eifrige Beter Dr. Christoph Reuchlin und Dr. Andreas Adam Hochstetter, ebenso ausgezeichnet in der Seelsorge, wie auf dem Katheder.
Diese Männer suchte sich Bengel wo er nur zukommen konnte zu Nutzen zu machen, zumal nachdem ihm der Sinn dafür noch geschärft worden war durch eine schwere Krankheit, die ihn in der Mitte seines Studienlaufes an den Rand des Grabes geführt und den Entschluss in ihm geweckt hatte, sein ihm gleichsam aufs Neue geschenktes Leben ganz zu Gottes Dienst und Ehre anzuwenden. Unmittelbar nach seinem Abgang von der Universität wurde er kaum 20 Jahr alt zum Pfarramtsverweser in Metzingen bestellt, wo er Gelegenheit fand, sich nun auch damit bekannt zu machen, wie das Volk die Religion ansieht; aber schon vor Jahresfrist wurde er ins theologische Stift zu Tübingen zurückberufen, um als Repetent die Studien jüngerer Freunde zu leiten, während er zugleich den Umfang seiner eigenen Kenntnisse erweiterte. Zum Schluss seiner wissenschaftlichen Ausbildung machte er noch im Sommer 1713 eine Reise durch das mittlere Deutschland und lernte an höheren und niederen Unterrichtsanstalten eine ganze Reihe trefflicher Männer persönlich kennen, welche nach der von Spener empfangenen Anregung mit einander darin wetteiferten, dem nachwachsenden Geschlecht auf der Grundlage lebendiger Religiosität eine tüchtige wissenschaftliche Bildung zu gewähren. Bei Männern der verschiedenartigsten Richtungen forschte er nach den erprobtesten Erfahrungen und kehrte dann mit reichem Gewinn nach der Heimat zurück, wo seiner die Gelegenheit wartete, an der neu errichteten Klosterschule zu Denkendorf als Lehrer und Erzieher zum Studium der Theologie vorzubildender Jünglinge in Anwendung zu bringen, was er gesammelt.
Schon seine Antrittsrede zeigte, was er anstrebte, indem sie den Fleiß in der Gottseligkeit als das zuverlässigste Hilfsmittel zur Erwerbung echter Gelehrsamkeit bezeichnet, weil sie zur kräftigsten und vollständigsten Entwicklung der jedem verliehenen Anlagen führe, am siegreichsten die Trägheit des Fleisches überwinde, das Gemüt vor Verwirrung durch Leidenschaften verwahre und dem Geist eine Lebendigkeit, Kraft und Klarheit gebe, durch welche nicht selten auch der minder Begabte gerade bei der Erforschung der tiefsten Wahrheit die Begabtesten, aber vom Umgang mit Gott Entfremdeten überflügele.
Was er hiermit ausgesprochen, waren keine leeren Worte, es wurde betätigt durch einen in 28jähriger Arbeit nicht ermüdenden, und die gleich Anfangs erwählten Grundsätze bis ans Ende festhaltenden Eifer, die ihm anvertraute Schar nach bestem Wissen und Gewissen zu beraten; über 300 Jünglinge wurden von ihm in dieser Zeit der vaterländischen Kirche zugebildet und nicht wenige derselben unterwarfen sich der heiligenden Zucht des göttlichen Geistes und wurden weise und geachtete Männer, die mit Ehren und Segen den wichtigsten Ämtern vorzustehen vermochten. Allein dies war keineswegs die einzige Frucht seiner Tätigkeit in dieser Zeit, ganz ungesucht schloss sich noch anderes daran an, das in viel weitere Kreise hinauswirkt. Gewohnt mit seinen Schülern alle 2 Jahre das ganze Neue Testament im Grundtext zu durchlesen, wurde er durch seinen amtlichen Beruf sowohl, als durch eignes Bedürfnis auf eine gedoppelte Arbeit hingeleitet. Schon während seiner Studienjahre hatte ihn die Frage bekümmert: Haben wir den Text des Neuen Testamentes genau so vor uns, wie er ursprünglich niedergeschrieben worden?
Damals hatte er darüber weggehen müssen, weil eine gründliche Beantwortung dieser Frage Untersuchungen forderte, zu denen ihm Zeit und Gelegenheit fehlte; aber jetzt konnte er sie wieder aufnehmen und seinem forschenden Geiste die gewünschte Befriedigung gewähren. Zwar Legte ihm der Aufenthalt in dem kleinen Denkendorf keine geringen Schwierigkeiten in den Weg, aber sein unermüdlicher Eifer wusste sie zu überwinden und bald hatte er einen so reichen Vorrat teils alter Handschriften, teils seltener Ausgaben des Neuen Testamentes beisammen, dass er hoffen konnte nicht vergebens an der Lösung seiner Aufgabe zu arbeiten, am meisten aber förderte ihn hierbei, neben seinem eisernen Fleiß ein eigentümlicher Scharfblick, welcher ihn die vorliegenden Materialien nach ihrer Abstammung in Familien ordnen, und von dem Zählen zu dem ungleich, schwereren Wägen der Lesearten übergeben lehrte, und es gelang ihm ein Werk zu Stande zu bringen, das, wenn es auch noch nicht allen Anforderungen genügte, doch alles übertraf, was bis dahin auf diesem Gebiet von den gelehrtesten Forschern geleistet worden war. Das für die Echtheit des hergebrachten Textes im Ganzen höchst günstige Ergebnis legte er nicht allein in einer größeren mit einem Apparatus criticus versehenen Ausgabe dem gelehrten Publikum zur Prüfung vor, sondern veranstaltete zugleich auch eine Handausgabe für Studierende, die bis in dieses Jahrhundert herein immer wieder abgedruckt wurde. Hand in Hand mit dieser die Herstellung des richtigen Textes bezweckenden Arbeit ging eine andere, welche sich die Auslegung zur Aufgabe machte. Die Grundsätze von denen er hierbei ausging waren: die heilige Schrift muss als ein zusammenhangendes Ganze, als eine unvergleichlich herrliche Nachricht von der göttlichen Ökonomie bei dem menschlichen Geschlecht vom Anfang bis zum Ende aller Dinge durch alle Weltzeiten hindurch betrachtet und so viel möglich aus sich selbst erklärt werden. Es muss Grundsatz des Erklärers sein: Trage nichts in die heilige Schrift hinein, aber lass auch nichts zurück, was in ihr liegt und vergiss nicht, dass nur einem frommen und gläubigen Sinn die ganze Kraft und Herrlichkeit der heiligen Schrift sich aufschließt. Was er durch vieljährige, durch fleißiges Gebet geheiligte Forschung auf diesem Wege gefunden, das legte er in einem Kommentar nieder, dem er den bescheidenen Titel: Gnomon gab; denn seine Anmerkungen wollten nur ein Fingerzeig sein, der den Leser in den Text weiter hineinführte. Dieses geistvolle, an inhaltsschweren Hindeutungen auf den eigentlichen Sinn der heiligen Schrift unendlich reiche Werk hat sich im Laufe der Zeit, insbesondere aber in unsern Tagen wieder als so brauchbar erwiesen, dass 1830 eine zweite und 1850 ein fünfte Auflage nötig geworden ist, so vielfach auch von andern in- und ausländischen Erklärern diese bengelische Arbeit zu ihren Kommentaren benutzt wurde.
Der Grundsatz dass die heilige Schrift ein zusammenhangendes System der göttlichen Ökonomie von Anfang des menschlichen Geschlechts bis zum Ende aller Dinge enthalte, führte Bengel insbesondere auch auf chronologische und apokalyptische Studien, in welchen er den Zusammenhang der biblischen Zeitordnung aufzuklären, und mit Hilfe des prophetischen Wortes auch das Fachwerk der künftigen Ereignisse des Reiches Gottes einigermaßen aufzuräumen versuchte, ein ebenso mühsames als kühnes, von ihm aber in der Voraussetzung gewagtes Unternehmen, dass der Bibelerklärer nichts unbenützt liegen lassen dürfe, was die heilige Schrift zur Aufhellung unserer Erkenntnis darbiete. Er selbst verkannte auch keineswegs die großen Schwierigkeiten derartiger Forschung und wenn er gleich meinte, einen besonderen Beruf dazu zu haben, so war er doch weit entfernt, alles mit gleicher Zuversicht zu behaupten und sein apokalyptisches System für fehlerlos zu betrachten. Er hielt es im Gegenteil für möglich, dass seine Aufschließung der prophetischen Zahlen irrig sein könnte, glaubte aber, dass dann doch die von ihm bezeichnete Reihenfolge der kommenden größeren Tatsachen, und die hierauf gegründeten praktischen Erinnerungen ihre Richtigkeit behalten würden. Der Hauptsache nach ging seine Ansicht darauf hinaus: Es stehe eine durchgreifende Veränderung der kirchlichen und politischen Verhältnisse Europas bevor, und ehe das römische Papsttum zum eigentlichen Antichristentum sich entwickle, werden Unglauben und Mystizismus, vielleicht auch sogar Mohammedanismus sich miteinander verschmelzen; erst auf den Sturz des persönlichen Antichrists werden die besseren Zeiten des tausendjährigen Reiches folgen, von dem er jedoch nicht sowohl ein zeitliches Wohlleben, als vielmehr ein ungestörtes, fröhliches Wachstum des Reiches Gottes auf Erden erwartete. Diese Forschungen legte er, was den theoretischen Teil betrifft, vorzüglich in seinem Ordo temporum, Cyclus, Harmonie der Evangelisten, der erklärten Offenbarung und einigen kleineren Schriften nieder, während er die praktische Anwendung in seinen 60 erbaulichen Reden über die Offenbarung Johannis auseinandersetzte.
Mit dem Jahre 1741 verließ Bengel – zum Probst in Herbrechtingen ernannt – sein Klosterpräzeptorat und trat in einen neuen Wirkungskreis ein, er ward Prediger einer kleinen Landgemeinde und nahm später auch noch zum Konsistorialrat ernannt an der Geschäftsführung der Oberkirchenbehörde Anteil. Seine eindringlichen Predigten weckten neues Leben in der Gemeinde und die Leute baten, dass er ihnen durch Privatunterweisung weiter forthelfe in ihrem Christentum.
Gerne gab er sich dazu her; denn er hielt dies für die geeignetste Weise, dem verfallenen Christentum wieder aufzuhelfen. Von denselben Grundsätzen ließ er sich auch beim Kirchenregiment leiten. Es sei, sagte er zwar, jetzt nicht Zeit zu etwas Neuem, man dürfe aber auch nicht auf und davon geben und den verführten Karren der Kirche stehen lassen, oder durch gesetzliches Stürmen und Poltern helfen wollen. Man lasse eben einstweilen sehen, was noch stehen könne, mache sich zu Nutzen, was noch nützlich sein könne, und suche vor Allem gut Freund zu sein mit allen, die Jesum lieb haben.
In diesem Sinn ist namentlich auch sein „Abriss der (Zinzendorffschen) Brüdergemeine“ abgefasst, daher ihn Frohberger den edelsten und verdienstvollsten ihrer Gegner nennt und zugesteht, dass er ihr durch seine Anmerkungen Manches genügt habe. – Was aber Württemberg betrifft, so hat es bis auf den heutigen Tag Ursache, Bengel und seinen Freunden zu danken, dass sie durch ihre milden und weisen Verordnungen über die anderwärts so hart verfolgten Privaterbauungsstunden ihm ein in den nachfolgenden Tagen des Unglaubens und der Revolution sehr heilsam sich erprobendes Bewahrungsmittel bereitet haben.
Endlich dürfte noch erwähnt werden, dass Bengel durch seine Lieder: „Mittler alle Kraft der Worte“ und „Du Wort des Vaters rede du“, zu dem Liederschatz der evangelischen Kirche zwei köstliche Beiträge gegeben hat.
Was sein Privatleben betrifft, so hatte Bengel sich am 5. Juni 1714 mit Johanna Regina Seeger verheiratet, und Gott erhörte sein Gebet, dass er sie ihm bis ans Ende seiner Wallfahrt lassen möchte. Von Anfang an lebte er mit ihr in der herzlichsten Gemeinschaft des Geistes und bezeugt den übergeistlichen Verächtern der Ehe gegenüber: „die ernsthaftesten und wichtigsten Lebenserfahrungen in Leid und Trost sind mir vermittelst des Lebens im Ehestand vorgekommen.“ Von 12 Kindern, die ihm geboren wurden, durfte er nur 4 Töchter und 2 Söhne erziehen. In welcher Weise er das tat, bezeichnen seine Worte: „Die einfachste Erziehungsmethode ist die beste, man vermeide doch ja alle Künstelei. Man verschaffe den Kindern Gelegenheit mit dem Worte Gottes bekannt zu werden, bleibt nicht Alles, so doch hie und da etwas. Man fange aber mit Geschichte an und nicht mit Sprüchen. Exempel machen einem Lust, Befehle nicht. Überladung der Gedächtnis- und Verstandeskraft junger Leute ist die Quelle geistlicher Schläfrigkeit, Sattheit, Sicherheit, Selbstgefälligkeit, Dünkelhaftigkeit. Wenn man nur die Gelegenheit zu groben Ausschweifungen abschneidet, so ist es im übrigen besser, wenn man sie bei ihrer meist unschuldigen Geschäftigkeit, Spielen usw. mehr ihrer eignen, als fremder Willkür überlässt. Vornehmlich suche man die Jugend auf eine wahre Redlichkeit des Herzens und Einfalt des Sinnes auf Christum zu führen.“ Die Frucht dieser Erziehung war, dass er viel Freude und kein Herzeleid von seinen Kindern erlebte.
Der Tod traf Bengel wohl vorbereitet. Von frühester Jugend an hatte er viele tiefe Eindrücke von der Ewigkeit bekommen und mehrere heftige Krankheiten verstärkten diese Eindrücke. Endlich kamen noch die gewöhnlichen Beschwerden des höheren Alters, das bewog ihn je mehr und mehr vom Umkreis zum Zentrum, von den Hilfsmitteln zur Sache selbst zu gehen. „Ich halte mich für einen alten absterbenden Baum,“ sagte er, „und freue mich über junge, grüne Jünglinge und Streiter, die in die Lücke treten. Je mehr ich mich der Berühmtheit unter den Menschen entziehe, desto süßer wird mir der Genuss des Bewusstseins Gottes. Auf seine väterliche Diskretion lebe ich fort, bis er mich am Ende zu sich bringt. Ich weiß nirgends etwas aufzuweisen, als meinen Jesum. Ich befehle mich meinem getreuen Schöpfer, meinem sehr wohlbekannten Erlöser, meinem bewährten Tröster und begehre nichts anderes als aufrichtig vor ihm erfunden zu werden.“ Er starb zu Stuttgart den 2. November 1752.