Georg Calixt

Dem Judenthum katholischer Gesetzlichkeit und dem Heidentum römischen Prunks im Gottesdienste gegenüber war der Glaube durch die Reformation in seine hohe Stellung wieder eingesetzt worden, als Grundbedingung und Anker des christlichen Heils. Die nächste Aufgabe war, die auf den Glauben begründete Gemeine zum klaren Bewußtsein dessen zu führen, was sie als Heilsgrund festhielt. Das geschah vermittelst einer sehr durchgebildeten Lehre, in einer Reihe von Schriften von hoher Geltung, den symbolischen Büchern, und in ausführlichen Systemen der Glaubenslehre, die im 16. und 17. Jahrhunderte nach vielen erbitterten Streitigkeiten die Hauptsumma zusammenfaßten. Selbst über untergeordnete Punkte ward dabei mit einer Leidenschaft gekämpft, als gälte es die Bewahrung des ganzen theuer erworbenen Schatzes. Die Streitigkeiten gegen die reformirte Kirche, welche sich in allerdings nicht unwichtigen Punkten, der Auffassung der Abendmahlslehre, der Vorherbestimmung des Menschen zur Seligkeit, der Lehre von der Person Christi, von der Kirche u.s.w., von der lutherischen unterschied, wurden mit fast noch größerem Ungestüm geführt, als die gegen „die Papisten und ihr Antichristenthum.“ Es galt die Gemüther von der einseitigen Ueberschätzung der Lehre wieder auf das Leben im Glauben zurückzuführen, auf die Einheit, die auch in der Verschiedenheit noch blieb. Dazu mußte vornehmlich auf de n gemeinsamen Grund dabei hingewiesen, die Erstarrung des Buchstabens gelöst, der streitbare Geist gedämpft und so der Anerkennung des Christenthums in verschiedenen Gestalten der Weg gebahnt werden. Einer der ersten und bedeutendsten unter den Propheten der Toleranz, welche dafür wirkten, war Georg Calixt oder Kallison in Helmstädt, „nach Luther der muthigste, nach Melanchthon der billigste und nach Chemnitz der gelehrteste Theologe der evangelischen Kirche.“

Er war am 14. December 1586 zu Medelbye, zwei Meilen von Flensburg im Herzogthum Schleswig geboren, wo sein Vater, in den alten Sprachen und der Poesie wohlgeübt, einst in Wittenberg Melanchthons begeisterter Schüler, ein frommer und hochgeachteter Prediger war. Durch denselben trefflich vorbereitet, bildete er sich auf dem Flensburger Gymnasium für die Universität vor; schon vor vollendetem 17. Lebensjahre konnte er vollkommen reif die Braunschweigische Landes-Universität Helmstädt beziehen. Wir wissen wenig von seiner Jugend; aber schon die Wahl der Universität, welcher er volle sechs Jahre angehörte, zeigt, daß er mehr im Geiste der milden melanchthonischen, als der streitfertigen lutherischen Schule gebildet wurde. Helmstädt war nämlich damals, in einer Zeit, da fast überall in den Bildungsanstalten der lutherischen Kirche ein ungestümer polemischer Eifer und rohe Verachtung alles dessen vorherrschte, was das Leben zu verschönern geeignet ist, durch Sinn für humane und classische Bildung, wie durch Mäßigung und edle Sitte ausgezeichnet, recht eigentlich die Universltät der vornehmen Welt. Unter den Lehrern derselben ragten der Philolog Caselius und der Philosoph und Theolog Martini hervor, denen der aller Bildung offne, zugleich fromme und poetische Jüngling sich mit der ganzen Kraft einer empfänglichen Seele hingab. Man muß aber den wahrheitsliebenden, ehrenfesten, stillfrommen Sinn kennen, welcher schon damals – wie jetzt – in den Gemeinden Nordschleswigs herrschte, um zu begreifen, mit welchem Ernst tiefer Frömmigkeit ausgerüstet der junge Calixt seine Studien begann.

Bereits nach zwei Jahren konnte er Philosophie lehren, deren Magister er nach damaligem Gebrauche wurde; doch erst 1607 ergriff er, nachdem er anfangs das Studium der Arzneiwissenschaft hatte wählen wollen, mit großem Ernst das Studium der Theologie, nachdem er die Vorbereitungswissenschaften länger und gründlicher betrieben, als zu geschehen pflegte. Gemäß der dadurch angenommenen Gewohnheit, aber nicht gemäß der Sitte der Zeit wandte er sich vorzugsweise zum Studium der Quellen, zuerst der heiligen Schrift, deren Sprachen er mit besonderer Sicherheit handhabte, dann der Kirchenväter, später auch der Scholastiker und anderer alter Theologen. Schon nach zwei Jahren gewann er das Recht theologische Vorlesungen zu halten. Für den akademischen Beruf bereitete er sich nun aber weiter durch Reisen in, Deutschland, Holland, England und Frankreich vor, auf denen er hauptsächlich Universitäten und Bibliotheken aufsuchte. War sein Geist schon ein freierer, so mußte der Verkehr mit edlen und bedeutenden Gliedem fremder Religionsparteien, – zählte er doch unter seinen Freunden treffliche Glieder nicht nur der reformirten und arminianischen, sondern auch der katholischen Kirchengemeinschaft – die Vergleichung fremder Sitten und Einrichtungen mit den einheimischen ihn von vielen Vorurtheilen seiner Zeit heilen, Herz und Auge ihm für unbefangene Betrachtung aufschließen.

Eine solche geistige Freiheit war aber in jener Zeit, da man sich um der kleinsten Glaubensunterschiede willen hart befeindete, da man katholische und selbst reformirte Religionsbestimmungen nicht erwähnen durfte, ohne über sie zu schimpfen, da gegen die Andersdenkenden selbst die Grundgesetze christlicher Menschenliebe aus den Augen gesetzt wurden, etwas Seltenes, wer sie besaß, wurde des Indifferentismus, der Gleichgültigkeit gegen seine Religion angeklagt. So geschah es bald auch Calixt, so entschieden derselbe auch bei aller Billigkeit gegen Andersdenkende, die Irrthümer und Mißbräuche, namentlich der Papisten, in gründlichen und sehr wirksamen Schriften bekämpfte; ja eine öffentliche Disputation, in welcher er einen Jesuiten von großem Ruf besiegte, verschaffte ihm zuerst in weiteren Kreisen Ruhm und eine Professur der Theologie in Helmstädt, wo er schon wiederholt mit großem Beifalle gelehrt hatte. Hier wirkte er dann – ohne sich durch wiederholte glänzende Rufe abwenden zu lassen – bis zu seinem im 70. Jahre am 19. März 1656 erfolgten Tode als Lehrer, indem er später zugleich als Abt von Königslutter und geistliches Mitglied des Kirchenraths und der Braunschweigischen Stände sich praktisch an der Leitung der Kirche betheiligte. Sein Wirken athmete den Geist melanchthonischer Milde, aber auch lutherischer Frömmigkeit, indem er Luthers Wort entschieden festhielt, daß nur Gebet, Bewährung in Versuchung und Studium zusammen den ächten Theologen ausmachen.

Unter den Stürmen des dreißigjährigen Kriegs, während viele andre Lehrer sich den Leiden und Bedrängnissen desselben durch die Flucht zu entziehen suchten, harrte er im Vertrauen auf seinem ihm von dem Herrn angewiesenen Posten standhaft aus, behielt auch immer einen Zuhörerkreis um sich und arbeitete unermüdlich, einer eignen Presse, die er in seinem Hause eingerichtet hatte, für den Druck seiner zahlreichen Werke sich bedienend. Aber nicht die Menge und Gelehrsamkeit seiner Schriften war es vorzugsweise, was ihm für die Entwicklung der lutherischen Kirche so große Bedeutung gab, sondern der versöhnliche, befreiende, zur Wahrheit zurückführende Geist derselben. Gegen diesen waren denn auch die Angriffe, welche er in immer steigendem Maaße zu erdulden hatte, gerichtet.

Parteigeist und Neid hatten ihn gleich beim Antritt seines Amts der Hinneigung zum Calvinismus angeklagt, seine Reisen ihm als Weltliebe und Indifferentismus auslegend, wogegen er sich aber siegreich vertheidigte. Dennoch wiederholten sich diese Klagen später oft, vornehmlich aber seit er sich von einem reformirten Fürsten zum Thorner Friedensgespräche 1645 hatte zuziehen lassen, welches Duldung, ja selbst Einigung unter den christlichen Religionsparteien herbeizuführen bezweckte. Merkwürdig, daß der gemäßigte, durch Reisen gebildete Mann sein Amt doch mit einer polemischen Rede antrat, in welcher er trefflich ausführte, daß mit der päpstlichen oder jesuitischen Religion Staaten und Reiche nicht bestehen könnten. Aber, wie ein mit ihm befreundeter Zeitgenosse sagt, er war gegen die über den ganzen Erdkreis zerstreute (also die unsichtbare) Kirche von einer solchen durch de n Geist Christi entzündeten Liebe entflammt, daß er nicht bloß für ihre Erhaltung und ihr Wachsthum täglich betete, sondern auch vornehmlich für ihren Frieden und die Einigung aller Gläubigen, so innig und mit aller Spannung seines Gemüths, daß er um deßwillen Nachtwachen, Studien, die größten Arbeiten auf sich nahm, die giftigen Pfeile der Scheelsucht, des Neides, der Verleumdung, die ihn in Menge trafen, ertrug, ja bereit war, mit seinem Blut und Leben, wenn es möglich gewesen wäre, den Christen den Frieden zu erkaufen.

Eben diese thätige Friedensliebe und der unbestechliche Wahrheitssinn, welcher seine Studien leitete, verwickelte ihn in jene Kämpfe, in denen die Wuth der Gegner freilich sein Leben vielfach verbitterte, aber auch seine Bedeutung für Mit- und Nachwelt sich erst ganz geltend machte. Es waren das die Synkretistischen Streitigkeiten, welche so weit führten, daß die Wittenberger, wenn auch vergeblich, versuchten, seinen Irrthümern ein neues symbolisches Buch entgegen zu stellen. Mau beschädigte Calixt der Gleichgültigkeit gegen die Religion, d. h. gegen die Confessions-und Lehrunterschiede, der Religionsmengerei, des Synkretismus, der Zusammenkreterei, wie man es nach einer Sitte der Kreter nannte, sich in ihren Bürgerkriegen, welcher Partei sie auch angehörten, zu verbinden, sobald ein gemeinsamer Feind drohte. Da er neben den Unterschieden, welche die lutherische und reformirte Confession trennten, auch das Gemeinsame als das überwiegende hervorhob, wodurch sie sich dem Papismus gegenüber verbunden wissen sollten, ward ihm Gleichgültigkeit gegen die seelenverderblichen Irrthümer der Calvinisten und ein Vereinigenwollen dessen Schuld gegeben, was innerlich nicht zusammengehöre, ja feindselig sich gegenüberstehe, was nur geschehen könne, wenn der Wahrheit von allen Seiten etwas vergeben werde. Dabei ward ihm auch noch geheime Anhänglichkeit an den Papismus Schuld gegeben, weil er die christliche Grundlage auch noch in der römischen Kirche anerkannte und dafür die Uebereinstimmung der protestantischen Kirche im Wesentlichen mit der Ueberlieferung der fünf ersten christlichen Jahrhunderte geltend machte und zwar als eine zweite Erkenntnißquelle der christlichen Lehre neben der heiligen Schrift. Auch faßte er manche Dogmen milder, als damals üblich war, z. N. die Stellung der menschlichen Werke gegen die göttliche Gnade, oder unterschied die Perioden der Offenbarung schärfer, wie er z. B leugnete, daß das Dogma der Dreieinigkeit im alten Testament schon so deutlich offenbart sei, als im neuen. Wissenschaftliche Rohheit und Leidenschaft mißverstand und entstellte seine Behauptungen vielfach und im „Calixtinischen Gewissenswurm“, einer ausführlichen Streitschrift gegen ihn, waren ihm fast alle älteren und neueren Ketzereien Schuld gegeben, während sein furchtbarster Gegner, Abraham Calov, besonnener verfährt, aber doch noch immer ein langes Verzeichnis^ von Irrthümern der Synkretisten – aus denen das durch die Theologen- aufgestachelte Volk „Sündenchristen“ machte, – zusammenstellt. Die Chursächsische Regierung warf gar der Braunschweigischen vor, sie ziehe Unkraut in Blumentöpfen. Calixt führte mit Ruhe und Verstand den Kampf nicht ohne Erfolg bis zu seinem Tode fort; nach demselben seine Schüler, unter ihnen sein Sohn Ulrich, schon neben ihm Professor der Theologie in Helmstädt; gemäßigte Männer legten sich inzwischen in’s Mittel, die ärgsten Gegner starben. Der Streit verlor sich im Geräusch noch heftigerer, der pietistischen Kämpfe; er hatte aber einen Trieb des Forschens und einen Geist der Freisinnigkeit geweckt, welche in der lutherischen Kirche nicht verloren gingen, aber erst viel später zur vollen Entwicklung kamen. Calixt’s Wahlspruch: „Selig sind die Friedfertigen“, findet auf ihn selbst die vollständigste Anwendung. Er lebte in diesen Kämpfen und starb in innerm Frieden. Erst in der letzten Zeit seines Lebens fing er an zu kränkeln, arbeitete aber dabei unermüdet fort. Nachdem er mit Schwierigkeit zum letzten Mal die Kirche besucht und an der Communion Antheil genommen hatte, sanken seine Kräfte schnell. Unter vielen erbaulichen Gesprächen mit seinen Umgebungen bereitete er sich auf das letzte Scheiden vor.

Den Tag vor demselben sprach er mit Paulus: „der Tag meiner Auflösung ist nahe“ und versicherte, daß er allen seinen Feinden vergäbe, wie Gott ihm vergeben möge. Dann: „Ich hoffe in Einheit mit dem Haupte Christo zu sterben und im Glauben der wahrhaft katholischen (allgemeinen) Kirche, wie in der Liebe Aller, die Gott Vater, Sohn und heiligen Geist aufrichtig verehren und lieben. Ich will den nicht verurtheilen, der in unwesentlichen Fragen irrt, und vertraue, daß Gott auch mir vergeben wird, wenn ich, wie es wohl möglich ist, in solchen sollte geirrt haben. Ich erkenne keinen andern Urheber meines Heils, kein anderes Haupt als Gott Vater, Sohn und h. Geist, in dessen Namen ich getauft bin; kein anderes Verdienst, als das des Eingebornen Sohnes Gottes, unsers Herrn und Heilands Jesu Christi.“

In zahlreichen gehaltvollen Schriften hat er Zeugnisse dieses Glaubens der Kirche hinterlassen: außer kurzen „wortgetreuen“ Bibelerklärungen und polemischen Werken hat er treffliche kirchengeschichtliche Untersuchungen, auch Abrisse der Glaubens- und Sittenlehre gegeben, welche letztere er besonders in der lutherischen Kirche dadurch förderte, daß er ihre abgesonderte Behandlung zur Herrschaft brachte.

L. Pelt in Kiel, später in Kemnitz bei Greifswald