Luise Kurfürstin von Brandenburg

(Geb. 27. November 1627, gest. 18. Juni 1667.)

„Ich weiß, daß mein Erlöser lebt.“ (Hiob 19, 25.)

Der große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg hatte seine Jugend unter den wildesten Stürmen des dreißigjährigen Krieges verlebt. Drum sandten ihn seine Aeltern aus dem verwüsteten und zerrütteten Deutschland zu seiner Ausbildung nach Holland, wo Wohlstand, Künste und Wissenschaften trotz des viel längeren Krieges, welchen dies heldenmüthige Volk wegen seines Glaubens zu führen hatte, in reicher Blüthe stand. Zu der Zeit war Friedrich Heinrich von Oranien Erbstatthalter der Niederlanden, ein Held im Kriege und Frieden und Enkel des edeln Coligny, des in der blutigen Bartholomäusnacht zu Paris ermordeten Admirals von Frankreich. Der Kronprinz lernte des Statthalters liebliche Tochter kennen, die Oranische Prinzeß Luise, deren Schönheit an Leib und Seele sanft war, wie Mondenglanz. Um diese freiete er hernach, und die Oranierinn gab mit Freuden Hand und Herz dem stattlichen, ritterlich edlen und frommen brandenburgischen Fürstensohn. Die erlauchten Aeltern dankten beiderseitig Gott für ihrer Kinder Verbindung. Am 7 Dezember 1646 wurde ihre Hochzeit zu Gravenhaag in Holland gefeiert. Wenige Tage zuvor, am 27. November war die Braut 19 Jahre alt geworden; der Bräutigam zählte 26 Jahre. Der Braut Vater konnte kaum der Trauung beiwohnen, so sterbenskrank war er. Die fromme Luise pflegte ihn bis zu seinem Tode, und dann erst, nachdem sie auch ihre Mutter Amalie den ersten, herbsten Wittwenschmerz gemildert, kam ihr Gemahl, welcher gleich nach der Hochzeit in sein Land und Regiment zurückgekehrt war, sie heimzuholen, im Juni 1647.

Damals hatte der große Kurfürst seine Hofhaltung von der fernen Spree an den Rhein nach Cleve verlegt, um den Friedensverhandlungen zu Münster und Osnabrück näher zu seyn. Und der Kurfürstinn war es traulich, daß von Cleve aus Holland nicht weit war. Hier verlebte sie ungetrübteste Tage. Zu allem Glück der Ehe fügte Gott das reichste: er schenke ihr den Muttersegen.

Am 21. Mai 1648 gebar Luise ihren ersten Sohn. Schon seit mehreren Monaten hatte sie den Rath und die Hut der treuen Mutter unter sich. Das Glück des Kurfürsten war nicht zu ermessen. Alle seine Lande freuten sich mit ihm. Die Taufe des Prinzen wurde mit einem glänzenden Feste gefeiert. Viele Verwandte beider Fürstenfamilien kamen zu Gast ins Clever Schloß. Luise, vom Kurfürsten gefragt, wie sie den Prinzen zu nennen wünsche, erwiderte: „Mein Sohn soll deinen Namen, Wilhelm, erhalten, und auch den Namen Heinrich, wegen meines in Gott ruhenden Vaters.“

Der westfälische Frieden war endlich am 24. Oktober 1648 zu Stande gekommen. Das mahnte den Kurfürsten, seine Residenz wieder in den brandenburgischen Stammlanden zu nehmen; und seine Gegenwart daselbst war dringend nothwendig geworden. Er mußte folgenden Jahres schon voraus dorthin aufbrechen, wie schwer ihm auch die Trennung von Luise und seinem Kinde ward.

Dir Kurfürstinn begab sich im Frühherbste 1649 auf die Nachreise. Es wurde ihr sehr schwer, vom Rheine, aus den Armen ihrer Mutter, aus der Nähe ihrer Heimath, zu scheiden. Aber der schwerste Abschied war ihr noch vorbehalten. Der kleine Kurprinz, der bisher ein frisches Gedeihen hatte, in dem die erste Morgenröthe des geistigen Erwachens schon bedeutungsvoll angebrochen war, erkrankte plötzlich in Wesel. Die Angst der Mutter ist unbeschreiblich. Kein Opfer scheint ihr zu groß. Aber wie sie auch über allen Mitteln, welche die Kunst der Aerzte gegen den Tod ersann, im Gebete gerungen hat, der Leidenskelch sollte nicht vorübergehen. Das Kind starb. – Da hat der allmächtige Gott die jammernde Mutter in jene Schule genommen, in welcher man lernt, was Todesfurcht vertreiben kann. Und was war wohl nöthig, damit sie viele Tausende das Triumphlied des Glaubens lehren konnte: „Jesus, meine Zuversicht, und mein Heiland ist im Leben!“

Kurz nach dem Tode ihres Kindes verfaßte nämlich die fromme Kurfürstinn dieses Lied, welches seitdem überall die evangelische Christenheit am Auferstehungstage des Herrn und auf ihren Friedhöfen singt.

Es stehe darum gleich hier, und zwar ganz so, wie es ursprünglich lautet:

1) Jesus, meine Zuversicht,
Und mein Heiland ist im Leben.
Dieses weiß ich, sollt‘ ich nicht
Darum mich zufrieden geben,
Was die lange Todesnacht
Mir auch für Gedanken macht?

2) Jesus, er, mein Heiland lebt. –
Ich wird auch das Leben schauen,
Sehn, wo mein Erlöser schwebt,
Warum sollte mir denn grauen?
Lässet auch ein Haupt sein Glied,
Welches es nicht nach sich zieht?

3) Ich bin durch der Hoffnung Band
Zu genau mit ihm verbunden;
Meine starke Glaubens-Hand
Wird in ihn gelegt befunden,
Daß mich auch kein Todesbann
Ewig von ihm trennen kann.

4) Ich bin Fleisch, und muß daher
Auch einmal zu Asche werden.
Das gesteh ich; doch wird Er
Mich erwecken aus der Erden,
Daß ich in der Herrlichkeit
Um ihn seyn mög‘ allezeit.

5) Dann wird eben diese Haut
Mich umgeben, wie ich gläube;
Gott wird werden angeschaut
Dann von mir mit diesem Leibe;
Und in diesem Fleisch wird‘ ich
Jesum sehen ewiglich.

6) Dieser meiner Augen Licht
Wird ihn, meinen Heiland, kennen.
Ich, ich selbst, ein Fremder nicht,
Wird in seiner Liebe brennen.
Nur die Schwachheit um und an
Wird von mir seyn abgethan.

7) Was hier kranket, seufzt und siecht,
Wird dort frisch und herrlich gehen;
Irdisch werd‘ ich ausgesät,
Himmlisch werd‘ ich auferstehen;
Hie geh ich natürlich ein,
Dort, da wird ich geistlich seyn.

8) Seid getrost und hocherfreut!
Jesus trägt euch, meine Glieder;
Gebt nicht Statt der Traurigkeit!
Sterbt ihr, Christus ruft euch wieder,
Wenn die letzt‘ Posaun‘ erklingt,
Die auch durch die Gräber dringt.

9) Lacht der finstern Erden-Kluft,
Lacht des Todes und der Höllen,
Denn ihr sollt euch durch die Luft
Eurem Heiland zugesellen;
Dann wird Schwachheit und Verdruß
Liegen unter eurem Fuß.

10) Nur, daß ihr den Geist erhebt
Von den Lüften dieser Erden,
Und euch dem schon jetzt ergebt,
Dem ihr beigefügt wollt werden!
Schickt das Herze da hinein,
Wo ihr ewig wünscht zu seyn!

Vom Grabe des Kindes hinweg, setzte die Kurfürstinn Anfangs November ihre Reise fort. Sie war so überaus glücklich gewesen bei dem Gedanken, mit dem Kurprinzen auf dem Arme ihr Brandenburgisch Volk begrüßen zu können; jetzt war der schöne Mutterstolz auf’s schmerzlichste gedemüthigt. Zwar in unsäglicher Wehmuth, von ihrer Einsamkeit gepeinigt, aber doch still in ihrem Heiland, dem Lebensfürsten, reiste die junge Fürstinn auf rauhen Wegen in rauher Winterzeit weiter.

Zu Tangermünde in der Altmark hatte sie einige Monate Winterrast. Die Stille und der fromme Herzensverkehr mit ihrem Manne that ihr wohl. Und die Trauer verklärte sich in Dem, der die Auferstehung und das Leben ist. Aber noch nicht war der Schnee weggeschmolzen, da mußte sie schon wieder die Beschwerden der Reise ertragen. Ein Vorspiel der vielen und aufreibenden Unruhen ihres Lebens. Sie folgte dem Kurfürsten zur Huldigung nach Minden, Halberstadt und Magdeburg.

Am 10. April 1650 hielt das kurfürstliche Paar seinen Einzug zu Köln an der Spree, d. h. nach jetziger Geographie zu Berlin.

In den Brandenburgischen Marken sah es um diese Zeit über die Maaßen traurig aus. Land und Leute waren durch den langen Krieg, der gerade hier einen ununterbrochenen Tummelplatz hatte, verödet und verwüstet. Selbst nach dem westfälischen Frieden hausten in diesen Gegenden noch mehrere Jahre hindurch schwedische Regimenter mit aller Rohheit verwilderten Kriegsvolkes. Der Kurfürst konnte erst im Jahre 1650 für seine Lande das Friedensfest ausschreiben.

Mit sinnigem, seelenkundigem Takt und wirthschaftlicher Klugheit faßte sie ihre Aufgabe an. Sie begriff, daß mit Geldspenden in die Hand der verkommenen Landeskinder Nichts geholfen sey. Aber sie verwendete ihr Geld, und nicht kärglich, um Pflanzschulen der Hülfe ins Leben zu rufen. Da sollten die gesunkenen Landeskinder den Wunsch und den Muth erst wieder lernen, aufzustehen, selbst zu wandeln und zu handeln.

Der Kurfürst war ein eifriger Jäger. Er liebte es, in seinen Forsten von den Regierungssorgen sich zu erholen. Nicht weit von Berlin, in dem Städlein Boetzow, besaß er ein Jagdschloß, nach Art der Ritterburgen aus schwerfälligem, massiven Gemäuer mit Thurm und Zinnen versehen. Dahin hatte ihn Luise, deren Nähe er nicht entbehren konnte, öfter begleitet. Die Gegend rundum ist reizend. Durch feste Wiesengründe läßt die Havel ihre lichtblauen Wellen in vielen Windungen friedlich daher ziehen, dicht unter den Schloßfenstern vorüber. Dunkle, wildreiche Waldungen tragen in festen Linien bald weiter hervor, bald tiefer zurück. Gern schaute Luise aus der Thurmhöhe des Jagdschlosses über diese liebliche Landschaft hin. Sie sah ein Bild ihrer niederländischen Heimath.

Der Kurfürst bemerkte ihr Wohlgefallen, und schenkte ihr auf Lebenszeit Boetzow mit allen dazu gehörenden Dorfschaften, Seen und Fluren, und zur Abrundung des Besitzthums kaufte er noch das Dorf Kloetzeband von einem Herrn von Gröben. auch gestattete er gern, daß Boetzow von nun an den Namen Oranienburg haben, dagegen Kloetzeband jetzt Boetzow heißen solle.

Dieses Oranienburg ward nun das erstgeborne, und, man kann sagen, mit allem Uebermaß junger Mutterliebe gepflegte Kind der kurfürstlichen Landesmutter. Und das war ihr Erstes, daß sie das Vertrauen vieler Leute, welche nun noch in besonderm Sinne ihre Unterthanen geworden, sich durch ihre ungefärbte Leutseligkeit gewann.

Ihr Plan war zunächst, den gänzlich versäumten und verlernten Bau des Landes wieder in Gang zu bringen. Es kam ihr dabei zu Statten, daß sie ein sehr reiches Erbgut besaß. Das verwendete sie nun eben so fürstlich, als mit kluger Umsicht. Aus Holland, durch seine Kunst, den Boden in mannichfaltigster Weise fruchtbar zu machen, berühmt, ließ sie Gärtner, Ackerer und Hirten kommen. Da schwand Gestrüpp und Gestein aus den Fluren, der Pflug ging wieder durch den Grund, und der Säemann zwischen den Furchen. Die verschlammten Wiesen wurden rein, auf den Auen weideten Heerden, und die Ställe füllten sich mit Vieh. Um das Schloß her sah man bald in reinlichen Gärten das Schöne und Nützliche miteinander frisch aufwachsen.

In der Nähe von Oranienburg liegt das Dorf Zehlendorf, durch die Kriegsjahre ganz verödet, und endlich auch von den letzten Einwohnern verlassen. Luise hatte bei einem ihrer Ausflüge diese traurige Dorfruine gesehen, zugleich aber auch den trefflichen Getreideboden rundumher bemerkt. Sie ließ sich Zehlendorf, das einem Herrn von Götz gehörte, kaufen, und setzte eine Kolonie holländischer und friesländischer Bauernfamilien hinein. Diesen wurden Häuser, Ställe und Scheunen gebaut, auch alles nöthige Ackergeräthe geschenkt. Ihre eigenen Prediger hatten sie sich mitgebracht. Als aber trotz Allem die Holländer sich nicht behaglich fühlten, und die ganze Gemeinde mit ihren Geistlichen sich wieder in die Heimath zurückbegaben, ließen sich ackerbautreibende Westfalen zur Einwanderung willig finden. Und als nun die Landwirthschaft auf der Zehlendorfer Gemarkung fröhlich und einträglich gedieh, fanden sich auch wieder Manche der frühern Bewohner ein. Lutheraner und Reformirte lebten in Frieden zu Einer Gemeinde verbunden; und die kurfürstliche Herrin berief den Pfarrer.

Der Kurfürst sah mit stiller Verwunderung unter den Händen seiner Luise so reichen Landessegen aufblühen. Um den Nutzen, welchen tüchtige Vorbilder gewähren, noch zu mehren, schenkte er seiner Gemahlinn ein großes Stück Land, dicht bei Berlin vor dem Spandauer Thore. Sie wandelte alsbald das Wildland in eine musterhafte Gartenanlage mit einer Milcherei um. Sie that noch weitere Schritte, um auf dem Luisenhof, – den Namen erhielt diese Anlage – eine Art von Ackerbauschule zu errichten. Unter ihrer Aufsicht und Mitwirkung mußten die verständigen Holländer, ihre Verwalter, Anweisungen zur Garten- und Wiesenbenutzung, zur Butter- und Käsebereitung, zur Viehzucht u. s. w. ertheilen.

Von allen ihren Anlagen war ihr das heimathsähnliche Oranienburg am liebsten. Diesem Besitzthum hatte sie auch am reichsten ihren Geist und Geschmack und die Liebeswärme ihres Herzens aufgeprägt. Oft begehrte sie hierin aus dem Geräusch der Residenz. Und um aus diesem tiefen Stillleben alle Erinnerungen an Krieg und Rohheit zu bannen, ließ sie an die Stelle der düstern, schwerfälligen, und Wällen und Gräben umschanzten Burg ein helles, anmuthiges Schlößchen bauen. Und rundum, wo sonst ekelhafte Sümpfe starrten, blühete ein reinlicher Garten. Zur Einweihung dieser neuen Schöpfungen hatte sie ihren lieben Kurfürsten mit einem Volksfeste überrascht. Die Urkunden wissen viel von der einmüthigen Fröhlichkeit dieses Festes zu erzählen. Nicht die Herrinn habe man in ihr erkannt, sondern nur die fürstliche Mutter.

Während Gärten und Blumen um Luisens Schloß glänzten, da zogen eine lange Zeit schwere, schwarze Wolken durch ihre Seele. Denn es schien, als sollte sie kinderlos bleiben. Das Land war traurig bei dem Gedanken, daß sein altes, treugeliebtes Kurhaus verlöschen sollte.

Vom Volke ging ein Liedlein:
„Vom Kurhaus
Geht Stamm und Wurzel aus!
Und wer ist Schuld?“

Der Kurfürstinn konnten diese vorwurfsvollen Stimmen nicht verborgen bleiben. Sie schnitten ihr durch die Seele, gleichwie jener ersten Hanna die Worte ihrer Widerwärtigen, wenn selbige sie „betrübte und ihr sehr trotzte, daß der Herr ihren Leib verschlossen hätte.“ (1. Sam. 1, 6.) Sie verhehlte sich nicht ihrer Hoffnungslosigkeit. Aber ihre Traurigkeit offenbarte sie nur ihrem Gott. Sie rang im Gebet um den allerschwersten Entschluß. Sie glaubte, dem Staate das Opfer der Scheidung von ihrem Manne schuldig zu seyn. Das treue Herz wollte brechen; denn sie sollte einen Besitz entbehren, der ihr unentbehrlich geworden war. Aber in Gott gefaßt, erschien sie vor ihrem Gemahl, und redete ihn mit feierlicher Stimme an: „Ich trage bei Euch auf Ehescheidung an; nehmt Euch eine andere Gattinn, die Euer Land mit einem Thronerben erfreut! Das seyd Ihr Euren Völkern schuldig.“

Der Kurfürst, durch den feierlichen Ton dieser Rede schier außer Fassung gebracht, antwortete ihr nach kurzem Schweigen: „Luise, habt Ihr schon den Spruch unserer Trauung vergessen: Was Gott, der Herr, zusammengefügt, das soll der Mensch nicht scheiden?“

Als sie noch etwas einwenden wollte, erwiderte er mit männlicher Entschlossenheit: „Was mich betrifft, so werde ich den vor Gott geleisteten Eid halten; und so es Ihm dabei gefiele, mich und das Land zu strafen, so müssen wir es uns gefallen lassen.“ Darauf reichte er ihr die Hand, und fügte fast scherzhaft hinzu: „Nun, was noch nicht ist, das kann ja noch werden.“

Da löste sich die unsägliche Angst des treuen Weibes, und an des treuen Mannes Brust flossen unter Schauern der Liebe die lang verhaltenen Thränen reichlich.

Das war die Gottesfurcht eines Fürsten, der dem Herrn Himmels und der Erden nicht ungehorsam seyn wollte, um vielleicht eine Züchtigung und Trübsal aus dem Wege zu gehen.

Wie Hanna‘s Schmerz durch Luisens Seele, so drang nun auch Hanna’s Flehen auf ihre Lippen, jenes bekümmerten, kinderlosen Weibes, welche nachher die glückliche Propheten-Mutter ward. „Wenn der Herr noch auf Erden ginge, wie in den Tagen seines Fleisches, – hörte man die Kurfürstinn sagen, – ich wollte mich noch mehr demüthigen, mehr ihn anflehen, – mehr ihm anhangen, als das Cananäische Weiblein; aber was ich auf leibliche Weise und mit leiblichen Gebärden nun nicht thun kann, daß will ich im Geist und im Herzen thun, in gewisser Zuversicht, daß er auch im Stande der Herrlichkeit ein solcher Hoherpriester und getreuer Heiland sey, der Mitleiden hat, und helfen werde.“ Und daß ihr Gebet um einen Thronerben in eben diesem Geist der Demuth und Selbstverleugnung noch ernstlicher und recht thatsächlich werde, und mehr sei, als ein Hauch der Lippen, nahm sie das Gelübde auf ihre Seele, in Oranienburg etwas Unmögliches zu stiften, so der barmherzige Gott ihre flehentliche Bitte erhören wolle.

Im September 1654 erschien aus dem Haag mit ihrer jüngsten Tochter Luisens Mutter. Sie wollte die keimende Hoffnung der Kurfürstinn mit mütterlicher Verständigkeit pflegen. „Ihr müsset mir, – sagte sie zum Kurfürsten, – eine kleine Regentschaft gestatten, wenn ich etwas Nützliches bewirken soll.“ „Herzlich gern in allen Stücken, erwiderte er, wenn Gott der Herr nur meiner Luise wollte gnädig und barmherzig seyn.“

Hoch erfreut über die geschenkte Hoffnung, ließ der Kurfürst die oberste Geistlichkeit zu sich entbieten, um seine Gemahlinn ihrer und des ganzen Landes Fürbitte zu empfehlen. „Helfet mir mit Gott ringen, sagte er schließlich, daß doch die Fürbitten im Lande von Herzensgrund geschehen!“

Und sie geschahen mit rechter Inbrunst von dem sehnsüchtig harrenden Volke. Der fromme Hofprediger Dr. Joh. Bergius hielt 3 Predigten über 1 Sam. 1, indem er die Kurfürstinn mit der frommen Hanna verglich. Und „das Gebet des Gerechten vermag viel, wenn es ernstlich ist.“ Denn gar bald durfte auch Luise mit der Hanna des Alten Testaments frohlocken, und dankend bekennen: „Der Herr führet in die Hölle, und wieder heraus“ (1. Sam. 2, 6.)

Am 6. Februar ist des Kurfürsten Geburtstag. Schloß und Residenz schmückt sich festlich. Von den Thürmen erschallen feierliche Posaunen-Chöre, dem Höchsten zu danken, und ihn zu bitten für den Landesvater. Friedrich Wilhelm weilt tief bewegten Herzens allein in seinen Gemächern. Da tritt seine Schwiegermutter herein, die Fürstinn von Oranien. Eben so fröhlich, wie blaß und matt ist ihr Angesicht, wie’s in der Chronik heißt. Sie spricht: „Luise sendet Euch hier ein Angebinde. Lüftet nur leise die Decke, die darüber liegt; ich muß es mit beiden Armen festhalten.“ Es geht ihm eine heiße Wallung unendlicher Freude durch’s Gemüth, als er einen Sohn erblickt, sein kleines Ebenbild. „O Gott!“ ruft er aus, wie steht es denn um Luisen? ich muß zu ihr!“ Die Fürstinn tritt ihm in den Weg, und spricht: „Als Regentinn heiße ich Euch diesen Euren Sohn mit dem ersten Vaterkuß begrüßen. Luise jedoch dürft ihr zwar sehen, aber nicht mit ihr reden.“ Er tritt leise sein. Die Kurfürstinn schaut ihn mit einem Auge voll heller Wonne an. Still beugt er sich über die junge Mutter, indem große Thränen über seine Wangen fließen.

Alles Volk des Kurfürsten jubelte, und dankte Gott. Die brandenburgischen Stände überreichten eine prächtige Denkmünze, auf welcher der Kurfürst dargestellt ist, wie er mit dem Ausdrucke hoher Freude seiner Gemahlinn die Hand reicht. Zwischen beiden steht der Kurprinz, mit dem einen Händchen des Vaters, mit dem andern der Mutter Hand ergreifend. Die Umschrift heißt:

Der sechste Hornungstag hat geben
Dem Vater und dem Sohn das Leben.

Bei der Taufe, welche in Berlin und im Haag festlich gefeiert ward, empfing der Kurprinz den Namen Karl Emil. Die Kurfürstinn wurde noch drei Mal Mutter. Am 11. Juli 1657 wurde Prinz Friedrich zu Königsberg geboren. Damals sang der fromme Königsberger Dichter, Simon Dach, weniger zwar aus prophetischem Drang, als um seine Huldigung dem Kurfürsten darzubringen:

Sag‘, was bedeutet des Friedrichs Geburt auf dem Königsberge?
Höret des Sehers Spruch: Friedrich wird König einst seyn.

Und dieser ist es wirklich, welcher nachher eine Königskrone sich auf’s Haupte setzte. – Am 19. November 1646, genas Luise eines Zwillingspaares. Aber dem Knäblein folgte bald das Mägdlein ins Grab. Der Kurfürst soll überaus getrauert haben, als das liebliche Ebenbild seiner Luise ihm genommen wurde. Und der mütterliche Schmerz wurde durch den Schmerz des mitleidenden Gatten noch verdoppelt. Ihr letztes Kind, den Prinzen Ludwig, gebar die Kurfürstinn zu Cleve am 8. Juli 1666.

Ihre Kinder galten ihr als die kostbarsten, mit heißem Flehen und Gebet der göttlichen Gnade abgerungenen Kleinodien. So achtete sie die Erziehung derselben als Gottesdienst. Und es gehörte zu ihrem größten Kummer, daß sie so oft zur langen Trennung von ihnen genöthigt war. Es tröstete sie dabei allein die Zuverlässigkeit des Mannes, welchem man die Erziehung der Prinzen anvertraut hatte.

Das war der edle Otto von Schwerin, Pommerschen Adels, festen Charakters, lautern Herzens, frommen Gemüthes, welcher, als das pommersche Land ungerechter Weise Schweden zufiel, Ehren und Güter seiner Heimath verließ, um im Land und Dienst seines rechtmäßigen Herrn, des Brandenburgischen Kurfürsten, zu leben.

Dieser Otto von Schwerin wurde der Elieser des Kurhauses. Friedrich Wilhelm ließ 20 Jahre lang alle wichtigsten und verschwiegensten Geschäfte durch seine Hand gehn. Zugleich war er der Kurfürstinn Oberhofmeister. Die Ausführung vieler ihrer Gedanken legte sie in seine geschickten Hände; besonders hat er um die Schöpfungen in Oranienburg großes Verdienst.

Bewundernswerth ist, bei aller opferfreudigen Zärtlichkeit und Tiefe, die heilige Ruhe, die unter Gottes Hand sich beugende Demuth ihrer Mutterliebe. Auf die Nachricht von ernster Erkrankung des Kurprinzen schreibt sie einst an den bekümmerten Schwerin: „Ich kann mir denken, in welcher Sorge Sie sind; aber Sie haben mit Aeltern zu thun, die versichert sind, daß kein Haar von unserm Haupt fallen kann, ohne Gottes Willen, daß uns nichts von ungefähr geschieht, daß Alles von Seiner Hand kommt. Wir werden nicht die zweiten Ursachen suchen, sondern Denjenigen, der Gutes und Böses schickt, von dem Leben und Tod abhängt.“

Sie hatte tief den Schmerz der Einsamkeit einer Mutter gefühlt, die ohne Kinder ist. So wollte sie sich nun der Einsamkeit von Kindern erbarmen, die ohne Mutter und ohne Vater sind. Sie beschloß ihr Gelübde, das sie bei Erflehung des Prinzen gethan, durch Stiftung eines Waisenhauses zu lösen.

Mit der Ausführung ging es für ihren Eifer viel zu langsam. Die Zeitverhältnisse waren zu ungünstig. Auch wollte sie keine Uebereilung, sondern reelle, verständige, fürstliche und dauerhafte Lösung ihres Gelübdes. Das war aber schon darum nicht leicht, weil ähnliche Anstalten damals in Deutschland noch nicht bestanden. Es galt das Muster erst zu erfinden, und die Bahn zu brechen. Nach 10 Jahren konnte das Waisenhaus zu Oranienburg eingeweiht werden. Sie hatte es ihrem Schlosse gegenüber erbauen lassen; sie begehrte ihren Pflegekindern mütterlich nahe zu seyn. Der Geist der Anstalt, ihre Einrichtung und Wirthschaftlichkeit wird am frischesten unmittelbar aus der Stiftungsurkunde erkannt, welche die Kurfürstinn selbst verfaßt hat.

„Wir Luise von Gottes Gnaden, Markgräfinn und Kurfürstinn zu Brandenburg, geborne Prinzessinn zu Oranien u. s. w., urkunden und bekennen hiermit vor Uns und Unsern Erben, daß wir öfters bei uns erwogen, wie viel und mancherlei in unserm Leben unterlassen wird, was dennoch unser Erlöser Christus von uns fordert, vorab in den Werken der Liebe und Barmherzigkeit. Als wir uns nun vornämlich erinnert, wie Gott der Herr sich selbst einen Vater, einen Helfer und einen Beistand der Waisen zu seyn verheißt, und Allen und Jeden befiehlt, dieselben gebührlich zu verpflegen, daher es dann dem Hiob zur Gottseligkeit zugerechnet, daß er seine Bissen nicht allein gegessen, sondern die Waisen solches mit genießen lassen; und in der Schrift es für einen unbefleckten Gottesdienst geachtet wird, die Waisen in ihrer Trübsal zu besuchen; und Wir dagegen verspüren, wie gar wenig solcher Befehl in Handhabung armer, verlassener Waisen in Acht genommen wird, daß auch deren nicht allen viele kümmerlich umkommen, sondern der Mehrertheil aus Mangel nöthiger Aufsicht und guter Erziehung der bösen Welt zu Theil wird, und an Statt daß sie zu Gottes Ehren leben sollten, nur des Satans Reich vermehren helfen: so haben wir zu der Zeit, da wir Gott, den Allerhöchsten, eben an diesem Ort so herzlich um seinen so lange verweilenden Ehesegen angerufen, der uns auch gnädig erhöret hat, und dem wir dafür nebst allen unsern Nachkommen ewig Lob und Dank sagen wollen, diesen beständigen Vorsatz genommen, Gott dem Allerhöchsten zu Ehren, und Christo, der uns sämmtlichen die Kinder so hoch anbefohlen, zum Gehorsam, allhier zur Erziehung und Erhaltung von 024 Waisen, nicht allein ein Waisenhaus zu erbauen, sondern auch zu deren Verpflegung gewissen Unterhalt zu verordnen, und, wie es damit zu allen Zeiten gehalten werden soll, zu bestimmen; gestalt wir dann hiermit, nachdem durch Gottes Gnade das Gebäude fertig geworden, wir auch das übrige selber, vermittelst dieser unserer Verschreibungen, richtige und beständige Verordnung machen wollen.

Nach dieser Einleitung wird der Plan bis ins Einzelste ausgeführt. Dotirung, Hausgeräth, Kleidung, Pflichten und Rechte der Haus-Aeltern, Berechtigung zur Aufnahme der Waisen, Verwaltung u. s. w. werden so genau verhandelt, daß man über die Wirthschaftskenntniß der Kurfürstinn erstaunen muß.

Doch ihr fürstliches Auge, weit über die Grenzen der nächsten Häuslichkeit hinausgehend, erfaßte mit gleichem Geschick und Eifer die großen Verhältnisse des Staatshaushaltes. Aufgewachsen in der Anschauung des blühenden Handels und Wandels ihrer Heimath, war sie fortwährend darauf bedacht, in die kurfürstlichen Länder die Keime eben solchen Aufschwungs der Volkswirthschaft und der öffentlichen Wohlfarth zu verpflanzen. So legte sie z. B. auf einem ihrer Güter bei Berlin, nach holländischem Muster, eine Papiermühle an. Und was der große Kurfürst gethan zur Hebung des Verkehrs und Handels, besonders die Anlegung des Friedrich-Wilhelm-Grabens, (auch Müllroser Kanal genannt), welcher die Oder mit der Spree verbindet, verdankt das Land dem Rath seiner Gemahlinn. Denn diese kannte den goldenen Segen, welche ihr Holland durch seine berühmten Kunst-Wasserstraßen täglich ärntete.

Es ist allein den Naturen höherer Art eigen, in den kleinsten Dingen so heimlich und tüchtig zu seyn, als seyen für sie die großen nicht da, und zu gleicher Zeit in den großen Dingen so heimlich und tüchtig zu seyn, als seyen die kleinen für sie nicht da. – So bei Karl dem Großen. – Luise war mit derselben Herzensfülle des Hauses, wie des Landes Mutter.

Aber darum konnte Sie eine solche Mutter seyn, weil sie ein solches Weib war, treu und fest, mit voller Kraft und Begeisterung ihrem Manne ergeben. Und auch der Kurfürst, dieser Mann sturmgewohnt, unbeugsam und prächtig, wie die Eichen seiner Wälder; seine Ehren und Sorgen, und sein Leben waren ihm leid, hätte er nicht Alles mit seinem theuren Weib gemeinsam gehabt. Wir haben schon gehört, wie er das Schwerste, was einem Fürsten geschieht, der die Fundamente zu einem Bau der Zukunft legt, wie er leichter die Erlöschung seines Stammes erträgt, als die Scheidung von Luise. Er will sie immer um sich haben, und sie ihn. Es hat sie unsägliche Mühe gekostet, unsägliche Entbehrungen ihr aufgelegt, in dieses rastlos vielbewegte Fürstenleben hineingeschlungen zu seyn; aber Trennung war beiden immer noch viel mühsamer.

Es war nicht eine Zeit friedlicher Entwicklung, sondern der Gewalt, des stürmischen Werdens und Wachsens, als wie im Vorfrühling die Fluthen brausen. Und Friedrich Wilhelm war, so weit das von einem Menschen gesagt werden kann, selbst und allein der Herr, welcher nach festen, nur von ihm verstandenen Zielen mit seiner Regierung hinstrebte. Die verschiedenartigsten, zum Theil sich widerstrebenden Völkerschaften wohnten unter einem Scepter: Rheinländer, Westfalen, Brandenburger, preußische Polen. Jeder dieser Stämme sollte aus seiner Umgebung und Geschichte gelöst, den andern, meist durch weite Ländergebiete getrennten, verbunden werden: für alle mußte Ein gemeinsames Interesse fühlbar, und Eine gemeinsame Geschichte begonnen werden. Die ungemein kraftvolle Person des Kurfürsten selbst und allein war der Brennpunkt, an dessen Feuer diese, oft bis zu den trotzigsten Gegensätzen gespannten Verschiedenheiten zergehen, und in eine lebenskräftige Einheit zusammen schmelzen mußten. Damit der Staat zur freien, frischen Entwicklung komme, galt es oft, die herkömmliche Selbstständigkeit der Ländertheile mit eherner Hand so weit zu brechen, als es zur widerstandslosen Eingliederung in den neu geschaffenen Staatskörper nothwendig war. Es ist ihm gelungen. Indeß seine Völker, indem sie den Verlust mancher alten Rechte zu verschmerzen hatten, ohne sofort der neuen Vortheile froh zu werden, haben ihn mehr gefürchtet und bewundert, als geliebt. Aber es ward alsbald ihr Stolz, daß man ihn den großen Kurfürst nannte.

Aus diesen Umständen erklärt es sich leicht, daß des Kurfürsten Gegenwart an den auseinanderliegendsten Punkten seiner zerstreuten Länder oft sehr nothwendig war. Man hat berechnet, daß er von seiner ganzen, langen Regierungszeit nur 12 Jahre in seinem Residenzschloß zu Berlin verbracht hat, also die übrigen 36 Jahre auswärts in seinen Landen.

Und Luise war, je und dann nur ganz kurze Zeiten ausgenommen, daheim und draußen immer um ihn. Und oftmals in Krieg und Gefahr.

Im Jahre 1655 war sie ihm in das ferne Preußen nach Königsberg gefolgt. und die Mutter mußte ihr jüngst gebornes Kind, den Kurprinzen, unter fremder Obhut zurücklassen. Die Reise ist unendlich beschwerlich. Es gilt als eine Erleichterung, daß die kurfürstlichen Wagen über Knüppeldämme fahren. Kaum in Ruhe nach der lästigen Herbstreise, kommt der Schwedenkönig, Karl Gustav, mit Heeresmacht gen Königsberg mitten im Winter herangestürmt. Nach kurzer Belagerung der Stadt, die sich nicht halten kann, ertrotzt er ein Bündniß des Kurfürsten gegen Polen. Nun schüttelt der erzürnte Polenkönig seine Tartaren-Schwärme über Preußen aus, Brand und Mord unter ihren Händen. Der Kurfürst sieht sich gezwungen, dem schwedischen Bündniß heimlich den Rücken zu wenden, damit er die Polen vom Halse bekommt. Ueber dem Allen beginnt die Pest Königsberg zu geißeln. Er flüchtet seine Luise auf’s Land. Bald erkrankt sie heftig; auf einer Sänfte muß sie wieder zur Stadt gebracht werden. Und hier gebiert sie nun, wie oben gemeldet, am 11. Juli 1657 den Prinzen Friedrich, den nachmaligen König. So hatte sie mitten in dem Wirbel und den Wetterwolken dieser rasch sich folgenden Ereignisse gestanden, ihrem Manne bei allen Aengsten ein Rath und Trost.

Endlich, am 10. November 1657, schien, durch einen günstigen Friedensvertrag mit den Polen, die Herrschaft des großen Kurfürsten gesichert, uns seine Anwesenheit in dem fernen Königsberg nicht mehr nöthig zu seyn. Mitten im strengsten Winter rüstete man sich zur Abreise nach Berlin. Wohl fällt es der vielgeprüften Mutter schwer, ihren kränklichen Säugling Friedrich, dem noch dazu, durch Unvorsichtigkeit seiner Wärterinn, das Rückgrad verkrümmt war, den Gefahren der weiten, beschwerlichen Reise auszusetzen. Aber das Verlangen, ihr zurückgelassenes Kind in Berlin wieder zu sehen, sowie das Drängen ihres Gemahls, läßt sie nicht länger weilen. Und als nun der lang ersehnte Augenblick da ist, als sie in Berlin die Stufen zu ihrem Schlosse hinauf, und durch alle Gemächer eilt, um ihren Sohn zu sehen: da findet sie ihn munter und fröhlich beim Spiel mit seinen Tocken, oder Puppen. Sehnsüchtig breitet sie ihre Hände nach ihm aus, und ruft ihn; aber dem Knaben ist die Mutter unbekannt geworden; er schaut sie verwundert an, und spielt ruhig weiter. Luise dankte für die Verwahrung ihres Karl Emil Gott und der treuen Dienerschaft so beweglich, daß diese in Thränen ausbrachen.

Später im Herbst 1662 treffen wird sie noch einmal in Königsberg. Der Kurfürst hatte die polnische Oberhoheit über Preußen, das peinliche Joch seines stolzen Nackens, abgeschüttelt, und war gekommen, sich als souveräner Herzog von Preußen huldigen zu lassen. Die Großen des Landes, eifersüchtig auf ihre alten Rechte, deren Fortbestehen Friedrich Wilhelm zum größten Theil nicht mehr dulden konnte, waren sehr schwierig, Königsberg offner Empörung nahe. Luise, an der Seite ihres Mannes, tritt furchtlos unter dies gährende Volk, unter den Schwingen des Adlers die Taube. Und das kurfürstliche Paar empfing im Königsberger Schloßhof unter freiem Himmel die Huldigung des Landes.

Vorher, im Winter 1659, war sie, die unerschrockene Genossinn des fürstlichen Feldherrn und Kriegsmannes, ihm in die jütländischen Feldlager gefolgt. Der Krieg gegen die Schweden hatte im September begonnen, und sich über Erwarten in die Länge gezogen. Die Briefe des Kurfürsten, die er von den Schlachtfeldern heimschrieb, waren voll herzlichster Sehnsucht. Das Vierteljahr der Trennung ward ihm zu unerträglichem Schmerz. Im Januar brach die Getreue auf. Durch Frost und Kriegsgefahr eilte die ersehnte Fürstinn in das nordische Jütland. Der Einnahme von Fridericia wohnte sie bei. Doch bald fühlte sie, daß Heerlager und Schlachtfelder zum Aufenthalt für Frauen sich nicht eignen. Ihre Rückkehr geht zur See nach dem Haag. Eine Winterfahrt auf dem nordischen Meer ist nicht ohne Gefahr; das brandenburgische Heer vereinte sich mit ihrem besorgten Kriegsherrn zur Fürbitte, daß der Kurfürstinn Fahrt glücklich werde.

Ihre Mutter hatte sie nach Holland zur Hochzeit einer jüngern Schwester, eingeladen. Aber noch andere Gründe bewegten den Kurfürsten, in diese Reise einzuwilligen. Der Kriegsschauplatz hatte sich tiefer hinein in die unwirthlichen Gegenden Jütlands gezogen. Zufuhren aus der Ferne waren nothwendig; vielleicht auch Beistand zur See, den die holländische Flotte schon einmal geleistet hatte. So konnte die Anwesenheit Luisens in Holland, welches mit steigender Verehrung stolz auf sie war, von großem Vortheil seyn. Es ist ein Zeichen ihrer Herrscherklugheit. Daß sie nicht die Residenz Haag, wo durch diplomatischen Einfluß ihr Blick und Hand leicht hätten unfrei werden können, sondern Groeningen zu ihrem Sitz wählte. Von hier aus war es ihr möglich, den Kurfürst mit der ganzen Armee, falls das Aeußerste eintreffen, ihm nämlich der Rückzug durch Deutschland unmöglich gemacht werden sollte, auf holländischen Schiffen über’s Wasser zu retten.

„ihres Mannes Herz darf sich auf sie verlassen; sie ist wie ein Kaufmannsschiff, das seine Nahrung von Ferne bringet: sie thut ihren Mund auf mit Weisheit; sie merket, wie ihr Handel Frommen bringt: ihre Leuchte verlöscht des Nachts nicht.“ Dieses königliche Frauenlob (Sprichw. Salom. 31.) wird mit Fug der Kurfürstinn gespendet. Die kurfürstliche Schatzkammer bereicherte sie mit kostbarem Geschmeide. Die kurfüstlichen Besitzungen mehrte sie beträchtlich durch Güterkauf; in Preußen, wo in der vorangegangenen bösen Zeit die Kammergüter fast ganz verschleudert, oder in Pfandschaft übergegangen waren, löste sie Eins nach dem Andern wieder ein. Es wird ihr möglich durch ihre kluge Sparsamkeit und ausgezeichnete wirthschaftliche Begabung. „Sie ist das Kaufmannsschiff, des Mannes Nahrung aus der Ferne bringend.“ – Ihr heller Verstand, der mit gesundem Blick die schwierigsten Verhältnisse des Staates einfach zu sondern und zu erfassen wußte, ist dem Kurfürsten unentbehrlich geworden. Man erzählt, daß er nicht selten mitten aus der Sitzung seiner Minister zu seiner Gemahlinn geeilt sey, um mit ihr die schwebenden Fragen zu besprechen. Dann gab sie ihren Rath immer in jener rührenden Einfalt, die ihres Werthes sich nicht bewußt ist. Es blieb ihr eine Gewissenssache der Demuth, ihren Einfluß auf öffentliche Angelegenheiten nur durch den Willen des Kurfürsten bestimmen zu lassen, und anders nicht, als nur unter seinen Augen zu üben. Heilig waren ihr die Grenzen, innerhalb welcher das Handeln und Wandeln des Weibes schön bleibt. Mit sicherm Gefühl erkannte sie dieselben. Aber darinnen war sie ihrem Manne eine „Leuchte, die auch des Nachts nicht verlöschet.“

Sie war das keusche Sonnenlicht des Hofes. Vor der Macht ihrer weiblichen Schönheit und Reinheit mußte das Gemeine und Unreine zurückscheuen. Eine Zeit der Reinigung beginnt in den kurfürstlichen Hoflagern, die in den langen Kriegsjahren wild und wüst geworden.

Die schönen Künste, welche vorher nur als Fremdlinge in der brandenburgischen Residenz geachtet waren, machte die rein gebildete, poesie-frische Frau in ihrer Umgebung heimisch. Aus Holland verpflanzte sie die Malerei herüber. Ihr Mann überraschte sie einst mit einem kolossalen Standbild aus feinstem kararischem Marmor, seine Heldengestalt selbst darstellend. Sie gestattete ihm gern, daß er seinen Wahlspruch darüber meißeln ließ: „Domine, fac me scire viam, quo amulaturus sim!“ (Herr, thue mir kund den Weg, auf dem ich wandeln soll!“ Psalm 143, 8.) Sie selbst liebte und übte die Musik. Der Kurfürst, welcher bei der Riesenaufgabe seines Lebens für Förderung der Künste nicht Zeit und Mittel, wie er wünschte, fand, genoß mit zärtlichster Dankbarkeit, was davon seine Luise im darbot.

In dieser geistigen Verklärung ihres Hofes bewegte sie sich mit höchster Anmuth. Wie viele Leidenslast sie auch zu ertragen bekam, das Licht ihrer inwendigen Fröhlichkeit brach doch immer wieder hindurch. Sie hatte eine ganz ungewöhnliche Begabung, ihre reine, holdselige Heiterkeit wie einen Sonnenstrahl aus sich auf Andere scheinen zu lassen, was wohlthuender ist, als es beschrieben werden kann. Und eben darum, und weil sie mit zarter Hand dem Unangenehmen zu wehren, und das Angenehme herbei zu locken verstand, war sie eine fürstliche Meisterinn in häuslichen Festen. konnte sie nicht zu den Festen kommen, so wurden Feste zu ihr gebracht. Darum feierten mehrere ihrer Schwestern ihre Hochzeit im Schloß zu Cleve, da sie gerade dort Hof hielt.

Luise war der freundlichste Weg und der sicherste zur kurfürstlichen Gnade. Mancher im Lande, den die Schärfe des Gesetzes, oder des Kurfürsten eben so feurig aufbrausender, als bald besänftigter Zorn tief verwundet hatte, segnete die milde Herrinn, die ihm aus der Angst geholfen. Von reuigen Verurtheilten ward sie hierzu stets willig gefunden. Die heilige Schrift war der Born, aus welchem Luise ihr Glauben, Lieben und Hoffen schöpfte, in welcher sie ihre Gedanken alle, und all ihr Dichten und Trachten versenkte, daß sie, rein gebadet vom Staube dieser Welt, wieder emporstiegen. In der Schrift fand sie Jesum Christum, den Heiland, ihre Zuversicht, in dessen Hand sie ihre glaubensstarke Hand legte, zu ewiger und seligster Verbindung. Und es erfüllte sich an ihr des Herrn Verheißung: „Wer an mich glaubet, von deß Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen.“

Wie heimathlich sie sich im Schriftwort fühlte, ließ sich ihrer Rede, und läßt sich allem, was von ihr niedergeschrieben ist, abmerken; es ist Alles durchklungen mit Gottes Wort.

Nur wenn sie krank ist, fehlt sie in der Kirche; man liest Gottes Wort, betet und singt in ihrem Krankenzimmer. An den Nachmittagen des Sonntags überdachte sie noch einmal die gehörte Morgen-Predigt, und wandte sie an auf Herz und Haus.

Es war der Kurfürstinn eine immer gewünschte Freude, mit erleuchteten Männern über die höchsten Dinge sich zu unterhalten. Der Hofprediger Stosch berichtet, „er habe wohl viel hundert Stunden in Privat-Audienz mit geistlichen Gesprächen, Fragen und Antworten bei ihr zugebracht; nicht Eine Frage oder Lehre, so zur Prüfung unserer selbst, und zur Erweckung und Uebung der Gottseligkeit diene, sey zwischen ihnen unbesprochen geblieben; keine sey zu nennen, welche die Kurfürstinn nicht aus ihrer innern Erfahrung erläutert hätte.“ Und es ist ihr dabei allen Ernstes, nicht um eitles Wissen und geistreiche Spielereien mit Worten zu thun, sondern um erleuchtete Augen des Verständnisses und um Herzensbesserung. „Ich wiederhole, – sagte sie einst zu Stosch, – daß Ihr alle meine Sünden und Fehler mir vorhaltet, auch wenn nur ein Schein hiervon da wäre. Vergesset nicht, daß Ihr Seelsorger seyd; ich beschwöre Euch bei Gott, Eurem und meinem künftigen Richter.“ Dagegen konnte sie Nichts so sehr erzürnen, – wie ein Mann aus ihrer Umgebung berichtet, – als wenn sie zu hören bekam, daß sektirerische Lehren im Gespräch auch der Christlich-Gesinnten am Hof zu einem leeren Spiel des Witzes und Scharfsinnes gemacht wurden.

Eben so zuwider war ihr auch der gehässige Kanzelkrieg der beiden evangelischen Confessionen. Ihr zartes Gewissen fühlte klar, daß nicht sittlicher Ernst, sondern Leidenschaft die Feueresse dieser Streitigkeiten sey, welche ihr nicht als heilige Kämpfe, vielmehr als elende Zänkereien erschienen.

Sie war mit dem Kurfürsten von Herzen der reformirten Kirche zugethan, jedoch nicht nach der schroffen Dordrechter Ausprägung. Es ist bekannt, daß der Kurfürst die Einigung der ev. Schwesterkirchen in seinen Landen ernstlich gewollt hat. Und als das von ihm in Berlin veranlaßte Liebesgespräch, welches die brennden Punkte ausgleichen sollte, in einen heftigen Streit ausschlug, untersagte er durch ein Gesetz mit demselben Ernst, wie die Verunglimpung der Reformirten auf der lutherischen Kanzel, so auch jede gehässige Deutung der lutherischen Lehre auf der reformirten Kanzel.

Aber stiller und freundlicher pflanzte sich der ev. Glaubensfriede, wo Luisens sanfte Hand herzgewinnend waltete. Der Oranienburger Magistrat hatte ihr ehrfurchtsvoll dankbar das Recht übertragen, den Rektor der lateinischen Schule daselbst zu berufen. Sie stellte an der lutherischen Lehranstalt einen reformirten Oberlehrer an, welcher, nach der damaligen Sitte, zugleich Geistlicher war. Und die geistlichen Lehrer beider ev. Confessionen wohnten und wirkten friedlich unter Einem Dach. Bald geschah es sogar, daß der reformirte Prediger zu Zehlendorf in der lutherischen Kirche zu Oranienburg das heil. Abendmahl spendete. Das war kein Drang und Zwang, sondern nur ein heimliches Wünschen und ein freundliches Zugestehen. Und beides im Liebesgeist jener Sanftmuth, welche vom Herrn selig gepriesen ist, weil sie das Erdreich besitzen wird.

Ueberhaupt, was nur aus dem Heiligthum ihres Innern hervortrat, schien es auch zunächst bloß der äußern Welt anzugehören, hatte immer den Kern einer höheren Weihe, einer religiösen Beziehung. Die Hebung der leiblichen Wohlfahrt ihrer Unterthanen war ihr nur die nothwendige Form der geistlichen, christlichen, sittlichen Pflege derselben. Ihre Dienerschaft, deren zeitliches Vorankommen sie mütterlich besorgte, war zugleich Glied ihrer Hausgemeinde. Aus ihrem Gebet um den ersehnten Kindersegen blühete das Waisenhaus auf. Das Waisenhaus, zunächst eine Zufluchtsstätte für obdachlos und Pflegens gewordene Kinder, wurde alsbald vorbildliche Anstalt christlicher Erziehung. Der Jubel und feurige Dank ihres Herzens für das Gnadengeschenk, das ihr in dem Kurprinzen zu Theil ward, verklärte sich zu einem wöchentlich wiederkehrenden Feiertag. Denn von nun an bringt sie, einem Gelöbnis treu, jeden Dienstag, auf welchen Wochentag sie den Kurprinzen geboren, fern vom Geräusch des Hofes, mit Fasten und Beten und im Gespräch mit ihren Seelsorgern zu.

In der König. Bibliothek zu Berlin wird ein merkwürdiges Zeugniß davon aufbewahrt, wie sie, durch stete Reinigung des Gewissens, aus dem Bad der Wiedergeburt zur vollen Lebensheiligung aufzusteigen sich täglich bestrebt hat. Es ist dies eine, mit dem Geist aus der Höhe gesalbte, geistliche Uebung, von ihrer Hand unter dem Titel niedergeschrieben: Louysen Kurfürstin von Brandenburg tägliches Bußgebet. In derselben heiligen Demuth und Beugung verfaßte sie ein köstliches Bußlied, welches hier folgen soll:

1) Ich will von meiner Missethat
Zum Herren mich bekehren;
Du wollest selbst mir Hülf und Rath,
Hierzu, o Gott, bescheeren,
Und Deines guten Geistes Kraft,
Der neue Herzen in uns schafft,
Aus Gnaden mir gewähren!

2) Natürlich kann ein Mensch doch nicht
Sein Elend selbst empfinden:
Er ist ohn‘ Deines Geistes Licht
Blind, taub und todt in Sünden.
Verkehrt ist Will‘, Verstand und Thun:
Des großen Jammers komm‘ mich nun,
O Vater, zu entbinden!

3) Klopf‘ durch Erkenntniß bei mir an,
Und führ‘ mir wohl zu Sinnen,
Was Böses ich für dir gethan, –
Du kannst mein Herz gewinnen, –
Daß ich aus Kummer und Beschwer‘
Laß über meine Wange her
Viel heiße Thränen rinnen!

4) Wie hast Du doch auf mich gewandt
Dein Reichthum Deiner Gnaden!
Mein Leben dank ich Deiner Hand;
Du hast mich überladen
Mit Ruh‘, Gesundheit, Ehr‘ und Brod, –
Du machst, daß mir noch keine Noth
Bis hierher können schaden.

5) Hast auch in Christo mich erwählt
Tief aus der Höllen Fluthen,
Daß niemals mir es hat gefehlt
An irgend einem Guten.
Und daß ich ja Dein eigen sey,
Hast Du mich auch aus großer Treu
Gestäubt mit Vater-Ruthen.

6) Gegeben zu genießen?
Schenk aber ich Gehorsam dir?
Das zeuget mein Gewissen,
Mein Herz, in welchem Nichts gesund,
Das tausend Sünden-Würmer wund
Bis auf den Tod gebissen.

7) Die Thorheit meiner jungen Jahr,
Und alle schnöden Sachen
Verklagen mich so offenbar:
Was soll ich Armer machen?
Sie stellen, Herr, mir für’s Gesicht
Dein unerträglich Zorngericht
Und Deiner Höllen Rachen.

8) Ich habe meiner Gräuel Qual,
Und schäm‘, sie zu bekennen;
Es ist weder Maaß noch Zahl,
Ich weiß sie nicht zu nennen.
Und ist keiner doch so klein,
Um welchen Willen nicht allein
Ich ewig müsse brennen.

9) Bisher hab ich in Sicherheit
Fein unbesorgt geschlafen,
Gesagt: es hat noch lange Zeit,
Gott pflegt nicht bald zu strafen,
Er fähret nicht mit unsrer Schuld
So strenge fort; es hat Geduld
Der Herr mit seinen Schafen.

10) Dies Alles jetzt zugleich erwacht,
Mein Herz will mir zerspringen,
Ich sehe Deines Zornes Macht,
Dein Feuer auf mich dringen.
Du regest wider mich zugleich
Des Todes und der Höllen Reich,
Die wollen mich verschlingen.

11) Die mich verfolgt, die große Noth,
Fährt schnell ohn‘ Zaum und Zügel.
Wo flieh ich hin? Du Morgenroth,
Ertheil mir deine Flügel!
Verbirg mich wo, du fernes Meer,
Stürzt hoch herab, fallt auf mich her,
Ihr Klippen, Thürm‘ und Hügel!

12) Ach nur umsonst! und könnt ich auch
Bis in den Himmel steigen,
Und wieder in der Höllen Bauch
Mich zu verkriechen neigen:
Dein Auge dringt durch Alles sich,
Du wirst da meine Schand‘ und mich
Der lichten Sonnen zeigen!

13) Herr Jesu, nimm mich zu dir ein,
Ich flieh in Deine Wunden,
Die Du, o Heiland, wegen mein
Am Kreuze hast empfunden,
Als unter Aller Sünden Müh‘,
Dir o Du Gotteslamm, ward sie
Zu tragen aufgebunden.

14) Wasch mich durch Deinen Todesschweiß
Und purpurrothes Leiden,
Und laß mich sauber seyn und weiß,
Durch Deiner Unschuld Leiden!
Von wegen Deines Kreuzes Last
Erquick‘, was du zermalmet hast,
Mit Deines Trostes Freuden.

15) So angethan, will ich mich hin
Vor Deinen Vater machen;
Ich weiß, er lenket seinen Sinn,
Und schaffet Rath mir Schwachen.
Er weiß, was Fleisches Lust und Welt
Und Satan uns für Netze stellt,
Die uns zu stürzen, wachen.

16) Wie werd‘ ich mich mein Lebenlang
Für solcher Plage scheuen?
Durch Deines guten Geistes Zwang,
Den Du mir wollst verleihen;
Der mir vor aller Sünden List,
Und dem, was Dir zuwider ist,
Helf ewig mich befreien.

Der Geist des Herrn kam noch öfter über sie im heiligen Gesange, sodaß sie im dichterischen Aufschwung wie eine Lerche ward, die am Lenzmorgen lobpreisend zum Licht sich erhebt.

In dem Gesangbuch, welches Christoph Runge zu Berlin im Jahre 1653 auf ihren Antrieb herausgab, und das Kernlieder der lutherischen, wie der reformirten Glaubensgemeinschaft enthält, finden sich noch zwei andere von der Fürstinn gedichteten Lieder: 1) das Loblied:
„Gott, der Reichthum Deiner Güte,
Dem ich Alles schuldig halt‘,
Ursacht, daß mir mein Gemüthe
Gegen Dir vor Freude wallt, u. s. w.

Sodann das Lied des Gottvertrauens in der Zeit des Kriegs und der Pest:
Ein Andrer stelle sein Vertrauen
Auf die Gewalt und Herrlichkeit
Und auf Hochmuth zu jeder Zeit
Ich will auf Gott, den Höchsten, bauen, u. s. w.

So tritt die reformirte Fürstinn in den Sängerkreis der lutherischen Kirche, und wünscht, daß derselbe auch aufgenommen sey in den Chor der reformirten Kirche; denn in allen Wäldern des Herrn haben seine Sänger denselben Sang und süßen Schlag. Die Lieder der Fürstinn sind von hoher, poetischer Schönheit, nicht gemacht, sondern aus ihrem, in allen seinen Wechselfällen vom evangelischen Glauben getragenen Leben frisch herausgewachsen. Das güldene Kleinod, welches Luise mit dem Lied: „Jesus, meine Zuversicht“, der evangelischen Kirche geschenkt, hat sie selbst mit ihrem glaubensstarken, geheiligten Sterben besiegelt.

Für den Winter 1665 hatte der Kurfürst eine längere Reise nach Cleve beschlossen, Luise sollte mit ihm gehen. Vorher indeß wollte sie noch einmal alles, was sie geschaffen hatte, besonders das Oranienburger Waisenhaus, besichtigen, und von Allen, wie eine Mutter von ihren Kindern, Abschied nehmen. An allen Orten erfuhr sie ungeheuchelte Beweise der Liebe. Bei ihrer Abfahrt von Oranienburg drängte man sich mehr, denn je, um ihren Wagen, gleich als wüßte man, daß auf diesen Abschied ein Nimmerwiedersehen auf Erden folgen sollte. Allen, namentlich ihren Waisen, reichte sie die mütterliche Hand.

Im October 1665 ward die Reise angetreten. Luise sah heiter aus. Den Sommer 1666 brachte Luise mit ihrem Gemahl in Cleve zu, und gebar hier ihren letzten Sohn Ludwig. Da sie sich noch nicht wieder erholen konnte, widerriethen die Aerzte die beschwerliche Herbstreise nach Berlin zurück. Die Trennung war dem kurfürstlichen Paar ahnungsvoll schmerzlich. Sie fuhr in Begleitung ihrer Mutter den Rhein hinab, um im Haag die rauhe Jahreszeit zu verbringen. Die körperliche Schwäche wollte nicht schwinden; auch im Beginn des Frühlings nicht. Sie ahnte, daß sie diese Krankheit nicht überstehen werde. Eine heftige Sehnsucht nach dem Gatten und den Kindern ergriff ihr Herz. Sie drängte zur Heimreise, welche sie auch bald nach Ostern antrat. Schon in Duisburg verschlimmerte sich ihr Zustand so, daß sie einige Zeit verweilen, und der Forderung des Arztes, den man aus Wesel hatte kommen lassen, folgen mußte. Dem sie begleitenden holländischen Prediger Spanheim sagte sie: „Wenn mir Gott die Gnade erweist, mein Ziel zu erreichen, so will ich gern mit Simeon ausrufen: Herr, nun lässest Du Deinen Diener im Frieden fahren!“ Ein ander Mal: „Gott hat mich zu dem Scheiden in der Schule der Leiden vorbereitet; er hat die Zeichen seiner Ruthe in mein Fleisch gedrückt, aber auch seine Furcht in mein Herz gesiegelt.“ Dann zum Himmel blickend, fuhr sie fort: „Es ist mir lieb, Herr, daß Du mich gedemüthigt hast; aus Deiner Züchtigung erkenne ich, daß Du mich liebest, daß ich Dein Kind bin, daß du Acht auf mich hast, daß Du meinen Tod nicht begehrest, sondern daß Du aus einem tiefen Schlaf mich erweckest. Du hast mir gezeigt, daß das Wesen dieser Welt vergeht, daß aber, wen Deinen Willen thut, in Ewigkeit bleibet.“ Als nach Fortsetzung der Reise ein Rasttag gemacht wurde, und Spanheim über die Worte: „Gott mit uns!“ gepredigt hatte, wandte sie das Gehörte auf sich an: „Gott mit uns!“ Welch ein Trost in so trauriger Einsamkeit, in gefährlichen Wüsteneien, in abmattenden Kindbetten, im Hause des Weinens, bei den tausendfach listigen Ränken! Wohl uns, wenn Gott dann mit uns ist; wenn sein Auge unser Wächter, seine Vorsehung unsere Burg, die Engel unsere Hüter, sein Schatten unser Schirm ist!“

Die Nachricht von ihrem Unwohlseyn erregte in Berlin die größte Bestürzung. Man eilte ihr entgegen. Allen voraus der von Angst beflügelte Kurfürst; er trifft sie schon in Halberstadt; in der Nähe von Ziesar sieht sie ihre Kinder; zu Amt Rellin den Hofprediger Stosch. Dies Reisen im Wagen konnte sie nicht mehr ertragen. In einer Sänfte wurde sie 30 Meilen weit nach Berlin gebracht. Als Spanheim ihn zur Ankunft Glück wünschte, und Hoffnung zur Genesung aussprach, antwortete sie: „Für das Erste danke ich Gott, und das Zweite stelle ich ihm anheim; wenn er die Haare auf dem Haupte zählt, wie vielmehr unsere Tage. Wir vermögen nicht Eine Stunde zu ihrer Länge, noch Eine Elle zu ihrer Größe zuzusetzen. Derselbe hat mir angegeben, eine Zeit lang bei meiner theuren Mutter zu verweilen, und jetzt zu meinem Herrn zurückzukehren; Nun mag er mit mir machen nach seinem heiligen Willen.“

Sie war jung, erst im 40. Jahr, und mit vielen Banden der Liebe in das diesseitige Leben verschlungen. Die natürlichen Sinne sträubten sich wider das Sterben: „Was bitter ist der Tod! Fleisch und Blut erschrickt vor ihm!“ hörte man sie seufzen; aber der wiedergeborne Geist hatte den Muth, sich loszureißen. „Ich nähere mich dem Hafen himmlischer Ruhe, – sagte sie bald darauf freudig; schon sehe ich die Spitzen und Höhen der ewigen Stadt. Wenn ich wieder genese, so werde ich von Neuem in das unruhige Leben, in das ungestüme Meer voller Klippen zurückgetrieben.“ Auch der schmerzliche Gedanke an die Trennung von ihrem Manne verklärte sich ihr je mehr und mehr durch den Glanz der Hoffnung: „Einer von Beiden, – sagte sie, – muß voran; es ist mir nun um so lieber, diejenige zu seyn, die ihm eine Stelle zubereiten kann.“

Der Kurfürst rang in großer Seelenangst mit Gott; daß ihm das Theuerste erhalten bliebe. Man fand folgendes Gelübde von seiner Hand niedergeschrieben: „Nachdem der Höchste meine herzvielgeliebte Gemahlinn gar hart und schwer mit Krankheit heimgesuchet, und daß auch alle menschlichen Mittel umsonst und verloren seyen: so habe ich ein Gelübde dem Höchsten gethan, daß ich, daferne Ihre Liebden von diesem Lager wieder aufkommen, ich Ihr zu Ehren ein Armenhaus bauen, und zur Unterhaltung desselbigen jährlich 6000 Rthlr. verordnen will, so zu ewigen Zeiten von meinen Nachkommen darzustellen ausgefertigt wreden; und damit sie nun dieselbigen desto sicherer bekommen mögen, so verweise ich sie an die Salz-, Bernstein- und Postgelder hiermit dergestalt und also, daß von jedem 2000 Rthlr. jährlich für alle anderen Ausgaben ihnen zum Unterhalt gereicht werden sollen; wie ich dann denen Bedienten, so die Einnahme in Händen haben, ganz ernstlich und bei höchster Strafe anbefehle, solche Gelder alle Jahre richtig abzustatten. Des zur Urkunde habe ich dieses eigenhändig geschrieben und unterschrieben.“
Gegeben zu Berlin den 4. Mai Anno 1667.
Friedrich Wilhelm

Aber der Menschen Gedanken waren nicht Gottes Gedanken. Bevor die Schwachheit überhand nahm, versammelte sie ihre Dienerschaft um sich, dankte für die Treue, und erbaute sie durch ihren Abschied, die Fürstinn ihr Gesinde. Noch ergreifender ist ihr Abschied von den Kindern. Die zwei älteren Prinzen stehn vor ihrem Bette, den jüngsten, noch Säugling, einen lieblich gedeihenden Knaben, reicht man zu ihr hin, daß sie auch ihn segne. Alles ist von Schmerz überwältigt, sie allein in erhabener Ruhe, als gehöre sie schon dem Jenseits an.

Stosch besucht sie täglich. Am 17. Juni empfing sie ihn mit den Worten: „Es ist mir lieb und erwünscht, eines Dieners Christi in Anspruch zu vernehmen. Der Proceß, – fuhr sie fort, – den der Herr mit Elia gehalten, worin er ihn einen Sturm, ein Beben der Erde und ein Feuer hat erfahren lassen, ist auch über mich ergangen; nun hoffe ich, es werde auch ein sanftes Sausen nachfolgen, Er werde mir mit Gnade und Hülfe erscheinen.“

Folgenden Tages kommt Stosch, von Unruhe getrieben, Eine Stunde früher. Sie hieß ihn und die Andern beten. er bat Gott zuerst um leibliche Hülfe. Als er die Wendung nahm, „daß der Herr, wenn es Sein Wille sey, das Ewige für das Zeitliche darreichen möge“, hob sie ihre gefalteten Hände höher. Nach einiger Ruhe schlug sie bei allgemeiner Stille wieder die Augen auf. Da richtete Stosch an die sie Frage: „Ob sie fühle, daß Gott ihr gnädiger Vater sey?“ Sie antwortete Allen hörbar: Ja. Sie sank zurück und lag regungslos. Da brach Stosch das heilige Schweigen; zu dem von Schmerz erstarrten Kurfürsten gewandt, sprach er: „Sie ist Ew. Durchlaucht wie eine Garde auf Wegen und Stegen gewesen; aber der Trost bleibt, daß die letzten Seufzer dieser frommen Seele künftig, um Christi Willen, die Kraft eines täglichen Gebetes haben werden.“ Während dieser Ansprache hatte der Kurfürst Luisens Hand ergriffen; er glaubte sie entseelt, spürte aber ganz deutlich einen dreifachen Druck derselben. Das war ihr letztes Lebenszeichen. Sie starb am 18. Juni 1667, Nachmittags 6 Uhr. Sie ist wenige Monate über 39 Jahre alt geworden; davon die letzten 20 ½ in der Ehe mit dem Kurfürsten.

Der Kurfürst fühlte, daß „die Sonne seines Hauses erloschen sey.“ Er trat später, durch die Macht der Gewohnheit und der Verhältnisse gezwungen, in eine zweite Ehe, mit Dorothee, einer gebornen Prinzessinn von Holstein-Sonderburg. Aber man hörte ihn öfter, vor dem Bild der Verklärten weilend, ausrufen: „O Luise, wie oft vermisse ich Euren Rath!“ Das Volk fühlte seinen Verlust um so schmerzlicher, als ihm schien, Dorothee sei eine Stiefmutter, wie des Kurhauses, so des Landes. Mit desto größerer Eifersucht bewahrte es das Andenken der Hochgefeierten. Es schmückte seine Töchter mit ihrem Namen; bis auf Kind und Kindeskind wurden die Kirchenbücher mit dem Namen Luise erfüllt. In vielen Häusern der brandenburgischen Lande, und nicht bloß in den reichen, sah man ihr Bildniß in Oel gemalt; noch im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts, da man anfing, das Bild der andern neben das ihre zu hangen. Sie ist eng verwachsen mit der Begründung und dem wunderbaren Aufschwung des preußischen Staates. Der große Kurfürst war genöthigt, mit eisernem Pflug tiefe Furchen zu ziehen, durch Felsen und wildes Gestein; sie ist wie Thau und Morgenröthe über seine Saaten, die als eine neue Flur, geschlossen und eigenthümlich, zwischen den europäischen Saaten-Gefilden aufsproßten.

Und wer von dem Glauben durchdrungen ist, jedes Ereigniß in der Geschichte, – auch das nebenhergehende, untergeordnete, – werde eben so gewiß, wie das folgenreichste, durch die göttliche Weisheit bestimmt: dem muß es höchst bedeutungsvoll erscheinen, daß in der Oranischen Fürstinn Luise, der Urenkelinn des edeln Cologny, dieser Märtyrer der französisch reformirten Kirche, unter die Ahnen des Hohenzollerschen Hauses aufgenommen ist, neben jenem Märtyrer-König der lutherischen Kirche. Denn Gustav Adolph ist der Oheim des großen Kurfürsten.

Dr. Theodor Fliedner, Buch der Märtyrer, Verlag der Diakonissen-Anstalt zu Kaiserswerth, 1859

Wenceslaus Link

Wenceslaus Linck, geboren 1483 zu Colditz, wurde als Jüngling Augustinermönch und schon im 24. Jahre Prior des Convents zu Wittenberg und Prediger daselbst. Früh erkannte er die Irrthümer seiner Kirche. Schon vor Luther zeigte er die Nichtigkeit äusserlicher Bussmittel und den alleinigen Weg zur Seligkeit. Als Luther zuerst klar und deutlich aussprach, wovon er bisher gestammelt hatte, wuchs seine Begeisterung und seine Kraft. Von Nürnberg aus, wo er 1518 Prediger an der Katharinenkirche geworden war, begleitete er Luther, dem er eine neue Kutte lieh, als Augustinerprovinzial nach Augsburg zum Gespräch mit Cajetan. Als Staupitz sich in die Stille nach Salzburg zurückgezogen hatte, erhielt Linck dessen Generalvikariat. In dieser Stellung wirkte er besonders bei der Visitation der Klöster für die Reformation. 1521 ward er zum Prediger nach Altenburg berufen. Hier wurden ihm Anfangs von den Domherren die Kirchen verschlossen; aber er liess sich nicht hemmen, sondern predigte auf offener Strasse unter einer Linde, bis der freie Gottesdienst in der Franziskaner- und Bartholomäuskirche durchgesetzt wurde. Seine Verheirathung im J. 1523 – wobei Luther die Trauung vollzogen haben soll – hatte seine Entfernung vom Generalvikariat zur Folge. 1526 wurde er Prediger an der neuen Spitalkirche zu Nürnberg. Das Vernehmen der Nürnberger Prediger, von denen er Osiander vorfand und zu denen später Veit Dietrich kam, war, unstreitig durch Osiander’s Schuld, nicht das beste. „Ich will hoffen“ – schreibt Luther am 3. Januar 1532 an Linck – „dass meine Besorgniss nicht wahr sei, die ein gewisses kleines Gerücht in mir erregt hat, als wenn unter euch Dienern des Evangelii zu Nürnberg heimliche Missverständnisse ernährt würden; ein Unheil, dergleichen fast kein traurigeres mit könnte hinterbracht werden“ (Schütze, Luther’s Briefe, deut. Ausgabe I. S. 318). Bei Gelegenheit des Streites über das Beichtformular schrieb Luther an Linck in Bezug auf Osiander am 8. Oct. 1533 in einem lateinischen Briefe: „Jetzt bitte ich dich durch Christus, dass du zugleich mit deinen Freunden die Augen des Erbarmens nicht schliessen und diesen von seinen Meinungen gefangenen Menschen wie einen Kranken beurtheilen und Dies bedenken wollest, nicht, wie er öffentlich verwirrt und verdammt werde, damit nicht aus einem Funken eine Feuersbrunst entsteht, sondern vielmehr, mit wie grosser Bescheidenheit, Klugheit und Geduld es irgend geschehen kann, dass er befreiet und geheilt werde. Ich hätte nicht geglaubt (hierüber wirst du weder prahlen, noch wirst du es in’s Publicum ausstreuen), dass jener Mensch von so vielen Meinungen eingenommen und, wie ich aus seinen Schriften erkenne, so weit entfernt sei von der Reinheit unserer Lehre; doch würden, wie gesagt, wenn man ihn mehr reizte, grössere Scandale ausbrechen, durch die er, auch wenn er nicht siegte, doch die Massen bewegte und Händel machte, denen man besser zuvorkommt. Wenn euch daher unser Rath gefällt, so hoffen wir, dass mit der Zeit die Sache stiller und er inzwischen uns näher kommen werde“ (De Wette, Briefe, IV. 48).

Mit Luther stand Linck in der herzlichsten Freundschaft. Sie verhandelten mit einander nicht bloss die grossen Kirchenfragen, sondern auch ihre tieferen Privatherzensangelegenheiten. „Eure Tochter ist also gestorben“ – schreibt Luther an Linck (1530) – „wenn ihr je ganz Vater waret, dann könnt ihr’s nun sagen, was es ist, Vater zu sein, besonders in Rücksicht auf Kinder weiblichen Geschlechts, deren Verlust ungleich mehr, als jener der Söhne Etwas hat, das uns in’s Herz greift. Doch ihr wisset es, dass sie nun drüben ist in jenem Reiche, weit glücklicher, denn wir, die wir das Gespött der Menschen, der Gegenstand des Spiels der Teufel, das Liedlein der Welt und Probeschüler wider die Sünde sind. Dass doch auch uns Christus beistehe in jener Stunde! Amen“ (Schütze a.a.O. S. 166). In demselben Briefe schreibt Luther in Bezug auf seinen Vater: „Ich erhielt die Nachricht, dass auch mein theuerster Vater, jener alte, ehrliche Greis, gestorben sei. Ob ich ihm gleich von Herzen gönne jenen sanften, gottseligen Übergang zu Christo, dass er nun ruhe im Frieden, befreiet von den Trübsalen und dem Jammer dieser Welt: so schmerzt es mich doch in die innerste Seele; denn durch ihn gab mir Gott Leben und Erziehung.“ Selbst in die unscheinbaren Liebhabereien Luther’s war das Interesse Linck’s verflochten. So bittet Luther in einem noch vorhandenen Briefe seinen Freund um Besorgung von Handwerkszeug zu Drechseln, die Bemerkung hinzufügend, er wolle sich, falls einmal die Welt um des Wortes willen ihn nicht mehr ernähren möchte, durch Drechseln seinen Unterhalt verschaffen. schreibt Luther von Coburg aus an Linck: „Wenn ihr bei guten Freunden für meinen Herrn, die Käthe, etwa ein Schock Pomeranzen bekommen könntet, wollt ich’s euch gerne bezahlen. Sie quält mich in vielen Briefen darum, da es zu Wittenberg keine giebt. Lebet wohl mit eurer Hausrebe und den süssesten Trauben.“ In einem Briefe vom folgenden Jahre aus Wittenberg heisst es: „Habet meinen Dank für das Geschenk, die überschickten Pomeranzen. Es war noch dabei ein kleines Waschbecken und ein zweiarmiger Leuchter. Ich weiss nicht, ob dieses von euch ist. Gehabt euch wohl und betet für mich.“

Auch mit Melanchthon war Linck befreundet. Besonders innig wurde das Verhältnis durch ihre gemeinschaftliche Verehrung Luther’s des Dritten in ihrem Bunde. Die Entführung Luther’s im J. 1521 schlug Beide tief nieder; aber kaum hatte Melanchthon die Kunde von seiner Bewahrung erhalten, als er seinem Freunde schrieb: „Unser allerliebst Vater lebt!“

Er wirkte in Nürnberg, da ihn die Gemeinde durchaus nicht fortziehen lassen wollte, trotz der ehrenvollen Vocation Herzog Heinrich’s von Sachsen zur Anordnung des Kirchenwesens in dessen Landen, bis an seinen am 12. März 1547 erfolgten Tod.

Die bedeutendsten Kanzelredner der lutherschen Kirche des Reformationszeitalters, in Biographien und einer Auswahl ihrer Predigten dargestellt von Wilhelm Beste, Pastor an der Hauptkirche zu Wolfenbüttel und ordentlichem Mitgliede der historisch-theologischen Gesellschaft zu Leipzig Leipzig, Verlag von Gustav Mayer. 1856

Franz Lambert

Franz Lambert von Avignon gehört nicht zu denjenigen Vätern der evangelischen Kirche, welche allein durch das Wort der heiligen Schrift und durch die Kraft des Geistes Gottes angeregt als Zeugen des Evangeliums auftraten und in ausgedehnten Gebieten der Kirche die Reformation derselben veranlaßten; denn da wo Lambert seine Thätigkeit entfaltete, hatte die Wirksamkeit der eigentlichen Reformatoren dem Evangelium bereits die Thür geöffnet. Aber dennoch kann Lambert diesen eigentlichen Vätern und Trägern der Reformation billig zur Seite gestellt werden, indem er einer der ersten war, welche in der romanischen Welt von der Macht der evangelischen Wahrheit ergriffen wurden, und indem auf einem der wichtigsten Reformationsgebiete, nämlich in Hessen, die Reformation durch ihn zur geordneten Einführung gekommen ist. Darum gebürt es der evangelischen Gemeinde auch Lamberts Namen und Andenken in dankbarer Liebe festzuhalten und zu ehren.

Franz Lambert war im Jahre 1487 zu Avignon, wo sein Vater, der Nachkomme eines alten, ritterlichen Geschlechts, Geheimsecretär des päpstlichen Legaten war, geboren. Von seiner frühzeitig verwittweten Mutter den an seinem Geburtsorte seßhaften Franziscanern zur Erziehung übergeben, trat er schon als fünfzehnjähriger Jüngling in das Minoritenkloster der Observanten. Hier erkannte man alsbald die hervorragende Rednergabe, welche ihn auszeichnete, weshalb er um 1517 zum apostolischen Prediger des Ordens gewählt wurde und als solcher auf dem Lande zu predigen begann. In diesen Predigten trat Lambert mit einem Ernst und Eifer und mit einer Macht und Gewalt der Rede auf, welche nicht selten überwältigend wirkte. Einst kam es vor, daß in einem französischen Städtchen, in welchem er gegen den Ueberhand nehmenden Luxus und Tand des Lebens gepredigt hatte, nach Beendigung der Predigt die Leute auf sein Geheiß willig ein Feuer anzündeten, ihre Karten, Würfel, Bilder rc. herbeiholten und in das Feuer warfen. – Aber bald machte ihm die Wahrnehmung der in dem Kloster herrschenden Zuchtlosigkeit sowie der Neid, der wegen der außerordentlichen Erfolge seiner Predigten gegen ihn rege wurde, den Aufenthalt in dem Kloster zuwider. Es wurden über ihn die schändlichsten Verleumdungen ausgestreut und man quälte ihn in allerlei Weise, z. B. auch durch Entziehung der nothwendigsten Lebensbedürfnisse. Da gedachte Franz Lambert, der zwar schon durch das Studium der heiligen Schrift, insbesondere des Römerbriefes zu einer Ahnung der Wahrheit des Evangeliums gelangt war, aber mit seinem Herzen immer noch am Klosterleben und an der Werkgerechtigkeit desselben hing, in ein Kloster der strengsten Regel, nämlich des Karthäuserordens überzugehen; aber die Verleumdungen, mit denen ihm seine Klosterbrüder in den Weg traten, verhinderten es. Franz Lambert blieb also in seiner Celle, und lebte nach wie vor nach der Regel seines Ordens.

Da fügte es sich, daß zufällig einige der Schriften Luthers in seine Hände kamen. Er las dieselben und erkannte es alsbald, welche Wege er zu gehen hatte. Eine Missionsreise, die ihm im Frühjahr 1522 der Klosterconvent auftrug, benutzte er daher, um dem Kloster ein für allemal Lebewohl zu sagen, und über Lausanne, wo ihn der Bischof Sebastian von Montfaucon freundlich aufnahm und mit Empfehlungen versah, nach Bern zu reisen. Hier, wo Berthold Haller und Andere von der Bewegung der Zeit schon ergriffen waren, predigte Lambert – noch mit der Mönchskutte angethan, und da er des Deutschen nicht mächtig war, in lateinischer Sprache – von den Gebrechen der Kirche; und die Gebildeten, die seinen Vortrag zu verstehen vermochten, wurden von demselben außerordentlich gefesselt.

Aber nach kurzem Aufenthalte eilte er, von Haller dringend empfohlen, nach Zürich, wo Zwingli seine reformatorische Tätigkeit eben begonnen hatte. Der Glaube an die Fürbitte der Heiligen schien ihm damals noch eine feststehende Wahrheit zu sein, weshalb er Zwingli zu einer Disputation über dieselbe aufforderte. Als er aber dessen Gegengründe gehört hatte, gestand er am Schluß der Disputation: „Ich erkläre, daß die Fürbitte der Heiligen gegen die Schrift ist; ich gebe alle Rosenkränze und alle Fürsprecher auf und will mich in aller Noth an Gott allein und an Jesum Christum halten, unsern Herrn.“

Aber auch in Zürich konnte seines Bleibens nicht lange sein. Es trieb ihn, den Mann, dessen Glaubensmuth das Werk der Reformation begonnen hatte, in Wittenberg von Angesicht zu sehen. Unter dem pseudonymen Namen Johannes Serranus, mit welchem er sich gegen die Nachstellungen seines früheren Ordens zu schützen suchte, begab er sich daher über Basel nach Deutschland, wo er im November 1522 in Eisenach ankam. Hier machte er 139 Sätze über das Verbot der Priesterehe, über Ohrenbeichte, Taufe, Buße und Rechtfertigung bekannt und erbot sich dieselben in einer am Tage St. Thomä zu haltenden Disputation gegen Jedermann zu vertheidigen. Indessen fand sich kein Opponent zur Disputation ein. Da wendete sich Lambert an Spalatin zu Wittenberg mit der Bitte, ihn bei Luther als einen Flüchtling um des Evangeliums willen zu empfehlen, und ihm den Aufenthalt in Wittenberg möglich zu machen. Inzwischen erklärte er zu Eisenach in lateinischen Vorträgen das Evangelium des Johannes.

Luther, der von verlaufenen Mönchen schon oft getäuscht worden war, war anfangs gegen Lambert mißtrauisch, meinte jedoch, daß der Kurfürst ein kleines Wegegeld daran hängen und ihm die Reise nach Wittenberg gestatten möchte. – So kam Lambert im Januar 1523 nach Wittenberg, wo ihn Luther, der ihn hauptsächlich zu unterhalten hatte, bald lieb gewann. In einem Briefe an Spalatin erklärt Luther über ihn: „An der Unbescholtenheit des Mannes ist nicht zu zweifeln. Der Mann gefällt mir in allen Stücken, und ich glaube ihn, soweit es überhaupt möglich ist, hinlänglich bewährt und würdig gefunden zu haben, daß wir ihn in seiner Verbannung stützen und tragen.“ Um sich einigen Unterhalt zu verschaffen hielt Lambert Vorlesungen über alttestamentliche Bücher, übersetzte reformatorische Flugschriften in die französische und italienische Sprache und veröffentlichte seine „Commentare zur Regel der Minoriten“ mit einem Vorwort Luthers. In dieser letzten Schrift zeigte Lambert das Eitle und Thörichte des Ordenslebens, erklärte sich aber nicht für sofortige und gänzliche Aufhebung der Klöster, sondern für deren Umwandlung in Schulen und Studienanstalten. – Auch verehelichte er sich – der erste gewesene französische Mönch, der einen solchen Schritt that, – mit Christine, der Tochter eines ehrbaren Bäckers aus Herzberg.

Uebrigens war seine Lage fortwährend eine jammervolle. Für seine Vorlesungen über Hosea, Lucas, Ezechiel und das hohe Lied erhielt er von seinem zahlreichen Auditorium schließlich 25 Groschen. Daher entschloß er sich endlich Wittenberg zu verlassen. „Denn ich erröthe darüber“, sagte er, „daß ich auf Kosten des allerchristlichsten Martinus leben muß.“ Wahrscheinlich war aber ihm, der in der Kirche reformatorische Erfolge, die seiner Begeisterung und Thatenlust gleich kamen, erzielen zu müssen glaubte, auch das Leben neben den ihn weit überragenden Kirchenmännern zu Wittenberg unbehaglich. Mit Freuden folgte daher Lambert im März 1524 dem Rufe einiger Anhänger der Reformation nach Metz.

Allein hier gestattete ihm der Magistrat nicht diejenige Wirksamkeit, die er erwartet hatte. Seine Bitte, daß man ihm das Predigen erlauben möchte, indem er bereit sei seine in 116 Thesen dargestellte Lehre öffentlich zu vertheidigen, vorausgesetzt, daß nur die heilige Schrift als alleinige Richterin anerkannt würde, fand kein Gehör; vielmehr gab sich in der Stadt gegen den „lutherischen Ketzer“ allerlei Feindseligkeit kund, weshalb ihm der Magistrat wohlmeinend rieth, an seine Sicherheit zu denken. Noch war daher Lambert kein volles halbes Jahr in Metz gewesen, als er sich genöthigt sah nach Straßburg überzusiedeln.

Auch hier, wo ihn freilich der Magistrat (im November 1524) mit Verleihung des Bürgerrechtes und mit Geschenken unterstützte, mußte er sich doch mit Vorlesungen, Uebersetzungen und schriftstellerischen Arbeiten kümmerlich ernähren. Insbesondere veröffentlichte er seine Commentare zu den Büchern des alten Testaments und seinen „Commentar über den heiligen Ehestand und über den Schmutz und die Verderblichkeit des Cölibats.“ Das Ziel seines Strebens – für Frankreich das zu werden, was Luther für Deutschland, Zwingli für die Schweiz geworden war, (weshalb er sich in Straßburg ebenso wie schon vorher in Metz mit reformatorischen Aufforderungen an den König von Frankreich wandte und von den Gegnern „der welsche Doctor“ genannt wurde), erlangte er freilich auch hier nicht. Aber von großer Bedeutung für seine spätere Wirksamkeit war es, daß Lambert in Straßburg zum ersten Mal ein solches Kirchenwesen und eine solche dogmatische Denkweise ausgebildet fand, wie sie seinen eignen ursprünglichen Ideen entsprach. Die streng reformirten Anschauungen eines Jacob Sturm, Martin Bucer, Capito, Farel rc. waren es, in denen sich Lambert mit seinen eignen Ideen und Idealen wiederfand. In dem an den Bischof Sebastian von Montfaucon gerichteten Dedicationsvorwort, mit welchem er seine in Metz proponirten Thesen, bis zu 385 vermehrt, in Straßburg herausgab, schrieb er dem Bischof: „Es mag Ew. Herrlichkeit einen Bischof nennen, wer da will, – ich nicht. Dafür möge sie sorgen, daß sie wahrhafte Bischöfe unter sich habe. Denn eine jede einzelne Pfarrei soll einen Bischof haben, welcher, wenn er vom Volke gewählt und von der Gemeinde irgend eines Ortes bestätigt worden, weder Brief noch Siegel bedarf, und so lange für einen Bischof zu halten ist, als er das reine Evangelium vom Reiche Gottes verkündigt. Weicht er davon ab, so kann ihn die Gemeinde, welche ihn gewählt, entsetzen und einen anderen suchen.“ – Der Einfluß, welchen Luther auf ihn ausgeübt hatte, trat daher vor den mächtigen Eindrücken, die er in der neuen Sphäre empfing, sofort zurück (Dieses zeigt sich z. V. in seinen verschiedenen Aeußerungen über die Lehre vom Abendmahl In der Ausgabe seines Commentars zu Lucas von 1524 hatte Lambert behauptet, daß Christus, da ihn nichts hindere mit seinem Leibe an einem bestimmten Orte zu sein, im Abendmahle mit dem Brote und Weine gegenwärtig sei. Dagegen in der Ausgabe von 1525 schreibt er, Brot und Wein seien „für die Gläubigen die sichersten Zeichen ihrer Nießung des Leibes und des Blutes Christi.“ Späterhin drückte sich Lambert über das Abendmahl sogar ganz zwinglisch aus.). – Um so mehr mochte er sich danach sehnen irgendwo in der Kirche seine reformatorischen Ideale verwirklichen zu können. Da berief ihn Landgraf Philipp von Hessen im Jahre 1526 – wie es scheint auf des Stadtmeisters Jacob Sturm Empfehlung, mit welchem der Landgraf auf dem Reichstage zu Speier bekannt geworden war, – nach Hessen, um mit seiner Hülfe die hessische Kirche evangelisch zu reformiren. Mit Freuden folgte Lambert einem Rufe, der ihn endlich das so lange ersehnte Ziel erreichen ließ.

In Cassel angekommen entwarf nun Lambert mit dem Landgrafen einen Plan, nach welchem die Reformation im Lande eingeführt werden sollte. Man beschloß die Stände des Landes, die Ritterschaft und die Städte mit den Geistlichen zu einer Synode oder vielmehr zu einem kirchlichen Landtag nach Homberg (dem Knotenpunkt der damaligen Hauptstraßen Hessens) einzuberufen. Der Landgraf ließ daher die Synode sofort für den 20. October 1526 ausschreiben, während Lambert es übernahm die erforderlichen Vorlagen auszuarbeiten. Derselbe setzte daher in lateinischer Sprache unter 23 Titeln 156 Sätze auf, welche die Hauptgedanken seiner Reformationslehre enthielten, und welche er wegen ihres Widerspruchs mit der traditionellen Lehre Paradoxa nannte. Außerdem entwarf Lambert (ebenfalls lateinisch) eine diesen Paradoxen entsprechende Reformationsordnung, welche höchst wahrscheinlich in einer Conferenz der höheren Geistlichen (Stiftsdechanten und Klosteroberen) Sonnabends den 20. October berathen und festgestellt wurde. Die Thesen Lamberts wurden an den Thüren der Pfarrkirche angeheftet.

Am folgenden Tage, Sonntags den 21. October, wurde frühmorgens um 7 Uhr die eigentliche Synode im Beisein des Landgrafen in der Pfarrkirche zu Homberg eröffnet. Nachdem der Kanzler des Landgrafen die Versammlung über den Zweck derselben belehrt hatte, las Lambert auf Befehl Philipps seine Thesen vor, begründete dieselben aus der heiligen Schrift und beleuchtete hiernach die vorhandenen Mißbräuche der Kirche. Am folgenden Morgen, in der dritten Sitzung der Synode, las Lambert seine Thesen nochmals vor und forderte Jedermann auf, etwaige Bedenken gegen dieselben zur Sprache zu bringen. Aus der ganzen zahlreichen Versammlung erhob sich jedoch nur Ein Opponent, ein Franziscaner-Guardian, der in einem vielstündigen, ermüdenden Vortrag vom Standpunkt der Scholastik und des canonischen Rechtes aus Lamberts Thesen zu widerlegen suchte, dabei aber gegen diesen und gegen den Landgrafen selbst so anzüglich wurde, daß Lambert sich schließlich zu einem leidenschaftlichen Ausfall gegen den Guardian hinreißen ließ. Als nach Beendigung der Debatte Lambert dreimal mit lauter Stimme Jeden, der gegen seine Sätze Einsprache erheben zu müssen glaube, aufgefordert hatte das Wort zu ergreifen und sich Niemand meldete, schloß derselbe die Synode mit den danksagenden Worten des Priesters Zacharias: „Gelobt sei der Herr, der Gott Israels, denn er hat besucht und erlöst sein Volk!“

Der Guardian, dessen Bleibens in Hessen nicht mehr war, begab sich nach Cöln, wo er in einer Ausgabe seiner zu Homberg vorgetragenen Sätze seinen angeblich über Lambert erfochtenen Sieg verherrlichte, wodurch dieser veranlaßt wurde auch seine Thesen mit einem Briefe an die Cölner zu veröffentlichen.

Da dieselben von der Synode zu Homberg stillschweigend approbirt waren, so war von derselben – dieses nahm man wenigstens an, – auch die auf ihnen beruhende Reformationsordnung Lamberts vom 29. October approbirt worden, weshalb man in Gemäßheit derselben am Schluß der Synode einige Visitatoren erwählte, welche die Kirchenreform in den einzelnen Gemeinden beginnen sollten.

In ihren 34 Kapiteln enthält dieselbe im Verhältnis) zu andern evangelischen Kirchenordnungen der Reformationszeit manches Eigentümliche; das Allereigenthümlichste liegt jedoch darin, daß sie auf dem Gedanken einer von der historischen Entwicklung der Kirche völlig losgerissenen fundamentalen Neubildung der Kirche beruht. Sie schreibt nämlich (Kap. 15) vor, daß überall im Lande, ehe das neue Kirchenwesen eingerichtet wird, eine (längere oder kürzere) Zeit hindurch das Evangelium gepredigt werden soll. Ist dieses geschehen, so daß Jedermann von der Lehre des Evangeliums hinlänglich Kunde erhalten hat, so sollen in den einzelnen Gemeinden constituirende Versammlungen gehalten werden, wo Diejenigen, welche zur Kirche, d. h. zur Gemeinde der Heiligen gehören wollen, sich zu melden haben, so daß die Kirche durchaus auf der freien Entschließung ihrer einzelnen Glieder und auf einer mit aller Strenge gehandhabten Kirchenzucht beruht, also eine scharf abgegrenzte Gemeinschaft wirtlich wiedergeborenen Lebens ist. – Für die so zu constituirende Kirche werden nun folgende Bestimmungen gegeben: An der Spitze einer jeden Gemeinde steht ein von dieser erwählter Bischof, unter dessen Vorsitz sich die Gemeinde an jedem Sonntag versammelt. Die Gemeinde hat das Recht unwürdige Glieder durch den Bischof zu excommuniziren. Die Absolution eines Excommunizirten spricht der Bischof im Namen der Gemeinde. Neben dem Bischof fungiren Aelteste und Diaconen, jene für Aufrechthaltung der Zucht, diese vorzugsweise zur Ausübung der Armenpflege. Ueber der Gemeindeversammlung steht die jährlich am dritten Sonntag nach Ostern in Marburg zu haltende Synode, welche (als kirchlicher Landtag) aus sämmtlichen Bischöfen (d. h. Pfarrern), aus je einem Abgeordneten jeder Gemeinde, aus dem Landesherrn und den Grafen und Herren besteht. Die Synode wählt einen engeren Ausschuß von dreizehn Personen, der sie leitet und in der Zwischenzeit von einer Synode zur andern unaufschiebliche Geschäfte erledigt. Daneben bestehen drei Visitatoren, welche die Gemeinden regelmäßig visitiren und das Ergebniß der Visitationen an die Synode einberichten.

Von dem Fürsten und den geistlichen und weltlichen Ständen des Landes genehmigt und durch den Speierschen Reichstagsabschied geschützt hatte die (nicht im Namen des Landesherrn sondern der Synode, zu welcher der Landesherr gehörte, publizirte) Kirchenordnung Lamberts die Geltung eines Landesgesetzes, das keiner weiteren Autorisirung bedurfte, das vielmehr sofort zu vollziehen war. Daher traf der Landgraf, dem die Synode vorläufig die Ernennung der Visitatoren und der Pfarrer überlassen hatte, ungesäumt die dazu nöthigen Anordnungen, und eine Reihe einzelner Bestimmungen der Reformationsordnung kam schon im Jahre 1527 zur Ausführung. Vor Allem mußte dafür gesorgt werden, daß überall im Lande die reine Lehre des Evangeliums gepredigt wurde, indem die Reformationsordnung erst wenn dieses mit dem nöthigen Erfolg geschehen sei, ihrem ganzen Inhalte nach vollzogen werden sollte. Allein die Schwierigkeiten, welche hierbei in der Unwissenheit und Rohheit der Geistlichen und der Gemeinden vorlagen, waren so groß, daß das Ziel, welches in der Reformationsordnung als Voraussetzung für ihre volle Einführung bezeichnet war, niemals erreicht ward. Niemals kam man soweit, daß man zur Bildung von Gemeinden wahrhaft wiedergeborener Christen vorschreiten konnte. Indem daher neben der Reformationsordnung eine von dieser nur mittelbar abhängige kirchliche Gesetzgebung entstand, so geschah es im Laufe der Zeit, daß die Reformationsordnung Lamberts mehr und mehr zurückgestellt und schließlich ganz vergessen wurde. Aber einen dreifachen Gewinn hatte die Reformationsordnung Lamberts für die hessische Kirche, – und hierin haben wir die wahre Bedeutung derselben anzuerkennen -: Indem sich die kirchliche Gesetzgebung Hessens zunächst im Anschluß an Lamberts Reformationsordnung ausbildete, ging 1) der ideale, immer die höchsten und letzten Ziele scharf im Auge behaltende Geist, welcher diese auszeichnete, auch auf jene über, und bethätigte sich in einem Eifer für Zucht und Pflege des Lebens, der in dem Gebiete der sächsischen Reformation nicht in derselben Weise wahrzunehmen war; 2) gewann die hessische Kirche auf dem von der Homberger Kirchenordnung vorgezeichneten Wege einen Schatz, der im Gebiete der sächsischen Reformation auch nicht zu finden war, nämlich Presbyterien, in denen die kirchlichen Gemeinden als solche ihre lebendigen Organe erhielten; und 3) gewann die hessische Kirche durch die Homberger Reformationsordnung den Segen einer selbständigen, nicht durch landesherrliche Consistorien bevormundeten, sondern durch freigewählte Visitatoren (Superintendenten) und Synoden geförderten freien Entwicklung, welche bis zum Ende des 16. Jahrhunderts eine unterscheidende Eigenthümlichkeit der hessischen Landeskirche war.

Nach der Homberger Synode bis zur Errichtung der Universität zu Marburg lebte Lambert in dem Kloster des eben aufgehobenen Carmeliterordens zu Cassel, in unmittelbarster Nähe des Schlosses und des damaligen Canzleigebäudes. Wie Landgraf Philipp ihn auch damals beurtheilte, erhellt daraus, daß er derjenige Theolog war, welchen Philipp (ausweislich der noch nicht gedruckten ältesten Urkunde über die Begründung der Universität) vor Allen und unter allen Umständen als Professor an seiner vorzugsweise zur Pflege der evangelischen Theologie bestimmten Hochschule haben wollte. Einer seiner ersten Schüler zu Marburg war der Schotte Patrik Hamilton, der von ihm die Weihe zum Martyrium erhielt. In dieser seiner academischen Stellung blieb Lambert bis zu seinem Tod am 18. April 1530. Der damals in Marburg grassirende „englische Schweiß“ hat seinem Leben ein Ende gemacht.

Lambert hatte mancherlei Eigenthümlichkeiten, um deren willen ihn sein College Hermann von dem Busch das dreifache M zu nennen pflegte, indem derselbe behauptete, Lambert reise so oft nach Frankfurt, ut Manducet, Mendicet et Mentiatur, d. h. um gut zu essen, um bei den Buchführern zu Frankfurt seine noch restirenden Honorare einzumahnen, und um sich von dortigen Fremden, insbesondre Franzosen allerlei aufbinden zu lassen, was er dann leichtgläubig weiter erzählte. Daher hatte Lambert auch in Hessen allerlei Widersacher, welche ihm dieses und jenes nachsagten. Am wahrsten hat aber Lambert wohl sich selbst mit den Worten characterisirt, die er in einem Briefe an Friedrich Myconius schreibt: „Nachdem ich Christum erkannt und er mich zu seinem Evangelium berufen, habe ich niemals begehrt, daß weder irgend Jemand noch ich selbst nach meinem Sinne sich richte; sondern ich wünschte und habe mit allen Kräften dahin gestrebt, daß ich und Andre durch sein Wort regiert würden, und es schmerzte mich, wenn ich oder Andre nach unsrer Weise wandelten anstatt nach Gottes Anweisung. Ich wollte über Niemanden herrschen; aber das wünschte und wollte ich, wünsche und will ich noch, daß Alle dem Worte Gottes gehorchten. Das Gegentheil habe ich bei mir und Anderen stets verabscheut. – Ich erinnere mich nicht, jemals Etwas als falsch verworfen oder als wahr behauptet zu haben, ohne völlige Gewißheit aus des Herrn Wort. – Ich hasse Niemanden, sondern es schmerzt mich und ich seufze, wenn ich sehe, daß Jemand die christliche Freiheit mißbraucht, oder daß fast keine Liebe mehr in der Welt, und daß Alles voll Verleumdung, Lüge, Neid und Schmähsucht ist; welches ich hasse. Was ich hier geschrieben, das habe ich nach der Wahrheit geschrieben, und so wie es sich verhält. Wer anders von mir denkt und urtheilt, der behauptet Dinge die nicht aus der Wahrheit sind.“

Heinrich Heppe in Marburg.

 

 

Lenchen Luther

Magdalena Luther

Am 4. Mai 1529, da Dr. Martin Luther an seinen Freund, den Pastor in Magdeburg, Nikolaus Amsdorf, einen Geschäftsbrief schrieb, saß Katharina von Bora, seine Ehefrau, wohlgemuth an seiner Seite, und drei Stunden darauf war sie glücklich von einer gesunden Tochter entbunden. Am Morgen des nächsten Tages meldete unter Lobpreisung Gottes der glückliche Vater dies frohe Ereigniß dem Freunde und bat ihn mit folgenden Worten Pathenstelle zu übernehmen: „Achtbarer, würdiger Herr! Gott, der Vater aller Gnaden, hat mir und meiner lieben Käthen eine junge Tochter gnädiglich bescheret: so bitte ich euer Würden um Gottes willen, wollet ein christlich Amt annehmen, und derselbigen armen Heidin christlicher Vater seyn, und ihr zu der heiligen Christenheit helfen durch das himmlische hochwürdige Sacrament der Taufe.“ Diese Tochter war Magdalene, deren Seele Gott wohlgefiel, und der Herr eilte sie hinwegzunehmen aus dem bösen Leben: denn sie hatte noch nicht das vierzehnte Jahr vollendet, als der Herr, der sie gegeben, sie durch einen sanften Tod zu sich nahm in den Himmel.

Es war aber mit Dr. Luthers Hausstand, in welchen Magdalene hinein geboren wurde, also beschaffen. Luther hatte aus Gottes Wort erkannt, daß es wider des Herrn und Schöpfers Willen sei, die Ehe zu verbieten, und daß die Klostergelübde, die aus Zwang oder in Unverstand übernommen werden, unrecht sind und das Gewissen nicht binden sollen, daß aber der Ehestand ein von Gott geordneter heiliger Stand ist, auf welchem Gottes Verheißung und Segen ruht. So hatte er die Gewissen der Priester, Mönche und Nonnen, schon als er noch auf der Wartburg saß, im Winter 1522 von den Gelübden der Ehelosigkeit gelöset, und Viele waren in die Ehe getreten, ohne daß Luther, der eines frühen Todes gewärtig war, für sich selbst daran dachte. Zuletzt war er mit dem Prior Eberhard Brisger noch allein in seinem Augustiner-Kloster und war entschlossen, da auch dieser sich zum Austritt bereitete, das unbewohnte und herrenlos gewordene Gebäude dem Landesherrn zu übergeben: einstweilen hatte er es zu einer Pilger-Herberge für fromme Männer gemacht, die um des Evangeliums willen vertrieben waren. Nach Friedrichs des Weisen Tode (5. Mai 1525) wurde ihm von dessen Bruder und Nachfolger Johann dem Beständigen das Kloster nebst dem Klostergarten geschenkt, ein weitläufiges, aber verfallenes Gebäude, an dem viel zu bauen und zu bessern war, und wovon nur etwa ein Drittheil bewohnt werden konnte. So wurde das Kloster zum Lutherhaus und am 13. Juni 1525 führte Luther Katharina von Bora als seine Ehefrau in dieses Haus ein. Hatte er doch kurz vorher am 2. Juni sogar den Kurfürsten Albrecht von Mainz schriftlich ermahnt, sich in den ehelichen Stand zu begeben, das Bisthum zum weltlichen Fürstenthum zu machen und den falschen Namen und Schein geistlichen Standes fallen und fahren zu lassen. Obwohl er den Ehestand mit nüchternen Augen ansieht und alles Kreuz und alle Nöthe desselben kennt, so ist er doch unerschöpflich in dessen Lobe; „aber,“ sagt er, „zu einem solchen Stande gehört eine fromme und gottesfürchtige Person.“ Dann aber bezeugt er, giebt es „keine lieblichere, freundlichere, noch holdseligere Verwandtniß, Gemeinschaft und Gesellschaft, denn eine gute Ehe, wenn Eheleute mit einander in Friede und Einigkeit leben. Wiederum ist auch nichts Bitterers, Schmerzlicheres, denn wenn das Band von einander getrennt und geschieden wird. Nach welchem ist der Kinder Tod, wenn die sterben, welches ich versucht und erfahren habe.“

Zweimal hat Luther den Tod von Kindern erfahren: als Magdalene starb, hatte er schon eine andere Tochter, Elisabeth mit Namen, verloren, deren Verlust aber nicht so wehe that, weil sie schon vor Vollendung des ersten Lebensjahres starb: indessen ist der Grabstein, der ihre Ruhestätte bezeichnet, auf dem alten Gottesacker in Wittenberg noch erhalten bis auf den heutigen Tag: neben ihr ruht eine Enkelin Melanchthons. Magdalene war den trauernden Aeltern wie zum Ersatz für Elisabeth geschenkt, genau neun Monate nach deren Tode, und sie war ein gar liebes frommes Kind, sanftmüthig und gehorsam. Sie war nun das nächste und dritthalb Jahre lang das einzige Kind neben dem erstgebornen Sohne Johannes und, wenn Luther auf Reisen war, vergaß er nicht leicht in den Briefen an seine Frau Käthe die beiden Kinder Hänschen und Lenchen nebst der Muhme Lene zu grüßen. Als er während des Augsburger Reichstags 1530, wo die Confession überreicht wurde, in Koburg verweilte, da schrieb er den bekannten lieblichen Brief von dem Kinder-Paradies, das er im Geiste gesehn, an das vierjährige Hänschen: Lenchen war noch zu jung, als daß er auch an sie damals hätte schreiben können: sie war nur wenig über ein Jahr alt.

Ob sie ihren Namen der Muhme Lene verdankt, die als Hausgenossin Luthers zuerst in einem Briefe vom 15. Februar 1530 erwähnt wird, wissen wir nicht. Diese vielgenannte Muhme Lene war ein verwaistes, aber schon erwachsenes Mädchen, eine Schwestertochter Luthers, die als Familienglied und wohl auch als Gehülfin der Hausfrau in seinem Hause blieb, bis sie sich am 27. November 1538 mit einem werthen Freunde Luthers, HI. Ambrosius Bernd (Bernhardus) aus Jüterbog, Amtsschösser in Wittenberg, verheirathete, der sie im Januar 1542 als Wittwe zurückließ. Dieser Ambrosius war ein frommer Mann, auf den Abschied aus dieser Welt vorbereitet, starb aber so sanft, daß er des Todes Bitterkeit nicht schmeckte: der Tod war ihm ein Schlaf geworden, und Luther gedachte seiner öfters mit dem Wunsche, so sanft und selig einzuschlummern, wie er. Um dieselbe Zeit, im Januar 1542, ging Luther viel mit Sterbensgedanken um und machte sein Testament, ohne zu ahnen, daß sein liebes Töchterlein ihm vorangehn und noch in demselben Jahre abscheiden sollte. Aber Gott hatte es so beschlossen.

Am Anfang Septembers war Magdalene tödtlich erkrankt: ihr Bruder Johannes, der Gespiele ihrer Kinderjahre, jetzt ein sechzehnjähriger Jüngling, war schon seit Jahren aus dem durch das Zuströmen vieler Besucher und Gäste vielbewegten Vaterhause zu dem wackern Freunde Marcus Grödel in Torgau entsandt worden und wußte nichts von der Schwester Krankheit. Da schrieb am 6. September Luther folgenden Brief:

„Gnade und Frieden, mein lieber Marcus Crödel! Bitte, laß meinen Sohn Johannes nicht wissen, was ich Dir schreibe. Meine Tochter Magdalene ist todtkrank und wird bald zum rechten Vater im Himmel gehen, wenn Gott es nicht anders versehn hat. Aber sie sehnt sich so nach dem Bruder, daß ich den Wagen schicken muß: sie liebten sich einander so sehr, vielleicht lebt sie wieder auf, wenn sie ihn sieht. Ich thue, was ich kann, daß mir nicht später mein Gewissen den Vorwurf macht, als hätte ich etwas versäumt. Laß ihn also, ohne ihm zu sagen warum, schnell mit diesem Wagen herfahren; er soll bald zurückkehren, sei es, daß sie im Herrn entschlafen, oder daß sie uns wiedergegeben wird. Lebe wohl in dem Herrn! Sage ihm nur, es wäre etwas Geheimes, das ihm hier eröffnet werden sollte. Uebrigens ist Alles gesund.“ Vierzehn Tage schwebte das liebe Kind zwischen Leben und Tod. In dieser Zeit sagte Luther einmal: „Ich habe sie sehr lieb und wollte sie gern behalten, wenn sie mir unser Herr Gott lassen wollte; aber ist es Dein Wille, lieber Gott, daß Du sie dahin nehmen willst, so will ich sie gerne bei Dir wissen.“ Und zu dem Kinde sprach er: „Magdalenchen, mein Töchterlein, Du bliebest gerne hier bei Deinem Vater, und zeuchst auch gern zu jenem Vater?“ „Ja, Herzensvater, wie Gott will!“ antwortete sie. Als sie in den letzten Zügen lag, fiel er in der Kammer vor dem Bette auf seine Kniee, weinte bitterlich und bat, daß sie Gott wolle erlösen. So entschlief sie am 20. September Abends nach neun Uhr. In der Nacht vor ihrem Tode hatte ihre Mutter einen Traum, daß zwei junge schöne Gesellen gekommen wären und hätten sie wollen zur Hochzeit führen. Als Philipp Melanchthon am andern Morgen von diesem Traume hörte, sagte er: „Die jungen Gesellen sind die lieben Engel, die werden kommen und diese Jungfrau in das Himmelreich, in die rechte Hochzeit führen.“ So ists geschehen: denn sie war ein rechtes Gnadenkind, wie Luther in Glaubenskraft und christlicher Ergebung, aber mit gebrochenem Vaterherzen am 23. September seinem Freunde Justus Jonas bezeugt. „Du wirst schon gehört haben, – schreibt er -, daß meine liebe Tochter Magdalene wiedergeboren ist zum ewigen Reiche Christi. Wohl sollten wir, ich und meine Frau, nun nichts als danken und uns freuen über einen so glücklichen Hingang und seliges Ende, wodurch sie der Macht des Fleisches, der Welt des Türken und des Teufels enthoben ist: aber die Kraft der natürlichen Liebe ist so groß, daß wir ohne Schluchzen und Herzensseufzer, ja ohne großes Herzbrechen das nicht können. Denn zu tief im Herzen sitzt uns die fromme, folgsame Tochter, ihre Blicke, ihre Worte, ihr ganzes Wesen, wie sie war im Leben und im Sterben, daß auch Christi Tod (und was ist doch im Vergleich mit diesem aller Menschen Tod!) das nicht ganz austreiben kann, wie es doch sollte. So danke Du Gott an unsrer Statt. Denn er hat wahrlich ein großes Gnadenwerk an uns gethan, daß er unser Fleisch so verklärt. Du weißest, wie so sanft und freundlich und gar liebreich sie war. Gelobt sei der Herr Jesus Christus, der sie berufen, auserwählt und herrlich gemacht hat. O daß doch mir und uns Allen solch ein Tod, oder vielmehr solch ein Leben zu Theil werden möge! Das ist das Einzige, was ich mir von Gott, dem Vater alles Trostes und aller Barmherzigkeit erbitte.“ Etwas später schreibt er an Magdalenens Pathen Amsdorf, dem er für einen Trostbrief dankt. „Ja, ich hatte sie lieb, nicht nur darum daß sie mein Fleisch, sondern weil sie von so sanftem gelassenem Gemüthe war, und so kindlich mir ergeben. Aber nun freue ich mich, daß sie bei ihrem Vater lebt in so süßem Schlummer bis an jenen Tag. Und wie unsre Zeit ist und immer schlimmer wird, so wünsche ich mir und den Meinigen Allen, auch Dir und allen den Unsrigen solch ein Stündlein, mit so viel Glauben, so sanfter Stille: das heißt wahrhaftig im Herrn entschlafen, den Tod nicht sehen noch schmecken, und auch nicht ein Haar von Todesangst empfinden.“ Mit ähnlichen Aeußerungen begleitete der Vater die verschiedenen traurigen Geschäfte, die zur Bestattung unsrer Todten gehören.

Als die Leiche in den Sarg gelegt ward, sprach er: „Du liebes Lenchen, wie wohl ist Dir geschehen,“ sah sie dann also liegend an und sprach weiter: „Ach, du liebes Lenchen, du wirst wieder auferstehn und leuchten, wie ein Stern, ja wie die Sonne.“ Da man ihr den Sarg zu kurz gemacht hatte, sprach er: „Das Bette ist ihr zu klein, weil sie nun gestorben ist“ (und der Körper im Tode sich gestreckt hatte), und fügte hinzu: „Ich bin ja fröhlich im Geist, aber nach dem Fleisch bin ich sehr traurig; das Fleisch will nicht heran, das Scheiden vexirt einen über die Maßen sehr. Wunder Ding ist es, wissen, daß sie gewiß im Frieden und ihr wohl ist, und doch noch so traurig seyn.“ Als das Volk zum Begräbniß kam und ihm nach Gebrauch sein Beileid bezeugte, erwiederte er: „Es soll euch lieb seyn, ich habe einen Heiligen gen Himmel geschickt, ja einen lebendigen Heiligen. O hätten wir einen solchen Tod, einen solchen Tod wollte ich auf diese Stunde annehmen.“ Da sagte Einer: „Ja, es ist wohl wahr, doch behält ein Jeder gern die Seinen.“ Luther antwortete: „Fleisch ist Fleisch, und Blut ist Blut! ich bin froh, daß sie hinüber ist; keine Traurigkeit ist da, denn die des Fleisches.“ Da man den Sarg mit Erde beschüttete, sprach er: „Es ist eine Auferstehung des Fleisches.“ Als sie von dem Begräbniß zurückkehrten: „Meine Tochter ist nun beschickt, beide an Leib und Seel. Wir Christen haben nichts zu klagen; wir wissen, daß es also seyn muß. Wir sind des ewigen Lebens aufs Allergewisseste: denn Gott, der es uns durch und um seines lieben Sohnes willen zugesagt hat, der kann ja nicht lügen.“ Da aber die Mutter weinte und schluchzte und sich nicht trösten konnte, sprach er zu ihr: „Liebe Käthe, bedenke doch, wo sie hinkommt. Sie kommt ja wohl! Aber Fleisch und Blut fleischet und blutet, thut, wie seine Art ist; der Geist lebt und ist willig. Die Kinder disputiren nicht; wie man es ihnen sagt, so gläuben sie es. Bei den Kindern ist Alles einfältig, sterben ohne Schmerz und Angst, ohne Disputiren, ohne Anfechtung des Todes, ohne Schmerzen am Leib, gleichwie sie entschlafen.“ Da aber sein Sohn Johannes weichlich seinem Schmerze nachhing, viel weinte und von Torgau aus klägliche Briefe schrieb, wodurch er der Mutter das Herz schwer machte, ermahnte er ihn mit väterlichem Ernst.

In diesem Familiengemälde ist nichts Ueberschwengliches, nichts Erkünsteltes, nichts von der Vergötterung des Fleisches, wie es oft die verfeinerte weltliche Bildung der neuesten Zeit uns sehen läßt, und nichts von der falschen Geistlichkeit, welche die von Gott geschaffenen Empfindungen der Natur unterdrückt, sondern das Leben aus Gott und das menschliche Herz stehen im rechten Verhältnisse zu einander in aller Einfalt und Wahrheit. Der Glaube hält das Fleisch durch die Kraft des Wortes Gottes im Zaum; die Natur aber verleugnet ihre Schwachheit nicht, die durch die Gnade geheiliget, aber nicht zerstört wird, sondern in erneuerter Unschuld rührend hervorleuchtet. Wer dieß gelesen und das Lutherhaus in Wittenberg besucht, der denke neben dem großen Reformator auch an seine frühvollendete Tochter Magdalene und an ihr kindliches Wort: „Ja, Herzensvater, wie Gott will.“

E. Schmieder in Wittenberg.

Evangelisches Jahrbuch für 1856 Herausgegeben von Ferdinand Piper Siebenter Jahrgang Berlin, Verlag von Wiegandt und Grieben 1862

 

Eitelhans Langenmantel

Langenmantel: Eitelhans L. gehörte dem berühmten Augsburger Patriziergeschlecht der Langenmantel zum Sparren an und ist durch seinen Namen wie durch seinen Märtyrertod, den er als Wiedertäufer erlitt, bekannt geworden. Man hat ihn in der späteren Litteratur zu den vornehmsten Vertretern des Täuferthums gezählt. Diese Anschauung trifft indessen nicht zu, da er weder auf die Lehrentwickelung dieser Partei, noch auf ihre äußeren Schicksale von erheblichem Einfluß gewesen ist. Es fehlte ihm sowohl die theologische wie jede gelehrte Bildung. Er hatte den größten Theil seines Lebens ein Landsknechtsleben geführt. Nachdem er im J. 1525 in die Heimath zurückgekehrt war, begann er sich an den theologischen Kämpfen zu betheiligen, welche seine Vaterstadt damals auf das heftigste bewegten. Er griff selbst zur Feder ohne den Schwierigkeiten der Aufgabe ganz gewachsen zu sein. Die Gedanken, denen er hier Ausdruck giebt, sind durchweg nicht sein geistiges Eigenthum und sie werden von ihm in einer Form vorgetragen, welche die Unbehülflichkeit des Autors deutlich verräth. Da sich in Augsburg der litterarische Streit in erster Linie um die Lehre vom Altar-Sakrament drehte, so gelten seine ersten Schriften fast ausschließlich diesem Thema. Er verfocht dabei zunächst den Standpunkt Zwingli’s und that sich hervor durch eine entschiedene Bekämpfung Luther’s. In diese erste Periode Langenmantel’s fallen drei kleine Schriften 1) „Diß ist ain anzayg: ainem meinen, etwan vertrawten gesellen über seine harte Widerpart, des Sacraments und anders betreffend E. H. L. (s. l. c. a.)“; 2) „Ein kurtzer Begriff Von Alten und Newen Papisten, auch von den rechten und waren Christen“, 1527 s. l.; 3) „Ayn kurtzer anzayg, wie Do. Martin Luther ain zeyt hör hatt etliche schriften lassen außgeen vom Sacrament, die doch stracks [670] wider ainander, wie wird dann sein und seiner anhenger Reich bestehen. Matthei 12. Eitelhans Langenmantel“. Die Vorrede ist datirt vom 28. Januar 1527. Es ist in diesen kleinen Büchern von spezifisch täuferischen Ideen wenig zu bemerken; auf die wichtigsten Fragen des Täuferthums wird mit keiner Silbe Bezug genommen. Es sind schwache Reproductionen Zwinglischer Gedanken über das Abendmahl, zum Theil mit heftigen Angriffen auf Luther. Im Laufe des Jahres 1527 verließ er mit vielen Andern den Standpunkt der Zwingli’schen Opposition und trat ebenso wie Hätzer unter dem Einfluß Hans Denck’s in das Lager der Täufer über. Er legte seine neuen Ueberzeugungen in seiner Hauptschrift nieder: „Ein Göttlich und gründlich offenbarung: von den wahrhafftigen Wiederteufern: mit Göttlicher warhait angezaigt“, 1527. Der Name des Verfassers war zwar nicht genannt, doch kannte man ihn in Augsburg bald und in Rücksicht auf seine Stellung entschlossen sich die „Diener des Evangelii in Augsburg“ eine Widerlegungsschrift zu publiciren, welche am 6. Septbr. 1527 mit dem Titel: „Wider den neuen Taufforden, Notwendige Warnung an alle Christgläubigen“ herausgegeben wurde. Inhaltlich ist Langenmantel’s Büchlein lediglich eine Wiederholung Denck’scher Ideen und die Widerlegungsschrift weist im Eingang mit deutlicher Bezugnahme auf diejenigen hin, welche aus „Einfältigkeit in den Tauforden gekommen seien“, während als die öffentlichen Verführer Hans Denck und Balthasar Friedberger (Hubmeier) bezeichnet werden. Wie tief übrigens der Umschwung war, der sich in Langenmantel’s ganzer Denkweise vollzogen hatte, ergiebt eine Vergleichung des Charakters und Tons der früheren und späteren Publicationen auf das evidenteste. Obwol die letzte Schrift viel milder und versöhnlicher war als die früheren, so wurde L. dennoch wenige Monate nach ihrem Erscheinen von dem Magistrate der Stadt zu lebenslänglicher Verbannung verurtheilt. Er begab sich auf sein Gut Leutershofen. Hier wurde er von dem Hauptmann des schwäbischen Bundes aufgegriffen, nach Weißenhorn geschleppt und im Mai 1528 enthauptet. Nachdem 5 Priester 5 Tage lang ununterbrochen mit ihm Bekehrungsversuche gemacht hatten, soll er nach dem Bericht eines katholischen Chronisten kurz vor der Hinrichtung sich wirklich bekehrt haben.

Clementis Sender, Monachi ad S. Udalricum Chron. August. (Hs. der Wolfenbütteler Bibl.) Veesenmeyer, Beiträge zur Gesch. der Litteratur im Reformationszeitalter, Ulm 1792, S.51 ff. – Uhlhorn, Urbanus Rhegius im Abendmahlsstreit (Jahrb. f. deutsche Theol. V, 1860. S3 451. – Gassari, Annales ad a. 1527. – Fr. Roth, Augsburgs Reformations-Geschichte, München 1881. S.205-227. – Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied, Bd. II, S.457.

 

Raimundus Lullus

Glaubensbote unter den Saracenen.

Im Jahre 1229 war Jakob der Eroberer, König von Aragonien, von der Südküste Spaniens mit einer Kriegsflotte ausgelaufen, um die balearischen Inseln Majorka und Minorka nebst der kleineren Insel Yvica den Mauren abzugewinnen, und schon im Anfang des folgenden Jahres hatte er Majorka in Besitz genommen. Er setzte den Kampf fort und eroberte 1232 Minorka, 1234 Yvica und endlich 1238 auch die Stadt und das Reich Valencia. Unter seinem Heergefolge befand sich der tapfere aragonische Ritter Raimon Lull, aus Barcellona gebürtig, der mit einer katalonischen Gräfin aus der Familie Herili vermählt war. Sein König belohnte ihn mit Besitzungen auf der eroberten Insel Majorka und, nachdem diese etwas beruhigt war, ließ er seine Gemahlin zu sich kommen und sie wohnte bei ihm etwa seit dem Jahre 1233.

Aus dieser Ehe ist um das Jahr 1235 der seinem Vater gleichnamige Sohn entsprossen, der in der Geschichte der christlichen Kirche und Wissenschaft unter dem latinisirten Namen Raimundus Lullus (oder auch Lullius) berühmt geworden. Der junge Edelmann wuchs im Genuß des Reichthums, in der Luft des Hofes, unter ritterlichen Uebungen und unter den frommen Eindrücken des christlichen Gottesdienstes auf. Das Hauptelement seiner Jugendbildung war aber nicht Religion, nicht Wissenschaft, sondern der ritterliche Geist der provencalischen Poesie, der auch in seinem Stammland Katalonien herrschte und von dort aus auf die balearischen Inseln überging, wo nach und nach auch die gothische Baukunst, mit maurischen Elementen vermischt, herrliche Kirchen entstehen ließ, deren Ueberreste jetzt noch Bewunderung erregen. In seinem dreißigsten Jahre war der junge Ritter Seneschall seines Königs, dasselbe, was man in Deutschland Truchseß nannte, war verheirathet, hatte Kinder, beschäftigte sich aber gern mit der Dichtung katalonischer Minnelieder, wozu er häufig die schönen kühlen Nächte der anmuthigen Insel benutzte. Die Liebe des gekreuzigten Heilandes, die Franz von Assissi durch Wort und Wandel so mächtig in Italien und allen westlichen Küstenländern erweckt hatte, schlummerte noch in seinem Herzen.

Aber seine Stunde kam. Als er in einer Nacht des Jahres 1265 dichtend mit Bildern irdischer Minne beschäftigt war, erschien überraschend seinem Geiste das Bild des Gekreuzigten und ließ als eine göttliche Mahnung einen unauslöschlichen Eindruck bei ihm zurück. Doch ergab er sich nicht sogleich der heiligen Macht, die so unbequem seine Neigungen und Gewohnheiten bedrohte. Er versuchte in der nächsten Zeit mehrmals bei nächtlicher Weile sein Minnelied zu vollenden, aber jedesmal stellte sich ihm wieder der Gekreuzigte vor Augen. Als sich dies zum vierten oder fünften Male wiederholte, da siegte sein Gewissen, und er wurde inne, der Herr wolle ihm sagen, er solle die Eitelkeit der Welt verlassen und sich ganz und gar in den Dienst Christi begeben. Unter heftigen Seelenkämpfen bereitete sich ein großer Entschluß in seinem Geiste vor, indem er erwog, welches wohl das Liebeswerk sein möchte, das dem Herrn am meisten gefallen könnte. Er fand nichts Besseres, als Leib und Leben daran zu setzen, um die Saracenen, zunächst die Mauren im benachbarten Afrika, von dem Irrthum des Islam und von der Wahrheit des christlichen Glaubens so zu überzeugen, daß sie innerlich gedrungen würden sich zu Christo zu bekennen. Dies zu vollbringen, das schien ihm die würdigste Aufgabe seines Lebens, um Christum zu verherrlichen. Nicht leicht wurde ihm das Opfer, welches die Ausführung eines so kühnen Vorsatzes von ihm erheischte; drei Monate gingen noch dahin, ehe er den entscheidenden Schritt wagte. Als aber am 4. October 1265, am Tage des h. Franz von Assisi, ein Bischof in einer Franziskanerkirche auf Majorka mit hinreißender Beredtsamkeit die Liebe des Heiligen pries, der Alles verlassen habe, um Christo nachzufolgen, da beschloß er, nicht hinter diesem Vorbild zurückzubleiben, verkaufte seine Güter bis auf ein mäßiges Erbe, das er zum Unterhalt seiner Gattin und seiner Kinder bestimmte, vertauschte seine köstlichen Kleider mit einem einfachen Rock von grobem Zeug und verließ seine Heimath. Drei Dinge hatte er beschlossen zur Ehre Gottes auszuführen: erstlich die Kenntniß der arabischen Sprache zur Bekehrung der Saracenen nicht nur selbst zu gewinnen, sondern auch in der Christenheit zu verbreiten, zweitens ein Buch für die Vertheidigung und Verherrlichung der christlichen Wahrheit zu schreiben, und endlich sein Leben für das Zeugniß von Christo zu opfern. Er wanderte nach St. Jakob zu Compostella und an andre heilige Stätten Spaniens, um überall die Fürbitten der Heiligen im Himmel und der Frommen auf Erden für sein großes Vorhaben zu gewinnen, das so ganz mit dem christlichen Volksgeiste seiner Nation in jener Zeit übereinstimmte.

Neun Jahre (also bis 1274) widmete er ununterbrochen den Vorstudien für das Unternehmen, das er als den göttlichen Auftrag für sein noch übriges Leben erkannte. Er begann damit, daß er sich der Kenntniß der arabischen Sprache und Literatur zu bemächtigen suchte, indem er einen Sclaven, einen geborenen Saracenen, zu seinem Lehrmeister annahm. Am Ende dieser Lernzeit trug es sich zu, daß jener Saracene in der Abwesenheit seines Herrn den Namen Christi lästerte, wofür Raimund, dem dies hinterbracht wurde, denselben in heiligem Eifer hart züchtigte. Der Sclave sann auf Rache, erspähte eine einsame Stunde, überfiel ihn und stieß mit dem rasenden Schrei: „du bist des Todes!“ ein Messer in seine Brust. Raimund trug eine durch Gottes Gnade nicht unheilbare Wunde davon, überwältigte aber den Mörder und schlug ihn in Bande. Er wußte nun nicht, was er mit dem Verbrecher anfangen sollte: tödten wollte er ihn nicht, weil er sein Lehrmeister gewesen; freilassen durfte er ihn auch nicht, weil er von seiner Rachgier neuer Mordanfälle gewärtig sein mußte. Dreimal begab er sich in eine benachbarte Abtei, um daselbst Gott um Erleuchtung zu bitten: aber vergeblich. Als er das dritte Mal traurig heimkehrte, vernahm er, daß der Mensch den Strick, mit welchem er gebunden war, gebraucht hatte, um sich selbst zu erdrosseln, und sah darin eine von Gott für ihn bereitete Auskunft, um seinen Feind unschädlich zu machen, ohne daß er seine Hände mit dessen Blut zu beflecken genöthigt war.

Nach Vollendung der Vorstudien wollte Raimund zur Ausführung seiner Pläne schreiten, vermißte aber nun erst recht eine wissenschaftliche Grundlage, auf welche er im Kampfe gegen den Islam eine siegreiche Wirksamkeit bauen könnte. Es war damals gerade die höchste Blüthenzeit der auf Aristoteles gebauten wissenschaftlichen Theologie des Mittelalters, die Zeit, wo die Dominikaner Thomas von Aquino und Albert der Große, so wie der Franziskaner Bonaventura als Lichter der Kirche strahlten. Aber die Wissenschaft dieser Männer setzte den kirchlichen Glauben der Christenheit voraus und war nicht geeignet die Feinde der Wahrheit zu überführen, welche die Grundlehren von der Dreieinigkeit, von der Gottheit Christi und von der Versöhnung durch sein Blut leugneten. Um diese zu überzeugen mußte er sich mit ihnen auf den neutralen Boden der allgemeinen Wissenschaft des menschlichen Denkens, der Logik, stellen. Gerade auf diesem Gebiete aber waren die Priester und Lehrer der Saracenen damals ausgezeichnet geschult; durch sie war ja die Kenntniß des Aristoteles erst neu zu den Christen gekommen, und der arabische Philosoph Averroes genoß auch unter den christlichen Denkern das höchste Ansehn. Die Schüler des Averroes mit ihren eigenen Waffen auf dem Gebiet der allgemeinen Wissenschaft zu schlagen, das war die Aufgabe, die Raimund zu lösen hatte. Dies erkannte er wohl: aber den Weg, wie dies geschehen sollte, zu entdecken, darum handelte es sich, und dies war gerade für ihn um so schwieriger, da er in der Stille wohl viel gedacht hatte, aber in der herrschenden Scholastik seines Zeitalters nicht regelmäßig geschult war. Er nahm seine Zuflucht zu Gott: er begab sich in die Einsamkeit auf den seiner Heimath benachbarten Berg de Randa und versenkte sich dort in Gebet und Betrachtung. Nach acht Tagen kam ihm daselbst plötzlich, wie er nicht zweifelte durch göttliche Erleuchtung, die Idee zu einem Buche, das den Schlüssel zu aller Wissenschaft und zu einer unüberwindlichen Kunst der Beweisführung liefern sollte. Sogleich ging er ans Werk und verfaßte den Entwurf dieses Buchs in der nahe gelegenen Abtei de Regali, begab sich dann wieder auf den Berg de Randa, richtete sich hier eine Einsiedelei ein und vollendete in vier bis fünf Monaten die Schrift, die er zuerst Hauptwissenschaft (Ars major), später die allgemeine Wissenschaft (Ars generalis) benannte. Er berichtet, daß auf jenem Berge einst ein Jüngling, lieblich von Angesicht, ein Schäfer, ihn besucht habe, der in einer Stunde ihm von göttlichen Dingen mehr sagte, als ein Anderer in zwei Tagen hätte aussprechen können. Derselbe küßte und segnete ihn und seine Handschriften und erquickte ihn mit wahrhaft prophetischen Verheißungen. Diese Erzählung ist ganz dem Charakter jener Zeit entsprechend, wo vielfache apokalyptische Hoffnungen und prophetische Gesichte auch unter frommen Laien die Gemüther erregten. Auch sind mancherlei Spuren vorhanden, daß unser katalonischer Ritter und Minnesänger, der alles verlassen hatte, um Christo die Seelen der Ungläubigen zu gewinnen, nicht nur unter den Klosterbrüdern, sondern auch unter dem Volke seines Vaterlands eines großen Ansehns als Heiliger genoß und wenigstens mittelbar einen bedeutenden Einfluß auf die Gesinnung und Bildung des südlichen Spaniens ausübte. Als ein geistlicher Nationalheld Kataloniens trat er in die öffentliche Wirksamkeit der allgemeinen wissenschaftlich gebildeten Kirche des Abendlandes ein, wo sein originelles Vorhaben und sein origineller wissenschaftlicher Versuch, der außerhalb der gewohnten Bahnen lag, theils Bewunderung, theils aber auch Kopfschütteln erregte und ihn Vielen als einen Sonderling erscheinen ließ, dem man nicht recht trauen dürfte. Diese zweifelhafte Stellung nimmt er noch heute bei den Philosophen als Philosoph, bei den Theologen der römischen Kirche als Scholastiker ein, und seine zahlreichen Schriften, in denen unverkennbar viele Geistesblitze und tiefgedachte Aussprüche sich finden, sind noch nicht vollständig gesammelt, noch weniger von irgend einem Gelehrten allseitig und gründlich studirt. Die Sammlung seiner Werke von dem römischen Theologen Salzinger in zehn Quartbänden von 1721 bis 1742 zu Mainz erschienen, ist selten, und zwei Bände derselben werden in allen Bibliotheken vermißt, vermuthlich, weil der Sammler aus Furcht, daß sie verurtheilt werden würden, gar nicht gewagt hat sie drucken zu lassen. Es steht fest, daß Raimund, wie sein Zeitgenosse der große englische Franziskaner Roger Baco, einen edeln Durst nach Erkenntniß der Wahrheit hatte: aber nicht so scharfsichtig, wie dieser, traute er den unzureichenden Mitteln zur Auffindung der göttlichen Geheimnisse mehr zu, als sie leisten können, und hat sich auch in die alchymistische Naturforschung seiner Zeit eingelassen, doch ohne daß man der Aechtheit der Schriften dieser Art, die ihm zugeschrieben werden, ganz sicher ist. Edel und ächt christlich ist seine Vertheidigung des Forschergeistes gegen den Einwand, daß der Glaube aufhöre ein Verdienst zu sein, wenn er nicht eine That des blinden Gehorsams bliebe, sondern eine Wirkung der Vernunft-Erkenntniß wäre. „Nicht auf des Menschen Verdienst und Ehre“ – entgegnete er – „sondern allein auf Gottes Verherrlichung müsse man sein Augenmerk richten.“ Und wenn man weiter einwandte, der Glaube würde erkalten, wenn er zum bloßen Wissen, das der Mensch selbst beherrsche, herabsänke, so erwiderte er: das würde nie geschehen. Denn jede höhere Stufe des Wissens wiese auf eine noch höhere Stufe und ein noch höheres Gut hin, welches nur der Glaube besitze, und so steige man auf der Leiter des Wissens zu immer höheren Problemen des Geistes hinauf, also daß der Glaube nur desto inbrünstiger werde, je weiter der Forscher seinen Geheimnissen nachspüre.

Zu seiner neu erfundenen Wissenschaftslehre hatte Raimund großes Vertrauen, und da er sie als eine besondre Gabe göttlicher Offenbarung ansah, so rechnete er auf allgemeine Anerkennung und glaubte der Welt einen großen Dienst zu erweisen, wenn er ihr überall Einfluß verschaffte. Da er bald ein nicht geringes Aufsehn erregte, so forderte sein König, der Sohn des Eroberers Jakob, der bei Theilung des väterlichen Reichs (1276) nicht Aragonien und Katalonien, sondern nur die balearischen Inseln erhalten hatte und als König dieses abgesonderten Staates Jakob J. genannt wurde, ihn an seinen Hof, der damals in Montpellier war, um seine Schriften einer Prüfung der Gelehrten dieser Stadt zu unterwerfen, die sie rechtgläubig fanden. Dort schrieb er ein neues Buch, die Beweiskunst, der nach und nach eine Menge ähnlicher Schriften folgte, in welchen er seine Methode zu empfehlen und handlich zu machen suchte. Als er sich schon gehörig ausgerüstet glaubte, begab er sich nach Paris, um durch Vorlesungen Anhänger für sein System zu gewinnen und sich unter den Schultheologen Geltung zu verschaffen. Besonders wichtig aber war ihm die Anwendung seiner Methode für den Hauptzweck, das Christenthum gegen den Islam zu vertheidigen und die Ueberzeugung der gelehrten Mohammedaner durch Kraft der Beweise zu erzwingen. Und dabei fehlt es ihm nicht an tiefsinnigen Gedanken, die wenigstens zum Theil ihm eigenthümlich, oder, wenn auch von Andern vor ihm gedacht, doch ihm nicht durch Ueberlieferung zugegangen sondern in ihm selbständig erzeugt sind. Werthvoller aber ist sein großer Zweck, das Menschengeschlecht dadurch zu adeln, daß durch seine Methode jedes Volk und jeder einzelne Mensch erzogen würde, über Gott, Natur und Menschen so zu denken, daß ihm durch die Vernunft die Wahrheit und insbesondere die höchste, die christliche Wahrheit als Leitstern des Lebens einleuchtete.

Bei diesem allgemeinen Zweck ließ er aber seinen besondern Beruf, den Saracenen dieses Licht der Wahrheit zugänglich zu machen, nicht aus den Augen. Bei seinem König Jakob J. gelang es ihm, denselben zu bewegen, daß er auf der Insel Majorka ein Franziskaner-Kloster stiftete, dessen Mönche durch Erlernung der arabischen Sprache zur Mission unter die Saracenen geschickt werden sollten. Darauf ging er nach Rom, um bei dem Papst Honorius IV. auszuwirken, daß ähnliche Stiftungen in größerem Maaßstabe an verschiedenen Orten gegründet werden möchten. Als er aber nach Rom kam, fand er den päpstlichen Stuhl erledigt (1287) und seine späteren Bemühungen in dieser Richtung bei Päpsten, Königen und Kirchenversammlungen hatten lange nur einen sehr spärlichen oder gar keinen Erfolg. Von Rom begab er sich nach Genua, um nach Afrika überzusetzen und persönlich seine Mission an den Saracenen zu beginnen. Schon waren seine Geräthschaften und Bücher auf ein genuesisches Schiff gebracht, das nach Tunis absegeln sollte: die ganze Stadt war seines Namens voll und von seinem hochherzigen Unternehmen bewegt: da stellten sich die Qualen eines grausamen Todes oder einer lebenslänglichen Gefangenschaft ihm vor das Auge und er wurde von einer so großen Angst und Verzagtheit ergriffen, daß er die Reise aufgab und sein Gepäck wieder ausladen ließ. Das Schiff segelte ohne ihn ab: sofort aber peinigte ihn nun sein Gewissen, daß er der göttlichen Sendung ungehorsam geworden war und den Gläubigen ein solches Aergerniß gegeben: er verfiel in eine langwierige schwere Krankheit und mußte am Leibe wie an der Seele große Schmerzen erdulden. In diesem Zustande vernahm er, daß abermals im Hafen ein Schiff zur Abfahrt nach Tunis bereit liege, und, wie elend er auch war, ließ er doch sich mit seinen Büchern auf das Schiff tragen, um die gefährliche Reise zu beginnen. Seine Freunde aber, die seinen Zustand kannten, gaben nicht zu, daß er abfuhr, und ließen ihn zurückholen. Jahre vergingen nun und seine Krankheit besserte sich nicht. Aber als er im Jahre 1291 zum dritten Male von einem Schiffe hörte, das von Genua aus nach Tunis segeln sollte, ließ er sich nicht abhalten und wurde krank auf das Fahrzeug getragen, um seinen Beruf zu erfüllen. Das Schiff ging ab: seine Seele wurde heiter, bald auch sein Leib völlig gesund, nachdem der Druck, der auf seinem Gewissen lastete, gewichen war.

In Tunis angelangt versammelte er die Gelehrten und erklärte ihnen, er sei gekommen, um mit ihnen zu untersuchen, ob die Gründe, mit welchen sie den Islam vertheidigten, oder diejenigen, welche die Wahrheit des christlichen Glaubens bewiesen, stärker wären, und wenn sich bei der Vergleichung herausstellen würde, daß die Lehre Muhammeds besser begründet sei, als die Lehre Christi, zu welcher er sich bekenne, so würde er zu ihrem Glauben übertreten. Dadurch ließen sich viele Gelehrte herbeilocken, in der Hoffnung, daß sie ihn überzeugen und zum Islam bekehren könnten. Nachdem die Gründe für den Islam von ihm widerlegt waren, hub er an: „Jeder weise Mann müsse den Glauben als den wahren anerkennen, welcher Gott die größte Vollkommenheit beilege, die einzelnen Eigenschaften Gottes am richtigsten und vollständigsten zu bestimmen wisse und die Ausgleichung und Uebereinstimmung unter denselben am Besten nachweise. Er werde diese Probe leisten und darthun, daß ohne die christliche Erkenntniß von der Dreieinigkeit und der Menschwerdung Gottes man weder von Gottes Vollkommenheit, noch von der Fülle der göttlichen Eigenschaften, noch von deren Harmonie unter einander einen befriedigenden Begriff gewinnen könne: somit werde er ihnen beweisen, daß der christliche Glaube allein allen Anforderungen der Vernunft entspreche.“ Er führte nun aus, daß der Begriff von Gott, den der Islam enthalte, unvollständig sei, indem darin zwar Gottes Weisheit und Willensmacht erkannt werde, aber nicht seine Güte und Größe, die nur aus der Dreieinigkeit und Menschwerdung Gottes völlig hervorleuchte. Da seine Worte nicht ohne Wirkung blieben und seine Absicht offenbar wurde, die muhammedanischen Gelehrten ihrem Glauben untreu zu machen, so zeigte dies Einer der Angesehensten unter ihnen ihrem König an und bat denselben, wegen dieses Verbrechens dem Fremdling den Kopf abschlagen zu lassen. Raimund wurde eingekerkert und schon sollte die Todesstrafe an ihm vollzogen werden, als ein Anderer für ihn bat und dem König vorstellte, eine solche Grausamkeit gegen einen gelehrten und achtungswerthen Mann würde seinem Reiche keine Ehre machen, da, wenn ein Muhammedaner in ähnlicher Weise muthig unter die Christen ginge, um sie zum Islam zu bekehren, man mit Recht eine solche Aufopferung an ihm rühmen würde: der Christ, der dies für seinen Glauben thue, sei ebenfalls ehrenwerth. Hierauf begnadigte der König den Gefangenen, gebot ihm aber, mit nächster Schiffsgelegenheit das Land zu verlassen. Als er aus dem Gefängniß trat, wurde er vom Pöbel gemißhandelt und dann sofort auf das genuesische Schiff, in welchem er gekommen, zurückgebracht, mit Androhung der Steinigung, wenn er sich jemals wieder auf dem Gebiet von Tunis blicken lasse. Bald fuhr das Schiff ab: er aber hatte sich heimlich auf ein anderes begeben, das noch im Hafen lag, und wartete auf eine Gelegenheit, unerkannt das Land zu besteigen, um seine Bekehrungsversuche fortzusetzen. Es geschah dies im September 1292 und in dieser Zeit arbeitete er auf dem Schiffe eine allgemeine Uebersichtstafel von Begriffen aus, die auf alle Wissenschaften anwendbar sein sollte. Nachdem er drei Wochen vergeblich gewartet, trug ihn jenes Fahrzeug nach Neapel, wo er nun einige Jahre verweilte und Vorlesungen über sein System hielt. Als der wegen seiner Frömmigkeit berühmte Einsiedler von Abruzzo Coelestin V. Papst wurde, hoffte er von diesem Unterstützung für seine Missionspläne, sah sich aber ebenso von diesem frommen, aber thatlosen Papste (1294), als von dessen thatkräftigem, jedoch nicht allzu frommem Nachfolger Bonifacius VIII. (1295) in seinen Erwartungen getäuscht. Im 1.1296 schrieb er in Rom seine „Beweisführung für die Lehren des christlichen Glaubens aus unwiderleglichen Gründen der Vernunft“ (necessaria demonstratio articulorum fidei) und schloß diese Schrift am heiligen Abend vor dem Geburtsfest Johannis des Täufers mit der kühnen Vergleichung: „Wie dies Buch vollendet worden an dem Vorabend des Johannes, welcher der Herold des Lichts war und mit dem Finger auf den hinwies, der das wahre Licht ist: so gefällt es dem Herrn Jesus Christus, ein neues Licht für die Welt anzuzünden, das den Ungläubigen leuchten möge zu ihrer Bekehrung, auf daß sie mit uns dem Herrn Jesus Christus entgegen gehn, welchem sei Ehre und Preis in Ewigkeit.“

Er war bereits in den sechziger Jahren, als er Rom mit gescheiterten Hoffnungen, aber mit ungebrochenem Eifer verließ, um zehn Jahre lang in wissenschaftlicher und praktischer Thätigkeit für die Ausführung seiner menschenfreundlichen christlichen Ideen zu wirken, und wir würden ihm die reinste Bewunderung zollen können, wenn er nicht die eignen phantastischen und abenteuerlichen Gedanken zu auffallend mit göttlichen Aufträgen und Eingebungen verwechselt hätte.

Von Rom ging er zuerst nach Genua, wo er mehrere Bücher schrieb, von Genua mit manchen Umwegen nach Majorka, wo er Saracenen und Juden zu bekehren suchte, und näherte sich auch dem König Sanzio, Nachfolger von Jakob I., um ihn durch Gespräche für neue Entwürfe zu gewinnen, doch ohne besondern Erfolg. Der König wies ihn nach Paris und dort hielt er sich längere Zeit auf, um Vorträge über sein System zu halten und Bücher zu schreiben. Auch bei dem König von Frankreich Philipp (IV.) dem Schönen versuchte er für seine geistlichen Pläne Eingang zu finden, konnte aber bei diesem weltklugen Fürsten kein Gehör finden. Nun zog er sich wieder nach Majorka zurück, um seine Bekehrungsversuche fortzusetzen. Als er aber von neuen Bewegungen im Orient hörte, öffneten sich seiner Phantasie wieder große Aussichten, dort die Schismatiker, die Nestorianer, Monophysiten und andre Secten in Armenien, in Syrien, in Aegypten zur Einheit der Kirche zurückzuführen. Er schiffte sich nach Cypern ein und wendete sich an den König von Cypern wie früher an den König von Frankreich: aber auch hier fand er keine Unterstützung. Nun versuchte er allerlei auf eigene Hand und setzte sich großen Gefahren aus, nur von einem Cleriker und einem Diener begleitet. Er wurde gefährlich krank und hatte jene Beiden in Verdacht, daß sie ihn vergiftet hätten: ohne sie anderweitig zu bestrafen, jagte er sie fort; für seinen kranken Leib aber fand er Aufnahme und Heilung in dem Hause eines barmherzigen Meisters des Tempelordens. Nach seiner Lederherstellung ging er zu Schiffe und begab sich nach Genua, von Genua nach Paris, von Paris nach Lyon, und überall setzte er, wiewohl nun ein siebzigjähriger Greis, rüstig seine frühere Thätigkeit für seine christlichen Ideen und Pläne fort. Von Lyon aus knüpfte er Verbindungen mit dem Papst Clemens V. an, der in Frankreich residirte und vom Jahre 1309 an seinen Sitz nach Avignon verlegte, und bewog diesen zu der Verordnung, daß an verschiedenen Orten, als in Paris, Salamanca, Oxford, Lehrer der griechischen, hebräischen, arabischen, chaldäischen Sprache angestellt werden sollten, um Männer zu erziehen, die zur Ausbreitung der Kirche unter Schismatikern und Ungläubigen fähig wären. Dies war das erste Samenkorn der Pflanzschule zur Ausbreitung des Glaubens, welches mehr als dreihundert Jahre später in Rom gegründet worden ist und mit einem Einfluß, der sich weithin in die Länder des Orients erstreckt, heutigen Tags noch besteht.

Im J. 1306 war Raimund wieder in Majorka, hatte aber nicht lange Ruhe, sondern ersah sich eine Gelegenheit, um nach Afrika überzusetzen und stieg in Bugia ans Land, in einer damals volkreichen Stadt, die der Sitz eines muhammedanischen Reichs und eines ausgezeichneten Oberpriesters des Islam war. Auf einem großen Platze der Stadt trat er auf und verkündigte laut: „Die Lehre Christi ist wahr, heilig und Gott wohlgefällig, die Lehre der Saracenen ist falsch und irrig, und dies bin ich bereit zu beweisen.“ Hierzu fügte er dann in arabischer Sprache Worte der Ermahnung, die das umstehende Volk so in Wuth versetzten, daß sie auf ihn eindrangen und ihn steinigen wollten. Der Oberpriester hört davon und läßt den Fremdling vor sich führen. „Wie konntest du so thöricht sein,“ ruft er ihm zu, „daß du dich untersingest die Lehre Muhammeds durch Christi Lehre anzugreifen! weißt du nicht, daß Jeder, der sich dessen unterwindet, sterben muß?“ Raimund erwiderte: „Ein wahrer Diener Christi, der die Wahrheit des christlichen Glaubens erkannt hat, darf den leiblichen Tod nicht scheuen, wo er die Gnade des geistlichen Lebens für die Seelen von Gläubiggewordenen erlangen kann.“ Der Oberpriester, ein wissenschaftlich gebildeter Mann, ist neugierig zu hören, welche Beweise Raimund gegen die Lehre des Muhammed und gegen die Philosophie des Averroes, die zum Pantheismus hinneigt, vorbringen kann, und wird durch die damals neuen Beweise, die Raimund aus dem Begriffe der Güte Gottes führt, überrascht. Er schützt ihn vor der Volkswuth und läßt ihn erst in ein hartes, dann auf Fürbitte genuesischer und katalonischer Kaufleute in ein milderes, zuletzt wieder in ein sehr ekelhaftes Gefängniß setzen. Darüber vergeht ein halbes Jahr. In der Zwischenzeit wird er öfters zum Verhör vor das Collegium der gelehrten Priester geführt, auf dem Wege dahin mit Faust- und Stockschlägen gemißhandelt und sein langer grauer Bart zerzaust. Man fürchtet seine schlagfertigen Beweise und sucht ihn durch Versprechung von Ehren und Reichthümern zum Abfall zu verführen. Aber er antwortet: „Wenn ihr Christen werden wollt, so verheiße ich euch ganz andre Reichthümer und dazu das ewige Leben.“ Zuletzt wird ausgemacht, daß beide Theile ein Buch schreiben sollen, damit jeder die Gründe für seinen Glauben genau auseinandersetze. Dies wird, ohne Zweifel auf den Rath des Oberpriesters, von dem König, der außerhalb Bugia seine Residenz hat, verhindert: dieser gebietet ihn zu entlassen und des Landes zu verweisen.

Das Schiff, welches er besteigen mußte, gerieth in einen heftigen Sturm und strandete, als es zehn Millien von Pisa entfernt war. Mehrere Reisende fanden in den Wellen ihren Tod: Andere retteten das nackte Leben, unter diesen Raimund, der alle seine Bücher und sein Gepäck verlor. In Pisa wurde er freundlich aufgenommen und sogleich ging er wieder ans Werk, die letzte Hand an seine allgemeine Wissenschaftslehre zu legen und andre Schriften abzufassen. Auch entwarf er den Plan zu einer Vereinigung aller Ritterorden, um mit neuer Energie die Eroberung des gelobten Landes zu betreiben. Er gewann dafür fromme Frauen und Edelleute und brachte eine Beisteuer von 30,000 Gulden zusammen. Mit Empfehlungsbriefen versehen begab er sich nun zum Papste Clemens V. in Avignon, fand aber, wie früher, mit seinen Vorschlägen kein Gehör. Es folgte nun ein neuer Aufenthalt in Paris, wo er jetzt die pantheistischen Lehren des Averroes besonders bekämpfte und den alten Streitsatz angriff, daß in der Philosophie das wahr sein könne, was in der Theologie für falsch gilt. Sein Interesse dabei war ein doppeltes: einerseits festzustellen, daß die christliche Offenbarung die alleinige und die vollkommene Wahrheit enthalte, andrerseits die wissenschaftliche Erkennbarkeit und Beweisbarkeit der christlichen Wahrheit zu behaupten. Auf der Verknüpfung dieser beiden Sätze beruhte ja eben die Methode der christlichen Mission, welcher er seine Kräfte gewidmet hatte. Als im J. 1311 die allgemeine Kirchenversammlung zu Vienne gehalten wurde, trat er auch dort mit Vorschlägen, die auf die Ausbreitung des Christenthums sich bezogen, hervor, und unter seinen Vorschlägen war auch dieser, erfolgreiche Mittel anzuwenden, um die Verbreitung der Grundsätze des Averroes zu hemmen, gegen welche er damals auch mehrere Bücher schrieb. Sein ältester Biograph zählt 123 Bücher und mehr, die er geschrieben und theils in einem Karthauserkloster in Paris, theils bei einem Edelmann in Genua und bei einem andern auf Majorka niedergelegt habe.

Um das Jahr 1311 schreibt er im Rückblick auf seine Laufbahn: „Ich hatte Frau und Kinder, ich war ziemlich reich, ich führte ein weltliches Leben. Alles habe ich gern verlassen, um das allgemeine Beste zu befördern und den heiligen Glauben auszubreiten. Ich habe das Arabische gelernt, ich bin mehrere Male ausgegangen, den Saracenen das Evangelium zu verkündigen. Ich bin um des Glaubens willen ins Gefängniß geworfen und zerschlagen worden. Ich habe 45 Jahre gearbeitet, um die Hirten der Kirche und die Fürsten für das gemeine Wohl der Christenheit zu gewinnen. Nun bin ich alt, nun bin ich arm, und noch bin ich desselben Sinnes: ich werde darin beharren bis in den Tod, wenn der Herr selbst es verleiht.“ Und er ist darin beharrt. Auch der Tod des Leibes sollte nach seinem Wunsche ein freies Opfer der Liebe sein und nicht blos, was er im Laufe der Natur ist, eine Folge des Hinwelkens der Lebenskraft. Im Hinblick auf diesen natürlichen Tod spricht der Greis im Gebet zu seinem Herrn: „Dein Knecht möchte, wenn es dir so gefällt, nicht eines solchen Todes sterben, sondern er möchte sein Leben enden in der Glut der Liebe, wie du in Liebe dein Leben für uns hingegeben hast. Dein Knecht bereitet sich hinzugehn und für dich sein Blut zu vergießen. Es gefalle dir also, ehe er zum Tode gelangt, ihn so mit dir zu vereinigen, daß er durch Andacht und Liebe nie von dir getrennt werde.“

Am 14. August 1314 begab er sich zum dritten Male nach Afrika und lebte erst eine Zeitlang verborgen unter den christlichen Kaufleuten in Bugia. Endlich aber trat er öffentlich auf und verkündigte, er sei derselbe, der schon früher erst von Tunis, dann von Bugia ausgewiesen worden sei. Zugleich ermahnte er die Saracenen der Wahrheit zu gehorchen und zu Christo sich zu bekehren, wo nicht, wenigstens die Gläubigen in Liebe zu dulden. Es folgten dieselben Ausbrüche der Volkswuth, dieselben Mißhandlungen wie früher in gleichem Falle: darauf wurde er aus der Stadt geschleppt und auf Befehl des Königs gesteinigt. Christliche Kaufleute aus Majorka erbaten sich die Erlaubniß, seinen Leichnam aufzuheben und zu Schiffe in seine Heimath zu bringen. Nach Einigen soll er noch auf dem Schiffe Lebenszeichen von sich gegeben haben und erst auf der Höhe von Majorka, im Angesicht seines Vaterlands verschieden sein. Der Tag seines Märtyrertodes ist der 30. Juni 1315, sein Alter ohngefähr 79 Jahre.

Ein seltner Geist von durchaus idealem Sinne, von glühender Liebe Christi, sich selbst und seinem Heiland treu bis in den Tod, reich an Gaben und Thatendrang, voll Wahrheitsliebe und Wissensdurst, unermüdlich in der Ausbildung einer Lehrwissenschaft, die ihm eine große Entdeckung für das Heil der Menschheit schien. Den Gelehrten seiner Zeit galt er für einen Schwärmer, ebenso den Großen dieser Welt: aber Viele haben ihn wegen seiner aufopfernden Hingebung geliebt und verehrt. Den Werth seiner Methode hat er überschätzt und seine menschlichen Meinungen nicht streng genug gesichtet, nicht scharf genug von der unzweifelhaften Wahrheit unterschieden. Aber sein Wille war rein auf das Gute, das Heilige, das Gemeinnützige gerichtet: mit Wille und Absicht hat er nie das Seine gesucht. Mit vielen Gedankenblitzen, die seine Schriften enthalten, ist er seiner Zeit vorausgeeilt. Sein Glaube an die Erkennbarkeit der Wahrheit in Natur und Offenbarung soll der Glaube aller edleren Seelen bleiben. Die Irrenden zur Erkenntniß Gottes und Jesu Christi und auf dem Wege der Ueberzeugung zur Gemeinschaft des Heils zu leiten, ist der Grundgedanke der evangelischen Missionen geworden und dieser Gedanke hat vielleicht noch eine große Zukunft für die Bekehrung der Muhammedaner und der Juden, so wie der Hindu und Chinesen.

E. Schmieder in Wittenberg.

Evangelisches Jahrbuch für 1856 Herausgegeben von Ferdinand Piper Siebenter Jahrgang Berlin, Verlag von Wiegandt und Grieben 1862

Ludwig IX., der Heilige, König von Frankreich

Ludwig IX. wurde seinem Vater, Ludwig VIII. (damals noch Dauphin von Frankreich), in demselben Jahre (1215) geboren, in welchem Papst Innocenz III. auf der 4. Lateransynode den Gipfelpunkt päpstlicher Macht und päpstlichen Glanzes feierte, und durchlebte die Zeit, in welcher das Papstthum seinen Kampf um die Weltstellung mit Kaiser Friedrich II. führte. Sein Großvater Philipp und sein Vater dienten dem Papstthume mit ihren Zügen gegen die Albigenser, während ihm seine kluge und fromme Mutter Blanca in der Stille die sorgfältigste Erziehung angedeihen ließ. Kaum 11 Jahre alt, fiel ihm die Krone zu, als seinen Vater nach der Belagerung von Avignon der Tod ereilte (1226). Wie die Frömmigkeit der Mutter des Königskindes Seele hütete, so wußte ihre Klugheit ihm die Krone zu bewahren gegen die aufrührerischen Barone des Reichs. In diesen Kämpfen zeigte der 13jährige König, der sich nicht abhalten ließ, sein Heer zu begleiten, einen solchen Muth und solche Festigkeit des Charakters, daß die Feinde seines Thrones den Muth verloren und Frieden und Verzeihung suchten.

Im 19. Jahre seines Alters trat Ludwig die Regierung selbständig an und vermählte sich bald darauf mit Margarete, der ältesten Tochter des Grafen Raimond von der Provence, welche ebensosehr wegen ihres unerschrockenen Muthes als wegen ihrer Frömmigkeit von den Zeitgenossen geehrt wurde. Wenn aber auch dann noch die Königin Mutter oft und entscheidenden Einfluß ausübte, so haben wir dies keineswegs der Schwäche, sondern nur der großen Pietät des frommen Königs zuzuschreiben. Eine bald nach seinem Regierungsantritte unternommene durchgreifende Reform der Justiz, eine Abstellung eingerissener Mißstände in der Verwaltung, strenge Wahrung der militärischen Ehre seiner Offiziere gegenüber dem ungeistlichen Gebahren einer verderbten Geistlichkeit, Abwehr aller Uebergriffe des päpstlichen Stuhles in die besondern Rechte der gallicanischen Kirche einem Innocenz gegenüber zeugt wahrlich nicht von Unselbständigkeit. „Wir verbieten hiemit – heißt’s in einer Reichsverordnung – ausdrücklich die unerträglichen Eintreibungen der von dem römischen Hofe verordneten Geldauflagen der Kirche unsres Reichs, wodurch dasselbe elendiglich verarmt ist, wofern solches nicht aus rechtmäßiger Ursach und mit Unsrer und des Reiches Bewilligung geschieht.“ Und dabei gerieth er nie wie andre Fürsten in Fehde mit den Päpsten, die ihm das Zeugniß ungeheuchelter Frömmigkeit und kirchlicher Treue nicht versagen konnten. Seine Gerechtigkeit und Friedensliebe verschafften ihm zum öftern das Amt eines Schiedsrichters zwischen andern Fürsten. Der fromme König liebte den Frieden, aber er fürchtete auch den Krieg nicht!

Im Jahre 1244 drangen die Heerhaufen der von den Mongolen aufgelösten Chowaresmier im Bunde mit dem Sultan von Aegypten in das heilige Land ein, eroberten nach der Schlacht bei Gaza Jerusalem, zerstörten das heilige Grab, warfen die Gebeine der Könige in’s Feuer und schütteten die frevelhaftesten Greuel und Verwüstungen über Land und Leute aus. Als die herzzerreißenden Nachrichten davon nach dem Abendlands kamen, lag König Ludwig in einer schweren Krankheit danieder. Die Folgen des letzten Krieges mit England hatten ihn im December 1244 auf’s Krankenlager geworfen. Die Aerzte verzweifelten an seiner Genesung. Seine Gemahlin und seine Mutter waren vom tiefsten Schmerze ergriffen, den nicht bloß ihre Umgebung, sondern ganz Frankreich theilte. In den Kirchen der großen Städte wurden Bittfahrten veranstaltet. Die nächst wohnenden Bischöfe und Barone des Reichs begaben sich nach Paris, wo sie zwei Tage in ängstlicher Spannung abwarteten, was Gottes Rath über den König beschlossen habe. Am 23. December lag Ludwig fast den ganzen Tag starr und bewußtlos da. Eine der beiden Hofdamen, die an seinem Bette aufwarteten, hielt ihn schon für todt und wollte eben ein Tuch über sein Angesicht decken, als die andre behauptete, daß sie noch ein leises Athmen bemerke. In dem Augenblicke gab der HErr dem Kranken die Sprache wieder. Er verlangte, daß ihm ein Kreuz angeheftet werde, genug, um zu wissen, was in seiner Seele vorgegangen war. So erfreut die Königin Mutter auf die Nachricht von der eingetretenen Besserung herbeieilte, so bestürzt wurde sie über den Anblick des Kreuzes, welches man aus einem Stückchen Seide geschnitten eben an seine Schulter geheftet hatte. Alle Vorstellungen und Bitten vermochten ihn nicht von seinem Entschlusse abzubringen. Vielmehr warb er während des folgenden Jahres um Theilnehmer. Die unlustigen Hofleute zwang er endlich durch eine List zum Beitritte. Die Pelzmäntel, welche sie herkömmlich am Weihnachtsfeste als königliches Geschenk entgegennahmen, überreichte er ihnen in einem matterleuchteten Saale, von wo aus sie zur Frühmesse gingen. In der hellerleuchteten Kirche bemerkte einer auf des andern Schulter zum allgemeinen Schrecken ein Kreuz von seiner Goldstickerei. „Halb lachend, halb weinend“ bequemten sie sich, aber nicht ohne den König mit dem Spitznamen eines „neuen Menschenfischers“ zu belohnen.

Unter den Hindernissen der Ausführung des Zuges war nicht das geringste der geschichtlich große, aber doch persönlich oft sehr kleinlich geführte Streit zwischen Papst Innocenz IV. und Kaiser Friedrich II., der seit seinem Kreuzzuge (1228) eigentlich als König von Jerusalem anzusehen war. Zwei Jahre hindurch geführte Verhandlungen ließen Ludwig die schmerzlichste Erfahrung davon machen, eine wie undankbare Aufgabe es ist, zwischen zwei solchen Gegnern vermitteln zu sollen. Als er endlich 1247 mehr mit Friedrich als mit dem Papste überein gekommen war und keinen deutschen Angriff auf sein Reich zu befürchten hatte, glaubte er, die Ausführung nicht länger aufschieben zu brauchen. Er berief eine Versammlung der Großen des Reichs nach Paris, um die Reichsangelegenheiten zu ordnen. Da unternahmen es die Königin Blanca und der Bischof von Paris auf den Wunsch der Reichsbarone noch einmal, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, indem sie ihn auf die Ungültigkeit seines Gelübdes hinwiesen, das er in einer Zeit gethan, wo er ruhiger Ueberlegung nicht fähig gewesen sei. „Wohlan l rief der König, meint Ihr das, so gebe ich Euch hier das Kreuz zurück.“ Damit riß er dasselbe von seiner Schulter und übergab es dem Bischofe. Ehe aber die beiden Zeit hatten, ihre Freude zu äußern, fuhr er mit fester Stimme fort: „Haltet Ihr denn dafür, daß ich jetzt weder krank an Körper noch schwach am Geiste bin? – Nun, so fordere ich das heilige Zeichen zurück und werde nicht eher Speise zu mir nehmen, bis Ihr meine Forderung erfüllt habt.“ Weder der Bischof noch die Mutter wagten nun noch ein Wort zu sagen.

Im Frühjahre 1248 traf man in ganz Frankreich ernstliche Zurüstungen zum Kreuzzuge. Es war der sechste in der Reihe der Züge, von welchem wir zu kurzer Charakterisirung das Wort wiederholen: „wenn auch nicht klar im Licht, doch reich an Kraft und Glut!“ Wie in dieser ganzen Unternehmung der Christenheit kirchliche und weltliche Tendenzen, geistlicher und ungeistlicher Sinn sich seltsam verquickten, so bestanden auch die Vorbereitungen in einem wunderlichen Gemische von heitern Abschiedsfesten und ernsten Andachtsübungen. Der fromme König forderte alle seine Lehnsmänner auf, jede Klage, die sie wider ihn hätten, vorzubringen und versprach unbedingte Abhülfe. Die meisten Barone folgten diesem Beispiele. Im ganzen Lande hielt man Bittfahrten. Von St. Denys aus, wo der König seine letzte Andacht verrichtete, reiste er in einfachster Bewaffnung und Kleidung, die er in seinem ganzen spätern Leben nicht wieder änderte, nach der Hafenstadt Aiguesmortes ab. Er trug seitdem weder Pelzwerk noch Kleider von Scharlach und andern grellen Farben, Sporen von Eisen u. s. f. Die Barone richteten sich nach ihm, so daß man im ganzen Heere kein gesticktes Kleid erblickte.

Am 25. August, dem Tage, welchen späterhin die Kirche im Kalender dem Andenken Ludwig’s weihte, bestieg er das Schiff. Wir können hier nicht die Unternehmung in ihrem genaueren Verlaufe verfolgen, obgleich sich uns daraus durch viele kleine Züge das Bild des Königs vervollständigen würde. Der unglückliche Angriff auf Aegypten, welches Ludwig richtig als den Schlüssel zum heiligen Lande erkannte, der 4jährige erfolglose Aufenthalt in Palästina, von wo er sich erst auf die Nachricht vom Tode seiner Mutter hinwegbegab, zeugen von seiner hochherzigen Tapferkeit wie von seinem demüthigen Duldersinne. Wir beschränken uns darauf, der Biographie seines treuen ihm nahestehenden Seneschalls Joinville einige Charakterzüge zu entnehmen und hier einzufügen.

Die sorgfältige fast überängstliche Erziehung seiner katholisch frommen Mutter war von bleibendem Einflusse auf sein ganzes Leben. Sie suchte ihm die strengsten Ordensgeistlichen zu Lehrern und Beichtvätern. Noch als König hatte er einen solchen, der ihn durch regelmäßige Geißelungen unerträglich quälte. Doch fügte er sich gelassen, und erst nach dem Tode desselben gab er dem Nachfolger halb scherzend zu verstehen, daß er doch Unbilliges von ihm gelitten habe. Auch seine Gemahlin hatte unter diesem Einflusse mitzuleiden. Nur mit Erlaubniß der Mutter durfte Ludwig sie besuchen und auch dann begleitete sie ihn. Einst war er ohne diese Erlaubniß zu ihr gegangen, als sie krank daniederlag. Als beide in innigem Gespräche sich erlabten, hört der König die Fußtritte seiner Mutter; er kann nicht mehr entfliehen und verbirgt sich hinter den Bettvorhängen. Die Mutter tritt ein, ihre Blicke mustern in gewohnter Weise das Zimmer, sie entdeckt den Sohn, zieht ihn aus dem Versteck hervor und führt ihn mit dem Bedeuten zur Thür hinaus, daß er hier nichts zu thun habe. Entrüstet rief Margarete: „Mein Gott, Mutter, was macht Ihr? Wollt Ihr mich meinen Herrn und Gemahl weder im Leben noch im Tode sehen lassen?“ Dann sank sie in Ohnmacht. Ludwig, besorgt um das Leben seiner Gemahlin, kehrte nun zwar wieder zurück, doch ohne der Mutter das Unziemliche ihres Benehmens auch nur durch einen Blick fühlen zu lassen.

Ludwig’s Frömmigkeit trug allerdings häufig ein römischkatholisches Gepräge. Wenn wir ihn bei der Befestigung von Cäsaren in der Reihe der übrigen Pilger Körbe mit Erde auf seinen Schultern herbeitragen sehen, wofür der päpstliche Legat einen besondern Ablaß verheißen, so zahlte er damit der Kirche seiner Zeit, deren Kind er war, seinen Tribut. Aber durch das Studium der heiligen Schrift und der Kirchenväter hatte er auch vielfach eine reinere Erkenntniß gewonnen. Dem wundersüchtigen Aberglauben gegenüber, pflegte er wohl ein Wort des Grafen Simon v. Montfort anzuführen. Als dieser nämlich eingeladen wurde, mitanzusehen, wie Christus in der Gestalt eines Kindes bei einer geweihten Hostie erschiene, habe er erwiedert: „Geht nur hin, die ihr nicht glaubet; ich für mein Theil glaube, was der HErr gesagt, ohne zu sehen; das ist der Vorzug, den wir vor den Engeln haben; sie glauben, was sie sehen, wir glauben, was wir nicht sehen.“ Und zu seinem Sohne sagte Ludwig einst: „Du irrst sehr, wenn du glaubst, daß milde Stiftungen, Gaben an die Mönche u. dgl. von der Sündenschuld befreien; nur das Leben im Glauben, der Wandel in der Liebe und vor Allem die Gnade Gottes macht uns selig.“ Ein solcher Ausspruch ist viel für seine Zeit.

Die Furcht Gottes regierte ihn in allem seinem Thun; sie war ihm für die ernsten Aufgaben seines Lebens die sichere Norm, für die heitern Unterhaltungen die feste Schranke. Er litt nicht, daß diese ernste Schranke in seiner Gegenwart überschritten wurde. Bei der Tafel, wo einmal von Krankheiten die Rede war, richtete er an Joinville die Frage: ob er lieber eine Todsünde begangen haben oder aussätzig sein wolle? Als dieser im Schauder vor der ekelhaften Krankheit ausrief: „Lieber 20 Todsünden als aussätzig sein!“, schwieg der König, nahm ihn aber später bei Seite und sagte ihm: „Wie konntet Ihr so reden? Wisset Ihr nicht, daß es keinen ärgern Aussatz giebt, als die Sünde? Stirbt der Mensch, so geneset er von dem körperlichen Aussatze, die Sünde aber haftet fort und fort an seiner Seele und bringt ihn zur Verdammniß, wenn er nicht vorher Buße gethan und von Gott begnadigt ist.“ Diesen Worten folgte noch eine herzliche Ermahnung.

Eine gleiche Gottesfurcht suchte er seinen Kindern einzuflößen. Jeden Abend versammelte er sie, um sie „die Furcht Gottes zu lehren“, hielt ihnen die Verheißungen und Drohungen Gottes vor und erzählte ihnen auch wohl Beispiele von guten und schlechten Fürsten. Seinem ältesten Sohne Ludwig, welcher vor ihm starb, sagte er einst bei solcher Gelegenheit: „Ich wollte lieber, es käme ein Schotte oder sonst ein fremder, um das Volk meines Königreichs nach mir gut und gesetzlich zu regieren, als daß du es einst schlecht und vorwurfsvoll regiertest.“ – Ein Brief an seine Tochter Isabella, Königin von Navarra, beginnt mit den Worten: „Meine liebe Tochter, ich beschwöre dich, unsern HErrn aus aller deiner Macht zu lieben, denn ohne das kann ein Mensch nichts Gutes haben; nichts ist so würdig unsrer Liebe, als der HErr, zu dem alle Creatur sagen kann: HErr, du bist mein Gott und hast mir nur Gutes gethan, – der HErr, der seinen Sohn in die Welt gesandt und in den Tod gegeben hat, um uns vom ewigen Tode zu erlösen. Ihn lieben, meine Tochter, wird dein eigner Nutzen sein und das Maaß dieser Liebe muß sein, ihn ohne Maaß zu lieben. Er ist würdig von uns geliebt zu werden, denn er hat uns zuerst geliebt.“

Man wußte, daß Ludwig an manchen Festtagen sich ganz dem Lesen und der Betrachtung des Wortes Gottes widmete und nicht minder, daß ein Gotteswort, daran er sich erinnerte oder erinnert wurde, von Einfluß auf seine Entschließungen war. So wählten einst die Verwandten eines vornehmen Verbrechers den Charfreitag, an welchem der König den ganzen Psalter durchzulesen pflegte, um sich den Zutritt zu ihm zu verschaffen und für jenen um Gnade zu bitten. Ludwig hielt mit Lesen inne, als die Bittenden eintraten, legte den Finger auf den Vers, den er eben lesen wollte und nachdem er die Bitte angehört, gab er eine gewährende Antwort. Kaum hatten sich die Bittenden entfernt, so las der König weiter und fand unter seinem Finger den Spruch: „Der HErr ist gerecht und hat Gerechtigkeit lieb.“ Sogleich ließ er den Oberrichter kommen, und als er von demselben hörte, wie arg der Gefangene gefrevelt hatte, ließ er ihn jenem Spruche gemäß sofort strafen. Mit gleicher Entschiedenheit unterwarf er sich selbst dem Worte Gottes gegenüber den Gefühlen seines Herzens.

Wie ihn die göttliche Weisheit tüchtig machte, auch die weltlichen Dinge recht zu beurtheilen, so trieb ihn die bessere Erkenntniß der Wahrheit und des Willens Gottes nur zu größerem Eifer, auch seines weltlichen Berufes mit Treue zu warten. Der Herr hatte ihn dazu auch mit natürlichen Gaben ausgestattet, die Seine Gnade in ihm vermehren und verklären konnte. Ohne Schmeichelei erkannte der Kreis seiner Rathgeber ihm den Preis der Weisheit und des Scharfsinns zu. In wichtigen Dingen hörte er alle Meinungen mit Aufmerksamkeit an, ging dann, ohne ein Wort zu sagen, einige Tage damit um, Alles zu überdenken und legte ihnen dann seine Entschließung in ungemein klarer Fassung als eine gereifte Frucht vor. Mit großer Leichtigkeit und Sicherheit durchschaute er die schwierigsten Verhältnisse, so daß er von andern Fürsten häufig zum Schiedsrichter in ihren Streitigkeiten aufgerufen wurde. „Fast ganz Europa – sagt ein neuerer Schriftsteller – wanderte nach der Eiche zu Vincennes, wo der heil. Ludwig, von den Waffen oft verrathen, christliche Justiz übte.“ Es bezieht sich der Ausdruck darauf, daß Ludwig jedem seiner Unterthanen gestattete, auch auf seinen Spaziergängen sein Recht bei ihm zu suchen. Da ließ er sich dann unter einem der Bäume seines Parks nieder, um die Sache zu durchdenken und sein Urtheil zu fällen. Man hat lange in Vincennes und andern Residenzstädten solche Plätze mit Verehrung gezeichnet und gezeigt.

Stellen wir uns aus solchen Zügen das Bild Ludwig’s zusammen, so wird es uns erklärlich, daß er bei seinen Zeitgenossen weniger laut gefeiert als still geachtet war. Er hat die Mitwelt nicht durch glänzende Thaten in Erstaunen gesetzt, aber er hat die Nachwelt durch seine strahlenden Tugenden mit Bewunderung erfüllt. Der Griffel der Geschichte zeichnet ihn nicht im Strahlenglanze weltlichen Ruhmes, sondern im Heiligenscheine aufrichtiger Frömmigkeit.

Nach seiner Rückkehr vom Kreuzzuge fand Ludwig ein in allen Verhältnissen und allen Theilen ziemlich zerrüttetes Reich. Die Hand einer Frau war nicht kräftig genug, um Willkür und Widerstreben überall im Zaume zu halten. Die folgenden Jahre waren darum für ihn nicht Jahre der Ruhe, sondern angestrengtester Arbeit, darunter seine Gesundheit zu leiden hatte. In dieser Zeit gründete er auch zu besserer Ausbildung der Geistlichen die berühmte Schule zu Paris, welche nach seinem Beichtvater Robert Sorbon noch heute den Namen der „Sorbonne“ trägt. Aber unter allen Arbeiten, Sorgen und Mühen erlosch nie der brennende Eifer um die Befreiung des heil. Landes in seinem Herzen. Er hatte sich gewöhnt, sie als die Hauptaufgabe seines Lebens anzusehen. Der erneute Nothschrei der Christen im Morgenlande seit 1260 fachte diesen Eifer zur Flamme des Entschlusses an. Nicht irrten ihn die Bedürfnisse seines Volkes und Landes, nicht die abmahnenden Bitten seiner Umgebung, nicht die entschiedene Weigerung seines treuen Joinville, der erklärte, er meine Gott besser zu dienen, wenn er seine Untergebenen schütze und regiere, und der in seinem Werke die Ueberzeugung ausspricht: die den König in der abermaligen Unternehmung bestärkt hätten, hätten sich einer Todsünde schuldig gemacht, weil sie des Königs gewisser Tod sein würde. Er war wirklich so hinfällig, daß er weder Fahren noch Reiten vertragen konnte.

Nach dreijähriger Vorbereitung nahm er 1270 Abschied von seinem Reiche und seiner Gemahlin. Der Plan, zunächst Tunis zu erobern, um von da nach Aegypten zu gehen, steigerte den Mißmuth seiner Begleitung, ja erweckte geradezu den Verdacht eines dynastischen Interesses wegen des Abfalls des Sultans von Tunis von Neapel und Sicilien, welches eben sein Bruder Karl von Anjou erworben hatte. Bald nach der Ankunft in Africa wurde auch Ludwig von dem Fieber ergriffen, welches unter der Hitze des africanischen Sommers in seinem Heere ausbrach. Drei Wochen lang kämpfte er, ohne sich zu schonen, mit der Macht seines rastlosen Geistes an, bis er zusammenbrach. „Laßt uns sorgen, daß das Evangelium in Tunis gepredigt und gepflanzt werde; o, wer ist fähig, dies Werk zu vollbringen!“ Das war sein letzter Wunsch. Dann traten Fieberphantasien ein, in denen man ihn oft rufen hurte: „wir gehen – wir gehen nach Jerusalem!“ In der dürftigen Hülle dieser Sehnsucht nach dem irdischen Jerusalem dürfen wir die höhere Sehnsucht seines Herzens nach dem himmlischen Jerusalem durchfühlen.

In der Morgenfrühe des 25. August schmetterten helle Trompetenklänge vom Meere her durch die schwüle Luft der Trauerstille im königlichen Heerlager. Karl von Anjou fand seinen Bruder nicht mehr am Leben, nachdem er sich ausgeschifft hatte. In „derselben Stunde, in welcher sein Heiland verschied“, war der fromme König auf seinem mit Asche bestreuten Lager, die Hände kreuzweis auf die Brust gelegt, die Augen gen Himmel gerichtet, mit den Worten verschieden: „HErr, ich will in dein Haus gehen, in deinem heiligen Tempel will ich anbeten und deinen Namen verherrlichen!“

Kurz vor seinem Ende hatte er seinem Sohne und Nachfolger Philipp, welcher bald darauf mit den irdischen Ueberresten seines Vaters, seiner Gemahlin, eines Bruders, eines Oheims und eines Schwagers nach Frankreich zurückkehrte, um sie in den königlichen Grabgewölben von St. Denys beizusetzen, eine Schrift übergeben, die er in den letzten Tagen mit zitternder Hand aufgesetzt hatte. Wir geben dieses denkwürdige Testament, welches in den verschiedenen Geschichtswerken nur lückenhaft mitgetheilt wird, in hoffentlich vollständiger Zusammenstellung. Danach lautet es also:

„Mein theurer Sohn! Das erste, wozu ich dich ermahne, ist, daß du Gott liebest von ganzem Herzen, denn ohne dies kann kein Mensch selig werden, und hüte dich wohl, etwas zu thun, was ihm mißfällt; denn du solltest lieber wünschen, alle Arten von Qualen zu erdulden, als zum Tode zu sündigen. Wenn dir Gott Trübsal sendet, nimm sie willig an und danke ihm dafür. Denke, du hast es verdient, und es wird dir Alles zum Besten dienen. Wenn er dir Glück schenkt, so danke demüthigst dafür und laß dich nicht dadurch zum Stolz und Uebermuth oder einem andern Laster verleiten; denn man darf Gott nicht herausfordern mit seinen eignen Gaben. Nimm dich wohl in Acht, daß du nur mit klugen und braven Leuten Umgang pflegest, die nicht von Begierden beherrscht sind. Wähle dir weise Beichtväter, die dich recht berathen in deinem Thun und Lassen. Stelle dich so, daß deine Beichtväter und Freunde sich nicht zu fürchten brauchen, dir deine Fehler aufzudecken. Wohne dem Gottesdienste mit aller Andacht bei. Meide eitle Zerstreuung und bete zu Gott mit Herz und Mund; höre das Wort Gottes und wende es auf dein Herz an. Gegen Arme sei mitleidig, habe ein Herz für ihre Noth und fei bereit, nach Kräften ihnen zu helfen. Kummer wird dir so wenig wie einem andern Menschen erspart werden, da wende dich bald an deinen Beichtvater oder sonst einen treuen Menschen, der dein Leid mitfühlt und trägt. Sorge, daß du treue, erfahrene Männer in deiner Umgebung hast, seien es Geistliche oder Laien. Die Bösen entferne von dir und höre gern fromme Reden öffentlich und sonderlich. Empfiehl dich der Fürbitte frommer Personen. Liebe das Gute, hasse das Böse. Dulde es nicht, daß Jemand so frech ist, in deiner Gegenwart ein verwerfliches Wort zu reden. Verletze Niemandes Ehre weder öffentlich noch heimlich. Dulde nicht, daß man in deiner Gegenwart respectwidrig von Gott und seinen Heiligen rede. Vergiß nicht, Gott zu danken für alle Wohlthaten, welche du von seiner Güte empfängst, auf daß du mehr empfangen kannst. Sei unersättlich in der Gerechtigkeitspflege und siehe weder rechts noch links, sondern entscheide stets nach Recht und Gewissen. Unterstütze die Klagen des Armen gegen den Reichen, bis die Wahrheit an den Tag kommt. So mache es auch bei Prozessen, welche gegen dich selbst anhängig gemacht werden, weil das deine Räthe in der Uebung der Gerechtigkeit stärkt. Findest du fremdes Gut bei dir, was du selbst oder deine Beamten oder deine Vorfahren genommen, und es weist sich so aus, so zaudre nicht, es zurückzugeben; ist es zweifelhaft, so erforsche es sorgfältig durch verständige und rechtschaffene Leute. Bemühe dich eifrig, daß deine Unterthanen in Frieden unter deinem Regimente leben. Gegen deine Diener sei bieder, freigebig und ein Mann von Wort, daß sie dich fürchten und lieben als ihren Herrn. Halte die Rechte und Freiheiten der Städte aufrecht, welche deine Vorfahren ihnen ertheilt haben und verscherze nicht ihre Gunst, damit dich deine Feinde und deine Barone fürchten. Verleihe die geistlichen Pfründen gewissenhaft nur an tüchtige Männer. Hüte dich, Krieg anzufangen, vorzüglich gegen Christen, ohne daß du dazu gezwungen seist. Die Zwistigkeiten und Fehden deiner Unterthanen untereinander suche auf alle mögliche Weise beizulegen. Trage Sorge für gute Richter und andere Beamte und unterrichte dich fleißig über ihre Amtsführung. Suche die Verbrechen auszurotten, besonders das Fluchen. Dein Hauswesen richte sparsam und ordentlich ein. Endlich bitte ich dich, mein Sohn, daß du meiner an meinem Ende gedenkest und für meine arme Seele Messe lesen, Fürbitten thun und Almosen im ganzen Reiche austheilen lässest. Zuletzt gebe ich dir allen Segen, den ein guter Vater nur seinem Sohne geben kann. Gott gebe dir Gnade, seinen Willen täglich zu thun, also daß er auf alle Weise geehrt werde und daß wir nach diesem Leben zusammen bei ihm sein können und ihn ohne Ende in seinem himmlischen Reiche fürchten, lieben und loben. Amen.“ Welch‘ ein Zeugniß, welch‘ ein Denkmal für den gottesfürchtigen König – diese Worte, die sich eben so sehr durch ihre schmucklose Einfalt als durch ihren geistvollen Inhalt auszeichnen! Heiliger Ernst und herzliche Liebe, klare Erkenntniß und reiche Herzens- und Lebenserfahrung spricht sich in gleichem Maaße in ihnen aus und Bossuet legt dem Großvater Ludwigs XV, den er als Dauphin unterrichtete, mit Recht über dasselbe die Aeußerung in den Mund: „Es ist das schönste Erbtheil unseres Hauses, welches wir für einen höheren Schatz achten müssen als das Königreich, welches er seinen Nachkommen übergeben hat.“

A. Rische in Schwinkendorf bei Malchin.

Evangelisches Jahrbuch für 1856 Herausgegeben von Ferdinand Piper Siebenter Jahrgang Berlin, Verlag von Wiegandt und Grieben 1862

Philipp Melanchthon

Philipp Melanchthon

Luther sagt einmal: es sei kein großer Umschwung in der Entwicklung des Reiches Gottes erfolgt, ohne daß den Weg dazu gebahnt hätte das Wiederaufleben der Wissenschaften und Sprachen, gleichwie Johannes der Täufer Christo vorangehen mußte. Dieses gilt von den Vorbereitungen für das göttliche Werk der deutschen Reformation. Zweierlei mußte zusammen kommen, um derselben Bahn zu machen: das religiöse Leben, das aus den Tiefen des andächtigen Gemüthes hervordrang in jenen frommen und erleuchteten Männern, welche man Mystiker nannte, von denen einer, Johannes von Staupitz auf Luther selbst unmittelbar einwirkte, – und die neue wissenschaftliche Bewegung, die von einem Erasmus von Rotterdam ausging, wodurch die Kenntniß der griechischen Sprache wiederhergestellt wurde, um die Schriften des Neuen Bundes in der Ursprache lesen zu können. Und wie diese beiden Ursachen zusammenwirkten zur Vorbereitung der Reformation, so mußte dieses sich auch wiederholen in der Entwicklung des Reformationswerkes selbst. Es mußte die unmittelbare religiöse Begeisterung in Luther zusammenkommen mit der besonnenen, klaren und gründlichen Wissenschaft in Melanthon, in welchem wir den Erasmus von Rotterdam verklärt und geläutert, noch mehr erfüllt von dem heiligen Feuer des Evangeliums wieder erscheinen sehen. Wo Christus große Entwicklungen, neue Schöpfungen hervorgerufen hat, bediente er sich immer wenigstens zweier verschiedener großer Eigenthümlichkeiten, die einander zu ergänzen bestimmt waren. Wo ein göttliches Werk vorhanden ist, giebt es sich dadurch zu erkennen, daß der, welcher den Zweck will, durch seine mannichfaltige Weisheit auch alle zur Verwirklichung des Zweckes erforderlichen Mittel zusammenzufügen wußte. So beweist sich die deutsche Reformation. dadurch, daß dem älteren Luther der jüngere Melanthon zur Seite gehen mußte, daß, als durch die schöpferische religiöse Begeisterung Luthers die erste Bewegung angeregt worden, die Sprache der Wissenschaft durch Melanthon ihr gegeben wurde, als ein von Gott vorbereitetes Werk Gottes.

Philipp Schwarzerd war der ursprünglich deutsche Name des großen Mannes, dessen Andenken zu feiern diese Zeilen bestimmt sind. Der deutsche Name wurde nach der Gewohnheit jener Zeit in den griechischen: Melanchthon übertragen, der des Wohlklangs wegen von ihm „Melanthon“ geschrieben wurde. Er wurde geboren zu Bretten im Badischen am 16. Februar des J. 1497. Einer der großen Männer, welche viel dazu thaten, der Reformation vorzuarbeiten, war Johann Reuchlin, der dazu besonders wirkte durch seine Verdienste um die Wiederherstellung des hebräischen Sprachstudiums, des Studiums der Bücher des Alten Bundes in der Ursprache, und durch seine siegreichen Kämpfe mit den Dominikanern und der Inquisition. Er hatte großen Einfluß auf die erste Bildung Melanthons, der einer ihm verwandten Familie angehörte. Derselbe gehört zu den großen Männern, die früh reif wurden, und in denen schon früh die eigenthümliche Geistesrichtung, welche ihr ganzes Leben auszeichnete, entwickelt hervortrat, und die doch nicht früh alt wurden, sondern in frischer Jugendkraft immer schöpferisch bis an’s Ende ihres Lebens arbeiteten. Der große Erasmus erkannte schon, daß Melanthon ihn einst verdunkeln würde. Wie es das ursprünglich Ausgezeichnete der deutschen Nation ist, daß die Religion Seele und Mittelpunkt aller Bildung sein sollte, alle großen Schöpfungen des Geistes aus den Tiefen des von Christus ergriffenen Gemüthes hervorgehen sollten, so war es die hohe Bestimmung der deutschen Hochschulen, Werkstätten des heiligen Geistes zu sein, der die jugendlichen Gemüther ergreifen und alle wissenschaftliche Bildung, zu seinem Organ sie verklärend, sich aneignen sollte. Diesen Beruf erfüllte Wittenberg als der ursprüngliche Sitz der deutschen Reformation. Und hier sollte Melanthon von früher Jugend an seinen Wirkungskreis finden, um, was dem großen, apostolischen Mann Luther der Geist offenbarte, in die Sprache der Wissenschaft zu übertragen, wissenschaftlich zu verarbeiten und zu begründen, eine von dem heiligen Geist beseelte Wissenschaft zu erzeugen, welche es als ihre höchste Aufgabe erkannte, die Tiefen des göttlichen Wortes in demüthiger Hingebung zu erforschen und die unerschöpflichen Schätze der Weisheit, die in Christo verborgen sind, immer tiefer zu ergründen.

Melanthon war erst 21 Jahre alt, als er auf Empfehlung Reuchlins nach Wittenberg berufen wurde. Da der Jüngling Bedenken trug, sein Vaterland zu verlassen, um einem so großen und schwierigen Beruf in der Fremde sich zu widmen, rief ihm sein Verwandter Reuchlin die Worte Gottes an Abraham zu: Gehe aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen werde (1 Mos. 12,1.). Es war von Anfang an ein schönes Verhältniß, das sich zwischen dem älteren und jüngeren Freunde, Luther und Melanthon bildete, die väterliche Liebe und Fürsorge Luthers und die kindliche begeisterte Hingebung Melanthons. Als Luther auf dem Reichstag zu Augsburg im J. 1518 in großer Gefahr schwebte, schrieb er an Melanthon: „Mache Du den Mann, wie Du es ja auch thust und lehre die Jünglinge was recht ist; ich gehe hin, für sie und für Euch mich zu opfern, wenn es Gott gefällt.“ Melanthon fühlte sich durch das heilige Feuer von dem Herzen Luthers aus mit erwärmt und erglicht. Er schrieb über sein Verhältniß zu Luther am 11. August 1519: „Ich liebe Luthers Studien, die heilige Wissenschaft und den Martinus, wenn irgend etwas auf Erden auf das Innigste, und ich umfasse ihn mit meinem ganzen Herzen.“ Als nach der Leipziger Disputation der Sturm von Rom über Luther auszubrechen drohte, schrieb Melanthon am 17. April 1520: „Ich möchte lieber sterben, als von diesem Manne mich trennen zu müssen.“ Und als der Bann über Luther bereits ausgesprochen worden und die größte Gefahr ihm drohte, schrieb er am 4. Nov. 1520: „Martinus scheint mir von einem göttlichen Geiste getrieben zu werden; daß derselbe in seinem Werk glücklichen Fortgang habe, dazu werden wir vielmehr durch Gebet, als durch unseren Rath beitragen können. Mir ist die Erhaltung Luthers etwas Theureres als mein Leben selbst, so daß mir nichts traurigeres begegnen könnte, als den Martinus entbehren zu müssen.“ Er bezeichnet Luther als den „einzigen“ Mann, den er wahrhaft wagen möchte den großen Männern nicht allein dieser Zeit, sondern auch aller früheren Jahrhunderte, allen Augustinus und Hieronymus vorzuziehen.

So erkannte der Jüngling Melanthon damals in Luther das überlegene Maaß, den höheren Geist, den er nicht zu meistern wagte, vor dem er sich nur beugen mußte. Aber auch Luther wußte, was Melanthon vor ihm voraus hatte in den Gaben der Wissenschaft, anzuerkennen. Da Melanthon zuerst im J. 1519 auf Veranlassung der berühmten, für den Fortgang des Reformationswerkes so entscheidenden Disputation zu Leipzig öffentlich an den Kämpfen Theil genommen hatte durch einen Brief, den er darüber schrieb, fühlte sich der dünkelhafte Eck beleidigt in seiner Eitelkeit durch die Art, wie Melanthon die Fechterkünste und die unfruchtbaren Disputationen getadelt hatte und sprach sich in dem Ton hochfahrender Verachtung darüber aus, daß ein junger Mann zu Wittenberg, der allerdings etwas Griechisch wisse, gewagt habe, nicht seine Sache, sondern die Sache des Glaubens anzugreifen. Luther aber sagt: „Obgleich ich auch Magister und Doktor bin, und fast keiner von Ecks Titeln mir fehlt, so schäme ich mich doch nicht, wenn der Geist dieses Grammatikers von mir abweicht, von meiner Meinung abzustehen.“ Das, was bei Luther die Seele der Reformation war, das hatte auch das Gemüth Melanthons mit Macht ergriffen, die Grundwahrheit von der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben an Jesus als seinen Heiland allein. Dieses war ihm, wie sich aus seinen Schriften und Briefen deutlich erkennen läßt, Herzenssache. Die inneren Kämpfe, welche auch bei einer so milden und vorherrschend der Wissenschaft zugewandten Natur, wie Melanthon, nicht fehlen konnten bei aufrichtigem Streben nach der vor Gott geltenden Heiligkeit und bei strenger Selbstprüfung, hatten auch Melanthon dazu geführt, die große Bedeutung dieser Wahrheit für die Ruhe und Freudigkeit des Gewissens zu erkennen. Deßhalb ergriff er das Werk der Reformation mit so heiliger Liebe und so starkem Muth.

Im J. 1524 schrieb er dem Landgrafen Philipp von Hessen: „Seht, welchen Trost die elenden Gewissen in dieser Predigt finden, wenn sie zu dem Bewußtsein gelangen, daß das die Gerechtigkeit selbst ist, zu glauben, daß uns durch Christus die Sünden vergeben werden ohne eine Genugthuung von unserer Seite, ohne unser Verdienst. Ich kenne Solche, welche vor der Erkenntniß dieser Lehre, da ihr Gewissen durch Genugthuungen von ihrer Seite und durch willkührlich ersonnene gute Werke nicht aufgerichtet werden konnte, alle Hoffnung ihres Heils durchaus verloren hatten, welche aber als das Evangelium heller der Welt zu leuchten anfing, wiederum herzhaft die Hoffnung des Heils zu gewinnen begannen; und nicht allein solche Hoffnung empfingen sie, sondern auch Kraft und Stärke zum Kampf mit der Sünde. So viel kommt darauf an, daß man das Evangelium recht erkennt.“ Und an den Würtembergischen Theologen Johann Brenz schrieb er auf Veranlassung einiger ihm vorgelegten Bedenken im Mai des J. 1531: „Wende deinen Blick ganz hinweg von der Erneuerung in uns und der Erfüllung des Gesetzes zu den Verheißungen und zu Christus hin, und denke so, daß wir um Christi willen gerecht, d. h. Gott wohlgefällig sind und den Frieden des Gewissens finden und nicht um jener Erneuerung willen. Denn dieses neue Leben in uns ist noch nicht genug. Deßhalb sind wir durch den Glauben allein gerecht, nicht weil er die Wurzel ist, wie du schreibst, sondern weil er den Christus ergreift, um dessen willen wir Gott wohlgefällig sind, wie dieses neue Leben in uns auch beschaffen sein möge; obgleich es nothwendig folgen muß, so kann es aber doch dem Gewissen keinen Frieden geben. Also nicht die Liebe, welche Erfüllung des Gesetzes ist, rechtfertigt den Menschen, sondern der Glaube allein; nicht weil er eine Vollkommenheit in uns selbst wäre, sondern nur weil er Christus ergreift, sind wir gerecht, nicht wegen der Liebe, nicht wegen der Erfüllung des Gesetzes, nicht wegen unseres neuen Lebens, obgleich das Gaben des heiligen Geistes sind, sondern um Christi willen; und wir thun weiter nichts, als diesen durch den Glauben zu ergreifen.“ Er schließt die Entwicklung mit diesen Worten: „Diese Lehre ist die wahre, und sie verherrlicht den Ruhm Christi, richtet auf wunderbare Weise das Gewissen auf.“ Von Christus aus als dem alleinigen, von einem Jeden durch den Glauben anzueignenden Grunde des Heiles wurde er zu der Selbstoffenbarung Christi in seinem Worte, dem Worte der h. Schrift, als der alleinigen Erkenntnißquelle des Heiles hingeführt, gleichwie Luther; und er war es, der zuerst die Grundwahrheit, auf welcher das Wesen der Reformation ruht, von dieser zweiten Seite aus mit wissenschaftlicher Schärfe und Klarheit entwickelte, wo er zum ersten Mal an den Streitigkeiten öffentlich Antheil nahm. In jener Schrift, die er zu seiner Vertheidigung gegen die Vorwürfe Ecks herausgab im August des J. 1519 sagt er: „Es ist ein einfacher Sinn der h. Schrift, wie die himmlische Wahrheit das Einfachste ist, welchen wir durch Vergleichung der heiligen Schrift mit sich selbst nach dem Zusammenhang finden können. Denn deßhalb sollen wir in der h. Schrift forschen, um nach derselben alle Lehren und Satzungen der Menschen, wie nach dem Prüfstein zu beurtheilen.“

Er hat der deutschen Reformation das erste Lehrbuch für Glaubens- und Sittenlehre gegeben, in welchem er für die Gelehrten auseinandersetzte, was Luther in der Sprache des Lebens dem Volk vorgetragen hatte. Und es ist charakteristisch für das Wesen der deutschen Reformation, daß dieses Lehrbuch hervorging aus den Vorlesungen Melanthons über die Schriften des Apostels, welchem sich dieselbe besonders angeschlossen hatte, und den Brief desselben, welcher den Grundpfeiler der Reformation bildet, den Brief des Paulus an die Römer. Die Grundrichtung der deutschen Reformation giebt sich auch besonders zu erkennen in der ersten Ausgabe dieses Buches vom J. 1521. Die Demuth des Wissens leuchtet darin hervor, wie Melanthon erkennt, daß durch alle früheren Versuche, die Dreieinigkeit, die Schöpfung, die Verbindung beider Naturen in Christo erklären zu wollen doch nichts sei ausgerichtet worden. Aber die Erkenntniß von Sünde und Gnade bezeichnet er als den Angelpunkt des Evangeliums. Er läßt sich nur auf das ein, was mit diesen Grundwahrheiten in unmittelbarer Verbindung steht. So trat zuerst die praktische Richtung der Reformation im Gegensatz zu früheren Richtungen, welche in den göttlichen Dingen zu viel erklären und bestimmen wollten, die Grenze und Schranke der menschlichen Erkenntniß nicht anzuerkennen, das Wesentliche und Unwesentliche nicht aus einander zu halten wußten, auf eine bedeutungsvolle, wenn auch aus eben jenem Gegensatz leicht erklärbare und dadurch gerechtfertigte einseitige Weise hervor. Später hat Melanthon, dieser praktischen Grundrichtung immer treu bleibend, doch diese Einseitigkeit überwunden und das Lehrbuch viel erweitert. Die vielen Ausgaben desselben bis zu seinem Tode geben ein Bild von der fortschreitenden Entwicklung seiner Gotteswissenschaft; und wir lernen in diesen mannichfachen Veränderungen den unbefangen und frei in dem göttlichen Wort forschenden Mann kennen, der von sich sagen konnte, daß er täglich vieles verlernen müsse, und daß er sich bewußt sei, die Theologie nie in einem anderen Sinne getrieben zu haben, als zur Heiligung des Lebens.

Es sind in Melanthons Verhältniß zu Luther verschiedene Entwicklungsstufen zu unterscheiden. Zuerst wurde er als Jüngling durch die Macht der Begeisterung Luthers ganz fortgerissen und durch seinen starken Geist mitbestimmt, obgleich schon immer seine scharf ausgeprägte, von dem Geist des Christenthums durchdrungene Eigenthümlichkeit dem Werk der Reformation dient. Immer mehr aber trat seit dem J. 1521 seine eigenthümliche Auffassung, obgleich in völligem Einklang mit Luthers Geist und der von ihm entwickelten Lehre, hervor. Der Mann der Wissenschaft, der Mann, dessen eigenthümliche Gabe der milde Geist, die Besonnenheit und Klarheit vornehmlich war, gab sich darin zu erkennen, wie er, was Luther zuerst mit dem Feuer seines Geistes im Gegensatze des Streites schroffer ausgesprochen hatte, in der Form des Ausdruckes zu mildern und gegen Mißverstand zu verwahren suchte. Bei dem Verhältnis zur römischen Kirche konnte man auf zweierlei das Augenmerk besonders richten: entweder den Gegensatz hervorzuheben, wie es dazu gehörte, um das eigenthümliche Wesen der Reformation und der evangelischen Kirche rein zu erhalten, – oder bei der eigenthümlichen Verschiedenheit beider Kirchen- und Lehrformen auch die höhere Einheit zum Bewußtsein zu bringen, den zuerst zu stark hervorgetretenen Gegensatz zu mäßigen und zu mildern. Beides gehörte zusammen zur gesunden Entwicklung der Reformation. Von beiden Seiten konnte gefehlt werden, wenn das Eine nicht dem anderen zur Seite ging. Repräsentant der ersten Richtung ist Luther, Repräsentant der zweiten Melanthon. Dieses letzte zeigte sich in der Schrift, welche er auf Veranlassung der ersten sächsischen Kirchenvisitation verfaßte: die Anweisung zum rechten Vortrag der evangelischen Lehre für die Pfarrer, seine Visitationsartikel im J. 1527. Während die Einen, welche nur an dem Buchstaben der von Luther vorgetragenen Lehre in derselben Form, wie er sie im Streit ausgesprochen hatte, festhielten, ihn eines Verrathes der evangelischen Wahrheit beschuldigten, wurden ihm von den Anhängern der papistischen Lehre glänzende Anträge gemacht in der Voraussetzung, daß sich eine Umkehr zur alten Kirchenlehre in ihm vorbereite. Luther aber wußte wohl, denselben Geist und dieselbe Lehre auch in veränderter Form zu erkennen, und sagte in Beziehung auf die Verunglimpfung seines Freundes: „wer etwas Gutes vorhabe, müsse dem Teufel sein Maul lassen, dawider zu plaudern.“ Seit dieser Zeit hatte Melanthon viel zu kämpfen mit einer Parthei, welche sich um große Männer gewöhnlich zu bilden pflegt, die Parthei der blinden Nachahmer, der beschränkten Eiferer, welche den großen Männern mehr in ihren Fehlern, als in ihren Tugenden nachfolgen, was immer das leichteste ist, die Schaale ohne den Kern festhalten, den Buchstaben ohne den Geist, solche, welche in jeder Abweichung von dem Buchstaben, in dem Luther etwas ausgesprochen hatte, gleich einen Abfall von der reinen Lehre selbst sahen, welche Alles, was Luther in einer schrofferen Form vorgetragen hatte, noch mehr auf die Spitze stellten und darin ihren Eifer für die Rechtgläubigkeit zeigen wollten. Es waren solche, von denen Melanthon sagt, daß Luther ihr Treiben noch mehr als das Papstthum selbst hasse, welche, wie er sagt, statt das Feuer des Streites zu mildern und fremdartige Leidenschaften abzuwehren, vielmehr durch ihre Predigten immer neues Oel in’s Feuer gossen. Diese nun waren von Anfang an, wie der besonnene, milde Geist Melanthons ihrem wilden Treiben voll fleischlichen Eifers am meisten entgegenstand, seine heftigsten Feinde. Sie nannten ihn kälter als Eis, beschuldigten ihn der Unentschiedenst. Es bereiteten sich hier schon jene inneren Spaltungen vor, welche der evangelischen Kirche nachher so verderblich wurden.

Als die Abendmahlsstreitigkeiten zwischen Zwingli und Luther ausbrachen, erklärte sich Melanthon von Anfang an gegen die Zwingli’sche Auffassung, nach welcher das h. Abendmahl nur eine Erinnerungsfeier an das erlösende Leiden Christi sein sollte, und die Sakramente überhaupt nur als Bekenntnißzeichen betrachtet werden sollten. Es war ihm von Anfang an wichtig, das Göttliche der Sache hervorzuheben, den gegenwärtigen Christus, der sich im Sakramente mittheile, erkennen zu lassen. Er hatte gegen die Zwingli’sche Lehre dieses, daß sie den abwesenden Christus nur wie in einer Tragödie darstelle. „Die Berufung auf Vernunftgründe.“ schrieb er an den Schweizer Reformator Oekolampadius, „können den nicht überzeugen, welcher deß eingedenk ist, daß man über die himmlischen Dinge nach dem göttlichen Wort, nicht nach einer geometrischen Demonstration urtheilen muß, und der aus seinen eignen Versuchungen gelernt hat, daß es keine Gründe giebt, welche das Gewissen genug belehren können, wenn es von dem Worte Gottes abgeht.“ Und er sprach die prophetischen Worte aus: „wenn man einmal eine Lehre deßhalb verwerfe, weil sie etwas Uebervernünftiges enthalte, man bald auch werde weiter getrieben werden, die Lehre von der Dreieinigkeit, der Gottheit Christi, ja selbst von der Vorsehung und der persönlichen Unsterblichkeit zu leugnen, weil Alles, was Gegenstand des Glaubens sei, auch etwas Uebervernünftiges sei.“ Die Geschichte hat, was Melanthon hier aussprach in prophetischem Geist, immer mehr in Erfüllung gebracht, bis zur letzten Consequenz in der Verneinung alles Uebernatürlichen und Uebervernünftigen, was die Krankheit der Gegenwart ist und die Quelle der meisten und größten Uebel in derselben, von denen auch nur die Rückkehr zu den Grundwahrheiten des ächten Christenthums, welche ein Melanthon verkündete, Heilung bringen kann. Immer mehr tritt einem Jeden als die höchste Lebensfrage dieses entgegen: das Evangelium mit seinem über Vernunft und Natur erhabenen Inhalt, wie er nur aus Offenbarung erkannt werden kann, – oder die trostlose Betrachtungsweise aller Dinge, in welcher der Mensch Gott und sich selbst zugleich verliert und ihm nichts übrig bleibt, als entweder sich zu versenken in den bloßen Sinnengenuß und zu sagen, wie der Apostel das Losungswort einer solchen Denkungsart anführt: Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir todt (1 Cor. 15, 33), oder die Resignation der Verzweiflung. Wenngleich aber dem Melanthon jener Streitpunkt im Gegensatz gegen die Zwingli’sche Lehre ein wichtiger war, so bedauerte er doch mit tiefem Schmerz von Anfang an, daß, was Christus als Unterpfand der höchsten Liebe eingesetzt, darüber diese die Gemüther trennenden, in Leidenschaften und Haß verwickelnden Streitigkeiten entstanden seien. Schon frühzeitig sprach er es aus in einem Brief an seinen vertrauten Freund Camerarius: er sehe keine andere Frucht dieser Streitigkeiten, als daß die Menschen in profane Untersuchungen und Disputationen hineingeworfen würden und vom Wesentlichen der Heilslehre ihre Aufmerksamkeit abgezogen werde. Schon mußte er darüber klagen, daß alle Messen mit Büchern, welche nur von diesem einen Streit handelten, überschwemmt würden, als wenn darin das ganze Wesen des Christenthums bestehe. Oft vernehmen wir von ihm die wehmüthige Aeußerung, daß, wenn er so viel Thränen vergießen könnte, als Wasser die Elbe habe, er immer nicht genug diese Streitigkeiten beweinen könne. Von Anfang an wünschte er eine Verständigung über den streitigen Gegenstand durch eine ruhige leidenschaftlose Untersuchung nach dem göttlichen Wort.

Wir kommen zu dem für die Geschichte der evangelischen Kirche so wichtigen Reichstag von Augsburg im J. 1530. Melanthon, welcher der bedeutendste Theolog unter den Evangelischen auf dem Reichstag war, nahm mit sich zwei Schriften, welche von ihm in Gemeinschaft mit Luther und den übrigen Theologen entworfen worden, von denen die eine ein Bekenntniß der wesentlichen Wahrheiten des Glaubens enthielt, die andere ein Verzeichniß von dem, was man in der römischen Kirche besonders verwerfen zu müssen glaubte. Diese beiden Aufsätze sollte Melanthon zu einem Ganzen verschmelzen; und daraus entstand die sogenannte Augsburgische Confession, oder wie man sie zuerst nannte: Apologie, als Verteidigung der protestantischen Lehre. Es kam hier darauf an, die evangelischen Kirchen gegen den Vorwurf der Ketzerei zu vertheidigen, ihre Lehre als die wahrhaft katholische darzustellen, und das, was man an dem anderen Theil verwerfen zu müssen glaubte, möglichst mild auszudrücken. Dazu war Melanthon vermöge seines eigenthümlichen Geistes, wie wir ihn vorhin bezeichnet haben, besonders geeignet. Luther bezeugte, als ihm jenes Bekenntniß zugeschickt wurde, seine gänzliche Zufriedenheit mit demselben, und äußerte, es zieme sich für ihn nicht, daß er etwas daran verändern sollte, da er so leise nicht auftreten könne. Er nannte die Augsburgische Confession: die Leisetreterin. Es wurde dieses Bekenntniß zugleich in lateinischer und in deutscher Sprache abgefaßt. Der 25. Juni war der in der Geschichte der evangelischen Kirche und unseres deutschen Vaterlandes glorreiche Tag, da dieses Bekenntniß im Namen Aller, die sich zu demselben hielten, in Gegenwart des Kaisers und aller Reichsstände öffentlich vorgetragen werden sollte. Der Kaiser wollte anfangs, daß es in lateinischer Sprache verlesen werden sollte; und so wäre es von den Meisten nicht verstanden worden. Aber der Churfürst von Sachsen, Johann der Standhafte, erklärte: da wir auf deutschem Grund und Boden sind, werden wir doch wohl deutsch reden können! Und es war eine Verherrlichung der deutschen Zunge, daß ein so einfaches und kräftiges Zeugniß von Christo dem Heiland in derselben öffentlich ausgesprochen wurde. Luther schrieb damals: das herrlichste, was auf diesem Reichstag geschehen, ist dieses, daß Christus in einem so klaren Bekenntniß verkündigt und gepriesen worden. Und er pflegte in seinen nach Augsburg geschriebenen Briefen den Melanthon daher mit dem Ehrentitel des Confessor, des Bekenners zu bezeichnen. Es geschah nun nicht, wie man nach dem Ausschreiben des Reichstages erwartet hatte, daß auf Grundlage des übergebenen Bekenntnisses Unterhandlungen zur Ausgleichung der Religionsstreitigkeiten angestellt wurden, sondern es wurde dasselbe mehren Theologen der anderen Parthei, die zu den heftigen Eiferern gehörten, zur Widerlegung übergeben. Es ging daraus die Confutationsschrift derselben hervor. Nachdem diese öffentlich vorgelesen worden, verlangten die Protestanten, daß ihnen ein Exemplar derselben mitgetheilt werde. Dieß wurde ihnen aber nur unter einer Bedingung, die sie nicht annehmen konnten, bewilligt, der Bedingung, daß sie jene Schrift geheim halten und auf ihre Widerlegung sich nicht einlassen wollten. Unterdessen hatte man doch bei dem Vorlesen jener Confutationsschrift manches aufzeichnen gekonnt, was von Melanthon benutzt wurde für den ersten Entwurf einer Vertheidigungsschrift. Und da man später ein vollständiges Exemplar der Confutationsschrift erhielt, konnte Melanthon eine ausführlichere Vertheidigungsschrift jenes ersten Bekenntnisses danach entwerfen. So entstand dann jene treffliche Schrift Melanthons, welche als Vertheidigungsschrift für jenes erste Bekenntniß den Namen der „Apologia“ erhielt, zum Unterschied von jener

Nun kam aber für Melanthon das Schwerste und Mißlichste. Um dem Ausbruch eines Religionskrieges vorzubeugen, sollte endlich ein Versuch gemacht werden, durch Verhandlungen über die streitigen Punkte in der Religion von beiden Seiten eine Ausgleichung herbeizuführen. Es ist aber immer schlimm, wenn die religiösen Gegenstände in eine solche Diplomatik, wie sie bei den Unterhandlungen über Krieg und Frieden, die Grenzen der Ländergebiete zwischen Fürsten stattfindet, hineingezogen werden. Solche Versuche gehören zu dem Krankhaften jener Zeit. Es handelte sich hier von zweien entgegengesetzten Richtungen in der Auffassung des Christenthums und der Gestaltung der Kirche. Die Einen wollten den alten Standpunkt der kirchlichen Entwicklung festhalten, wenn auch von manchen fremdartigen Auswüchsen und Mißbräuchen ihn reinigen, die Anderen von Christus als der unwandelbaren Grundlage des Heiles und der Kirche aus und von seinem Worte aus Alles reinigen und erneuen, unabhängig von allen Menschensatzungen. Man konnte sich nun wohl bei dem Bestehen dieses Gegensatzes doch zum Bewußtsein gemeinsam anerkannter Heilswahrheiten erheben, aber über diesen Gegensatz selbst konnte man, nachdem er einmal hervorgetreten war, nicht hinweg. Er konnte durch keine Unterhandlungen gemildert oder beseitigt werden, wenn nicht die eine oder die andere der streitenden Partheien ihren Standpunkt und ihre Grundsätze verleugnen wollte. Luther hatte daher ganz Recht, wenn er sagte, daß zwischen ihm und dem Papstthum kein Vergleich möglich sei, wenn nicht der Papst sein ganzes Papstthum abthun wolle. Aber Melanthon verfuhr bei solchen Verhandlungen immer nach jener seiner eigenthümlichen Richtung und jenen Grundsätzen, die wir vorhin bezeichnet haben. In dem Grundwesen der Lehre wollte er nichts nachgeben; die Rechtfertigung durch den Glauben allein hielt er immer fest. Schon unter jenen Verhandlungen zu Augsburg trat, wie wir aus dem Munde Melanthons vernehmen, einer auf, welcher sich eine solche verwässernde Ausdeutung jener Lehre erlaubte, wie sie nachher in der neusten Zeit in der evangelischen Kirche selbst bei solchen, die von ihrem Wesen abfielen, wieder hervorgetreten ist: Es solle dadurch nichts Anderes bezeichnet werden, als daß die Gerechtigkeit des Menschen von der Gesinnung ausgehen müsse, Gott mit reinem Herzen müsse verehrt werden. Und wenn man auf solche sophistische Weise diese Lehre zu verdrehen sich erlaubte, dann konnte man freilich leicht schon in den alten vorchristlichen Autoren Spuren jener Wahrheit finden und sich wundern, daß darüber soviel gestritten werde. Melanthon aber war, wie wir gesehen haben, von dem wahren Sinn jener Lehre tief durchdrungen; und es war ihm das Wichtigste, dieses Kleinod der evangelischen Kirche rein zu erhalten. Doch in dem Aeußerlichen, in der Kirchenverfassung glaubte er desto mehr nachgeben zu müssen und erklärte sich immer bereit dazu, das ganze alte Kirchengebäude mit dem Papstthum an der Spitze auch für die evangelischen Gemeinden anzunehmen, wenngleich unter solchen Bedingungen, wodurch die Reinerhaltung der evangelischen Wahrheit in der Lehre gesichert wurde. Hätte ein solcher Vergleich wirklich zu Stande kommen können, so hätte es zum großen Nachtheil der evangelischen Kirche gerathen müssen. Diese würde ihr wahres Wesen immer mehr eingebüßt haben. Wir sehen hier, wie jeder eigenthümlichen großen Gabe auch ihre Einseitigkeit sich beigesellt, wenn sie nicht durch andere Gaben ergänzt wird. Es war wichtig, daß ein Luther, ohne den von Anfang an die Reformation als neue Schöpfung nicht zu Stande gekommen wäre, auch in den Kämpfen für die Erhaltung der aus dieser Schöpfung hervorgegangenen evangelischen Kirche dem vermittelnden und versöhnlichen Geist eines Melanthon zur Seite stehen mußte. Bei allem dem, da Melanthon diesen Standpunkt einmal einnahm, gehörte zu dem, was den Eiferern als Zaghaftigkeit erschien, mehr Selbstständigkeit des Geistes und Muth, als wenn er sich ihnen in der Behauptung des schroffen Gegensatzes gegen die römische Kirche zugesellt hätte. Denn den Vertretern des römischen Kirchensystems, dem Kaiser selbst konnte er es doch nicht recht machen. Da er einmal nachgab, sollte er weit mehr nachgeben; sein Festhalten dessen, was ihm das Wichtigste war, wurde von denen, welche nur von dem diplomatischen Gesichtspunkt aus die Sache betrachteten, als Eigensinn gedeutet; und sie gaben es ihm oft Schuld, wenn aus den Vergleichsverhandlungen doch nichts wurde. Mit den Eiferern der evangelischen Kirche mußte es aber Melanthon auf diese Weise ganz verderben, und setzte sich immer mehr ihrem Argwohn aus. Nach jenen Grundsätzen handelte er auch, als er, ohne auf das Geschrei, das er dadurch über sich herbeizog, zu achten, bei der von Luther aufgesetzten Bekenntnißschrift der Schmalkaldischen Artikel im J. 1536, wo Luther im vierten Artikel vom Standpunkte der evangelischen Kirche mit Recht jedes sichtbare Haupt als etwas der wahren Einheit der Kirche nicht Förderliches, sondern nur Nachtheiliges verwarf, den Zusatz machte, wodurch er sich von seiner Seite bereit erklärte, die Oberhoheit des Papstes auch für die evangelischen Kirchen als menschliche Ordnung gelten zu lassen, insofern der Papst das Evangelium, d. h. die reine, wiederhergestellte evangelische Lehre nur gelten lassen wolle.

Ebenso verfuhr er auf dem Reichstag zu Regensburg im J. 1541. Da war nämlich der erste Versuch gemacht worden zu einem sogenannten Interim, d. h. einer einstweiligen Ausgleichung der Religionsdifferenz, die bis zu einer letzten Entscheidung eines allgemeinen Concils gelten sollte. Der Domherr Johann Gropper von Cöln und der gewandte Diplomat in der Umgebung des kaiserlichen Ministers Cardinals Granvella, Gerhard Voltröck, vielleicht mit der Zuziehung mancher Anderen hatten einen solchen Vergleich entworfen. Durch gegenseitiges Accordiren sollten die Partheien einander näher gebracht werden. Es hieß dieß, wie der Churfürst Johann Friedrich mit Recht sagte, den neuen Wein in alte Schläuche gießen, ein Stück neues Tuch auf ein altes Kleid flicken; es konnte daraus nichts werden. Melanthon, der tiefe Kenner der Geschichte, welchem eben sein tiefer geschichtlicher Blick etwas Prophetisches gab, erkannte von Anfang an, indem er solche Vereinigungsversuche mit ähnlichen in der früheren Geschichte verglich, daß dadurch nichts gewonnen, sondern das Uebel nur ärger gemacht werden konnte. Da er aber einmal an jenen Verhandlungen Theil nehmen mußte, glaubte er von den bezeichneten Grundsätzen nicht abweichen zu können, so viel Verdruß ihm auch daraus erwachsen mußte. Er selbst bedauerte es oft sehr, daß er an diesen diplomatischen Unterhandlungen Theil nehmen mußte. Es gehörte von seiner Seite viel Selbstverleugnung dazu; seine einfachen Sitten und sein offenes Wesen paßten nicht für solche Diplomatik und für den Verkehr mit den Großen des geistlichen und weltlichen Standes. Viel lieber wäre er bei seinen Büchern, bei der Wissenschaft und dem Unterricht der Jugend allein geblieben, wie er diesen für etwas weit höheres und wichtigeres hielt, als alle jene öffentlichen Unterhandlungen. Sein Leben wurde ihm dadurch verbittert.

Wir müssen hier noch etwas nachholen, das wir, um den geschichtlichen Zusammenhang nicht zu unterbrechen, bis hierher verspart haben und was zur Charakteristik des großen Mannes wichtig ist. Das Jahr 1540 war für ihn ein schweres Jahr. Tiefen Schmerz machte es den Theologen, daß sie den Landgrafen Philipp von Hessen, der seiner Sinnlichkeit unterliegend tief fiel, nachdem er so Großes für die Sache der Reformation gethan hatte, von seiner unchristlichen Doppelehe mit der Margarethe von Sala nicht hatten zurückhalten können. Melanthon konnte es zumal nicht verschmerzen, daß er gegen seinen Willen der Schließung der Hochzeit zu Rotenburg hatte beiwohnen müssen. Der Kummer lastete schwer auf seinem Herzen. Mit bedrücktem Gemüth und voll Todesahnung verließ er nachher Wittenberg, um einer Erneuerung jener traurigen Vergleichsverhandlungen zu Hagenau beizuwohnen. Aus den Thoren fahrend sprach er die Worte: Auf den Synoden haben wir gelebt, so wollen wir in den Synoden auch sterben. Auf der Reise in Weimar im Monat Juni unterlag sein zarter Körperbau dem innern Seelenkampf. Er verfiel in eine schwere Krankheit, die ihn an den Rand des Grabes führte, und er war des Lebens satt. Seine zarte Gewissenhaftigkeit ließ ihm keine Freudigkeit länger zu leben. Schnell wurde in der großen Noth Luther von Wittenberg herbeigeholt. Derselbe erschrack bei dem Anblick seines Freundes, der dem Tode ganz nahe zu sein schien, und der keine ermunternde Vorstellungen hören wollte, nicht dazu gebracht werden konnte, etwas zu sich zu nehmen. Luther trat an’s Fenster, betend mit der ihm eignen Inbrunst und jener Zuversicht des Glaubens, der Berge versetzen kann. Dann trat er durch das Gebet gestärkt, mit göttlicher Kraft erfüllt von Neuem an das Bett Melanthons und drang in ihn, daß er essen sollte. Da Melanthon sich immer weigerte, gebot ihm endlich Luther im Namen Christi, etwas zu sich zu nehmen, indem er sprach: „Du mußt essen, oder ich thue dich in den Bann.“ Der Macht seiner Worte und seiner Erscheinung mußte Melanthon nachgeben. Es war dieß der Anfang seiner Genesung, wie er selbst dieß Luther verdankte und in einem Brief an Camerar schreibt: „Luther hat seinen Schmerz unterdrückt, um den meinen nicht zu vermehren und mit der höchsten Seelengröße aufzurichten gesucht, nicht allein, indem er mich tröstete, sondern oft auch, indem er hart mir zusetzte. Wenn er nicht zu mir gekommen wäre, würde ich gestorben sein.“

Wir haben gesehen, wie Melanthon in selbstständiger eigenthümlicher Entwicklung neben Luther herging, beide einander gegenseitig anerkannten in ihrer Verschiedenheit, durch die Einheit des Geistes mit einander verbunden. Das Lutherische und Melanthon’sche Element hätte immer verbunden bleiben und sich gegenseitig ergänzen müssen zur gedeihlichen Entwicklung der evangelischen Kirche und ihrer Theologie insbesondere. Der Zwiespalt zwischen diesen beiden Richtungen des reformatorischen Geistes, ein Kampf, vermöge dessen die eine oder andere unterdrückt werden sollte, mußte den nachtheiligsten Einfluß auf den Entwicklungsgang der evangelischen Kirche ausüben. Es ist dieses der Keim der nachfolgenden Uebel. Jene Parthei der beschränkten Eiferer für den Buchstaben der lutherischen Lehrform, von der wir vorhin gesprochen haben, hatte immer mehr um sich gegriffen. Männer dieser Parthei in Luthers Umgebung wußten die Schwäche des der Last seiner Arbeiten unterliegenden und früh alternden, durch die Trübungen, die das göttliche Werk erfahren mußte, und durch seine Kränklichkeit oft finster gestimmten Mannes zu benutzen, um Argwohn gegen seinen alten Freund und Mitkämpfer in ihm zu erregen und den Saamen des Zwiespalts auszustreuen. Es wurde ihm ja gesagt, daß er eine Schlange in seinem Busen hege. Melanthon hatte viel zu leiden und zu tragen, und nur durch seine Vorsicht und Besonnenheit, zarte Schonung, Mäßigung und Geduld konnte der Ausbruch eines offenen Kampfes verhindert werden. Schon fürchtete Melanthon, daß er Wittenberg werde verlassen müssen. Doch Luthers große Seele wußte sich aus diesen Zerwürfnissen immer wieder zu ermannen. So lange er lebte, wurde jene Parthei der beschränkten, leidenschaftlichen Eiferer doch durch sein Ansehn einigermaaßen gezügelt. Alles änderte sich mit seinem Tode; und dazu kamen noch in dieser Zeit manche andere traurige Umstände, durch welche das längst glimmende Feuer zum Ausbruch gebracht wurde. Es begannen die heftigen Kämpfe in der evangelischen Kirche selbst, welche bis zum Tode Melanthons fortdauerten, welche ein Leben voller Bitterkeit ihm bereiteten, seine segensreiche Wirksamkeit vielfach störten, unter denen er aber auch mannichfach Gelegenheit erhielt, seine Sanftmuth, Milde, Geduld und Mäßigung zu erproben.

Es erfolgte der Schmalkaldische Krieg, der Sieg des Kaisers Karls V., die Uebertragung der Churwürde von dem hochherzigen Johann Friedrich, der in die Gefangenschaft des Kaisers gerathen war, auf den jungen Herzog Moritz von Sachsen, der von der Sache des evangelischen Bundes sich losgesagt hatte, das neue Interim zu Augsburg im J. 1548, welches ein noch schlimmeres Flickwerk war und der Sache der Protestanten noch nachtheiliger. Melanthon sprach sich zuerst auf das Offenste und Nachdrücklichste dagegen aus, zeigte, welche Unruhen für die Gewissen daraus hervorgehen würden, wie die Anrufung Gottes die zarteste Sache sei, und man hier besonders alle Veränderungen meiden müsse, die Anstoß geben und die Gemüther irre machen könnten. Er zog sich durch seine Erklärung, die dem Kaiser hinterbracht wurde, dessen Ungnade zu. Derselbe war schon gegen ihn sehr erzürnt durch ein Gerücht, das ihn als Verfasser einer Schmähschrift gegen den Kaiser bezeichnete. Schon hatte er die Auslieferung Melanthons als Störers der Ruhe verlangt; nur mit Mühe konnte der Churfürst Moritz ihn besänftigen. Noch glaubte Melanthon nachher bei den weiteren Verhandlungen, aus denen in der Anwendung auf die kirchlichen Verhältnisse in Sachsen das sogenannte Leipziger Interim hervorging, nach denselben Grundsätzen, wie bisher handeln zu müssen und zog sich dadurch dieselben Vorwürfe zu.

Alles dieses veränderte sich zwar, da Churfürst Moritz von Sachsen als Kämpfer für die religiöse und politische Freiheit erschien und durch ihn der Passauer Religionsfriede herbeigeführt wurde; aber die einmal angeregten Streitigkeiten dauerten fort. Die Melanthon’sche Schule wurde das Ziel der leidenschaftlichsten Angriffe von den Theologen der anderen Parthei. Die beiden theologischen Schulen: die eine auf der wiederhergestellten Universität zu Wittenberg, an deren Spitze Melanthon stand, und die zu Jena traten einander im heftigen Kampf entgegen. Es war dem Melanthon besonders wichtig, die harten Ausdrücke über eine unbedingte göttliche Vorherbestimmung, über eine unwiderstehliche, mit zwingender Gewalt wirkende Gnade, die Leugnung aller Mitwirkung des freien Willens bei dem Werke der Bekehrung zu verbannen, eine der Gesammtlehre des N. T. von Gottes Eigenschaften, seinen Heilsrathschlüssen und der Heilsordnung angemessenere, den religiösen Bedürfnissen mehr entsprechende Entwicklung der Lehre zu begründen. Wir erkennen hier bei Melanthon den Zusammenhang seiner Theologie mit dem Leben. Oft wenn er sich oder seine Freunde über den Tod theurer Kinder tröstete, pflegte er zu sagen: „Diese Liebe zu unseren Kindern, die Gott in unser Herz gepflanzt hat, ist uns ein Unterpfand von der Liebe Gottes gegen seinen eingeborenen Sohn und von seiner Liebe gegen uns; ein Gott, der solche Liebe in unser Herz gepflanzt hat, ist kein stoischer Gott, kein Gott der eisernen Nothwendigkeit.“

Ferner gerieth Melanthon mit jenen beschränkten Eiferern besonders in Kampf über die Lehre vom h. Abendmahl. Jener Richtung, welche Melanthon, wie wir gesehen haben, im Gegensatz gegen die Zwingli’sche Auffassung verfolgt hatte, war er immer treu geblieben; aber als das Wesentliche erschien ihm nur die wahrhafte Gegenwart Christi bei der h. Handlung als einer Vermittlung der wahrhaften übernatürlichen Gemeinschaft mit ihm festzuhalten. Von dieser Grundlage aus suchte er eine Ausgleichung des Streites, der die beiden Erscheinungsformen der evangelischen Kirche von einander getrennt hatte, herbeizuführen. Es war dieses durch die Wittenbergische Concordie im J. 1536, obgleich nicht auf die Weise, wie Melanthon, der vielmehr klare Verständigung über die Streitpunkte, als Verdickung des Gegensatzes wünschte, es gewollt hatte. Da Calvins Auffassung der Melanthon’sche sich näherte, konnte dadurch eine Ausgleichung desto mehr befördert werden. Aber durch jene Eiferer wurde der Streit schon in den letzten Jahren von Luther’s Leben von Neuem hervorgerufen, und dieses wurde nachher ein Hauptgegenstand des Streites. Melanchthon trug den Gedanken einer wahrhaften Union in sich, welcher damals noch keinen fruchtbaren Boden finden konnte. So sprach er sich aus in einem einige Monate vor seinem Tode geschriebenen Gutachten für den Churfürsten von der Pfalz auf Veranlassung der in Heidelberg ausgebrochenen Streitigkeiten: „Der Sohn Gottes ist gegenwärtig im Dienst des Evangeliums, und hier gewiß wirksam in den Gläubigen, und er ist gegenwärtig nicht um des Brodes, sondern um des Menschen willen;“ und er beruft sich auf die Aussprüche in den letzten Reden des Johanneischen Evangeliums über seine Gemeinschaft mit den Gläubigen. „Und in solchen Worten wahrhaften Trostes,“ sagt er dann, „bezeugt Christus, daß wir seine Glieder sind, und daß er unsere Leiber auferwecken wird.“ So sprach sich Melanthon aus, da er schon dem Ausbruch heftiger Stürme entgegen sah, durch welche die letzten Tage seines Lebens voll Mühe und Arbeit würden beunruhigt werden. Er war entschlossen, so sehr er auch den Streit zu vermeiden und die christliche Eintracht zu erhalten suchte, doch, was er als wahr erkannt hatte, nicht zu verleugnen, es koste was es wolle. Er sah schon der Verbannung entgegen. Seine wüthenden Feinde hatten gedroht, es solle kein Fuß breit Landes zur Ruhe ihm übrig bleiben. Unter diesen für Melanthon’s Gemüth so schmerzlichen und drückenden Streitigkeiten, unter so vielem Undank und so vieler Verkennung, die er zu erfahren hatte, erfüllte ihn in dem letzten Jahre vor seinem Tode ein besonderes Heimweh. Er sehnte sich mitten aus dem Streit in das Land des Friedens, aus dem Dunkel des irdischen Lebens, wo so viel gestritten wurde über das Verhüllte und nicht Verstandene in das Licht der unmittelbaren Anschauung. Eine tiefe Ahnung verkündigte ihm zum Trost, daß er bald dahin gelangen werde, erlöst aus den Zerwürfnissen des irdischen Lebens. So schreibt er im Mai des J. 1559: „Nicht ungern werde ich, wenn Gott es will, aus diesem Leben scheiden, und wie der Wanderer, der bei Nacht seinen Weg macht, begierig der Morgenröthe entgegensieht, so erwarte auch ich begierig das Licht der zukünftigen himmlischen Academie.“ „In jener himmlischen Gemeinschaft,“ schreibt er seinem Freund, „werde ich Dich wieder umarmen und erfreut werden wir dann über die Quellen der himmlischen Weisheit mit einander reden.“ Und im August desselben Jahres: „Ich denke täglich an jene letzte Reise und begierig erwarte ich jenes Licht, in welchem Gott sein wird Alles in Allem und fern sein werden die Sophistereien und die Verleumdungen.“ Die in diesem Brief enthaltenen Gedanken sprechen sich auch aus in den Worten, die Melanthon wenige Tage vor seinem Tode aufgeschrieben hatte und die man auf seinem Pulte fand, worin er die Trostgründe bei dem ihm bevorstehenden Abschied aus dem irdischen Leben sich vorführt, und darunter rechnete er, wie daß er befreit werde von der Wuth der Theologen, so daß er gelangen werde zur Anschauung Gottes und Christi und klar erkennen, was ihm hienieden verhüllt und verborgen war, warum wir gerade so erschaffen worden, wie die Verbindung der beiden Naturen in Christo beschaffen sei.

Aus der Zeit der letzten Krankheit Melanthon’s wollen wir etwas für den Mann und die Zeit Charakteristisches anführen. Der Herzog Albrecht von Preußen, der großmüthige Gönner aller derer, welche für Kirche oder Wissenschaft thätig waren, der mit Melanthon einen lebendigen Briefwechsel über Kirchen- und Staatsangelegenheiten unterhielt, er wünschte ihn damals durch ein Ehrengeschenk zu erfreuen, war aber ungewiß, ob er ihm lieber eine Summe Geldes oder etwas Anderes schenken sollte. Er trug Justus Jonas dem Jüngeren zu Wittenberg auf, ihm sein Gutachten darüber mitzutheilen. Dieser wandte sich an Melanthon’s Schwiegersohn, den churfürstlichen Leibarzt, Professor der Medicin und Geschichte, Kaspar Peucer. Derselbe sagte zu ihm, wie er in einem Brief an den Herzog anführt: „Ich wollte, daß Keiner meinem Schwiegervater Geld schenken möchte; denn wenn ihm Geld geschenkt wird, so hilft das weder ihm, noch seinen Kindern, denn er verschenkt es wieder. Ich sehe wohl, wie er thut, wenn seine Besoldung einkommt: da giebt er davon hinweg, so lange ein Heller da ist. Was dann in dem Haushalt fehlt, muß ich hinzuthun. Darüber werden wir alle beide nicht zu reich.“ Er rieth daher vielmehr, daß dem Melanthon ein Becher geschenkt werde. Und ein solcher hundert Thaler an Werth wurde darauf angeschafft; er traf aber ein, als Melanthon schon gestorben war. Vor seinem Tode am 19. April des J. 1560 ließ er sich mehrere seiner Lieblingsstücke aus der h. Schrift vorlesen, dieß waren der 24, 25 und 26ste Psalm, das 53ste Kapitel des Jesaias, das hohepriesterliche Gebet Christi und das 5te Kapitel des Briefes an die Römer. Es waren die letzten Worte, die er vernehmlich reden konnte: „Der Spruch Johannis ist mir immer vor Augen und im Herzen: Wie viele ihn aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, die an ihn glauben.“

A. Neander in Berlin

Evangelisches Jahrbuch für 1856 Herausgegeben von Ferdinand Piper Siebenter Jahrgang Berlin, Verlag von Wiegandt und Grieben 1862

Joachim Mörlin

Joachim Mörlin

Joachim Mörlin wurde am 6. April 1514 zu Wittenberg geboren. Sein Vater, Jodocus Mörlin, war damals Professor der Metaphysik, ergab sich aber bald nachher der Theologie und wurde auf Luther’s Veranlassung Pastor zu Welschhausen bei Coburg. Joachim ging in seinem 18. Jahre nach Wittenberg, wo ihn besonders Luther begeisterte. 1539 wurde er dessen Capellan und schon 1540 Doctor der Theologie. Noch in demselben Jahre berief ihn auf Luther’s Rath der Graf von Schwarzburg zum Prediger nach Arnstadt. Ungerechtigkeiten, in’s Besondere Wucher des dortigen Magistrats gegen das Hospital, veranlassten ihn zu scharfen, Anfangs geheimen, später öffentlichen Rügen, und als der Graf einen Menschen wegen Entwendung einiger Fische aufhängen liess, eiferte Mörlin dagegen auf der Kanzel. Heftig darüber angefeindet schrieb er an Luther, der ihm 1543 am Tage Cäciliä erwiderte, „dass er dem Zorn Raum geben, weichen und den Staub von den Füssen schütteln sollte.“ Die Absetzung gestattete ihm bald keine Wahl mehr. Er verliess die Stadt und besuchte Luther, dessen Abschiedsworte lauteten: „Lieber Dr. Mörlin, thut nicht sorgen. Sie werden’s versuchen, der Kaiser und Papst, wie sie das Evangelium dämpfen, aber umsonst. Gott wird’s wohl machen. Hier wehre ich den Antinomis, und draussen wachsen sie mir dieweil über den Kopf.“

1544 folgte Mörlin einem Rufe zum Prediger und Superintendenten in Göttingen, wo er im Genuss der Liebe seiner Gemeinde bis 1548 ungestört wirkte. Aber das Interim brachte neue Kämpfe und Leiden. Er predigte heftig dagegen. „Hierdurch“ – so berichtet Rehtmeyer – „ist einer von den Bürgern dergestalt bewogen und angefeuert worden, dass er in der folgenden Nacht das kaiserliche Mandat ab- und entzweigerissen und an einen übeln Ort geworfen. Hierauf hat ein R. Rath. D. Moerlinum mit seinen Collegen den 28. Sept. auf das Rathhaus gefordert und gebeten, sie wollten des Interims halben säuberlich thun und doch nicht so hart verfahren. Sie antworteten aber, sie könnten Gewissens halber keine Stunde warten, dieses Buch zu widerlegen und zu verwerfen; wie sie denn auch gethan.“ „Nachher, als den 1. November 1549 M. Antonius Corvinus mit seinem Collegen (er hiess Walther Höcker) von Herzog Erich zu Braunschweig und Lüneburg gefangen und zum Kalenberg gefänglich verwahret war, so wurden auch den 17. Decemb. Briefe an den Rath zu Göttingen gesandt, mit Befehl, dass sie D. Morlinum unverzüglich vor Untergang der Sonne aus seinem ganzen Fürstenthum verweisen sollte. Der Rath aber und die Gemeine wollten nicht alsbald darein willigen, bis der Herzog zum andern und dritten Mal den Befehl mit angehängten scharfen Bedrängungen wiederholte. Desswegen der Rath den 17. Jan. 1550, als der grösste Theil des Volkes in ihren Zünften noch darüber berathschlagte, zu ihm kommen und ihm die Dimission, wiewohl ungern, ertheilet. Weil aber der Fürst das Volk im ganzen Lande aufbieten lassen, damit er ihn zu seinen Händen bekommen möchte, und ihm nachher daher von den fürstlichen Reutern allenthalben der Weg verschlossen war, so erbarmte sich die alte, gottselige Fürstinn Elisabeth, H. Erich’s Mutter, über ihn und liess ihm zu wissen thun, weil es nicht anders sein könnte, wie er sich sollte zur Reise schicken; und sollte sich bald aufmachen, wenn sie ihm mit eigenen Händen schreiben würde, und mit rother Seide vernähet. Also ist er ohne Furcht um 8 Uhr am hellen Tage aus der Stadt Göttingen gezogen, da ihn denn ein Stattlicher vom Adel, der alten Herzoginn Hofmeister, Jobst von Hohnstein (er selbst nennt ihn Leopoldum von Hanstein) mit 14 Reutern den 20 Januar unter Gottes und der heiligen Engel Geleit durch unbekannte Wege bis nach Oldendorp gebracht hat. Nachgehends ist ihm seine Frau mit Kinder gefolget.“ (R.).

Noch in demselben Jahre wurde Mörlin Domprediger in Königsberg. Mit A. Osiander, der wegen des Interims aus Nürnberg vertrieben, dort Anstellung als Professor und Prediger gefunden hatte, gerieth er sofort in die heftigste Fehde. Osiander hatte schon früher die Lehre von der Rechtfertigung durch den wesentlich innewohnenden Christus verkündigt; aber zum Gegenstande öffentlichen Streites wurde sie erst, nachdem sie von ihm in einer Disputation im J. 1550 geltend gemacht und mit ungebürlicher Behandlung seiner Gegner vertheidigt war. Mörlin wurde ihr entschiedenster Widersacher und fuhr fort, sie nach Osiander’s Tode (1552) gegen dessen Schwiegersohn, den Hofprediger Funk, zu bekämpfen. Doch Herzog Albrecht von Preussen war dem Osiandrismus von ganzer Seele zugethan und gab im Jan. 1553 strengen Befehl, diese Lehre nicht anzugreifen. “D. Morlinus aber hielt am Sonntage Estomihi eine scharfe Predigt, darin er zuletzt seine Zuhörer ermahnte, sie sollten zwar dem Fürsten den schuldigen Gehorsam leisten, diesem mandato aber sollten sie nicht folgen, sondern thun, was er thun wollte, nämlich, das Mandat wollte er nicht annehmen, sondern dawider unerschrocken reden und predigen, so lange er seinen Mund regen könnte, wenn ihm auch die Obrigkeit sein Hab und Gut, sein Weib und Kind, ja sein Leben nehmen wollte.“ Hierauf erfolgte vom Herzoge Mörlin’s Amtsentsetzung und Landesverweisung. Der Rath aber sandte ihn vorläufig „auf gemeine Unkosten“ nach Danzig. „Unterdessen war man auf Mittel und Wege bedacht, wie der Fürst zu besänftigen wäre, damit man mit seinem Willen D. Moerlinum wieder zurückbekäme. Es haben sich auch viele vornehme Frauen aus Denen vom Adel und andere Bürgerstandes zusammengethan, welche, mit ihren Kindern 400 Personen ungefähr, den 27. Martii, da der Fürst aus M. Funkens, Pastor in der Altstadt daselbst, Predigt kommen sollte, um 8 Uhr Vormittags nach dem Schlosse gegangen und seiner erwartet. Als nun der Herzog angekommen, haben sie sich vor dem Thor auf beiden Seiten bis an das Schloss getheilet, dass er zwischen ihnen hat können durchgehen. Wie der Fürst auf die Brücke gekommen, haben sie demselben gebührliche Reverenz erzeiget, sind auf die Kniee gefallen und haben ihre Hände aufgehoben. Der Fürst hat erstlich auf beiden Seiten die Knäblein und Mägdlein ungnädig angesehen, hernach aber das Gesicht von ihnen abgewandt, bis er abgestiegen; da sind drei Adelige und sonst eine ehrbare Frau zugetreten und haben dem Herzoge eine Suppli übergeben. Dieser aber hat dieselbe nicht annehmen wollen, sondern sie damit abgewiesen, er könnte sie in diesem Falle nicht hören, sie sollten also ihres Weges gehen, sie würden doch Nichts erlangen. Und wie sie mit ihrer Bitte nicht ablassen wollen, hat er sich in’s Gemach begeben und die Frauen draussen stehen lassen. Hierauf haben sich die Frauen zur Herzoginn gewandt und endlich Dieses erhalten, dass sie die Supplik angenommen. Allein, wie auch die Fürstinn Nichts erlangen können, sind erstlich die Knaben in ihrer Ordnung, hernach die Mägdlein, dann die erwachsenen Jungfrauen und endlich die Frauen in richtiger Procession auf dem Schlossplatze daselbst um den Brunnen herumgegangen und haben erstlich das Lied: Ach Gott vom Himmel, sieh darein, hernach: Es woll uns Gott genädig sein, gesungen, endlich zum Valet angestimmt: Erbarm dich mein, o Herre Gott, und sich also wieder nach Hause begeben. Dem Markgrafen Wilhelm als er dies Jammern und Rufen gen Himmel angehört, sollen die Thränen über die Backen geflossen sein. Welches wir hier desswegen wiederholen wollen, damit man daraus abnehme, wie beliebt dieser Mann zu Königsberg müsse gewesen sein, obwohl nicht zu leugnen, so Viel aus seinen Actionen offenbar, dass er manchen Verdruss durch seine natürlich Hitze sich ohne Noth über den Hals gezogen.“ (R.).

Wenige Tage nach diesem Vorfalle erhielt Mörlin einen Ruf zum Superintendenten nach Braunschweig. Er nahm denselben an und trat im Monat Juli in den neuen Wirkungskreis. Auch dieses Mal hatte er einen unruhigen Anfang. Herzog Heinrich der Jüngere belagerte seit dem 18. Sept. 1553 die Stadt. Am 11. October flog eine zwölfpfündige Kugel in Mörlin’s Haus, doch ohne einen Menschen zu beschädigen. Der Vertrag, welcher am 20. October zwischen dem Herzoge und der Stadt abgeschlossen wurde, sicherte die Freiheit des lutherschen Gottesdienstes bis zum Concilio, und Mörlin konnte im Frieden wirken. „Alsbald fing er in seinen Wochenpredigten an, den Psalter mit grosser Verwunderung auszulegen. Den 27. November 1554, da er den XI. Psalm erklärte (wiewohl er’s sonst fast in allen Predigten zu thun pflegte) bat er getreulich für das graue Haupt zu Preussen, mit Vergessung aller von ihm begegneten Widerwärtigkeiten.“

Noch in demselben Jahre empfing er an dem auf seine Empfehlung zum Coadjutor berufenen Martin Chemnitz einen treuen Mitarbeiter. Er nahm in Braunschweig und von hieraus den lebhaftesten Antheil an den Streitigkeiten über das Abendmahl, über die Rechtfertigung, die guten Werke, den freien Willen, die Adiaphora u.s.w. und war auf verschiedenen Conventen thätig. Seine Kirchenzucht war streng. Unter seinem Präsidium wurde am 17. Juli 1555 beschlossen und am 6. Sonntage nach Trinitatis von allen Kanzeln abgekündigt „dass Diejenigen, welche ungeachtet aller treuherzigen Vermahnungen zum längsten in zween Jahren nicht zum heiligen Nachtmahl des Herrn gewesen, wo sie also verstürben, nicht nach christlichem Gebrauch sollten begraben werden; auf dass sie sich nicht dermaassen ihrer schweren Sünden vor Gottes Gericht theilhaftig machten, sondern ihren Unwillen und Strafe nach Gottes Befehl wider ihre Bosheit offentlich bezeugten, vielweniger zuliessen, dass man fromme, gehorsame Christen und die halsstarrigen Unchristen für gleich Viel achte und also aus der heil. christlichen Religion ein unnöthig Ding machte.“ Zur Zeit der Pest im J. 1566 erwies sich Mörlin als einen unerschrockenen Diener Gottes und schrieb an den zaghaften Superintendenten Eilhard Stygenbode zu Peine einen glaubensmuthigen Brief. Dieser ist lateinisch mit eingestreuten deutschen Exclamationen abgefasst und enthält folgende Stellen: „Gnade und Friede durch Christus, durch Christus sage ich, der die Sünde, der das anklagende Gesetz, also vielmehr jenes Thierchen, welches Pest heisst und unendlich geringer ist, als jene, besiegt hat. Warum seid Ihr denn so furchtsam, lieber Bruder, bei diesem linden Lüftchen, das Niemand verletzt, Niemanden auch nur ein Haar auf dem Haupte bewegt ohne Den, an welchen wir nicht allein glauben, sondern der uns ganz ergreift, und uns nicht allein in seinen Schutz ausser sich, sondern in sich selbst aufnimmt, ganz und gar.“ „Die Zahl Eurer Tage ist beschrieben, bevor Ihr im Mutterleibe empfangen wurdet; diese Zahl wird die Pest nicht verwirren, nicht der giftige Satan, nicht einmal alle Pforten der Hölle.“ „Lasst derhalben gehen, lieber Herr Eilhard, und die Welt mit Pestilenz geschlagen werden, so gross als Essigkrüge, Euer ist die Berufung, unter die Leute zu gehen, sprecht aus dem Munde Christi, nicht des Fleisches: Wo ist der Tod? Wo ist die Pest? Wo ist der Teufel? Hier bin ich, zwar schwach, aber eben desswegen meine Zuflucht zu Dem nehmend, der meine Stärke ist und meine Festigkeit gegen alle Unternehmungen, List und Gewalt der Finsterniss! Und gehet nur dem Teufel zum Trotz frei heraus, wohin Euch der Beruf und die Noth des Nächsten fordert. Gott schickt die Pest, nicht die Pest Gott, nach seinem Willen. Der fromme Gott ist unser, darum heisst er unser Gott.“ „Ich strecke mich täglich demüthig zu seinen Füssen. Will er mich haben, so weiss ich, wo ich hin soll, und ist der Himmel mein, mein, mein, wenn ich tausendmal viel schwächer wäre, so dass die Herrlichkeit des Ruhmes sein ist.“ „Dieses schreibe ich mit gutem und brüderlichem Sinn; denn Ihr seid mir lieb, wie Ihr Christo lieb seid. Der behüte Euch! Unsere Pfosten sind bezeichnet mit dem Blute, wessen? Der behüte Euch abermals und in Ewigkeit. Amen (d. 22. Febr. 1566).“

Mörlin’s Verdienste um Braunschweig werden von Rehtmeyer in folgendem Gesammtlobe beurtheilt: „Er war ein vortrefflicher und eifriger Theologus, der durch seine Beredtsamkeit, Klugheit, Treue und Ansehn die Braunschweigische Kirche in guten Stand gebracht. Unter seiner Aufsicht ist der weltliche und häusliche Stand am ruhigsten und glücklichsten gewesen. Gegen die Vertriebenen und Armen hat er sich oftmals über Vermögen sehr freigebig bezeuget, und ist vor seiner Thür ein jeder Armer mit Geld und Brodt begabet. Seinem Amt hat er mit höchstem Ernst und Eifer, auch löblichem Exempel vorgestanden und oft scharfe Strafpredigten gehalten; dennoch ist er sowohl bei E. E. Rath und Bürgern, als bei seinen Collegen wegen seiner Gottesfurcht und sonderbaren Aufrichtigkeit überaus lieb und angenehm gewesen, indem er seine Kirche und Gemeine herzlich geliebt und das Ministerium in Ehren gehalten; wie denn die Prediger seine Treue und Fleiss oft gerühmt, mit was Ehren er sie tractiret, da D. Medler (M.’s Vorgänger) ihrer nicht geachtet, sondern Alles allein ausrichten wollen. Über des seligen Lutheri Lehre hat er steif gehalten, wider alle damals entstandene schädliche Irrthümer sich geleget, als wider die Majoristen, Osiandristen, Synergisten, Calvinisten cet., wie seine runden und wohlgegründeten Propositiones und Streitschriften ausweisen. So hat auch das hiesige Ministerium durch seine gute Anführung dawider privatim und publice gelehret und bei seinem Abschiede sich darüber vereiniget und erkläret. Insonderheit hat er vom heil. Abendmahle die Meinung Lutheri behalten, quod Christi corpus in, cum et sub pane sit: dass der Leib und das Blut Christi wahrhaftig und wesentlich in, mit und unter dem Brodte und Weine sei, wie er denn oft im Munde geführet: Du muss nicht sagen Mum, Mum, sondern du musst sagen, was dieses ist, das der Priester in der Hand hat. Von Luther’s Catechismo hat er sehr Viel gehalten und denselben der lieben Jugend trefflich vorgetragen, so dass D. Chemnitius von ihm schreibt: „Ich gedenke oft an den guten Moerlinum, wie er pflegte mit der Catechismuspredigt zu prangen und dazu so freudig war, wenn die Zeit herbeikam, dass er die jährlich auf die Quartal oder halbe Jahr predigen möchte, und die christliche Lehre daraus einfältig seinen Zuhörern erklären; Das zog er ihm zum höchsten Ruhme, wenn er damit seine Kunst beweisen möchte.“ Die jungen Prediger, so erst in’s Amt gekommen, hat er gepflegt also anzureden: Arbeite redlich, meine es treulich und bete fleissig, so giebt Gott seinen Segen reichlich. Also ist er ein Mann gewesen, der alles Ruhmes, Ehre und Hochachtung würdig, und der Das, was sonst einem Christen von Glück oder Unglück zu begegnen pflegt, gering achtete.“

Inzwischen war in Preussen der Hass gegen den Osiandrismus immer heftiger geworden. Funk vermochte, selbst als er widerrufen hatte, nicht wieder zu Ehren gelangen. Ihm, als dem Beichtvater des Herzogs, wurde die Schuld von der Verletzung der Landschaftsprivilegien aufgebürdet, und er endete sein Leben auf dem Schaffot (1566). Als jetzt die Herzoginn von Mäckelnburg bei ihrem Vetter, dem Herzoge Albrecht, Mörlin vertrat und jener überdies vernahm, wie Mörlin „in allen Predigten hier zu Braunschweig treulich für das alte graue Haupt in Preussen zu beten beföhle,“ wurde er milder gegen ihn gesinnt und rief ihn in einem sehr freundlichen Schreiben 1567 nach Königsberg zurück. Mörlin wurde hier Bischof von Samland, stellte sofort in der Repititio corporis doctrinae christianae die reine luthersche Lehre wieder her und pries trotz seiner Liebe zu Braunschweig die Gnade Gottes für seine Wiederberufung. Er wolle nicht ein Fürstenthum darum nehmen – erklärte er – dass er die Braunschweigische Kirche verlassen habe. In den Worten, die er von Königsberg aus an seinen Freund Lampe in Braunschweig schrieb: “homines hic nos esuriunt et sitiunt, aber Braunschweig ist mein Herz“ lag dem Knechte Gottes der Ton auf der ersten Hälfte. Es waren ihm indess nur noch wenige Jahre zugezählt. Häufig von Steinplagen heimgesucht starb er zu Königsberg den 23. Mai 1571 an den Folgen einer schmerzlichen Operation.

Über Mörlin’s Predigten sagt sein Sohn Hieronymus in der Vorrede zu der von ihm herausgegebenen Evangelienpostille seines Vaters: „Es leben noch viel Leute, welche D. Mörlin herzlich gern und mit Lust haben hören, weil er im Leben war, predigen. Wiewohl die lebendige Stimme alle zeit mehr der Zuhörer Herzen durchdringet und beweget, aber doch auch in den Schriften der gottfürchtigen und hochbegabten Leute der Geist Gottes dabei ist und seine sonderliche Kraft von sich blicken lässt. Denn Das ist noch manchem redlichen Christen, Beide, allhie in Preussen und Deutschland, wohl bewusst und bekannt, dass mein lieber Vater D. Mörlin mit sonderlichen, schönen, fürtrefflichen Gaben von Gott begnadet gewesen, dass er den rechten Grund göttlicher Lehre durch Gottes Gnade wohl gefasst und verstanden, auch nicht ein Scheinheiliger, sondern mit allem Ernst gottfürchtig gewesen, dem auch nicht allein auf der Zunge Gottes Wort schwebte, sondern es stak ihm mitten im Herzen, dass Wort, Gebärde und Herz und Alles, was in ihm war, ernstliche Gottesfurcht war. Und er hatte (dass ich andere Gottesgaben in ihm auch dies Mal übergehe) eine sonderliche Gnade in der Predigt, Gottes Wort dem gemeinen Volke fürzutragen, also, dass er mit grosser Weisheit konnte erwählen und auslesen, was seinen Zuhörern am allernöthigsten, fruchtbarlichsten und heilsamsten war. Er konnte auch die Lehre also ordentlich setzen und abtheilen, dass man sie wohl und eigentlich merken konnte. Über Das hatte ihm Gott gegeben eine wohlberedte Zunge, dass er mit guten, eigentlichen, verständlichen Worten ohne allen Zwang und Affectation die hohen Geheimnisse Gottes konnte ausreden und dermaassen ausstreichen, dass Jedermann mit Lust und Liebe und grossem Nutzen ihm zuhörte. Er bearbeitete sich auch mit allem Fleiss, auf das Nächste, als er immer konnte, dem theuern Mann Gottes Luthero (welcher in Deutschland mit Predigen der ganzen Christenheit fürgegangen, und aus welches Predigten andere nützliche Prediger entstanden, und aus welches Postillen alle reinen Postillenschreiber jetziger Zeit in der Kirche Gottes entsprungen und hergeflossen, ob es gleich etliche kürzer, etliche länger, etliche was krauser machen) zu folgen, Beide, in Worten und in der Lehre selbst. Denn er von Jugend auf in der Schulen Lutheri erzogen, dass ich auch hoffe, es werden derenthalben solche Predigten meines Vaters gutherzigen Christen desto lieber und angenehmer sein. Zu Dem sind gegenwärtige Predigten meines Vaters nicht von Jemand unter dem Sermon nur aufgefangen und verzeichnet, sondern er hat sie mit eigener Hand aufgeschrieben und nur seine Gedanken von ersten also formiret und entworfen und hernach auf dem Predigtstuhl fürgetragen. Nun ist Das auch wahr, dass er, wenn seine lebendige Stimme dazu kommen, viel Dings, nachdem der Geist Gottes ihm es hat eingegeben, reichlicher, mit mehren Worten, Sprüchen, Gleichnissen ausgeführt. Jedoch sind die Hauptgründe seiner Predigten hierinnen verfasst und verzeichnet, daran das Allermeiste gelegen.“ Auch Luther gedenkt einer Predigt Mörlin’s und lobt ihre Popularität mit den Worten: „Mir hat M. Joachim Mörlin diesen Tag wohlgefallen mit seiner Predigt. Da handelt er vom Amt der Weiber oder der Mägde, nämlich, dass ein Weib gedenken sollte, dass sie in einem heiligen Stande lebte, item, ein Mann wäre im Hause Gottes Gabe. Eine Magd sollte auch wissen, dass ihr Stand heilig, und ihre Werke heilige, gute Werke wären. Dieses tragen die Leute mit heim; aber was aufgeblasen, hoch und heimlich Ding wäre, Das verstünde Niemand“ (Tischr.). Der Ton seiner Predigten ist im Ganzen still und mild, wird jedoch, auf besondere Veranlassung falscher Lehrer, stürmisch und heftig. Letzteres gilt vorzugsweise von den zu Königsberg (1551) gegen Osiander gehaltenen Predigten. Die Textanalyse ist kunstlos und allein auf die Erbauung gerichtet, die leider hie und da durch Einmischung lateinischer Sätze gestört wird.

Mörlin verfasste u.a. folgende Schriften: Epistola ad Andr. Osiandrum. 1551. 8. Contra sacramentarios disputationes duae: 1. de Coena Domini – 2. de communicatione idiomatum. 1561. 8. Von dem Berufe der Prediger, und wiefern die weltliche Obrigkeit Macht hat, selbige ihres Amts zu entsetzen. Eisleben 1565. 4. Postilla oder summarische Erinnerung bei den sonntäglichen Jahresevangelien und Catechismi, D. Joachimi Morlini, etwa Bischofes auf Samland. 1587. Aus den Concepten mit seiner eigenen Hand verzeichnet, treulich zusammengetragen (von Hieronymus Moerlin, Pfarrer zu Tilsit). Erfurt 1587. fol. Predigten über die Psalmen (herausgegeben von Demselben). Erfurt 1580. fol. Enchiridion, der kleine Catechismus Lutheri in Fragstücke verfasst. Leipz. 1560.

Die bedeutendsten Kanzelredner der lutherschen Kirche des Reformationszeitalters, in Biographien und einer Auswahl ihrer Predigten dargestellt von Wilhelm Beste, Pastor an der Hauptkirche zu Wolfenbüttel und ordentlichem Mitgliede der historisch-theologischen Gesellschaft zu Leipzig Leipzig, Verlag von Gustav Mayer. 1856

 

Georg Mylius

Georg Mylius (Müller), der Sohn eines Zimmermanns, war 1548 zu Augsburg geboren. Sein Grossvater, Johann Gering, hatte von seinem Gewerbe den Namen Müller erhalten, sich aber auch als Kriegsmann unter Kaiser Karl V., dem er besonders lieb war, ausgezeichnet. Georg’s Geistesgaben erregten schon früh grosses Aufsehn. Er schien, sagte Hutterus, das, was er lernte, weniger von seinen Lehrern zu empfangen, als aus sich selbst hervorzubringen. Schon im siebenten Lebensjahr konnte er über die Artikel der lutherschen Religion Rede und Antwort geben. Dabei waren seine Sitten streng, ernst und anmuthig. Seit 1566 besuchte er die Universitäten zu Strassburg, Tübingen und Marburg. Von hier wurde er, mit vortrefflichen akademischen Zeugnissen und der Magisterwürde geschmückt, 1572 von seiner Vaterstadt zum Diakonus bei’m heiligen Kreuz berufen. Bald darauf verheirathete er sich mit Barbara Grundler. Nach siebenjähriger treuer, tiefeindringender Amtsführung sandten ihn die lutherschen Augsburger nach Tübingen, wo er unter Heerbrand’s Vorsitze über die Gräuel der katholischen Messe disputirte und zum Doctor der Theologie promovirt wurde. Nach seiner Rückkehr, im December 1579, erhielt er die Predigerstelle zu St. Annä und acht Monate darauf die Generalsuperintendentur. Mit brennendem Eifer und unerschütterlicher Kraft vertrat er in diesen Ämtern die luthersche Kirche gegen Papismus und Calvinismus; in’s Besondere schärfte er die Kirchenzucht und reformirte er die Schulen. Sein entschiedener Widerwille gegen Alles, was von der katholischen Kirche ausging, machte ihn zu einem heftigen Widersacher des Gregorianischen Calenders, dessen Einführung vom Augsburger Senate, der grösstentheils aus Papisten bestand, beschlossen wurde. An der Spitze der gleichgesinnten Lutheraner, die selbst durch ein verschriebenes Heer roher, räuberischer Soldaten in ihrem Widerstande nicht gehemmt werden konnten, war er dem Hasse der Jesuiten am meisten ausgesetzt. Sein Bildniss soll damals in Rom aufgehängt und beschimpft worden sein. Indessen erlangte die starke luthersche Bevölkerung Augsburg’s bei dem Kammergerichte zu Speier eine Resolution, nach der sie bei dem alten Calender bleiben durften. Doch protestirte der Rath mit Anführung folgender Gründe: „Diese Sache ist nicht mere spiritualis, sondern hat auch ihre vernünftigen Ursachen und ist nicht allein zur Erhaltung guter Polizei, Ruhe, Friedens und Vertraulichkeit zwischen den Einwohner einer Stadt, darinnen beide im heiligen römischen Reich zugelassene Religionen in Übung sind, sondern auch zur Fortsetzung der Hanthierungen, bürgerlichen Nahrung und Commereien (ohne welche kein bürgerliches Wesen in die Harr bestehen mag) fast dienstlich, mit den Benachbarten der Zufuhr täglicher Victualien, Haltung und Besuchung der Jahrmärkte, so auf gewisse Zeit und Feste gerichtet, Gleichheit zu halten, auch das Gewissen eben daran nicht gebunden, ob 10 Tage früher oder später Ostern und andere gewöhnliche Feste gefeiert und begangen, darin als ein Mittelding die weltliche Obrigkeit nach Gelegenheit der Zeit, Ort und Personen wohl Maass und Ordnung zu geben, auch Änderung fürzunehmen hat, deren die Unterthanen mit reinem, gutem, unverletztem Gewissen wohl geleben mögen, ja mit Nichten sich widersetzen sollen; dieweil einmal die Lehre des heiligen Evangelii im weltlichen Stand und politischen Sachen Nichts ändert, und die Unterthanen ihrer Obrigkeit in allen Dem, so nicht wider Gottes Gebot ist, auch Gewissens halber zu gehorsamen schuldig; wie denn auch fremde nationes, so dem Papstthum nicht anhangen, gleichwohl aus jetzt erzählten und anderen mehr politischen Ursachen sich des neuen Calenders ohne Verwirrung der Gewissen gebrauchen.“ Hierauf cassirte die Kammer ihre erste Resolution und decretirte die Einführung des neuen Calenders (Mai 1584). Nachdem der Kaiser diesen Beschluss bekannt gemacht hatte, erklärte Mylius mit dem geistlichen Ministerium dem Augsburger Rathe, „dass sie in allen politischen Dingen dem Decrete Folge leisten würden, aber in kirchlichen Angelegenheiten, ins Besondere in der Feier der Festtage und in evangelischen Religionsübungen, dem Papste nicht gehorchen könnten.“ Auch proclamirte er sammt seinen Collegen am 24. Mai von der Kanzel, dass sie erst am 28. das Fest der Himmelfahrt feiern würden, welches von den Katholiken bereits begangen war. Schon am andern Morgen kündigte ihm der Rath schriftlich seine Entlassung an, und um die Mittagsstunde liess er eine Kutsche vor M.’s Haus fahren, welche dieser sofort besteigen musste. Man hörte ihn drinnen mit lauter Stimme singen: In dich hab’ ich gehoffet, Herr! Katholische Stimmen aber sollen gerufen haben, dass der Kessel mit Öl, in dem er sieden solle, in Rom schon über’s Feuer gesetzt sei. Der ganze Auftritt, welcher sich bei dieser Gelegenheit entwickelte, ist auf einem alten Kupferstich abgebildet, der folgende Unterschrift enthält: „Wahrhaftige Fürstellung der Begebenheit, so sich A. 1584, d. 25. Maji, mit Herrn D. Georg Müller, hernach Mylius genannt, gewesenem Pfarrer bei St. Anna, auch Superintendens u. Rector des evangelischen Collegii, zugetragen, wie er von unseren Gegner aus seiner Behausung mit einer bedeckten Gutsche zu Mittag, als Jedermann beim Essen war, an der Mauer hinten am Garten abgeholt und dem Gegginger Thor zugeeilt, um ihn zu verführen; weil es aber vom Geschrei der Schüler lautbar worden, ist viel Volks zugelaufen, da haben sich etliche Handwerksgesellen zur Wehre gestellt und den Fuhrmann vom Pferde heruntergeschlagen, auch die Stränge an den Pferden abgeschnitten, auch haben sich die Soldaten zur Gegenwehr stellen müssen, und ein Knabe von sieben Jahren schlug das halbe Thor zu, eine Magd aber riss den Herrn Müller aus der Gutsche und brachte ihn in ein Beckenhaus. Auch wurde zur selben Zeit ein schöner Regenbogen um die Sonne gesehen. Also ist Hrn. D. Müller durch Schickung Gottes aus der Hand seiner Feinde errettet worden.“ (Man findet diese Abbildung und Unterschrift in der Historia Myliana von Joh. Christ. Mylius, Bd. 1, S. 37.) Am Abende jenes leidvollen Tages war es ihm noch vergönnt, einige Stunden heimlich bei seiner hochschwangeren Gattinn und bei seinen Kindern zu verweilen.

Am folgenden Tage entkam er in Weiberkleidern nach Ulm, wo er gute Aufnahme fand und ein Jahr lang lebte. Der Tod seiner Gattinn, den er dort erfuhr, erschütterte ihn aufs tiefste. Dennoch trat er während seines Aufenthaltes in Ulm mit Veronica Weisse, einer angesehenen Patricierstochter aus Augsburg, in eine zweite Ehe. Von allen Seiten empfing er in seinem Pathmos, wie er Ulm nannte, die glänzendsten Beweise der Verehrung und Liebe. Dahin gehörten die Vocationen zum Superintendenten nach Braunschweig und Strassburg, sowie zum Professor, Canzler und Prediger nach Wittenberg. Er folgte der letzten im Juni 1585. Aber die nach dem Tode des Churfürsten August (1586) eintretende Herrschaft des Kryptocalvinismus verleidete ihm seine Wirksamkeit in Wittenberg. Auch wurde er, da er die Unterschrift des Corpus doctrinae Philippicum verweigerte, der Canzlerwürde sofort beraubt. Sehr erwünscht kam ihm daher ein Ruf zum Professor nach Jena, den er im Februar 1589 annahm. Zwei Jahre darauf wurde er dort auch Prediger und Superintendent. Als nach dem Tode des calvinisch gesinnten Churfürsten Christian I. (1591) sein Landesfürst Friedrich Wilhelm die vormundschaftliche Regierung Chursachsens führte, wurde Mylius mit Hunnius, Mirus  und Lonnerus zur Abfassung der sächsischen Visitationsartikel herangezogen, und er gewann dadurch, sowie durch seine Mitarbeit an der praktischen Durchführung derselben in der meissnischen Visitation, einen bedeutenden Einfluss auf die Befestigung der lutherschen Kirche.

Nach Hunnius’ Tode wurde M. von dem Churfürsten Christian II. zum Professor und Superintendenten nach Wittenberg berufen (1603). Bald starben dort auch Rungius (1604) und Gesner (1605), und Mylius trug nun, nach Hutter’s Ausdruck, wie ein zweiter Atlas, nach fast zusammen gefallener Kirche, deren Grundveste auf seinen Schultern. Doch nicht lange ertrug er diese schwere Bürde. Am Himmelfahrtsfeste 1607 hielt er noch einmal eine gewaltige Predigt und zwei Tage darauf die gewöhnliche akademische Vorlesung. Aber er sah sich schon genöthigt, seine Zuhörer um einige Ferientage zu ersuchen, die er zu einer kleinen Erholungsreise benutzen wolle. Doch dazu kam er nicht; denn in der folgenden Nacht wurde er von den heftigsten Steinschmerzen ergriffen, zu denen sich ein bösartiges Fieber gesellte. Ruhig lag er auf seinem Schmerzensbette, des Todes harrend, unter häufigem Gebrauch der Worte: Nur Der will nicht sterben, der nicht zu Christo gehen will. Am dritten Pfingsttage lebte er noch. Nach der Predigt berief er seine Gattinn, Kinder, Freunde und Collegen, bekannte den Glauben der Kirche, bat um Vergebung der Sünden, dankte für alle Beweise der göttlichen Gnade, nahm das heilige Abendmahl, ermahnte seine Collegen zur Eintracht, legte die Kirche Gott an’s Herz und sagte den Einzelnen Lebewohl. Zwei Tage darauf, am 28. Mai 1607, entschlief er. Die Leichenpredigt hielt ihm Balduin (Sie findet sich in der Schrift: Bericht vom christl. Abschied D. Martini Lutheri, sammt sechs Leichenpredigten bei dem Begräbniss Lutherii, Hunnii, Rungii, Gesneri, Mylii, Lyseri. Wittenb. 1610. 4.), die akademische Leichenrede Hutterus. Letzterer vertheidigte ihn noch nach seinem Tode in einer Schutzschrift gegen die Angriffe der Papisten, in’s Besondere eines Georg Pomerius. Mylius  galt unter den drei bedeutendsten gleichzeitigen Wittenberger Theologen, die auch als Prediger berühmt waren, als der beredtste. „D. Aegidius Hunnius (so lautet ein Sprüchwort) doctissimus, D. Georgius Mylius eloquentissimus, D. Polycarpus Lyserus formosissismus.“ (Rehtmeyer, Kirchenhistorie der Stadt Braunschweig, Bd. 3 S. 144.). Jedenfalls ist er an Schwung und Blüthe des Ausdruckes ihnen überlegen. Aber auch an Sachgehalt steht er kaum hinter ihnen. Seine Methode ist bald synthetisch, bald paraphrastisch und bald local.

Von seinen Schriften sind besonders wichtig: Doctrina sancta de Justificatione. Jen. 1591. 4. Disputationes II. pro Articulis visitationis Misnice. Jenae 1593. Theses et Anththeses de coena Domini. Jenae 1593. 4. Positiones de vero Deo uno et trino. Jenae 1598. 4. Explicatio in 1 epist. ad Corinthios. Jenae 1600. 8. Commentarius in evang. Joannis. Francof. 1624. Explicatio Augustanae confessionis. Jenae 1604. Harmonia Patrum et Lutheri cum SS. Leipz. 1595. 8. Seelenschatz, d.i. Bericht aus Gottes Wort, christlich zu leben und selig zu sterben. Lauingen 1595. 8. Sieben unterschiedliche christliche Predigten. Lauingen 1584. 4. Drei christl. Predigten, zwo von dem heiligen Pfingstfeste, eine auf den Sonntag der heil. Dreifaltigkeit. Wittenb. 1586. 4. XI Predigten unterschiedlicher Materien. Erfurt 1590. 8. VII Predigten wider die Calvinisten. Wittenb. 1592. 4. Predigt vom Osterlamm im alten Testamente. Jena 1592. 4. X Türkenpredigten. Jena 1598. 4. Predigt von der Person Christi. Wittenb. 1602. 4. III Weihnachtspredigten. 1610. 4. Papstpredigten. Einzeln erschienen; die dritte unter dem Titel: Vom alten und neuen Babel. Wittenb. 1585. 4. Leichenpredigten.

Se. Oratio parentalis de vita cet. Georgii Mylii, autore Leonhardo Huttero. Witeb. 1607. 4. (Auszugsweise bei Adamus.) Ejusdem Gründliche Abfertigung zweierlei unterschiedlicher Bedenken, so von dem Leben, Sitten und Lehre Herrn Georgii Mylii Seligen durch einen päpstlichen Sycophanten, der sich Georgium Pomerium nennet, verfertigt worden. Wittenb. 1607. 4. Balthasaris Mencii historica narratio de septem electoribus Saxoniae. Witeb. 1611. 8. p. 227. Zeumeri vitae professorum Jenensium p. 98. Arnold, Kirchen- und Ketzerhistorie. Th. 2. B. 16. C. 26. §. 14-18. Joh. Christoph Mylius, Historia Myliana. Jenae. 1751. T. 1. S. 35.

Die bedeutendsten Kanzelredner der lutherschen Kirche des Reformationszeitalters, in Biographien und einer Auswahl ihrer Predigten dargestellt von Wilhelm Beste, Pastor an der Hauptkirche zu Wolfenbüttel und ordentlichem Mitgliede der historisch-theologischen Gesellschaft zu Leipzig Leipzig, Verlag von Gustav Mayer. 1856