Symphorianus Altbießer, genannt Pollio

Pollio: Symphorian P., einer der Straßburger Reformatoren, hieß ursprünglich Altbiesser, wurde vom Volke „Herr Zymprian“ genannt. Er war zu Straßburg geboren und begegnet uns zum ersten Male im Jahre 1507 als Priester an der Straßburger Stiftskirche St. Stephan und Mitarbeiter Wimphelings. Später wurde er Leutpriester zu St. Martin in Straßburg. Obwohl sein Lebenswandel ein überaus anstößiger war, erwählte ihn doch das Domcapitel zum Münsterprediger, in der Erwartung, daß der beliebte Volksredner von der Kanzel gegen die Reformation eifern werde. Kaum aber hatte P. sein neues Amt angetreten, so wurde er ein eifriger Verkündiger der neuen Lehre. Als solcher hat er – wie Johannes Sturm berichtet – „den Mehrerntheil seiner alten Bekannten an sich gezogen und durch sein Exempel von ihrem alten Leben abzutreten bewegt und bekehret“. Als sich nun das Straßburger Domcapitel in der auf P. gesetzten Hoffnung getäuscht sah, nahm es ihm die Stelle als Münsterprediger und versetzte ihn zurück an die Martinskirche. Nachdem P., von seinem Gewissen gedrungen, mit seiner Köchin, seiner langjährigen Concubine, in die Ehe getreten war (1524), suchte ihn das Domcapitel auch von der Martinskirche zu verdrängen. Vorerst stellte jedoch der von der Gunst des Volkes getragene Reformator seine Predigten nicht ein, sondern setzte kühn seinen Namen unter die Bittschriften, welche die der evangelischen Lehre zugethanen Prädicanten 1524 an den Rath um Abhaltung einer Disputation und um Abstellung der kirchlichen Mißbräuche richteten. Wie aufgeregt das Wesen Pollio’s, wie stürmisch sein Vorgehen war, zeigt seine an die Gemeinde gerichtete Aufforderung, „auf das Chor zu laufen und die Pfaffen todtzuschlagen“. Als 1529 die baufällige Martinskirche abgebrochen wurde, kam der greise P. als Pfarrer in die vor der Stadt gelegene Kirche zu den guten Leuten. Das Jahr seines Todes läßt sich nicht feststellen. P. hat sich auch als Dichter evangelischer Kirchenlieder in Straßburg einen Namen gemacht.

Allgemeine Deutsche Biographie,

herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften,


Band 3 (1876)

und andere Bände

Lucas Pollio

Lucas Pollio, geb. zu Breslau 1536, erwarb bei bedeutenden Anlagen und ausserordentlicher Arbeitslust schon in der Schule seiner Vaterstadt gründliche Kenntnisse in den Elementen der griechischen und lateinischen Grammatik, studirte dann einige Jahre in Frankfurt a.O. und wurde von da auf Kosten des Breslauer Magistrates nach Wittenberg gesandt. Nachdem er hier vorzüglich unter Melanchthon griechische Sprache und philosophische Wissenschaften studirt hatte, wurde er zu einem Schuldienste nach Breslau zurückgerufen. Gewissenhaft und mit gutem Erfolg unterrichtete er die ihm befohlene Jugend im Katechismus und in der Grammatik. Zugleich trat er eingedenk des Rathes, den Melanchthon den Studirenden gab, neben dem Schulamt durch Predigen den Geist auszubilden und den Zugang zum Pfarramt sich zu bereiten, häufig in der Jerusalemskirche als Prediger auf. Die Breslauer, welche bald seine vorzügliche geistliche Begabung erkannten, sandten ihn zu theologischen und insbesondere zu hebräischen Studien nach Leipzig und riefen ihn von dort nach einigen reich gesegneten Jahren in das vakant gewordene Diakonenamt zurück. P. entsprach ihren Erwartungen vollkommen. Er predigte gründlich, geistlich und volksverständlich, und man hörte ihn so gern, dass er, noch vor Ablauf zweier Jahre, nach dem frühen Tod des Pastors Adam Curäus, die Hauptpredigerstelle zu St. Maria Magdalena in Breslau erhielt.

Pollio übte, obwohl unter das Kreuz beständiger Leibesschwachheit gestellt, mit der ihm gegebenen Geisteskraft eine tief eingehende Wirksamkeit. Gewaltig schwang er zum Verdruss der Verstockten und zum Segen der Empfänglichen die Geissel des Gesetzes; aber die geschlagenen Wunden heilte er mit dem Balsam des Evangeliums.

Selbst immerdar des Todes eingedenk liess er nicht ab, seine Zuhörer an die letzte Stunde zu mahnen, und man hörte ihn oft in seinen Predigten den göttlichen Wunsch des Augustinus aussprechen, „dass sie, wie sie im irdischen Tempel vereinigt wären, so auch in jenem himmlischen Tempel ewig zusammen leben möchten.“ Immer waren seine Predigten frisch und reich; denn in andächtigem Gebet und in anhaltendem Lesen der heiligen Schrift und der Väter sog er die Fülle des Geistes ein. Nach seinem Wahlspruch „ich will singen von der Gnade des Herrn ewiglich“ (Ps. 89,1) war all seine Verkündigung auf die Ehre des göttlichen namens gerichtet. Erbaulich, wie seine Predigten, war auch sein Leben; weil er aber dennoch ein Sünder blieb und seine Gebrechen fühlte, freuete er sich um so herzlicher auf das ewige Leben, wo die Sünde aufhört und damit das Elend. Als er endlich erkannte, dass die letzte Krankheit gekommen war und der Tod herannahete, freuete er sich und sprach: Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein. Doch nahm er auf den Rath der Ärzte Arzneien, um nicht eigensinnig zu erscheinen, noch als Einer der die ordentlichen Mittel verachte und Gott versuche. Bis an sein Ende lebte er in der Schrift, deren kräftigste Sprüche er entweder selbst sprach oder sich vorsprechen liess. Darunter waren folgende: „Wenn ich nur dich habe, so frage ich Nichts nach Himmel und Erde; wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, alle Zeit meines Herzens Trost und mein Theil.“ (Ps. 73,25,26). „Ich halte dafür, dass dieser Zeit Leiden der Herrlichkeit nicht werth sei, die an uns soll offenbaret werden.“ (Röm. 8,18.) „Gott ist getreu, der euch nicht lässt versuchen über euer Vermögen, sondern macht, dass die Versuchung so ein Ende gewinnet, dass ihr’s könnet ertragen.“ (1. Cor. 10,13.) Auch recitirte er stärkende Trostsprüche des Augustinus, Chrysostomus und Gerson, beichtete, nahm das heil. Abendmahl und dankte Gott, dem Magistrate und seinen Mitbürgern, auch den Armen, weil sie für ihn gebetet hatten. In seinen letzten Lebenstagen versammelte er seine Collegen und sprach zu ihnen: „Bleibet in der Liebe und in der Einigkeit des Geistes; habt Salz bei euch; jaget dem Frieden nach, wie in den letzten achtzehn Jahren geschehen ist; dann wird Gott euch segnen und bei euch sein, was auch geschehen mag. Trifft euch eine Trübsal, so handelt klug und betet. Springt nicht aus dem Schiffe; verkündigt Christum, den gekreuzigten. Werdet ihr mit Maria und Johannes unter dem Kreuze Christi stehen, so wird er euch wie den Daniel in der Löwengrube schützen, vertheidigen und zur Herrlichkeit erheben.“ An seinem Todestage, dem 31. Juli 1583, liess er seine Kinder vor seinem Bette knieen und das Vaterunser beten. Auch lasen sie ihm verschiedene Trostsprüche der Schrift vor, und der älteste von ihnen sprach ein Lied des heiligen Bernhard vom Sündentilger, Todesüberwinder und Vertreter Jesus Christus. Im Todeskampfe liess er sich den Artikel von der Vergebung der Sünden, von der Gegenwart Gottes in Noth und Tod und vom ewigen Leben einschärfen. Zwischen den Trostesworten hörte man ihn oft rufen: Das tröstet das Herz! Das erheitert das Herz! Kaum noch im Stande zu sprechen, stammelte er die Worte: O dass ich reden könnte! Dann solltet ihr hören, dass gewiss der heilige Geist in mir wohnet! Als die Thür geöffnet wurde, rief er aus: O Herr, öffne mir die Thür Deines Erbarmens. Mit den Worten: „Jetzt gehe ich in’s ewige Leben!“ verscheid er.

Auch die gedruckten Predigten Pollio’s sind Zeugnisse des lebendigsten Herzensglaubens. Die Methode ist entweder die locale oder die articulirt- paraphrastische. Von vorzüglichem Werthe sind die jeder Predigt angehängten gesalbten Gebete.

Schriften: Sieben Predigten vom ewigen Leben der Kinder Gottes. Leipzig. 1586. 8. Neue Ausgabe von Heinrich Rätel 1598. 8. von Weber, Leipz. 1720. 8. Jährliche Kirchen-Cron und Kranz. Das ist: Ordentliche Erklärung der gewöhnlichen aller heiligen Sonn- und Festtage das ganze ausgehende Jahr über evangelischen Lectionen, allermeist auf die heilsame Praxin oder Uebung der wahren Gottseligkeit mit besonderem Fleiss gerichtet, durch Herrn Lucam Pollionem (herausg. von seinem Sohne Joachim Pollio) Leipz. 1620. Fol. Ausserdem sind von ihm vorhanden zehn Fastenpredigten vom jüngsten Gericht und zwei Predigten von der Hölle.

S. Adami Vitae eruditorum p. 258.


Die bedeutendsten Kanzelredner
der
lutherschen Kirche des Reformationszeitalters,
in Biographien und einer Auswahl ihrer Predigten
dargestellt
von
Wilhelm Beste,
Pastor an der Hauptkirche zu Wolfenbüttel und ordentlichem Mitgliede der
historisch-theologischen Gesellschaft zu Leipzig
Leipzig,
Verlag von Gustav Mayer.
1856

Pirmin

(Gest. 3. November 754.)

„Ihr sollt Niemand Vater heißen auf Erden. Den Einer ist euer Vater, der im Himmel ist. Und ihr sollt euch nicht lassen Meister nennen; denn Einer ist euer Meister, Christus. Der Größeste unter euch soll euer Diener seyn!“ (Matth. 23, 9 – 11.)

Im Jahre 714 läuteten noch nicht Glocken über alle Berge unseres Vaterlandes. In manchem deutschen Gau kannte und wollte man das Wort vom Kreuz noch nicht. Aber Herolde gingen hin und wieder mit diesem holdselig-gewaltigen Wort auf ihren Lippen. Es war die Morgenzeit des Christenthums in deutschen Landen. Einen solchen Mann der güldenen Morgenstunde finden wir 714 an den Ufern der Mainflusses, wo der Odenwald sich ostwärts abdacht. Er ordnet und leitet den Bau einer Kirche; sie soll der feste Mittelpunkt werden der Verkündigung und Pflanzung des Christenthums für das ringsum wohnende Volk. Ein frommer fränkischer Graf hatte die Mittel dazu hergegeben. Das Chor der Kirche mit dem Altar wölbte sich über einem sprudelnden Quell. Dieser geistliche Baumeister liebte bei all seinen Kirchenbauten das heilige Sinnbild des lebendigen Wassers an den Stätten, da das Evangelium gepredigt werden, und man Gott im Geist und in der Wahrheit anbeten sollte.

Dieser Mann Gottes heißt Pirmin, ein deutscher Apostel und ein Apostel der Deutschen, nun zu wenig gekannt und genannt nebst Winfried; und er war doch freier, als dieser, von römischem Einfluß, und gebundener, als dieser, mit Herz und Leben an die heilige Schrift.

Geburtsort und Jugend Pirmins sind unbekannt. Man weiß nur, daß er ein Deutscher fränkischen Stammes ist. Und bei jenem Kirchenbau am Main tritt seine Gestalt zum ersten Mal in das Licht der Geschichte hervor.

Einige Jahre später treffen wir ihn noch einmal auf einer Baustätte, ohne den Charakter seiner geistlichen Stellung zu kennen. Es war in der Schweiz, und galt den Wiederaufbau des Klosters Dissentis, welches seit fast 50 Jahren, von den Hunnen zerstört, in Trümmern lag. Ueberhaupt verdanken viele Klöster ihm ihre Entstehung. Indes sah er sie nicht an als Pflanzstätten mönchisch-verdienstlicher Heiligkeit, noch als Bollwerke der Hierarchie; sondern zwei Gesichtspunkte hellen evangelischen Geistes leiteten ihn. nämlich, er wollte zum Ersten Seminarien für Schriftgelehrsamkeit und Theologie, also Bildungsschulen für christliche Lehrer und Hirten schaffen, und zum Andern hierdurch Mittelpunkte gewinnen zur Bekehrung und gesunder, geistlichen Nährung des Volkes.

Endlich erhielt er festen Sitz und Amt. Er wurde Landbischof im Bliesgau, da ist die Gegend des heutigen St. Wendels. Meltis wird der Ort genannt, wo er gewohnt habe. Es ist dies Medelsheim bei Zweibrücken. Da war nun bald sein Ansehen und Einfluß bei allem Volk ungewöhnlich. Eine Urkunde berichtet von ihm: „er sei ein scheinend Licht gewesen, und sein Ruf ausgegangen an den Hof des Frankenkönigs Theoderich, uns sein Name den dortigen Hofleuten so bekannt geworden, wie den Armen und Fremdlingen im Bliesgau. Und da ihn von Herzen des schmachtenden Volkes jammerte, so umfaßte er als ein rechter Bischof und Oberhirte mit gleicher liebreicher Sorge die Heerde und ihre Hirten. Diesen, also den Geistlichen seines Sprengels, legte er die Schrift in lateinischer Sprache aus, und in’s Herz hinein; der ungelehrten Gemeinde aber verkündigte er die frohe Botschaft mit heimischer, deutscher Zunge.“

Man pilgerte weither in den Bliesgau, um Pirmin, den Mann der Erleuchtung und Liebe, zu hören. So war auch einst ein Allemannischer Fremdling vom Bodensee hernieder gekommen, ein gräflicher Mann reicher Besitzungen; Sintlaz wird er genannt. Der drängte sich des Sonntags mit der Menge des Volkes zur Kirche. Er hörte zu, wie der Bischof zuerst den anwesenden Geistlichen in lateinischer Sprache die starke Speise darreicht, und darnach die Milch in den süßen Tönen der Heimath der lauschenden Gemeinde. Der Alemanne, ergriffen von der wunderbaren Gewalt der Predigten, eilt nach dem Gottesdienst zu dem Bischof. Von seinen Gefährten unterstützt, dringt er in ihn, daß er mit ihm ziehe in seine Heimath. Da wuchere das Unkraut im Waizen, und drohe, Ueberhand zu gewinnen, und Niemand sei da, der, so wie Pirmin, mit Gotteskraft zur Hülfe ausgerüstet sei. Es fehle den christlichen Lehrern seiner Heimath an Erleuchtung, Geschick und Weisheit des Muthes, dem allzumächtigen Heidenthum, in dessen Finsternis viele aus dem Volke zurückgefallen seien, Widerstand zu thun. Man begehre nicht, daß er bleibend seinen Sitz dort nehme, sondern nur, daß er den bösen Verhältnissen eine Wendung zum Besseren verschaffe.

Pirmin, stets bereit, den Gefahren des Kreuzes Christi entgegen zu treten, würde sofort diesen dringenden Bitten gewillfahrt haben, wäre nicht ein Einspruch seines zarten Gewissens zu beseitigen gewesen. er nahm nämlich Anstand, eigenmächtig, ohne Sendung, in ein fremdes Arbeitsfeld einzutreten, wodurch leicht Aergernis und Verwirrung der Gewissen kommt. Er that sich nach Rath um; es war aber in der Nähe keiner zu finden. So beschloß man, den Bischof in Rom, und darnach den Landesfürsten zu befragen.

Also brachen beide, ein Jeder von seiner Heimath aus, nach Rom auf. Nicht war es Pirmins Meinung, sich Befehle vom Papst zu holen, sondern mit ihm die Sache zu besprechen, wie ein Bruder sich mit dem Bruder bespricht, um ins Reine zu kommen. Es wird in Urkunden erzählt, der Papst habe zuerst den Versuch gemacht, dem schlichten Fremdling durch seinen anmaßlichen Pomp zu imponiren. Aber die unbeirrte, apostolisch-stete Haltung des deutschen Bischofs habe alsbald ihn so hingenommen, daß er bewegt den Bruderkuß ihm gab, und zu traulichem Gespräch sich mit ihm niederließ. Diese Begegnung habe sich in einer der unterirdischen Kirchen Roms zugetragen.

Der Papst Gregor II. trat den Wünschen des Sintlaz, der unterdessen auch nach Rom gekommen war, bei, und befestigte Pirmins Bedenken. Auch Theoderich IV., der fränkische König, gab seine Zustimmung, daß unter Pirmins Autorität auf dem Grund und Boden seines Alemannischen Freundes eine kirchliche Stiftung ausgeführt werde.

Pirmin, in richtiger Erwägung des Besten, erließ eine Insel im Bodensee, die eine Stunde lang und halb so breit ist, und „Au“ hieß, aber bald wegen der reichen Schenkungen „Reichenau“ genannt wurde. Der Bau eines Klosters mit Kirche wurde sofort (724) in Angriff genommen. Die Insel war mit wildem Gestrüpp bedeckt. Und, wenn nun die Chronik meldet, wie solches alsbald nach Pirmins Landung sammt dem unheimlichen Gethier, giftigen Würmern und schädlichen Schlangen, die darin gehaust hätten, verschwunden sei, so ist damit zugleich als in einem Bilde die Ueberwindung den letzten Rest des Heidenthums geschildert. Die wüste Insel wandelte sich in einen blühenden Garten, der sich mit seiner Abtei reizend in den klaren Wellen des Bodensees spiegelte. Reichenau entwickelte sich rasch auf dem von Pirmin ihm gegebenen biblischen Fundamente zu einer ungeahnten Bedeutung für die ganze weite Umgebung. Die Adelsgeschlechter Alemanniens sandten ihre Söhne zur Erziehung hin. Zu Zeiten seinen ihrer 600 dort gewesen.

Aber Pirmin sollte diese Blüthe seiner Pflanzung nicht sehen. Unbekannte, wahrscheinlich kirchen-politische Gründe und Eifersucht Andrer zwangen ihn, schon 727 Kloster Reichenau zu verlassen. Doch hatte er noch die Freude, seinen geliebten Schüler Heddo, den Sprossen eines elsassischen Fürstengeschlechtes, von dem er überzeugt seyn durfte, daß er die begonnene Arbeit in des Lehrers Geist mit Kraft fortsetzen werde, als seinen Nachfolger zu wissen.

Er wandte sich in’s Elsaß, vom Bruder seines Heddo, dem Grafen Eberhard gerufen, um mit dessen Mitteln einige Klöster im Lande theils neu zu stiften, theils umzugestalten. Von den neu gestifteten ist Murbach besonders zu nennen, von den im Pirmin’schen Geist umgestalteten, Weißenburg. aus frischer Arbeit auf diesem Missionsfeld wurde der apostolische Mann hinüber ins Bairische Land gerufen von dem Herzog Odilo, um das Jahr 739, welcher das Heidenthum aus seinen Gränzen bis zur Wurzel vertilgen wollte. Auch hier blühte eine Reihe Stiftungen unter der schaffenden Hand Pirmins auf.

Doch nun sollte er das Leid erleben, daß Rom, von jeher Deutschlands böses Schicksal, Garben band, wo er gesäet hatte. Winfried, welchem der Papst aus Dankbarkeit den Beinamen Bonifacius gab, hatte mehr, als er wußte und wollte, sich von der Hierarchie des Papstes und der, von dem Papste gut geheißenen weltlichen Macht des aufstrebenden karolingischen Fürstengeschlechtes abhängig gemacht. So bediente sich nun der Papst mit unvergleichlicher Schlauheit durch den deutschen Fürsten Karlmann des deutschen Bischofs Winfried, und durch diesen jenes, um die junge, freigestaltete, aus der Bibel geborne, und so hoffnungsreiche deutsche Kirche seinem Stabe unterworfen. Gott hat es zugelassen, aber zugleich gewollt, daß heimlich still und desto ungefährdeter, der gute, reine Same im deutschen Gemüth einen Acker fand, zur Tiefe zu wurzeln, und die Stunde, da er wunderbar an’s Licht sprieße, sich vorbehalten. Pirmin, Leid im Herzen, zog sich in sein Kloster Hornbach zurück, welches auf dem Boden des Bliesgaus lag, und dem er fortan als bischöflicher Abt vorstand. Aber auch aus dieser Abgeschiedenheit wurde sein erleuchteter Rath nicht selten von fernher begehrt, und gern gewährt. Besonders bestand zwischen Weißenburg und Hornbach ein reger Verkehr. Man verabredete Zusammenkünfte an einem in der Mitte zwischen beiden Klöstern auf einer Hochebene gelegnen Orte, welcher davon den Namen Pirminshus bekam. Daraus ist Pirmasenz geworden.

Pirmin stellte in seinem Lehrbuche Scarapsus (s. unten) nicht einen Menschen, auch nicht den Papst, sondern nur die h. Schrift, mit ausdrücklicher Ausschließung der Apokryphen, als allentscheidende Norm für alle Christen auf, also auch für die Mönche. „Alles, sagt er, was Gott durch die h. Schrift befohlen hat, daß der Mensch nicht thun soll, das darf auch kein Christ zu thun sich erlauben. Und Alles, was Gott durch die h. Schrift gebietet, das beobachtet in allen Stücken!“ Wie er als Bibelchrist weder Reliquien verehrte, noch Heilige anrief, noch Werkheiligung erstrebte, noch selbstgemachte Heiligkeit förderte, so wollte er auch in seinen klösterlichen Seminaren keine solche bilden. So hatte er in seinen Klöstern auch nicht die Benedictiner-Regel, welche Bonifacius überall mit einzuführen suchte. Die Benedictiner erklärten diese Regel als inspiriert vom h. Geiste. Sie lasen daher an jedem Morgen, mit Ausschluß der h. Schrift, in ihren Klöstern ein Kapitel dieser Regel. Diese Regel befahl auch den Mönchen, in dem Abte einen „Statthalter Christi“ zu erblicken, und ihm, als solchem, unbedingt zu gehorchen.

So stand Pirmin au der Seite der altbrittischen und schottischen Geistlichen, des Columban, des Gallus u. A., welche vor ihm in Gallien und Alemannien so segensreich wirkten, welche die Oberherrschaft des Papstes nicht anerkannten, welche die Mönche in den Klöstern nicht durch ewige Gelübde banden, sondern ihnen den Austritt frei ließen, welche die Predigt und das Lesen der h. Schrift in der Landessprache förderten, auch nicht die Ehelosigkeit aller Geistlichen verlangten, und somit als evangelische Bibelchristen in der Hauptsache sich offenbarten. Darum erklärte Bonifacius diese Geistlichen, Mönche und Bischöfe, im Namen des Papstes, für Ketzer, für Abtrünnige, und die verheiratheten Geistlichen für Ehebrecher, und suchte die Regel Columbans durch die Benedictiner-Regel in allen Klöstern zu verdrängen, und alle in evangelischem, rom-freien Geiste gegründeten deutschen Bisthümer unter Roms Joch zu bringen, was ihm durch die Waffen-Gewalt der karolingischen Fürsten nur zu sehr gelang.

Sonst flossen die Tage Pirmins in Stille dahin. Gegen das Ende derselben, so wird erzählt, habe ihn von Mainz aus noch Winfried, getäuscht und gekränkt von der Obergewalt des Papstes, besucht.

Pirmin starb, wie ein Erzvater, umgeben von den Brüdern seines Klosters, welche er zu sich beschieden hatte, um ihnen seine letzten Segensgrüße zu spenden. Sein Heimgang war am 3. November 754. –

Ein köstliches Denkmal des Christes, in welchem er wandelte und wirkte, hat er in seinem „Scarapsus“ aus uns vererbt. So nannte er seinen für die Geistlichen seiner Stiftungen lateinisch geschriebenen Lehrinhalt, wie er ihn, mit Ausschluß der Apokryphen, rein aus den kanonischen Büchern zusammen gestellt hatte. – Einige Bruchstücke aus demselben mögen hier zum Schluß mitgetheilt werden.

„Geliebte Brüder! Der heilige Geist ermahnt uns durch Propheten, Priester, Leviten und alle Lehrer der katholischen Kirche, und spricht: Rufe, lasse nicht ab, erhebe deine Stimme gleich einer Posaune, und verkündige meinem Volke seine Sünden! Und abermals: Wenn du dem Gottlosen nicht sein gottloses Leben Wesen verkündigst, so wird er selbst in seinen Sünden sterben, sein Blut aber werde ich von deiner Hand fordern. Und der Herr spricht im Evangelium: Gehet hin in die ganze Welt, und verkündiget das Evangelium!“

„Und Euch, ihr Brüder, die ihr in der Kirche zusammen kommt, sagt der Herr durch den Propheten: Kommt, Söhne, höret mich! Ich will euch die Furcht des Herrn lehren. Und abermals: Heute, wenn ihr seine Stimme höret, so verstocket eure Herzen nicht! Und der Herr im Evangelio sagt: Kommet her zu mir Alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken, spricht der Herr!

„Wir bitten darum eure Liebe, meine Theuren, daß ihr recht aufmerksam anhöret, was zu eurem Heile gesagt wird. Es ist eine lange reihe der göttlichen Schriften, welche in Ordnung durchgegangen wird, aber wir legen euch aus dem Vielen nur Weniges vor, daß ihr dasselbe ein Bischen im Gedächtniß behalten sollt.“

Es folgt nun eine schlichte, klare Erzählung der biblischen Geschichte nach ihren Hauptpunkten: Schöpfung, Sündenfall, Sündfluth, Erzväter, Moses, Propheten, Christus, Apostelgeschichte. In dem Beruf der Priester wird die Fortsetzung der Apostelgeschichte dargestellt.

„Und die Apostel selbst weiheten Bischöfe und ordinirten Diakone, Presbyter und die anderen Aemter der allgemeinen christlichen Kirche, damit dieselben nach dem Abgange der Apostel – – wachsam und klug – – durch Succcession der Bischöfe bis an’s Ende der Welt handelten. und nun werden in dieser Zeit durch die Gnade Gottes die Guten zur Erlösung der Gerechten angestellt, die Bösen aber werden nicht nach apostolischer Bestimmung, sondern durch Habsucht, wie Simon, der Magier, oder durch viele böse Erfindungen derselben aufgestellt, und da sie lieber den Vorsitz in den Kirchen Gottes haben wollen, als denselben Vortheil bringen, so gereichen sie zum Verderben des Volkes. man muß jedoch erwägen, was geschrieben steht: „Was sie euch sagen, das thut!“ und wenn sie Uebel thun,, (O daß es doch nicht geschähe!) so thut ihr es nicht!- – Die Guten, welche das Rechte predigen, und mit ihren guten Werken vollziehen, erzeigen dem Volke ein doppeltes Gute. Sie erfüllen jene evangelische Vorschrift: „Laßt euer Licht so vor den Leuten leuchten, da0 sie eure guten Werke sehen, und euren Vater preisen, der im Himmel ist!“

Hierauf werden die einzelnen Handlungen des geistlichen Amtes mit steter Beziehung auf die Schrift behandelt: Taufe, christliche Bußzucht, Abendmahl, Heiligung des Lebens, Drohung und Tröstung mit Hinweisung auf das Endgericht. –

Dann heißt es zum Schluß:

„Das apostolische Glaubensbekenntnis mit dem Gebete des Herrn behaltet fest im Gedächtnis, und lehret dasselbe eure Söhne und Töchter, daß auch sie es behalten! Wisset, daß ihr vor Gott Bürge für diejenigen Kinder geworden seid, die ihr bei der Taufe von der Taufquelle aufnahmet, und lehret sie deßwegen immerfort, und weiset sie zurecht, und ermahnet öfters alle eure Untergebenen, daß sie mäßig, keusch, gerecht leben, und weiset sie alsbald zur Ordnung! Sprecht die Wahrheit von Herzen und mit dem Munde; bleibet in Keuschheit und Enthaltsamkeit; seid einfach und genügsam im Essen und Trinken; liebet das Fasten; ehret die Alten; liebet die, welche jünger sind, als ihr, in Christi Liebe, auf geistliche Weise, und seid duldsam gegen Alle! Thut denen wohl, die euch hassen! … Hoffet alle Tage auf euren Abgang aus dieser Welt, der sich immer mehr nähert! Erfüllet täglich Gottes Gebote durch Handlungen, und verzweifelt nicht an Gottes Erbarmen! „Was Einer nicht will, daß ihm geschehe, daß thue er auch keinem Andern, und wie ihr wollt, daß euch die Leute Gutes Thun, so thut ihnen auch!…“

Dies ist Pirmins Lehrbegriff. So ging er nicht, mit päpstlichen oder königlichen Vollmachten versehen, sondern mit der höheren Vollmacht der Schrift und des Glaubens an sie, apostolischen Ganges durch die Gauen unseres Vaterlandes, ein scheinendes Licht und schöner Strahl aus der Morgenröte deutschen Christentums.

Dr. Theodor Fliedner,
Buch der Märtyrer,
Verlag der Diakonissen-Anstalt zu Kaiserswerth,
1859

Simon Pauli

Simon Pauli, geboren am 28. October 1534 zu Schwerin, besuchte zuerst die Schule seiner Vaterstadt. 1552 ging er nach der Universität zu Rostock und 1555 nach Wittenberg. Hier war er in der ersten Zeit ein eifriger Schüler und in der letzten ein tüchtiger Lehrer. Melanchthon in Wittenberg und Chyträus in Rostock empfahlen ihn 1559 dem Herzoge Johann Albrecht zum Domprediger nach Schwerin. Als solcher begleitete er den Herzog auf den Reichstag zu Augsburg, wo er auch im fürstlichen Hoflager vor einer grossen Versammlung predigte. 1560 wurde er zum Pastor an der Jacobikirche und zum Professor der Theologie in Rostock ernannt. Im folgenden Jahre empfing er die theologische Doctorwürde. 1562 sah er sich genöthigt, eins seiner Gemeindeglieder, den Capitän Schwerin, öffentlich in den Bann zu thun. „Es war in der Stadt“ – so berichtet Bacmeister – „ein Hauptmann Namens Heinrich Schwerin, der eine Concubine hatte, die er, obgleich oft erinnert, in eine gesetzliche Ehe zu führen nicht gewillet war. Diesen beschloss endlich das Ministerium zu excommuniciren. Die Aufsetzung der Form überliess es nach der neuverfassten, aber noch nicht erlassenen Kirchendisciplin dem D. Simon Paulus an der Jacobikirche, weil in dessen Parochie jener Concubinarius wohnte. Doch wurde die Excommunication noch unterlassen, da Schwerin durch einige Bürger an D. Simon und mich die Bitte um einen kurzen Aufschub stellte. Dies geschah im Monat August. Bei der nächsten Zusammenkunft des Ministerium fielen einige herbe Aeusserungen gegen ihn vor, und auch Das wurde getadelt, dass ich von einem bewilligten Aufschub sprach, und es entstand darüber ein heftiger Streit. Doch wurde beschlossen, gegen Schwerin mit dem Banne vorzugehen, wenn er nicht vor einigen Ministerialpersonen und Bürgern zeigte, dass er wahre Reue habe und die Concubine entlassen oder heirathen wolle. Als jedoch einige Tage darauf Schwerin vor dem Convent des Ministeriums in der Jacobikirche, wo auch zwei Senatoren und vier Bürger zugegen waren, trotz zwei bis dreimaliger Einladung nicht erschien, gingen auf Bitten des Ministeriums zwei Bürger zu ihm und ermahnten ihn zu kommen; er aber antwortete ihnen, dass er sich um den Bann nicht kümmere; die Prediger könnten thun, was sie wollten. So wurde er denn am 23. August in der Jacobikirche öffentlich von D. Simon Paulus in den Bann gethan, vermittelst einer aus Paulus genommenen Formel, und Solches wurde auch den andern Pfarrern gemeldet, damit die ganze Kirche wisse, dass er gesetzlich excommunicirt und für einen aus der Gemeinde der Christen Ausgeschlossenen zu erachten, auch der Umgang mit ihm zu meiden sei.“ (Bei Westphalen I, S. 1593). Schwerin vermochte den Bann nicht zu tragen, söhnte sich mit der Kirche aus und wurde wieder aufgenommen. – Simon Pauli ward 1570 Mitglied im Fürstl. Consistorium und 1573 Stadtsuperintendent zu Rostock. Nicht nur im engeren Kreise seiner Landeskirche, sondern auch auf umfassenderem Gebiete der grossen Zeitfragen zeigte er Umsicht und Kraft. So gehörte er 1574 zu den Mitarbeitern an der Herstellung der schwäbisch-sächsischen Concordie, indem er seine Vorschläge an Chemnitz, welcher damals in Lübeck sich aufhielt, einsandte. ER starb am 17. Juli 1591.

In seinen Predigten hielt S. Pauli eben so stark auf genaue Textesbenutzung wie auf richtige Logik. „Weil ich“ – so bemerkte er in der Vorrede zu seiner Postille – „nicht allein für einen Prediger in der Kirche, sondern auch für einen Professor an der Landesuniversität bestellt bin, habe ich die Episteln und Evangelien, aus Bitte etlicher junger Studenten, welche sich zum Predigtamt begeben wollten, zum Besten gelesen und ihnen gezeigt und gewiesen, wie man sie nach der Rhetorien (welche Kunst in den Schulen bekannt und von den Gelehrten hochgehalten wird) disponiren oder ordnen und zugleich den Text mit erklären kann, auf dass die Zuhörer Etwas behalten und mit sich anheim tragen mögen. Denn ein grosser Mangel bei vielen Predigern ist, dass sie gar keine Ordnung in ihren Predigten halten, und nur unverschämt hinplaudern, was ihnen zu Munde kommt, reime es sich oder nicht, sie treffen’s oder nicht. Ihrer Viele, wenn sie den Text der Episteln oder Evangelien abgelesen haben, fahen sie ein Plaudergewäsch an, schwatzen los ohne Ordnung, jetzt von der Sünde, bald darauf von der heiligen Dreifaltigkeit, bald wieder von der Auferstehung der Todten, drauf weiter vom Nachtmahl des Herrn, hacken und mengen Alles in einen Haufen und richten sich gar nicht nach dem fürgeschriebenen Text, von welchem sie oft nicht ein Wort erklären und auslegen. Warum lesen solche Plauderer den Text, wenn sie ihn nicht wollen erklären? Oder wenn sie nur wollen von einem oder wenig mehr Worten sagen, warum lesen sie denn den Text ihren Zuhörern ganz für? Ja (sprechen ihrer Etliche), über ein Jahr wollen wir das Uebrige nehmen. Es wissen die Zuhörer Nichts davon, was solche Plauderer vor einem Jahr gepredigt, und sie wüssten selbst auch Nichts davon, wenn sie es nicht hätten zu Hause angeschrieben. Die Ordnung der Predigten soll gestaltet werden nach dem Text, welcher ganz, so viel möglich, und derwegen kürzlich zu erklären ist. Derhalben, auf dass ich die Jugend in dieser Universität zu einer Ordnung gewöhnete, zeigte ich ihnen, wie die Ordnung der Episteln und Evangelien nach der Rhetorica aus dem Text zu machen, und wie der Text kann kürzlich erkläret werden. Wie nun diese Art ihrer vielen nicht übel gefiel, ward ich gebeten, dass ich die Evangelien in lateinischer Sprache möchte durch den Druck lassen ausgehen, welches also geschehen, und ist derselbe Druck nun zu mehren Malen wiederholt. Darnach, weil ich nicht allein ein Professor, sondern auch ein Prediger mit bin, und in meinen Predigten folge, was ich jungen Gesellen an dieser Universität zu folgen vorgeschrieben habe, bin ich abermal von Vielen gebeten, dass ich die deutschen Predigten durch den Druck Anderen mittheilen möchte.“ P.’s Predigtmethode besteht, wie in dieser Erklärung schon angedeutet ist, in der paraphrastischen Auslegung und Anwendung des zuvor in seine Haupttheile zerlegten Textes.

Die bedeutendsten Kanzelredner
der
lutherschen Kirche des Reformationszeitalters,
in Biographien und einer Auswahl ihrer Predigten
dargestellt
von
Wilhelm Beste,
Pastor an der Hauptkirche zu Wolfenbüttel und ordentlichem Mitgliede der
historisch-theologischen Gesellschaft zu Leipzig
Leipzig,
Verlag von Gustav Mayer.
1856

Andreas Pancratius

wurde 1531 zu Wunsiedel im Voigtlande geboren. Über sein Jugendleben ist nichts bekannt. Sein erstes Predigtamt verwaltete er zu Amberg in der Oberpfalz. Hier von den Calvinisten 1567 vertrieben, folgte er einem Rufe zum ersten Prediger und Superintendenten nach Hof. Wie segensreich er daselbst wirkte, beweist ein Brief D. Johann Streitberger’s, der im 17. Jahrhundert Schulinspector in Hof und späterhin General superintendent zum Culmbuch war, an das Ministerium zu Hof: „Der ehrwürdige und unvergleichliche Mann, Herr Pangratius“ – heisst es in demselben – „hatt die Kirche meiner theuern Vaterstadt noch nicht zehn Jahre gelenkt, als er sie schon mehr, als Alle, die vor ihm dort gelehrt haben, geschmückt und erweitert hatte. Denn ich nehme mich selbst nicht aus und erkenne es an und bekenne frei, dass ich weit unter ihm gestanden. Ich ertheile ihm das Lob der Weisheit, Frömmigkeit, Gelehrsamkeit, wirksamen Auctorität und der hervorragenden Tugenden, die zum geistlichen Amte nothwendig sind. Dies Alles hat jener göttlich Geist reichlich auf ihn gehäuft, wie auf irgend einen Andern.“ Schon 1569 dichtete Pangratius für sich folgendes Epitaphium:

Hier liegt bei seiner Heerd der Hirt
Und wart’t, bis ihn aufwecken wird
Am jüngsten Tag der Herre Christ,
Der sein getreuer Heiland ist.
Schickt euch All recht, ihr müsst hernach
Und wisst doch weder Stund, noch Tag.
Was ihr jetzt seid, bin ich gewesen,
Und wie ich bin, müsst ihr genesen.
Drum thut recht Buss und säumt euch nicht,
Ein harter Stand ist’s jüngst Gericht.

1576 ging P. in Sachen der Concordienformel auf den Convent zu Ansbach und starb bald nach seiner Rückkehr am 27. Sept. 1576.

P.’s Predigten gehören ihrem Inhalte nach nicht zu den bedeutendsten ihrer Zeit. Sie sind meistens abhandelnder Natur, wiewohl eben durch Befriedigung des Lehrinteresses häufig interessant. Epoche machend sind jedoch durch streng dialetische Durchführung der thematisch-synthetischen Methode geworden (s. Einleitung).

Florentius Radewins

„Siehe, mein geliebter Schüler Florentius, auf dem der Geist des Herrn ruht, wird euer Vater und Rector sein. Ihn haltet wie mich, ihm gehorchet! Denn ich weiß keinen, dem ich so sehr vertraute, den ihr, wie ihn, als einen Vater zu lieben und zu ehren hättet.“ So sprach bei seinem frühen Heimgange zu den das Todeslager umgebenden Brüdern der herrliche Gerhard Groot (s. S. 255), um dem Bruderhause zu Deventer einen würdigen Vorsteher und eben damit zugleich der Genossenschaft vom gemeinsamen Leben, die er gegründet, an seiner Statt ein neues gleich ‚ gesinntes Haupt zu geben. Und der Geist, aus dem der Sterbende gesprochen, war kein täuschender. Florentius, wie er neben Gerhard ein Mitbegründer der Bruderschaft gewesen, wurde nach dessen Tode durch eingreifende, weiterbildende Thätigkeit der zweite Stifter des Instituts. Das Wichtigste aber aus dem Leben und Wirken des hochverdienten Mannes können wir in folgendem kurz zusammen fassen.

Florentius, geboren um 1350, war der Sohn eines angesehenen wohlhabenden Bürgers zu Leerdam, Namens Radewin, und trug zur Unterscheidung gewöhnlich auch den Namen seines Vaters, Radewinssohn oder Radewins. Er studirte auf der damals ungemein blühenden Universität Prag und wurde dort Magister. Ins Vaterland zurückgekehrt, hörte er zu Utrecht den apostolischen Wanderprediger Gerhard Groot und wurde von demselben mächtig erfaßt. Alsbald trat er mit Gerhard in die innigste Gemeinschaft und zog auch andre christlich gesinnte und geistig strebende junge Männer in diesen Kreis, welcher, nach wahrhaft apostolischem Leben trachtend, ohne sich an eine bestimmte Regel zu binden, Gerhard als sein natürliches Haupt verehrte. Nachdem er dem Kanonikate bei St. Peter in Utrecht entsagt, zog Florentius zu Gerhard nach Deventer und wurde daselbst Vicarius bei St. Lebuin. Aus Veranlassung seiner Priesterweihe sagte Gerhard: „Nur einmal habe ich einen zum Priester ordiniren lassen; ich hoffe aber, es soll ein Würdiger sein.“

Als der Kreis der jungen Freunde Gerhards, die zugleich seine Mitarbeiter in christlichen Liebeswerken, vornehmlich in der geistlichen Pflege des Volkes und christlich wissenschaftlicher Heranbildung der Jugend waren, sich mehr und mehr erweiterte, war es Florentius, der den Anstoß zu geordnetem Zusammenleben und ineinandergreifender Gemeinschaftsthätigkeit gab und so die Bruderschaft vom gemeinsamen Leben hervorrief, in welcher er von Anfang an nächst Gerhard die hervorragendste Stelle einnahm.

Florentius war noch weniger, als Gerhard, ein eigentlicher Gelehrter, aber er besaß alle Eigenschaften eines practischen Mannes: unerschöpflichen Thätigkeitstrieb, große Gabe für die Einwirkung auf Andere, anziehende Liebenswürdigkeit und achtunggebietende Hoheit. Besonders wußte er der Jugend tiefe Ehrerbietung einzuflößen. Dieß bezeugt uns vornehmlich Thomas von Kempen, der unter Florentius‘ allseitig fördernder Leitung aufwuchs und die nachhaltigsten Eindrücke von dessen Persönlichkeit empfing. „So oft ich“, erzählt uns Thomas, „meinen Herrn Florentius im Chore stehen sah, wenn er auch nicht umherblickte, scheute ich doch seine Gegenwart wegen seiner ehrwürdigen Erscheinung so sehr, daß ich nie zu sprechen wagte. Einmal stand ich in seiner Nähe im Chor und er wendete sich zu mir, um mit uns aus einem Buche zu singen; da er nun seine Hände auf meine Schultern legte, stand ich wie eingewurzelt und wagte nicht, mich zu bewegen, vor Erstaunen über die Ehre, die mir widerfuhr.“ Derselbe Verfasser des gesegneten Büchleins von der Nachfolge Christi, in welches ohne Zweifel nicht Weniges vom Geiste des Florentius übergegangen ist, liefert uns noch folgende Züge von der Persönlichkeit seines väterlichen Meisters: Er war von edlen Sitten und in hohem Grade bescheiden, fröhlich unter Freunden, ansprechend und freigebig, von angenehmer Gesichtsbildung, mittlerer Größe und seinem Bau. Niemand erlaubte sich in seiner Gegenwart etwas Unziemliches, und wenn er nothgedrungen tadeln mußte, wagte keiner zu widersprechen. In frommen Uebungen so eifrig wie Gerhard, ging er in der Enthaltsamkeit noch weiter und versagte sich vielfach selbst das Nothwendige. Auch in Einfachheit der Kleidung that er das Aeußerste, so daß er einst zu dessen nicht geringer Verwunderung einen Schneider fragte: „Meister, könnt ihr auch ein schlechtes Kleid machen?“ Nehmen wir hierzu den Abscheu gegen jede Schmeichelei, die unermüdliche, bis ins Kleinste eigener Handreichung gehende, Fürsorge für Arme und Nothleidende, den thätigen Eifer für gründliche Erziehung der Jugend in Glauben und Wissenschaft, die Bereitwilligkeit, sich auch dem niedrigsten Geschäft in der Brudergemeinschaft zu unterziehen: so erhalten wir das Bild eines wahrhaft evangelischen Mannes, der, während seine Seele stets auf das Höchste gerichtet war, doch zugleich auch allen Anforderungen des thätigen Lebens, der erbarmenden, dienenden und rettenden Liebe genügte. Kein Wunder, daß ein solcher Mann von Personen aller Art, hohen und niedrigen, fortwährend um guten Rath und helfende That angegangen wurde. Dergestalt war bisweilen seine Thüre von Hülfesuchenden belagert, daß er kaum hinaustreten oder Zeit für seine frommen Uebungen und Bedürfnisse gewinnen konnte, und doch wurde keiner unbefriedigt entlassen.

Unter den Weisheitssprüchen des Florentius, welche uns Thomas von Kempen in der mit verehrungsvollster Liebe abgefaßten Lebensbeschreibung desselben aufbewahrt hat, heben wir folgende als besonders kennzeichnend hervor: „Dann ist dein Gewissen gut und deine Vernunft gesund, wenn du dein Leben ganz nach der heiligen Schrift führest, und diese nicht nach deinem eigenen Kopfe, sondern so verstehst, wie die Heiligen sie verstanden haben. – Die Bücher der heiligen Schrift sind zu bewahren als der höchste Schatz der Kirche. – Wenn du etwas Gutes thust, so thue es einfach und rein, zur Ehre Gottes, und suche nicht dich selbst darin auf irgend eine Weise. – Besser ist ein geringes Maaß des Geistes, als große Gelehrsamkeit ohne Frömmigkeit. – Jeder Arbeit schicke ein kurzes Gebet voran. – Sage nie etwas Schlimmes von Jemandem, wenn du damit nicht ihm oder einem Andern nützen kannst. – Tadle jeden mit aufrichtiger Theilnahme, als einen schwachen Bruder. – Wolle keinen beneiden, daß er frömmer ist oder mehr Ruf hat, als du, sondern liebe die Gaben Gottes in ihm und du wirst sie dadurch dir selbst zu eigen machen.“

In diesem Sinne führte Florentius die Leitung der Bruderschaft vom gemeinsamen Leben. Zwei Jahre nach dem Tode Meister Gerhards, im J. 1386, brachte er dessen letzten Lieblingswunsch in Erfüllung: er gründete unter Mitwirkung hoher Gönner, namentlich des Herzogs Wilhelm von Geldern, und mit Genehmigung des Bischofs von Utrecht, des nämlichen, der einst die Reisepredigt Gerhards untersagt hatte, das Kloster der regulirten Kanoniker zu Windesem als einen Mittel- und Anhaltspunct für den Verein des gemeinsamen Lebens, an welches bald ähnliche Stiftungen sich anschlossen, insbesondere das Kloster auf dem Agnetenberge bei Zwoll, in welchem der gottselige Thomas von Kempen seine irdischen Tage verlebte. Auch kamen in Deventer unter Leitung des Florentius und mit Begünstigung des Rathes noch mehrere Bruderhäuser zu Stande, vornehmlich i. J. 1391 ein sehr bedeutendes, in der Folge gewöhnlich das reiche Fraterhaus oder das Haus des Florentius genannt. Ueberhaupt aber zeigte sich die Genossenschaft, deren Haupt und Seele Florentius war, so segensreich und kam so sehr dem tieferen Bedürfnisse der Zeit entgegen, daß zu derselben Zeit noch zahlreiche Bruderhäuser in den bedeutenderen Städten der Niederlande und Niederdeutschlands gestiftet wurden.

Nachdem Florentius 16 Jahre an der Spitze der Genossenschaft gestanden, war auch er an das Ziel der Laufbahn gekommen. Er hatte schon vielfach, vielleicht in Folge seines allzu strengen Lebens, körperlich gelitten; nun erkrankte er tödtlich. Er genoß unter tiefen Empfindungen der Buße das h. Abendmahl, ernannte zu seinem Nachfolger einen vertrauten, zuverlässigen Freund, Aemilius van Buren, und starb um Mariä Verkündigung 1400, etwa 50 Jahre alt, nach den herzlichsten Ermahnungen an die Brüder, in deren Verlauf er unter andern sagte: „Bleibet in demüthiger Einfalt und Christus wird in euch bleiben.“

Als Florentius in der St. Lebuinskirche bestattet wurde, äußerte ein Bürger von Deventer: „Ob St. Lebuin ein Heiliger ist, weiß ich nicht, glaube es jedoch; das aber weiß ich gewiß, daß dieser Mann ein heiliger Bekenner Gottes ist.“ Und das war er auch, wie wir nicht zweifeln dürfen, im evangelischen Sinne. Hat er doch nicht bloß durch sein Wort, sondern durch die ganze Glaubens- und Liebesthat seines Lebens bezeugt, daß es für ihn nichts Höheres gab, als „das Leben vollständig nach der heiligen Schrift zu führen“, und zwar nach der nicht in selbstbeliebigem Sinne, sondern nach dem Verstande der Heiligen ausgelegten. Hat er doch in dieser heiligen Schrift „den höchsten Schatz der Kirche“ erkannt und verehrt, ganz wie Luther es nachmals that, wenn er in der 62sten unter seinen reformatorischen Thesen das große, folgenreiche Wort spricht: „der rechte, wahre Schatz der Kirche ist das heilige Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes.“ Hat er doch endlich in dem, was der Mensch thun mag, alles gethan wissen wollen „zur Ehre Gottes“ mit vollständiger Verleugnung alles Eigenen, gerade so, wie unsre Reformatoren es wollten, deren ganzes Werk darauf gerichtet war, gegenüber allem Menschlichen die Ehre Gottes in unantastbarer Majestät und Reinheit wiederherzustellen.

C. Ullmann in Carlsruhe

Johann Jacob Rambach

Johann Jacob Rambach

Johann Jacob Rambach war den 7. März 1737 zu Teupitz in der Mittelmark geboren, und ein Sohn des zu Breslau 1775 verstorbenen Oberconsistorialraths Friedrich Eberhard R. Die erste Zeit der Kindheit und einen Theil seines Jünglingsalters verlebte Rambach in Magdeburg. Sein Vater, damals zweiter Prediger an der dortigen Heiligengeistkirche wirkte durch das Beispiel einer ungeheuchelten Gottesfurcht, eines unermüdeten Fleißes und einer ausgezeichneten Bildung wohlthätig auf die Entwicklung der geistigen und moralischen Anlagen des Knaben. Auf seinen Entschluß, sich der Theologie zu widmen, hatte vielleicht das Beispiel seines Vaters und die Achtung, die derselbe bei seinen Gemeindegliedern und Mitbürgern genoß, keinen geringen Einfluß. Den ersten Unterricht verdankte Rambach der Schule zu Magdeburg und seit dem J. 1749 dem Pädagogium des Liebfrauen-Klosters. An Folgsamkeit, guten Sitten, Fleiß und Lernbegierde übertraf ihn nicht leicht einer seiner Mitschüler. Wilde, ausschweifende Vergnügungen hatten keinen Reiz für ihn. Desto mehr Geschmack fand er an geistiger Unterhaltung und an dem Genusse der Natur.

Bereits im J. 1754 bezog Rambach die Universität Halle. Unter seinen dortigen Lehrern Baumgarten, Meier, Stiebritz, Wiedeburg, Simonis, Weber u.a. scheint Baumgarten durch seine seltene Gelehrsamkeit, seinen ungemeinen Scharfsinn und seine theologische Denkungsart den größten Einfluß auf Rambachs Bildung gehabt zu haben. Auch in spätern Jahren pflegte er dieses Gelehrten, den er noch vor der Beendigung seiner akademischen Laufbahn zu Grabe tragen sah, nie anders, als mit der größten Hochachtung, Ehrfurcht und Bewunderung zu gedenken. Seinen Fleiß und seine Kenntnisse zeigte Rambach in einer lateinischen Abhandlung über die außerordentlichen Gebräuche bei der Taufe und dem Abendmahle, welche er noch während seines Aufenthalts in Halle schrieb.

Im J. 1759 erhielt er eine Lehrerstelle an dem Pädagogium des Liebfrauen-Klosters zu Magdeburg. Als er ein Jahr später Rector dieser Anstalt geworden war, rechtfertigte er durch den ungetheilten Beifall, den er sich durch seine Amtsführung erwarb, die Wahl des Convents. Ein bei weitem größerer Wirkungskreis eröffnete sich indeß seiner Thätigkeit, als er, auf Empfehlung des Oberhofpredigers A.F.W. Sack zu Berlin, der ihn während seines Aufenthalts in Magdeburg als ausgezeichneten Schulmann kennen gelernt hatte, im J. 1765 Rector des Gymnasiums zu Quedlinburg ward. Diese damals sehr tief gesunkene Anstalt wieder zu ihrem frühern Flor zu erheben, scheute er keine Zeit und Mühe. Der von ihm entworfene neue Schulplan wurde von dem Consistorium und der Regierung genehmigt. Ein reifes Urtheil und eine verständige Berücksichtigung des Geschmacks und der Bedürfnisse des fortschreitenden Zeitgeistes war in jenem Plane nicht zu verkennen. Noch mehr aber wirkte Rambach durch den Geist, der seine Amtsführung beseelte, durch seinen unermüdlichen Eifer für das Beste der Schule und durch das Vertrauen, das er sich bei seinen Collegen zu erwerben wusste. Die Liebe seiner Schüler gewann er sich durch das lebhafte Interesse an den verschiedenartigsten Gegenständen des Unterrichts. Für manche Beschwerden seines Amts bot ihm die Freude, zur Aufnahme des Quedlinburger Gymnasiums wesentlich beigetragen zu haben, so reichlichen Ersatz, dass er, nach keiner Veränderung sich sehnend, auf das im J. 1771 ihm angetragene und mit größeren Vortheilen verbundene Rectorat an der Martinischule zu Braunschweig unbedenklich Verzicht leistete.

Aber den Ruf zum Oberprediger an der Nicolaikirche in Quedlinburg, der im J. 1774 an ihn erging, glaubte er, ungeachtet der Vorliebe zu sein Schulamt, doch nicht ablehnen zu dürfen. Aus diesem Verhältnisse, in welchem er das Vertrauen und die Liebe seiner Gemeine in nicht geringem Grade besaß, trat er im J. 1786 wieder heraus, um dem Rufe eines Pastors an der St. Michaeliskirche in Hamburg zu folgen. Dort bot er alle Kräfte auf, um den Pflichten eines viel angreifendern Amts, als sein bisheriges gewesen war, Genüge zu leisten. Ohne sich eines starken Körperbau’s rühmen zu können, blieb er, mit wenigen Ausnahmen, auch in Hamburg von eigentlichen Krankheiten verschont. Dort war er ein Zeuge mancher freudiger Ereignisse. Dazu gehörten besonders die Einweihung des Thurms der Michaeliskirche (1786), die Feier seiner 25jährigen Hamburgischen Amtsführung (1805) und sein 50jähriges Lehramtsjübiläum (1809). Als Patrioten wurden für ihn die Befreiung Hamburgs am 5. Juny 1814 und der Gedächtnißtag der Leipziger Schlacht am 18. October des genannten Jahres besonders wichtig. Das Dankfest für den Sieg bei Belle-Alliance mußte er wegen einer bedeutenden Schwäche, von der er einige Wochen zuvor befallen worden, in der einsamen Stille seines Zimmers feiern.

Jener körperliche Zustand zog ein allmälig in gänzliche Erschöpfung übergehendes Dahinsinken seiner Kräfte nach sich. Durch die Stärkung, die er dem ländlichen Aufenthalte in Ottensen verdankte, war der Wunsch in ihm rege geworden, wieder zu seinen Amtspflichten zurückkehren zu können. Den Anfang machte er mit dem katechetischen Unterrichte, den er im Frühjahre 1817 fortsetzte, ohne durch die dabei erforderliche Geistesanstrengung einen nachtheiligen Einfluß auf seine Gesundheit zu spüren. Den 19. Sonntag nach Trinitatis betrat er sogar seine seit mehr als zwei Jahren verlassene Kanzel. Dort, so wie bei der Einweihung der für die Hamburger Bürgerwehr neuverfertigten Fahnen (am 18. October 1817) sprach er mit einer für seinen Gesundheitszustand, so wie für seine Jahre bedeutenden Kraft. Diese schien aber seit dem April 1818, besonders durch den Hinzutritt eines katarrhalischen Uebels immer merklicher zu schwinden, und den 6. August des genannten Jahres versank er, nachdem ihm Tags zuvor ein Schlagfluß die linke Seite des Körpers gelähmt hatte, in einen tiefen Schlummer. Der sanfte Tod, den derselbe herbeiführte, war von keiner Erscheinung begleitet, die sonst wohl dem Anblicke Sterbender etwas Widriges beizumischen pflegt.

Die bedeutendsten Kanzelredner
der
lutherschen Kirche des Reformationszeitalters,
in Biographien und einer Auswahl ihrer Predigten
dargestellt
von
Wilhelm Beste,
Pastor an der Hauptkirche zu Wolfenbüttel und ordentlichem Mitgliede der
historisch-theologischen Gesellschaft zu Leipzig
Leipzig,
Verlag von Gustav Mayer.
1856

Urbanus Rhegius

Urbanus Rhegius

Urbanus Rhegius (König) wurde im J. 1490 kurz vor dem Urbanustage (gegen Pfingsten) zu Langenargen am Bodensee von unbemittelten Ältern geboren. Er besuchte die Schule zu Lindau und sodann die Universität Freiburg im Breisgau. Hier nahm ihn der als Jurist und Philologe ausgezeichnete Ulrich Zasius in sein Haus auf. Zasius’ grosse Bibliothek hatte für den Jüngling eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Oft schlich er sich heimlich hinein, nahm Bücher auf sein Zimmer mit und studirte sie des Nachts sammt den Randbemerkungen seines Lehrers. Wenn dann dieser, häufig von schlaflosen Nächten geplagt, in seinen Zimmern die Runde machte und den fleissigen Schüler über seinen Büchern antraf, zupfte er ihn freundlich am Ohre und sagte: „Du nimmst mir meine ganze Gelehrsamkeit weg.“ Zuweilen fand er ihn auch über den Büchern eingeschlafen, den Kopf auf den Tisch gesenkt. Dann pflegte er ihm leise einige Folianten auf den Rücken zu legen und in einiger Entfernung über Urban’s Schrecken bei’m Gepolter der herunterstürzenden Bände sich zu ergötzen. Auch den nachmals berüchtigten Eck, der schon im 15. Lebensjahre Vorlesungen hielt, hatte Urban in Freiburg zum Lehrer und Freunde. Zwanzig Jahre alt ging er nach Basel und zwei Jahre darauf nach Ingolstadt. Hier trieb er, wie bisher, besonders poetische und philologische Studien, gab Privatunterricht und übernahm die Erziehung adliger Jünglinge. Aber diese, deren Bürge er war, machten Schulden, und die Ältern zahlten nicht. Da fasste der bedrängte Mentor den Entschluss, seine Habe, die grösstentheils in seinen Büchern bestand, den Gläubigern zu überlassen und sich von einem kaiserlichen Offizier zum Soldaten gegen die Türken anwerben zu lassen. Als aber D. Eck, seit 1510 Professor der Theologie in Ingolstadt, ihn unter den Recruten erblickte, kaufte er ihn los und veranlasste die Ältern seiner Zöglinge zur Zahlung. Auf’s neue sich mit ganzer Seele den Studien hingebend wurde er vom Kaiser Maximilian bei dessen Durchreise durch Ingolstadt zum Dichter und Redner gekrönt. Auf Eck’s Verwendung empfing er bald darauf eine Professur der Redekunst, und, nachdem er eine Zeit lang Theologie getrieben, da theologische Doctordiplom. Aber Eck’s Freundschaft verblendete ihn nicht gegen das Licht von Wittenberg, dem er sich zwar nicht plötzlich zuwandte, wie seine noch ganz katholische Schrift de dignitate sacerdotum vom Jahre 1518 beweis’t, das aber allmälig desto durchdringender und blendloser seinen Geist erhellte. Schon 1520 finden wir sein Verhältniss zu Eck gelös’t. Nachdem er eine Zeit lang bei dem Weihbischofe Johann Faber zu Costnitz ein freundliches Asyl genossen, wurde er von dem liberalen Bischof Christoph von Stadion an Ökolampad’s Stelle zum Prediger am Carmeliterkloster St. Annä nach Augsburg berufen. Als er aber in der Erklärung des Vaterunsers Fegefeuer, Ablass und Cölibat verwarf, auch das Abendmahl in beiderlei Gestalt ausgetheilt hatte, erregte er bei den Papisten grossen Anstoss. Eines Tages begann nach der Predigt ein Domherr mit ihm einen Streit, der damit endete, dass jener ihm ein Schlüsselbund in’s Gesicht schlug. Hierauf verliess Urbanus die Stadt, und obwohl er zur Rückkehr genöthigt wurde, musste er doch auf päpstlichen Betrieb weichen. 1521 ging er nach Hall in Tyrol und predigte das reine Wort, das von da aus auch zu den Salzburgern drang. 1523 kehrte er auf den dringenden Wunsch einiger Senatoren nach Augsburg zurück, wo inzwischen Rana (Frosch) als lutherscher Prediger angestellt war. Beide wirkten von nun an in reichem Segen. Grosses und heilsames Aufsehen machte sein 1523 am Frohnleichnamsfeste erschienener himmlischer Ablassbrief, 1524 schrieb er gegen Carlstadt, 1525 gegen die Bauern und 1527 gegen die Wiedertäufer.

Im J. 1527 kam eine schwere Anfechtung über Urbanus, der er auf eine Zeit lang erlag. Sie bestand in dem unabweisbaren Eindrucke, den die Abendmahlslehre Zwingli’s, zumal, nachdem dieser angelegentlich an ihn geschrieben hatte, auf ihn ausübte. Seinem Wesen nach wahr und aufrichtig scheuete er sich nicht, sich zu ihr zu bekennen, worüber Luther tief trauerte. Aber Urban hörte nicht auf zu prüfen und auf’s neue überzeugt von der Schriftmässigkeit des lutherschen Sacraments verwarf er eben so aufrichtig den erkannten Irrthum und kehrte zu Luther zurück. Was dieser bei dem ersten Gerüchte von Urbanus’ Sinnesänderung empfand, schildert folgender Brief, den er am 7. Juli 1528 an Urbanus schrieb: „Gnade und Friede in dem Herrn. Nun kam ein erfreulicheres Gerücht, denn ehemals, zu uns, mein bester Urban! Denn so wohl einiger Freunde Brief, als auch Zwingli’s prahlerisches Vorgeben brachte mich auf den Verdacht, Ihr wäret von uns, in Ansehung der Lehre vom heiligen Abendmahle, gänzlich abwendig gemacht worden. Nun redet man freilich ganz anders von Euch, so dass mein ehemaliger hoffnungsloser Gram über Euer Ausreissen mir kaum noch zu glauben erlaubt ist. Doch wünsche ich es mit jedem heissen Wunsche, dass Christus meine Seufzer um Euch erhöre und uns mit dieser frohen Nachricht erfreue. Das soll für uns eine Osterfeier, ein wahres brüderliches Passahfest sein, wenn Ihr Euch nicht von uns trennt, wenn Ihr eines Glaubens mit uns seid! Ich schreibe Dies nicht ohne Besorgniss. Denn ich weiss es aus der Erfahrung, wie oft wir uns nicht nur mit schlimmen, sondern auch mit frohen Botschaften zu täuschen pflegen. Ich bitte Euch daher, beehrt mich mit einem Schreiben, worin Ihr mir zu wissen thut, was für ein Geist Euch belebe, was für Gesinnungen Ihr heget. Gehabt Euch recht wohl in Christo.“ – Merkwürdig ist, alle Häupter der vornehmsten Confessionen strebten Urbanus zu gewinnen; denn ausser Zwingli und Luther versuchte auch Eck, auf ihn zu wirken. Eck hatte seinen früheren Freund nie aus dem Auge verloren und mit steigendem Ingrimm von seiner anti-papstischen Wirksamkeit vernommen. Seiner eigenen Überredungskunst vertrauend machte er sich auf den Weg nach Augsburg, um ihn persönlich zu bearbeiten. Aber Urbanus blieb standhaft, so sehr er auch die frühere Güte Eck’s anerkannte. Jetzt begann Eck zu schimpfen und zu verdammen, und als auch Faber und Cochläus vergebens versucht hatten, Urbanus zum Proselyten zu machen, verbreiteten die Papisten das Gerücht, er habe mit einer vornehmen Freu die Ehe gebrochen, und bewogen eine gemeine Dirne, ihn des gebrochenen Eheversprechens anzuklagen. Durch den Beweis seiner Unschuld und durch seine bald darauf erfolgte Verheirathung wurde ihre Wuth noch gesteigert. Urbanus verehelichte sich mit Anna Weisbrück aus Augsburg. Sie war im Hebräischen und Chaldäischen wohlbewandert und nach Melanchthon’s Urtheile „mit allen Tugenden ächter Weiblichkeit geschmückt.“ Die glückliche Ehe wurde mit 14 Kindern gesegnet, deren jüngstes Herzog Ernst der Bekenner aus der Taufe hob. Dieser hatte ihn auf dem Reichstage zu Augsburg kennen gelernt, wo nächst Melanchthon Urbanus am meisten sich auszeichnete. Nach der Predigt, die er am Pfingstfeste gehalten, hatte Ernst auf die Frage, wie Urbanus geredet, geantwortet: Urbane et regie. Urbanus folgte dem Herzoge, oder vielmehr, da dieser noch in Augsburg verweilen musste, seinem Comitate, als Hofprediger und Generalsuperintendent nach Celle. Unterwegs besuchte er in Coburg Luther, der ihn so gut unterhielt, dass er nachher versicherte, nie einen vergnügteren Tag gehabt zu haben. Aber die Liebenswürdigkeit des lutherschen Gemüthslebens hatte keineswegs den tiefen Eindruck der Erhabenheit geschwächt, den Luther durch seine Schriften längst auf ihn geübt. Das beweis’t die Äusserung Urbanus’: „Luther ist ein so gewaltiger Theolog, dergleichen es keinen jemals gegeben hat. Ich habe ihn immer hochgeschätzt; aber jetzt, da ich ihn selbst gesehen und gehört habe, weiss ich meine Hochachtung keinem Abwesenden auszudrücken. Seine Schriften sind zwar Beweise der Grösse seines Geistes, hört man ihn aber selbst von göttlichen Sachen mit apostolischem Geiste reden, so muss man bekennen, er ist über allen Tadel seiner Gegner erhaben.“

Als Herzog Ernst nach Celle zurückgekehrt und von seinen Hofleuten gefragt war, was er Neues und Kostbares vom Reichstage heimgebracht habe, erwiderte er, „er habe einen unvergleichlichen Schatz für das ganze Fürstenthum mit sich gebracht, nämlich einen Mann von grosser Gelehrsamkeit und Treue, den er höher achte, als aller Fürsten Kleinodien. Es gereue ihn all das Geld und die Unkosten nicht, so auf die schwere Reise gegangen, weil er diesen vornehmen, theuern Mann daselbst bekommen habe.“ Als nach zwei Jahren Urbanus nach Augsburg zurückberufen wurde, liess ihn der Herzog nicht ziehen und sagte, indem er auf seine eigenen Augen wies, „er wüsste nicht, ob er lieber ein Auge, als Urbanum missen wollte; denn er habe zwar zwei Augen, aber nur einen Urbanum.“ Zu diesem aber wandte er sich mit den Worten: „Lieber Herr, bleibet bei uns. Ihr mögt wohl Leute finden, die Euch mehr Geld geben; aber Ihr könnt keine Zuhörer finden, die Eure Predigten lieber hören, denn ich.“

Urbanus’ reformatorische Thätigkeit wurde von dem frommen Herzoge mit allen Kräften unterstützt. Ernst’s kirchliche Erlasse begannen gewöhnlich mit den Worten: „Wir von Gottes Gnaden Ernst, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg und Urbanus Rhegius, der heiligen Schrift Doctor, gebieten“ u.s.w. 1531 ging Urbanus auf das vom Herzoge bewilligte Gesuch des Rathes auf zwei Jahre zur Ordnung des Kirchenwesens nach Lüneburg, wo gegen das anfängliche Widerstreben des Rathes schon seit 1528 Friedrich Hennigs und Stephan Kempe der empfänglichen Bürgerschaft das Evangelium gepredigt hatten. Urbanus fand bei Patriciern und Pfaffen starken Widerstand. Die damals herrschende englische Schweissucht wurde als eine Strafe des Himmels für die gottlose Neuerung gedeutet, und der Pfaffe Augustinus Götel griff in einer Druckschrift Urbanus’ Predigt von der Rechtfertigung an. Leicht wurden die Einwendungen widerlegt und eine angesetzte öffentliche Disputation von den Papisten kaum benutzt. Urbanus wirkte nicht bloss durch seine Predigten, sondern auch durch Unterweisung der Geistlichen und vor Allem durch Verbesserung des Schulwesens. Auf seinen Betrieb wurde Herrmann Tulich, Professor der Dichtkunst, zum Director des Gymnasiums berufen und eine Anzahl anderer erleuchteter Lehrer ihm beigesellt. In der von ihm revidirten Lüneburgischen Kirchenordnung Stephan Kempe’s gab er der Stadt ein bleibendes kirchliches Statut. 1533 kehrte er befriedigt nach Celle zurück. Im folgenden Jahre ordnete er das Kirchenwesen in Hannover, 1537 predigte er auf dem Tage zu Schmalkalden und unterschrieb daselbst die Artikel, 1538 war er mit Herzog Ernst auf dem Fürstentage in Braunschweig und 1541 folgte er ihm auf den Convent zu Hagenau. Auf der Rückreise erkrankt starb er zu Celle unter dem trostreichen Zuspruche seiner Amtsbrüder den 23. Mai 1541.

Urbanus war ein Mann von grosser Gelehrsamkeit, Frömmigkeit und Genialität. Ein Zeugniss Luther’s über ihn liegt in einer Vorrede vor, die jener zu Urbanus’ Buche „wider die gottlosen, blutdürstigen Sauliten und Doegiten dieser letzten, fährlichen Zeiten“ schrieb. „Wiewohl“ – so beginnt dieselbe – „Doctor Urbanus Regius seliger weder meiner, noch keiner Vorrede bedürfte auf seine Bücher, sintemal er für sich selbst nicht allein hoch genug gelehrt, sondern auch hochberühmt unter den Lehrern der heiligen christlichen Kirchen zu unserer Zeit, als ein reiner, rechtschaffener Prediger des heiligen, reinen, ungefälschten Evangelii erkannt, von allen Frommen, Rechtgläubigen lieb und werth gehalten ist, denn er dem päpstlichen Gräuel und allen Rotten mit Ernst feind gewest (wie der 139. Psalm sagt: Ich hasse sie in rechtem Ernst, darum sind sie mir feind); das reine Wort aber hat er herzlich lieb gehabt und mit allem Fleiss und Treu gehandelt, wie seine Schriften Dess ihm hie und dort reichlich Zeugniss geben: doch weil man’s allhier hat sollen drucken, hab ich’s wollen mit meinem Zeugniss bestätigt lassen ausgehen“ u.s.w. Das Interesse Luther’s an Urbanus zeigt auch der oben mitgetheilte Brief; nicht minder ein Trostschreiben, das er dem körperlich leidenden Freunde am Davidstage (30. Decbr.) 1535 in folgenden Worten zugehen liess: „Gnade und Friede in Christo, der unser Friede und Trost ist. Ich habe mich nicht sonderlich betrübt, lieber Urban, dass Ihr schreibet, Ihr littet des Satan’s Engel und den Pfahl Eures Fleisches. Denn hierinnen erkenne ich, dass Ihr dem Ebenbilde des Sohnes Gottes ähnlich werdet und aller Heiligen, und dass Euch und andern Brüdern, die an hohen Orten stehen, dergleichen Kreuz ganz nöthig ist, so Euch erniedrige. Darum handelt männlich und seid mit dem Herrn zufrieden, der zu Paulo gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft wird in den Schwachen vollbracht. Der uns berufen hat, ist treu und wird uns vollenden an seinem Tage. Amen. – – Wir können nicht alle Zeit fest und freudig sein, aber auch nicht alle Zeit schwach und gebrechlich; sondern nach dem er will, welcher bläset, wo und wann er will, dass er uns durch diesen Wechsel lehre, und wir nicht, wenn wir immer freudig und tapfer wären, stolzirten, oder, wenn wir immer schwach wären, verzageten. Er weiss unser gar staubicht und aschenhaftes Gewächs. Aber was soll ich Viel vor euch sagen, der Ihr Christi seid? Ausser, dass Brüder einem Bruder zureden und einander Handreichung thun müssen in diesem Jammerthal, bis der Tag aufgehe, auf den wir warten. Ihr werdet Euern Fürsten ehrerbietig grüssen, welchem ich, Gott weiss es, vom Herzen Glück wünsche zu dem Geist, der die Schrift so lieb hat, und bitte Gott, dass er solchen Segen in ihm, und uns Allen mehren wolle, der Vater der Barmherzigkeit. Amen. Gehabt Euch wohl mit den Euern in eben dem Herrn, und bittet für mich, der ich auch ein Sünder bin.“

Als Prediger stand Urbanus Regius durch die überzeugende Kraft, Klarheit und sorgfältige Ausführung seiner Vorträge sehr hoch. Er musste Bedeutendes leisten, da er mit hervorragenden Gaben die grösste Gewissenhaftigkeit und Vorsicht verband. Letztere ist recht eigentlich ein hervorstechender Zug seines Wesens, und es ist nicht bloss in den Umständen , sondern vorzugsweise in seinem Charakter begründet, dass er ein Buch schrieb: „Wie man fürsichtiglich und ohne Ärgerniss reden soll von den fürnehmsten Artikeln christlicher Lehre.“ Diese Schrift, eine vortreffliche Anweisung für Prediger, kann zugleich als eine Beschreibung seiner eigenen Praxis angesehen werden. Er selbst sagt in der Vorrede zu wiederholten Malen, dass er die aufgestellten Regeln befolge, und überdies weisen die von ihm erhaltenen gedruckten Predigten die Übereinstimmung seiner Praxis mit der in jener Schrift gegebenen Theorie aus. Gleich zu Anfang der Vorrede (an die jungen Prediger im Fürstenthum Lüneburg) spricht sich seine hohe Auffassung der Predigtthat und sein Respect vor dem irdischen und überirdischen Auditorium in folgenden Worten aus: „Es ist (wie die ganze Schrift zeugt) gar ein schwer Amt voller Sorgen und Fahr öffentlich reden und lehren in der Kirche oder Gemeine Gottes, darin ohne Zweifel Gotteskinder sitzen und zuhören, welchen die lieben Engel dienen, und Gott selbst als in seinem Tabernakel allda gegenwärtig ist und allenthalben aufschauet sammt seinen Engeln, und Gottes Wort von allen Creaturen mit grosser Ehrerbietung gehöret wird. Denn also hört der christliche Glaube, dass Alle Gottes Wort (dadurch sie geschaffen sind) ehren und vor Augen haben, ohne allein der Mensch und der Teufel, welche durch gräuliche Undankbarkeit die Ohren dagegen zustopfen und Nichts davon hören wollen.“ Mit Beziehung auf verschiedene Pastoralsprüche des Apostels Paulus (z.B. 2. Timoth. 2,15) fährt er dann fort: „Hier will St. Paulus nichts Anderes lehren, denn dass man bedächtiglich und mit grossen Sorgen und Fleiss das erschreckliche Geheimniss des Wortes Gottes handeln soll, oder wie St. Ambrosius sagt, dass man zu rechter Stätte und Zeit und mit Bescheidenheit von dem Glauben rede; denn wo durch unsern Unfleiss die Lehre unseres Glaubens nicht lauter und rein gehandelt, oder nicht ganz und völlig dem Volk fürgetragen und nicht recht getheilet wird, so werden wir gar schwere Strafe dafür leiden müssen an jenem Tage des Herrn, wenn wir Rechenschaft dafür geben sollen von unserer Haushaltung vor dem Richterstuhle Gottes.“ Hierauf nimmt er die einzelnen Fälle durch, in denen das Volk durch Unvorsichtigkeit der Rede geärgert wird. So sagt er in Bezug auf die Behandlung der Lehre von der Busse: „Etliche sagen gar selten Etwas von der Busse, wenn sie reden vom Glauben und Vergebung der Sünde, gleich als könnten Die, so nicht Busse thun, dem Evangelio gläuben und Vergebung der Sünde empfangen, so doch das Evangelium Beides zugleich inne hält als in einer Summa, nämlich Busse und Vergebung der Sünden, wie Luca ultimo stehet: Also ist’s geschrieben und also müsse Christus leiden und auferstehen von den Todten und predigen lassen in seinem Namen Busse und Vergebung der Sünde unter allen Völkern. Da siehest du die Ordnung, so Christus selbst stellet, dass man soll zum Ersten von der Busse predigen, darauf soll dann folgen die Predigt von der Vergebung der Sünden. Etliche treiben wohl die Busse und schrecken die Leute feindlich mit dem Gesetz, können sie aber nicht wieder trösten mit dem Evangelio. Solche lehren nur ein Stück von der Busse und verstümmeln sie. Dass ich aus eigener Erfahrung dafür halte, wer den Artikel von der Busse nicht recht verstehet, dass Der der Christenheit so nütz ist, als ein Wolf unter den Schafen. Wiederum sind Etliche, wenn sie das Volk richtig und klar unterrichten sollen vom Glauben und guten Werken, so fahren sie daher mit solchen Worten: Es ist Nichts mit unseren Werken, sie sollen Nichts, sie stinken vor Gott, er will ihrer nicht, sie machen eitel Gleissner; es thut’s allein der Glaube; wenn du gläubst, so wirst du fromm und selig. Solches reden sie so stumpf und unbesonnen dahin, thun gar kein Salz dazu, damit die Worte erklärt würden, wie sich’s gebührt. Darum ist nicht Wunder, dass die Einfältigen sich daran ärgern, sonderlich Die, so zuvor nicht viel das Evangelium predigen gehört haben; denn sie meinen, man rede also vom Glauben, als sollten die Werke gar verworfen und kein nütze sein. Darum denken sie bald, solch ein Prediger muss ein loser, verzweifelter Bube sein, als der gute Werke verdammt, welche doch Christus selbst gethan hat und von uns fordert, und halten also unsere ganze Lehre für unchristlich und verführerisch.“ Von Denen, welche gegen die Messe schreien, ohne ihren Kern, das heilige Abendmahl, zu wahren, sagt er: „Sie thun gerade, als wenn Jemand einen köstlichen Edelstein, im Koth gefunden, wieder hinwegwürfe, als wäre er kein nütz mehr, um des Kothes willen, so daran klebte, und könnte nicht solchen Edelstein von dem Kothe fegen und rein behalten.“ Diejenigen, welche die Lehre von der natürlichen Unfreiheit des Willens zum seligen Leben und von der Erwählung überspannen, greift er folgendermaassen an: „Vom freien Willen plaudern Etliche auch grob und ungeschickt genug vor dem Pöbel, so da sagen: Wir haben keinen freien Willen überall; was wir thun, das müssen wir thun. Und sagen Nichts weiter dazu, dass man solche Rede könnte leiden, sondern fladdern davon uns lassen solchen Stift in der Einfältigen Herzen stecken, dass sie müssen denken: Ist das wahr, dass ich Alles, was ich thue, aus Noth thun muss, was bin ich denn besser, denn ein Vieh? Und wie kann ich mich vor Sünden hüten? So ich sündigen muss, warum straft mich Gott? u.s.w. Also geben solche unvorsichtige Wäscher dem Pöbel Ursach, dass sie halten, Gott sei eine Ursach der Sünde, welches ist eine Gotteslästerung; denn Gott ist gar nicht eine Ursach der Sünden, sondern hat uns dagegen seinen Willen offenbart im Gesetz, dass er die Sünde hasset, weil er sie so ernstlich und strenge verbeut und dazu straft, beide, zeitlich und ärgerlich, da sie sollten bei den Worten und Lehre St. Pauli bleiben. Denn also reden sie unterweilen: Bist du von Gott zur Seligkeit versehen, so kannst du nicht verdammt werden, du thuest, was du wollest, Böses oder Gutes. Davon werden die Zuhörer entweder gar wild und ruchlos, verachten allen Gehorsam und fallen in Verzweiflung und lästern also: Was wollt’ ich mich Viel mit Fasten, Beten, Almosengeben, meinem Nächsten Verzeihen und dergleichen guten Werken beladen! Unser Pfarrherr spricht, es helfe mir Nichts, ich will ein gut Gesell sein und Nichts sorgen. Bin ich versehen, so werde ich selig, bin ich nicht versehen, so fahre ich hin mit dem grossen Haufen. Ich thue gleich, was ich wolle, so gilt’s gleich Viel. Also muss menschliche Vernunft gewisslich alle Zeit lästern, wenn sie höret einen solchen Plauderer, der so mit ungewaschenen und so unsauberen Worten von dem hohen, heiligen Geheimniss der Versehung geifert und speiet. Nein, es gilt nicht gleich so Viel, was du thuest; denn wir wissen, dass Christus Matth. 25. spricht: Kommet her, ihr Gebenedeieten meines Vaters, besitzt das Reich, welches euch von Anbeginn der Welt bereit ist; mich hat gehungert und ihr habt mir zu essen gegeben u.s.w. Hie hörst du, wer Gutes thut, Der wird selig, wer Böses thut und darin verharret, Der wird verdammt.“ Besonders nachdrücklich sind seine Warnungen vor dem Libertinismus und Spiritualismus in Sachen des Cultus. „Vom Gebet“ – schreibt er – „wissen Etliche Nichts zu reden, denn solche thörichte Worte: Viel Beten und Plappern ist ein heidnischer Irrthum und Gleissnerei, Gott hat gar keinen Gefallen daran. Da brechen sie aber die Rede zu kurz ab, da sie sollten Raum nehmen und ordentlich handeln und ausstreichen, was zu dem Gebet gehört, damit die Leute nicht von so nöthiger christlicher Übung des Gebets durch solch thöricht Geschrei gezogen würden.“ „Von gemeiner Sonntagsfeier und anderen Festen reden sie auch den Schwarmgeistern gleich, dadurch der Pöbel von Gottes Wort zu hören, das hochwürdige Sacrament zu empfahen, gezogen wird.“ „Also von Ceremonieen oder Kirchenordnung predigen sie auch nicht wie sich’s gebühret; denn von Vielen hört man nicht anders, denn solche Worte: Es ist ein vergeblich Ding mit den Ceremonieen, sie tragen Nichts. Was bedarf man in den Kirchen besonderer Kleider? Es ist eitel unnütz Menschentand. Gleich als könnte das Leben ohne Ceremonieen sein! Darum sollte man wohl unterscheiden zwischen unchristlichen Ceremonieen und anderen, die da frei sind, und welche Ceremonieen dazu dienen, dass es ordentlich in der Kirche zugehe, die sollte man züchtiglich halten und nicht so frech abthun und verwerfen; denn solche unzeitige Änderung der alten Ceremonieen hat alle Zeit viel Zwietracht und Unruhe in der Christenheit gemacht.“ Diese in der genannten Schrift weiter ausgeführten Grundsätze haben entschiedenen Einfluss auf die evangelische Homiletik ausgeübt, ja in der Ausprägung des besonnenen Charakters der lutherschen Kirche im Gegensatz zu anderen Confessionen und den Secten mitgearbeitet. Herzog Julius von Braunschweig liess das Buch des Urbanus, aus dem sie excerpirt sind, sogar in das Corpus doctrinae aufnehmen.

Die unten zu lesende erste Predigt ist ein besonders treuer Spiegel der in jener Schrift empfohlenen Regeln; die zweite zeigt bereits einen Anfang synthetischer Methode. leider sind fast sämmtliche Predigten Urbanus’ unverhältnissmässig lang, eine Eigenschaft, die, als sie auch an der von ihm auf dem Tage zu Schmalkalden gehaltenen Predigt sich nicht verleugnete, das Witzwort Luther’s hervorrief: Hoc neque urbanum est neque regium.

Urbanus ist Verfasser von mehr als hundert Schriften, unter denen folgende die bemerkenswerthesten sind: Opusculum de dignitate sacerdotum. Constantiae 1518. 8. Erklärung der zwölf Artikel christlichen Glaubens. Augsb. 1523. 8. Ein Sermon von dem dritten Gebot. Hall im Innthal. 1522. 4. Ein Sermon von der Kirchweihe. Hall. 1522. 4. Vom hochwürdigen Sacrament des Altars. 1523. 4. Wider den neuen Irrfall Dr. Andreae von Carlstadt. 1524. 4. Kurche Verantwortung auf zwei grosse Gotteslästerungen wider die Feinde der heiligen Schrift. 1524. 4. Von Vollkommenheit und Frucht des Leidens Christi (ohne Ort und Jahreszahl). 4. Ob das neue Testament recht verteutscht sei. 1524. 4. Ein Sermon vom ehelichen Stand (bei der Copulation Frosch’s). 1525. Von Leibeigenschaft. 1525. 4. Warnung an alle Christgläubigen wider den neuen Tauforden. Augsb. 1527. 4. Eine Predigt, warum Christus den Glauben ein Werk Gottes genannt habe. 1529. 4. Seelenarznei für Gesunde und Kranke. Augsb. 1529. 8. Der vier und zwanzigste Psalm. Zelle 1530. 4. Trostbrief an alle Christen zu Hildesheim. Zelle 1531. 4. Sendbrief, warum der jetzige Zank im Glauben sei. Nürnberg 1531. 4. Gewisse Lehre, bewährter Trost wider Verzweiflung der Sünde halben. Lüneb. 1532. 4. Widerlegung der münsterschen neuen Valentinianer. Zelle 1534. 4. Enchiridion eines christl. Fürsten. Wittenberg 1535. 8. Formulae quaedam caute et citra scandalum loquendi de preacipuis christianae doctrinae locis. Witeb. 1536. 8. Dieselbe Schrift deutsch, Wittenberg 1536. 8. Catechismus minor puerorum. Viteb. 1535. 8. Verantwortung dreier Gegenwürfe der Papisten zu Braunschweig. Zelle 1536. 4. Kirchenordnung der Stadt Hannover. Magdeb. 1536. 8. Trostbüchlein an die Christen zu Hannover. Wittenb. 1536. 4. Der fünfzehnte Psalm. Magdeburg 1537. 4. Abdias propheta caplanatus. Magdeb. 1537. 8. Der vierzehnte Psalm. Magdeb. 1537. 4. Ein Sermon von den guten und bösen Engeln. Wittenb. 1538. 4. Predigt, wie man die falschen Propheten erkennen, ja greifen mag. Wittenb. 1539. 4. Dialogus von der herrlichen, trostreichen Predigt, die Christus Luc. 24. von Jerusalem nach Emmaus gehalten hat. Wittenb. 1539. 4. Ein Sermon von den zwei Mirakeln Christi Matth. IX. Wittenb. 1539. 4. Wider die gottlosen blutdürstigen Sauliten und Doegiten dieser letzten Zeiten (mit Vorrede Luther’s). Wittenb. 1541. 4. Loci communes theologici, post obitum autoris a Jo. Fredero editi. Francof. 1545. 8.

Gesammtausgaben: Urbani Regii deutsche Bücher und Schriften. Nürnb. 1562. fol. (17 Alph.) Opera Urbani Regii latine edita cum ejus vita et praefatione Ernesti Regii, filii. Noribergae 1562. fol. (23 Alph.) Hierin ausser den genannten verschiedene werthvolle Abhandlungen z.B. responsio ad quaestionem, an homo hominem post hanc citam agniturus sit (pars II); articulus nostrae catholicae: Passus sub Pontio Pilato cet. (pars III): de descensu Christi ad infern (pars III); mors et sepultura missae papisticae (pars III).

Quellen: Vita in der Vorrede zu den Opp. latt. Grabe, vita Regii vor der Schrift Urbanus’: Formulae caute loquendi, Regiom. 1672. Adami Vitae eruditorum theol. p. 33 seqq. Bytemeister, vita preasulum Luneburgensium (1726). P. 5 seqq. Rotermund, Geschichte des Augsb. Glaubensbekenntn. Hannover 1829. S. 443 ff. Heimbürger, Ernst der Bekenner. Celle 1839. S. 85 ff. Kranold, Urbanus Regius, ein Reformationsbild. Göttinger Vierteljahrsschrift. 1845. Heft 2. S. 172 ff. (Urbanus’ Jugendgeschichte).

Georg Rieger

Georg Konrad Rieger

Georg Konrad Rieger, den man den bedeutendsten Prediger Württembergs im Zeitalter des Pietismus genannt hat, wurde am 7. März 1687 in Cannstatt als Sohn eines Weingärtners geboren ( Einen kurzen Lebenslauf hat Rieger auf seinem Krankenbett diktiert. Er beschließt ihn mit folgenden Worten: „Mein ganzer Lebenslauf steht in jenem Sprüchlein: Ich bin ein armer Sünder! Und die letzte Nachricht von mir soll diese sein: Jesus Christus hat ihn selig gemacht!“). Von früher Kindheit an lebte in ihm der Wunsch, Pfarrer werden zu dürfen. Der Vater war mit der Berufswahl seines Sohnes nicht einverstanden; es dauerte lange, bis er seinen Widerstand aufgab und die Erlaubnis zum Studium der Theologie erteilte. Der junge Rieger konnte nach der Überwindung aller Schwierigkeiten von 1702 -1706 die theologischen Seminare in Blaubeuren, Maulbronn und Babenhausen besuchen. Im Jahr 1706 wurde er in das Theologische Stift in Tübingen aufgenommen. Damals lehrten dort die Professoren der Theologie Andreas Adam Hochstetter, Christoph Reuchlin und der Kanzler J. W. Jäger. Am meisten fühlte sich er zu Hochstetter hingezogen, den A. H. Francke „unter seine liebsten Freunde “ zählte. Rieger, der inzwischen die Magisterprüfung abgelegt hatte,bestand im Jahr 1710 das theologische Examen vor dem Konsitorium in Stuttgart. Nach der Prüfung war er einige Jahre als Hauslehrer in der Familie des Tübinger Professors Harpprecht tätig, bis er 1713 als Repentent nach Tübingen und zwei Jahre später als Stadtvikar nach Stuttgart berufen wurde.

Im Spätherbst des Jahres 1717 kam A. H. Franke auf seiner „Reise ins Reich“ auch nach Stuttgart. Rieger legt bei einer Begegnung dem berühmten Theologen die Frage vor: „Wie predige ich am erbaulichsten?“ Francke erwiderte ihm: „Ich muß allem so predigen, daß, wenn mich einer nur dieses einzige Mal hört und darüber hinstürbe, er nicht nur etwas, sondern den ganzen Weg zur Seligkeit in der rechten Ordnung, wie es im Herzen aufeinander geht, auf einmal gehört hat. “

Die Kirchenbehörde, die auf den begabten jungen Theologen aufmerksam geworden war, wollte ihm die Stelle des Klosterpräzeptors in Babenhausen übertragen und ihm den Weg in die wissenschaftliche Laufbahn öffnen. Rieger dagegen fühlte sich zum Predigtamt hingezogen und bat die Behörde, daß sie ihn von der Übernahme des Amtes befreien möchte. Kurz darauf wurde ihm die zweite Stelle in Urach übertragen. (Im Jahre 1718 trat er in den Ehestand mit Regina Dorothea Scheinemann aus Stuttgart. Von den beiden Söhnen, die dieser Ehe entstammen, ist der ältere der bekannte Oberst Philipp Friedrich Rieger, der als Staatsgefangener lange Jahre hindurch in unwürdiger Haft auf der Festung Hohenwiel gefangen saß. Er starb, nachdem ihn der Herzog begnadigt hatte, 1782 als Kommandant der Festung Hohenasberg. Der jüngere Sohn, Carl Heinrich Rieger, ist der bekannte Schriftausleger, dessen „Betrachtung über das neue Testament“ im 19. Jahrhundert zahlreiche Auflagen erlebte). Hier entfaltete er als Prediger und Seelsorger bald eine gesegnete Tätigkeit. In seinem Hause richtete er eine Erbauungsstunde ein, in der er Speners Schrift : „Einfältige Erklärung der christlichen Lehre und Ordnung der kleinen Katechismus Luthers“ seinen Andachten zugrundelegte. Nach kaum drei Jahren mußte er die Uracher Gemeinde verlassen; denn seine Behörde hatte ihn in eine neue Arbeit als Professor am Gymnasium und als Mittwochsprediger an der Stiftskirche nach Stuttgart berufen, wo er über zwei Jahrzehnte wirken durfte. Im Auftrag des Konsitoriums legte er in seinen Wochenpredigten das Evangelium des Matthäus aus. Er hat in seinem Leben etwa tausend Predigten über das Evangelium gehalten, wiewohl er mit seiner Auslegung nur bis zum 19. Kapitel gekommen ist. „ Der Herr“, so bekannte er gelegentlich, „hat mir manche Erquickung unter dem Nachsinnen und viel Trost und Aufmunterung beim Halten dieser Predigten geschenkt“. Über manchen kleinen Textabschnitt hat er acht Predigten gehalten. Einen Teil seiner Predigten über das Matthäus-Evangelium hat er im Lauf der Jahre im Druck erscheinen lassen. Es handelt sich dabei um die Predigtsammlungen: „Die Kraft der Gottseligkeit im Verleugnung seiner selbst“ und die „Betrachtung von der herzlichen Sorgfalt des himmlischen Vaters und seines Sohnes auch nur um eine einzige Seele“. Nach seinem Tode erschienen die Predigtbänder „Richtiger und leichter Weg zum Himmel“ und „Die Geschichte von der Verklärung Jesu Christi“, denen Texte aus dem Matthäusevangelium zugrunde liegen.

In jenen Jahren stand er als Seelsorger in besonders herzlicher Verbindung mit Beata Sturm, deren pietistisch-mystische Frömmigkeit ihn stark beeinflußte. Ihre Lebensgeschichte hat er ausführlich beschrieben in dem Buch: „Die württembergische Tabea oder das merkwürdige äußere und innere Leben der weiland gottseligen Jungfrau Beata Sturmin“ (1730). Das Buch hat damals 1732 und 1737 Neuauflagen erlebt. Im 19. Jahrhundert hat es Carl Friedrich Ledderhose nach gründlicher Überarbeitung nach einmal herausgegeben.

Das Jahr 1733 brachte ihm einen erneuten Stellenwechsel; denn er wurde zum Stadtpfarrer an der Leonhardskirche ernannt. In welchem Sinn er sein Amt zu führen gedachte, das zeigen die folgenden Worte in seiner Antrittspredigt: „Weil ich aber nicht das Meine, sondern das, was Jesu Christi ist, bei euch suche, nicht eure ohnehin fast abgeschorene Wolle, nicht eure fast ausgemolkene Milch, sondern eure übriggebliebenen Seelen, eure köstlichen und unschätzbaren Seelen, darum traue und glaube ich, daß ich sie finden, daß ich wenigstens manchen finden, werde; und wieviel habe ich gefunden, wenn ich eine Seele gefunden habe!“ Diese Worte zeigen auch, daß Rieger nicht an den politischen Ereignissen seiner Zeit gleichgültig vorübergegangen ist. Die Ausdrücke „fast abgeschorene Wolle“ und „fast ausgemolkene Milch“ beziehen sich auf die Mißwirtschaft des Herzogs Eberhard Ludwig und seiner Mätresse, der Landhofmeisterin von Grävenitz. Das Land konnte damals aufatmen; denn 1733 war Herzog Ludwig gestorben. Wie sehr Rieger für politische, vor allem auch für staatspolitische Fragen aufgeschlossen war, zeigt seine Schrift: „Moralisch-theologische Belehrung von dem eigentlichen Ursprung des bürgerlichen Regiments“ (1733). Am Sonntag vor der Hinrichtung des ehemaligen Finanzministers Süß Oppenheimer, die am 4. Februar 1738 in Stuttgart stattfand, hielt er seine berühmte Predigt über Matthäus 20, 8. In ihr warnte er die Gemeinde vor Haßgefühlen und ermahnte sie zur Buße und Besinnung. In seinem Schlußgebet gedachte er des Verurteilten, den er wiederholt im Gefängnis besucht hatte, und forderte die Zuhörer auf, daheim mit der Fürbitte fortzufahren: „Solche Liebe sind wir einem Juden um eines Juden willen, um Jesu Christi, unseres hochgelobten Heilandes willen, schuldig“. Die Predigt erschien als Sonderdruck unter dem Titel: „Gute Arbeit gibt herrlichen Lohn“.

Neun Jahre später berief ihn das Konsistorium zum Pfarrer der Hospitalkirche und übertrug ihm das Dekanatamt. Im gleichen Jahr erschien sein umfangreiches Predigtwerk: „Herzenspostille oder zur Fortpflanzung des wahren Christentums im Glauben und Leben über alle Fest-, Sonn- und Feiertags-Evangelien gerichtete Predigten“. Merkwürdigerweise wurde das Buch außerhalb des Landes im Verlag Züllichauer Waisenhauses gedruckt. Einen Neudruck des Buches, das Riegers Ruhm als Prediger begründete, veranlaßte 1843 Pfarrer Johann Hinrich Volkening, der Erweckungsprediger des Ravensburger Landes.

Nur noch kurze Zeit konnte Rieger sein Amt versehen. Am 22. März 1743 erlitt er einen Zusammenbruch seiner Kräfte, von dem er sich nicht mehr erholen sollte. Er selber fühlte, daß der Herr ihn heimholen wollte. Geduldig ergab er sich in Gottes Willen und legte in seiner Lebenszeit ergreifende Zeugnisse des Glaubens ab. Am Dienstag vor Ostern empfing er auf seinem Krankenlager das Heilige Abendmahl. Nach der Feier sprach er bewegten Herzens: „Nun, was soll ich mehr verlangen? Mich umströmt die Gnadenflut!“ Als er am Tag darauf sehr um Luft ringen mußte, sagte er zu einigen Freunden: „Nun, ich sterbe, und Gott wird mit euch sein. Ich besiegle da Evangelium, das ich gepredigt habe, mit meinem Tod; und es reut mich kein Wort“. Ein wenig später bat er um ihre Fürbitte: „Unterstützt mich vollends mit eurer Liebe und Kraft, bis es gar überwunden ist. Ich bin wie eine ausgetrocknete Scherbe. Ich weiß nicht, wie lange es noch währt; bleibt bei mir abwechslungsweise und seid Zeugen meines Glaubens bis an mein Ende!“ Dann wieder bat er, daß man singen möchte zum Lob der Engel, die ihn abholen werden: „Es sind zwei Heere wie bei Jakob. Ihr seid das eine; überliefert mich mit Beten und Singen an das andre Heer, nämlich an die heiligen Engel!“

Am Osterfest sprach er zu seiner Frau: „Liebes Kind, ich sterbe und hätte noch viel zu reden, aber halte dich an Christus allein und behalte ihn!“ Am Abend bekannt er bei zunehmender Schwäche: „Es ist immer das Alte. Ich bin eben der arme Sünder, der Gnade bekommen hat, der arme Sünder, der errettet worden ist, arme Sünder, den er selig gemacht hat; und wenn man`s tausendmal umkehrt, so ist es immer das Alte. Mir ist nichts groß und nichts ansehnlich als Jesus allein!“ Als ihm in der letzten Leidenszeit das Atmen außerordentlich schwer wurde, meinte er: „Das gehört zu dem ängstlichen Herren der Kreatur.“ Einer der Anwesenden ergänzte ihn mit den Worten: „Welche wartet auf die Freiheit der Kinder Gottes.“ Rieger erwiderte: „Auf die herrliche Freiheit“ Dieses Wörtlein wollen wie nicht vergessen!„ Zu einem anderen, der ihm das Wort vorhielt: „Sprich du zu meiner Seele: Ich bin deine Hilfe“, sagte er: „Es heißt eigentlich: Ich bin dein Jesus!“

Seinen Schwiegersohn, Pfarrer Ludwig David Cleß, verdanken wir einen Bericht über die letzten Stunden des großen Predigers: „In dieser seiner letzten Nacht fing er von morgens ein Uhr an, je länger je mehr zu erstarren. Gegen fünf Uhr wurde man eines Brandmals am linken Fuß und gegen sechs Uhr eines an der linken Hand gewahr. Man brachte die ganze Nacht mit ihm unter Beten und Singen zu, wie er befohlen hatte, daß man ihn den Chören der heiligen Engel entgegenbringen und mit Gesang an sie überliefern sollte, und obschon er die Sprache fast völlig verloren hatte und das Kinn ihm bereits merklich steif zu werden anfing, so faßte er doch nicht lange vor seinem Ende auf die Frage eines ihm werten Freundes, wie ihm sei und ob die Wunden Jesu recht offen stünden, noch alle seine Kräfte zusammen und sagte mir vernehmlicher Stimme: „In Absicht auf mich, ja freilich!“

Am 16. April 1743 ist er in den Morgenstunden selig eingeschlafen. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Friedhof an der Hospitalkirche. Dankbare Liebe ließ auf den Stein, der sein Grab schmückte, die Worte setzten:

An Aarons Tage starb ein Aaron unserer Zeit;
er war von Jugend auf den Dienst des Herrn geweiht.
Wie stark sein Geist, sein Glaub`, sein Licht gewesen,
das kann ein jeder noch aus seinen Schriften lesen.

Sein Glaub` und Hoffnung, sein Wort und Leben steht in seinem Leichentext: 1. Timotheus 1, 15.

Dr. Theodor Fliedner,
Buch der Märtyrer,
Verlag der Diakonissen-Anstalt zu Kaiserswerth,
1859

Cyriakus Spangenberg

Cyriakus Spangenberg

Cyriacus Spangenberg, Johann Spangenberg’s ältester Sohn, wurde zu Nordhausen am 17. Juni 1528 geboren. Er genoss den Schulunterricht des durch seinen thesaurus eruditionis scholasticae berühmten Rectors Basilius Faber und den Privatunterricht seines Vaters, der mit ihm den Justicus und das Chronicon Abbatis Urspergensis las, auch das Chronicon Carionis in’s Lateinische von ihm übersetzen liess. Schon im 14. Jahre bezog er die Universität Wittenberg, wo er besonders Luther und Melanchthon hörte. Von seiner schon damaligen hohen Begeisterung und Verehrung für Luther legt er in einer Predigt das Zeugniss ab: „Gleichwie das grosse venedische Schiff Galeon mit aller Gewalt auf dem hohen Meere daherfährt, unter die türkischen Renn- und Raubschiffe getrost sich waget und noch alle Zeit den Sieg davon gebracht hat: also setzet der Glaube auch getrost hinein, wie es Gott zuschicket, und behält immer den Sieg; denn es ist ein unüberwindlich Ding um einen gläubigen Menschen. Wenn ich D. Luther, seligen Gedächtnisses, vor drei und zwanzig Jahren zu Wittenberg etwa gehen sah, da dünkte mich gleich, als sähe ich also ein gross, gewaltig, vollgerüstet Streitschiff, das unter die Feinde auf dem ungestümen Meere dieser Welt, unter die Papisten, Juden, Schwärmer und Rottengeister getrost und unverzagt hineinsetzt, Alles verjagt und erlegt und mit fröhlichem Triumpf den Sieg herwiederbrächte; denn durch den Glauben an Jesum Christum hat dieser heilige Mann alle seine Widersacher überwunden und ist also ihr Obermann geworden.“ Die hier ausgesprochene, bis zum Staunen gesteigerte Bewunderung Luther’s hat ihn nie verlassen und ihm später bei seinen Gegner den Spottnamen „Luther’s Lieutenant“ eingetragen. – Sp. verband mit vorzüglichen Gaben so grossen Fleiss, dass er nach kurzer Zeit Magister und schon im 19. Jahre zum Schullehrer nach Eisleben berufen wurde. 1550 wählte man ihn dort an die Stelle seines verstorbenen Vaters zum Prediger. Als solcher stritt er eifrig und heftig gegen das Interim, auch in der von Melanchthon gemilderten Leipziger Fassung. 1553 wurde er zum Stadt- und Schlossprediger zu Mansfeld, wie auch zum Generaldekan der Grafschaft berufen.

Immer fester und entschiedener bildeten sich die Lutherschen Züge im innern Leben Spangenberg’s aus, immer ausschliesslicher dreheten sich seine erbaulichen Gedanken um die Ideen der Sünde und Gnade. Daher sein grosser Eifer gegen Striegel, wider den er 1563 eine Predigt „vom tauben und stummen Menschen“ herausgab, sowie gegen Major und die Lehre von der Nothwendigkeit der guten Werke zur Seligkeit. Leider wurde an ihm ein Zug zur Carricatur. Im Eifer für die Lehre von der Verderbtheit des natürlichen Menschen wurde er, der „sein Lebtag für nichts Anderes angesehen wein wollte, als für einen alten und unbeweglichen Discipel Luther’s“, zu einem Anhänger des Flacius und seiner Irrlehre von der verderbten menschlichen Substanz. Unter dem Schutze der Grafen Wolrath und Johann Ernst legte er eine Druckerei auf dem Schlosse zu Mansfeld an und verbreitete von hier aus ausser vielen vortrefflichen Schriften auch die Spreu des Flacianismus. Seine Lehre fand heftigen Widerstand. Auch das Eislebensche Ministerium, das Anfangs auf seiner Seite gewesen, aber durch Wigand und Chemnitz umgestimmt war, schrieb gegen ihn. Zwei Colloquia, in die es sich auf Befehl des Grafen mit ihm einliess, führten zu keinem Ziele. Besonderes Aufsehn machte ein von Sp. 1573 herausgegebenes Bekenntniss von der Erbsünde und eine auf Wolrath’s Aufforderung in Eisleben gehaltene Predigt, in welcher er seine Lehre u.A. mit Citaten aus Luther’s Schriften vertheidigte. „Und wie nun beide Theile auch in diesem gemeldeten Jahre wider einander zu predigen und zu schreiben und zwar in den empfindlichsten Terminis, fortfuhren, und Einer den Andern zum Ketzer machen wollte, also wurden nicht nur damit ihre eigenen Gemüther gegen einander immer mehr und mehr erbittert, sondern auch die gesammten Zuhörer rege gemacht, dass sie in zwei Partieen ritten, und es Etliche mit Spangenberg, Etliche aber mit dem Eislebischen Ministerio hielten, woraus grosse Unruhe in der Grafschaft entstund, dass Keiner vor dem Andern fast mehr sicher war. Denn wenn die Zuhörer entweder bei ihrer Arbeit oder in der Zechen zusammenkamen, so war dies ihre erste Anfrage: Bist du ein Occedenter (Accidentianer) oder Substansioner (Substantianer)? Standen sie nun nicht in einerlei Meinung, so fingen sie nicht nur an, mit einander zu disputiren, sondern schlugen oftmals sich auf das grausamste; ja, die gesammten Landesherren und Grafen von Mansfeld harmonirten, wie in anderen Stücken, so auch in dieser Lehre nicht mit einander, denn einige Grafen hielten es mit den Eislebern, andere aber, besonders Graf Wolrath und Car sen., hielten es mit Spangenberg, daher sie auch anfingen von beiden Theilen, diejenigen Kirch- und Schulbedienten, so nicht ihres Sinnes waren, abzusetzen, oder ihnen die Kanzel zu verbieten.“ (Leuckfeld.)

Endlich kamen chursächsische Soldaten nach Mansfeld und verjagten auf Befehl des Grafen Hans Georg I. von Eisleben die Flacianer (1575). Spangenberg entfloh, „und meinet man“ – erzählt Kindervater – „dass er in Weibskleidern, vor eine Wehemutter sich ausgebend, durch die Wache sich zum Thore hinauspracticirt habe.“ Mit einem kleinen Jahrgehalte von 208 Thalern, den Graf Wolrath ihm aussetzte, lebte Sp. von nun an an verschiedenen Orten, u.a. zu Sangerhausen, wo er 1577 mit Jacob Andreä öffentlich ohne Erfolg disputirte und seinen Gönner Wolrath feierlich begrub. Hierauf begab er sich nach Strassburg, von wo aus er am 23. Mai 1579 den Churfürsten August von Sachsen in einem Schreiben für sich zu gewinnen suchte, worin es heisst: „Dieweil ich durch meine Widersacher und Abgünstige in der Grafschaft Mansfeld (die nicht bei ihrem vorigen christlichen Bekenntniss und wahren lutherischen Lehre bestanden) bei Männiglich mit Ungrund öffentlich für einen Manichäer ausgeschrieen bin, der da lehre, die Erbsünde sei ein Wesen; Gott habe die Erbsünde geschaffen; der Teufel schaffe die jetzigen Menschen; schwangere Weiber tragen lebendige Teufel; die Erbsünde werde am jüngsten Tage wieder auferstehen, und was solcher Auflagen mehr sind, damit sich mit armen, unschuldigen Diener Jesu Christi in Verdacht gebracht, verhasst und verachtet gemacht haben, obgleich sie diese Reden aus meinen Schriften nicht beweisen können, ich mich auch auf meine Schriften, Predigten, Zuhörer und alle unverdächtigen Theologen berufen, sieben Jahre mich alle Zeit zu einem Colloquim oder Verhör auf einem ordentlichen Synodo erboten, und daneben, was zu leiden Gott mir zugeschickt, mit Geduld gelitten, und, so Viel möglich, durch christliche Schriften meine Unschuld an den Tag gegeben: so hat doch solches Alles bei Denen, so wider mich verbittert, Nichts haften, noch gelten wollen, sondern es ist für und für das Urtheil wider mich ergangen: Spangenberg ist ein Manichäer. – Ich habe Gottlob 32 Jahr lang das Wort Gottes rein, lauter und unverfälscht gepredigt, wie ich’s 4 Jahr lang aus des sel. Dr. Luther’s, meines einigen praeceptoris heiligem Mund, Predigten, Lectionibus und Gesprächen selbst gehört und in seinen werthen Schriften hernachmals gefunden und noch täglich lese. Und hat mir auch der Mann Gottes, da er verstanden, dass ich mich in’s Predigtamt mit der Zeit zu begeben, Vorhabens, in Gegenwärtigkeit Dr. Jonas’ und anderer Theologen dazu geglückwünscht und dieses Kreuz, (so ich jetzt seiner Lehre halben tragen muss) zuvor geweissagt. Gott sei Lob und Dank, der mich erhalten, dass ich von solch reiner lutherischer Lehr nicht eine Hand breit gewichen! Wie aber mein Gegentheil (so allbereits mit den Calvinisten lernen fein sagen: O, Luther ist ein Mensch gewesen! hat auch irren können! Sollte Luther jetzt leben, er würde viel Dinge in seinen Büchern ändern!) von Lutherscher Bahn ausgeschritten, und mehr denn in 20 offene manachäische Irrthümer gerathen und in 174 Punkten wider Luther’s Katechismus lehren: habe ich sie aus ihren eigenen Büchern und aus ihren eigenen Worten überwiesen. Ach, hochgeborener und durchlauchter Churfürst! es ist gar bald um einen Theologen geschehen, der sich auf seine Kunst und Geschicklichkeit, hohen Verstand, scharfes ingenium und Schwarzkunst verlässt und nicht täglich in Demuth und Gottesfurcht die heilige Schrift und daneben deren einigen rechten Ausleger Luther mit Fleiss lies’t. Fürwahr, es hat uns Deutschen Gott den Luther nicht vergeblich gesandt, er will ihn unverachtet und die Gaben, die er uns durch ihn geschenkt hat, in Dankbarkeit gebraucht haben. Und fürchte ich sehr, dass Gott eben darum so viel gelehrte Theologen hat sinken und fallen lassen, dass sie des werthen Mannes geachtet, wenig gelesen, und dann schier gar nicht gefolgt. Und was ist auch die Ursach, dass man so unfruchtbar wider die Calvinisten und andere Secten streitet, denn dass man die Rüstung wider die Rottengeister nicht aus der heiligen Schrift und lutherschen Harnischkammer, sondern aus eigenem Kopf und philosophischen Argumenten nimmt? – Euer Churf. Gnaden wollen meine Unschuld daraus erkennen und mich wider meine Feinde in gnädigen Schutz nehmen, dass ich die übrige Zeit meines Lebens in beständiger Bekenntniss reiner lutherscher Lehre mit nützlicher Auslegung göttlicher Schriften hinbringe und in meinem Alter eine bleibende Stätte haben möge.“ Obgleich Spangenberg diesem Schreiben („damit Jedermann sehe, was der Manichäer Schwarm und Lästerung gewesen“) „3 lateinische Büchlein über die Mänichäer, von ihrem Anfang, Leben und Lehre“ beifügte, vermochte der Churfürst, von seinen geistlichen Rathgebern belehrt, sich nicht von der Integrität der Spangenbergischen Lehre zu überzeugen, und liess die Bitte unerhört. Späterhin, und zwar noch 1590, lebte Sp. als angestellter Prediger zu Schlitzsee in Hessen, von wo er, wieder abgesetzt, nach Vacha in Niederhessen zog. Hier verfasste er viele historische Schriften, u.a. den Adelsspiegel. Seine Verfolgungen dauerten fort, aber sein Eifer für seine ihm mit dem Kern des Evangeliums verwachsene Irrlehre erkaltete nicht. „O Gott,“ schreibt er, „wie viele untreue Diener hast du unter Denen, die sich für deine Diener ausgeben und nicht dir, sondern ihnen und ihrem Bauche und der Welt dienen! Ich bitte euch, ihr wollet euch nicht lassen überreden, dass der Streit, darein ich mit meinen Widersachern gerathen, von einem Wortgezänk oder Schuldisputation sei. Es trifft der grossen und fürnehmsten Artikel unserer Religion einen. Nämlich, was eigentlich nach des Gesetzes Urtheil Sünde, hinwieder nach dem Evangelio Gerechtigkeit sei und heisse, und gehet unsere Meinung nach dem Spruche Davids: Nicht uns, Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gieb Ehre, nur dahin, dass Gott allein gerecht sei und den Gottlosen gerecht mache, und sage mit Luther im Glösslein Röm. 3, dass Sünde Alles Das ist, was nicht durchs Blut Christi erlöset, im Glauben gerecht wird.“ Die Mansfeldische Gemeinde liess sich durch den Spangenbergischen Flacianismus, aus dem man die Consequenz gezogen hatte, dass Christus unser wahres Fleisch nicht angenommen habe, zu einer eigenthümlichen Demonstration bestimmen, von der Kindervater (nach Leuckfeld) Folgendes berichtet: „Merkwürdig ist, was nach Sp.’s Entsetzung in der Mansfeldischen Stadt- und Schlosskirche verordnet, dass zu Verabscheuung seiner Lehre jederzeit bei Absingung des gewöhnlichen christlichen Glaubens vier Knaben in Mänteln auf den Knieen vor dem Altare mit halber Stimme, dabei sie ihre Häupter auf die Schwelle oder Stufe des Altars gelegt, diese Worte: Ist ein wahrer Mensch geboren, allein intonirt, da inmittelst die Orgel und die ganze Gemeine stille geschwiegen, und gleichsam pausirt haben. Welche Gewohnheit bis diese Stunde noch in diesen beiden Kirchen in Acht genommen wird, da es sonst in der ganzen Grafschaft, die doch über 100 Kirchen und 72 Prediger hat, nicht gebräuchlich.“

Von Vacha, wo Sp. gleichfalls bald nicht mehr sicher war, zog er nach Strassburg. Hier fand er an Wolrath’s Neffen, dem Grafen Ernst, einen literarischen Freund und treuen Beschützer. Bis an sein Ende mit historischen Arbeiten, vorzüglich mit Abfassung von Chroniken beschäftigt, starb er zu Strassburg den 4. Febr. 1604. „Nach seinem Tode wurde er von Vielen wegen seines Fleisses, seiner Aufrichtigkeit und Erfahrung bedauert, auch entschuldigt, dass er nur den Philippisten nicht weichen wollen, und desswegen leiden müssen.“ (Arnold.)

Sp.’s Predigten sind gehaltvoll und erbaulich. Die Methode ist überwiegend synthetisch, die Diction einfach-angenehm. Ein Verzeichniss fast sämmtlicher Schriften Sp.’s findet sich bei Thilo (s.u.); die wichtigsten homiletischen sind folgende: Fünf Predigten über den Anfang des Ev. Johannis. Eisleb. 1159. 8. Eilf Predigten über das 23. Capitel Jesaja. Strassb. 1560. 8. Predigten über die Paulinischen Briefe, z.B.: Auslegung der 1. Ep. an die Corinther in 59 Predigten. Eisleben, 1561. fol. Auslegung der Epistel an die Römer in 34 Predigten. 2. Thle., Strassb. 1566. fol. Passio. Vom Leiden und Sterben unseres Herrn, etliche schöne und nützliche Predigten. Eisleben 1564. 8. Vier kurze und einfältige Predigten von der Historie des Leidens Jesu Christi. Eisleben 1564. 8. Cithara Lutheri zum Katechismus. Erfurt 1569. 4. Neueste Ausgabe von Wilhelm Thilo. Berlin 1855. 8. Viele Leichen- und Brautpredigten (letztere im Ehespiegel), zuerst Eisleben 1562). Predigten über Luther, einzeln von 1563-1572. Busspredigt, das ganze Deutschland betreffend. Eisl. 1569. 8. (Eigentlich nicht eine Predigt, sondern ein langer Tractat.) Sieben Predigten von der göttl. Gnadenwahl. Frankf. a.O. 1615. 4. Von seinen übrigen praktischen Schriften sind besonders sein Katechismus (zuerst Erf. 1564) und verschiedene geistliche Lieder, z.B. „nach dir, o Herr, verlanget mich,“ „da Christus nun hatt’ dreissig Jahr,“ „am dritten Tag ein’ Hochzeit war“ bemerkenswerth.

S. Leuckfeld’s historia Spangenbergensis. Quedlinb. u. Aschersleben 1712. 4. Thilo, Cithara Lutheri zum Katechismus oder Spangenberg’s Predigten über Luthers Katechismus lieder, mit Lebensbeschreibung und Schriftenverzeichniss Spangenberg’s versehen von Wilh. Thilo. Berlin 1855. Daselbst findet sich auch die weitere Literatur. Dazu: Kindervater, Nordhusa illustris Wolfenb. 1715. 1715. S. 289 ff. Vorzüglich: Wangemann, Recension der Thilo’schen Cithara Lutheri in Reuter’s Repertorium, Jahrg. 1856, Juliheft 8. 38 ff., wo man auch einen Nachtrag zum Spangenbergischen Schriftverzeichnisse findet.

Die bedeutendsten Kanzelredner
der
lutherschen Kirche des Reformationszeitalters,
in Biographien und einer Auswahl ihrer Predigten
dargestellt
von
Wilhelm Beste,
Pastor an der Hauptkirche zu Wolfenbüttel und ordentlichem Mitgliede der
historisch-theologischen Gesellschaft zu Leipzig
Leipzig,
Verlag von Gustav Mayer.
1856