Franz Lambert

Franz Lambert von Avignon gehört nicht zu denjenigen Vätern der evangelischen Kirche, welche allein durch das Wort der heiligen Schrift und durch die Kraft des Geistes Gottes angeregt als Zeugen des Evangeliums auftraten und in ausgedehnten Gebieten der Kirche die Reformation derselben veranlaßten; denn da wo Lambert seine Thätigkeit entfaltete, hatte die Wirksamkeit der eigentlichen Reformatoren dem Evangelium bereits die Thür geöffnet. Aber dennoch kann Lambert diesen eigentlichen Vätern und Trägern der Reformation billig zur Seite gestellt werden, indem er einer der ersten war, welche in der romanischen Welt von der Macht der evangelischen Wahrheit ergriffen wurden, und indem auf einem der wichtigsten Reformationsgebiete, nämlich in Hessen, die Reformation durch ihn zur geordneten Einführung gekommen ist. Darum gebürt es der evangelischen Gemeinde auch Lamberts Namen und Andenken in dankbarer Liebe festzuhalten und zu ehren.

Franz Lambert war im Jahre 1487 zu Avignon, wo sein Vater, der Nachkomme eines alten, ritterlichen Geschlechts, Geheimsecretär des päpstlichen Legaten war, geboren. Von seiner frühzeitig verwittweten Mutter den an seinem Geburtsorte seßhaften Franziscanern zur Erziehung übergeben, trat er schon als fünfzehnjähriger Jüngling in das Minoritenkloster der Observanten. Hier erkannte man alsbald die hervorragende Rednergabe, welche ihn auszeichnete, weshalb er um 1517 zum apostolischen Prediger des Ordens gewählt wurde und als solcher auf dem Lande zu predigen begann. In diesen Predigten trat Lambert mit einem Ernst und Eifer und mit einer Macht und Gewalt der Rede auf, welche nicht selten überwältigend wirkte. Einst kam es vor, daß in einem französischen Städtchen, in welchem er gegen den Ueberhand nehmenden Luxus und Tand des Lebens gepredigt hatte, nach Beendigung der Predigt die Leute auf sein Geheiß willig ein Feuer anzündeten, ihre Karten, Würfel, Bilder rc. herbeiholten und in das Feuer warfen. – Aber bald machte ihm die Wahrnehmung der in dem Kloster herrschenden Zuchtlosigkeit sowie der Neid, der wegen der außerordentlichen Erfolge seiner Predigten gegen ihn rege wurde, den Aufenthalt in dem Kloster zuwider. Es wurden über ihn die schändlichsten Verleumdungen ausgestreut und man quälte ihn in allerlei Weise, z. B. auch durch Entziehung der nothwendigsten Lebensbedürfnisse. Da gedachte Franz Lambert, der zwar schon durch das Studium der heiligen Schrift, insbesondere des Römerbriefes zu einer Ahnung der Wahrheit des Evangeliums gelangt war, aber mit seinem Herzen immer noch am Klosterleben und an der Werkgerechtigkeit desselben hing, in ein Kloster der strengsten Regel, nämlich des Karthäuserordens überzugehen; aber die Verleumdungen, mit denen ihm seine Klosterbrüder in den Weg traten, verhinderten es. Franz Lambert blieb also in seiner Celle, und lebte nach wie vor nach der Regel seines Ordens.

Da fügte es sich, daß zufällig einige der Schriften Luthers in seine Hände kamen. Er las dieselben und erkannte es alsbald, welche Wege er zu gehen hatte. Eine Missionsreise, die ihm im Frühjahr 1522 der Klosterconvent auftrug, benutzte er daher, um dem Kloster ein für allemal Lebewohl zu sagen, und über Lausanne, wo ihn der Bischof Sebastian von Montfaucon freundlich aufnahm und mit Empfehlungen versah, nach Bern zu reisen. Hier, wo Berthold Haller und Andere von der Bewegung der Zeit schon ergriffen waren, predigte Lambert – noch mit der Mönchskutte angethan, und da er des Deutschen nicht mächtig war, in lateinischer Sprache – von den Gebrechen der Kirche; und die Gebildeten, die seinen Vortrag zu verstehen vermochten, wurden von demselben außerordentlich gefesselt.

Aber nach kurzem Aufenthalte eilte er, von Haller dringend empfohlen, nach Zürich, wo Zwingli seine reformatorische Tätigkeit eben begonnen hatte. Der Glaube an die Fürbitte der Heiligen schien ihm damals noch eine feststehende Wahrheit zu sein, weshalb er Zwingli zu einer Disputation über dieselbe aufforderte. Als er aber dessen Gegengründe gehört hatte, gestand er am Schluß der Disputation: „Ich erkläre, daß die Fürbitte der Heiligen gegen die Schrift ist; ich gebe alle Rosenkränze und alle Fürsprecher auf und will mich in aller Noth an Gott allein und an Jesum Christum halten, unsern Herrn.“

Aber auch in Zürich konnte seines Bleibens nicht lange sein. Es trieb ihn, den Mann, dessen Glaubensmuth das Werk der Reformation begonnen hatte, in Wittenberg von Angesicht zu sehen. Unter dem pseudonymen Namen Johannes Serranus, mit welchem er sich gegen die Nachstellungen seines früheren Ordens zu schützen suchte, begab er sich daher über Basel nach Deutschland, wo er im November 1522 in Eisenach ankam. Hier machte er 139 Sätze über das Verbot der Priesterehe, über Ohrenbeichte, Taufe, Buße und Rechtfertigung bekannt und erbot sich dieselben in einer am Tage St. Thomä zu haltenden Disputation gegen Jedermann zu vertheidigen. Indessen fand sich kein Opponent zur Disputation ein. Da wendete sich Lambert an Spalatin zu Wittenberg mit der Bitte, ihn bei Luther als einen Flüchtling um des Evangeliums willen zu empfehlen, und ihm den Aufenthalt in Wittenberg möglich zu machen. Inzwischen erklärte er zu Eisenach in lateinischen Vorträgen das Evangelium des Johannes.

Luther, der von verlaufenen Mönchen schon oft getäuscht worden war, war anfangs gegen Lambert mißtrauisch, meinte jedoch, daß der Kurfürst ein kleines Wegegeld daran hängen und ihm die Reise nach Wittenberg gestatten möchte. – So kam Lambert im Januar 1523 nach Wittenberg, wo ihn Luther, der ihn hauptsächlich zu unterhalten hatte, bald lieb gewann. In einem Briefe an Spalatin erklärt Luther über ihn: „An der Unbescholtenheit des Mannes ist nicht zu zweifeln. Der Mann gefällt mir in allen Stücken, und ich glaube ihn, soweit es überhaupt möglich ist, hinlänglich bewährt und würdig gefunden zu haben, daß wir ihn in seiner Verbannung stützen und tragen.“ Um sich einigen Unterhalt zu verschaffen hielt Lambert Vorlesungen über alttestamentliche Bücher, übersetzte reformatorische Flugschriften in die französische und italienische Sprache und veröffentlichte seine „Commentare zur Regel der Minoriten“ mit einem Vorwort Luthers. In dieser letzten Schrift zeigte Lambert das Eitle und Thörichte des Ordenslebens, erklärte sich aber nicht für sofortige und gänzliche Aufhebung der Klöster, sondern für deren Umwandlung in Schulen und Studienanstalten. – Auch verehelichte er sich – der erste gewesene französische Mönch, der einen solchen Schritt that, – mit Christine, der Tochter eines ehrbaren Bäckers aus Herzberg.

Uebrigens war seine Lage fortwährend eine jammervolle. Für seine Vorlesungen über Hosea, Lucas, Ezechiel und das hohe Lied erhielt er von seinem zahlreichen Auditorium schließlich 25 Groschen. Daher entschloß er sich endlich Wittenberg zu verlassen. „Denn ich erröthe darüber“, sagte er, „daß ich auf Kosten des allerchristlichsten Martinus leben muß.“ Wahrscheinlich war aber ihm, der in der Kirche reformatorische Erfolge, die seiner Begeisterung und Thatenlust gleich kamen, erzielen zu müssen glaubte, auch das Leben neben den ihn weit überragenden Kirchenmännern zu Wittenberg unbehaglich. Mit Freuden folgte daher Lambert im März 1524 dem Rufe einiger Anhänger der Reformation nach Metz.

Allein hier gestattete ihm der Magistrat nicht diejenige Wirksamkeit, die er erwartet hatte. Seine Bitte, daß man ihm das Predigen erlauben möchte, indem er bereit sei seine in 116 Thesen dargestellte Lehre öffentlich zu vertheidigen, vorausgesetzt, daß nur die heilige Schrift als alleinige Richterin anerkannt würde, fand kein Gehör; vielmehr gab sich in der Stadt gegen den „lutherischen Ketzer“ allerlei Feindseligkeit kund, weshalb ihm der Magistrat wohlmeinend rieth, an seine Sicherheit zu denken. Noch war daher Lambert kein volles halbes Jahr in Metz gewesen, als er sich genöthigt sah nach Straßburg überzusiedeln.

Auch hier, wo ihn freilich der Magistrat (im November 1524) mit Verleihung des Bürgerrechtes und mit Geschenken unterstützte, mußte er sich doch mit Vorlesungen, Uebersetzungen und schriftstellerischen Arbeiten kümmerlich ernähren. Insbesondere veröffentlichte er seine Commentare zu den Büchern des alten Testaments und seinen „Commentar über den heiligen Ehestand und über den Schmutz und die Verderblichkeit des Cölibats.“ Das Ziel seines Strebens – für Frankreich das zu werden, was Luther für Deutschland, Zwingli für die Schweiz geworden war, (weshalb er sich in Straßburg ebenso wie schon vorher in Metz mit reformatorischen Aufforderungen an den König von Frankreich wandte und von den Gegnern „der welsche Doctor“ genannt wurde), erlangte er freilich auch hier nicht. Aber von großer Bedeutung für seine spätere Wirksamkeit war es, daß Lambert in Straßburg zum ersten Mal ein solches Kirchenwesen und eine solche dogmatische Denkweise ausgebildet fand, wie sie seinen eignen ursprünglichen Ideen entsprach. Die streng reformirten Anschauungen eines Jacob Sturm, Martin Bucer, Capito, Farel rc. waren es, in denen sich Lambert mit seinen eignen Ideen und Idealen wiederfand. In dem an den Bischof Sebastian von Montfaucon gerichteten Dedicationsvorwort, mit welchem er seine in Metz proponirten Thesen, bis zu 385 vermehrt, in Straßburg herausgab, schrieb er dem Bischof: „Es mag Ew. Herrlichkeit einen Bischof nennen, wer da will, – ich nicht. Dafür möge sie sorgen, daß sie wahrhafte Bischöfe unter sich habe. Denn eine jede einzelne Pfarrei soll einen Bischof haben, welcher, wenn er vom Volke gewählt und von der Gemeinde irgend eines Ortes bestätigt worden, weder Brief noch Siegel bedarf, und so lange für einen Bischof zu halten ist, als er das reine Evangelium vom Reiche Gottes verkündigt. Weicht er davon ab, so kann ihn die Gemeinde, welche ihn gewählt, entsetzen und einen anderen suchen.“ – Der Einfluß, welchen Luther auf ihn ausgeübt hatte, trat daher vor den mächtigen Eindrücken, die er in der neuen Sphäre empfing, sofort zurück (Dieses zeigt sich z. V. in seinen verschiedenen Aeußerungen über die Lehre vom Abendmahl In der Ausgabe seines Commentars zu Lucas von 1524 hatte Lambert behauptet, daß Christus, da ihn nichts hindere mit seinem Leibe an einem bestimmten Orte zu sein, im Abendmahle mit dem Brote und Weine gegenwärtig sei. Dagegen in der Ausgabe von 1525 schreibt er, Brot und Wein seien „für die Gläubigen die sichersten Zeichen ihrer Nießung des Leibes und des Blutes Christi.“ Späterhin drückte sich Lambert über das Abendmahl sogar ganz zwinglisch aus.). – Um so mehr mochte er sich danach sehnen irgendwo in der Kirche seine reformatorischen Ideale verwirklichen zu können. Da berief ihn Landgraf Philipp von Hessen im Jahre 1526 – wie es scheint auf des Stadtmeisters Jacob Sturm Empfehlung, mit welchem der Landgraf auf dem Reichstage zu Speier bekannt geworden war, – nach Hessen, um mit seiner Hülfe die hessische Kirche evangelisch zu reformiren. Mit Freuden folgte Lambert einem Rufe, der ihn endlich das so lange ersehnte Ziel erreichen ließ.

In Cassel angekommen entwarf nun Lambert mit dem Landgrafen einen Plan, nach welchem die Reformation im Lande eingeführt werden sollte. Man beschloß die Stände des Landes, die Ritterschaft und die Städte mit den Geistlichen zu einer Synode oder vielmehr zu einem kirchlichen Landtag nach Homberg (dem Knotenpunkt der damaligen Hauptstraßen Hessens) einzuberufen. Der Landgraf ließ daher die Synode sofort für den 20. October 1526 ausschreiben, während Lambert es übernahm die erforderlichen Vorlagen auszuarbeiten. Derselbe setzte daher in lateinischer Sprache unter 23 Titeln 156 Sätze auf, welche die Hauptgedanken seiner Reformationslehre enthielten, und welche er wegen ihres Widerspruchs mit der traditionellen Lehre Paradoxa nannte. Außerdem entwarf Lambert (ebenfalls lateinisch) eine diesen Paradoxen entsprechende Reformationsordnung, welche höchst wahrscheinlich in einer Conferenz der höheren Geistlichen (Stiftsdechanten und Klosteroberen) Sonnabends den 20. October berathen und festgestellt wurde. Die Thesen Lamberts wurden an den Thüren der Pfarrkirche angeheftet.

Am folgenden Tage, Sonntags den 21. October, wurde frühmorgens um 7 Uhr die eigentliche Synode im Beisein des Landgrafen in der Pfarrkirche zu Homberg eröffnet. Nachdem der Kanzler des Landgrafen die Versammlung über den Zweck derselben belehrt hatte, las Lambert auf Befehl Philipps seine Thesen vor, begründete dieselben aus der heiligen Schrift und beleuchtete hiernach die vorhandenen Mißbräuche der Kirche. Am folgenden Morgen, in der dritten Sitzung der Synode, las Lambert seine Thesen nochmals vor und forderte Jedermann auf, etwaige Bedenken gegen dieselben zur Sprache zu bringen. Aus der ganzen zahlreichen Versammlung erhob sich jedoch nur Ein Opponent, ein Franziscaner-Guardian, der in einem vielstündigen, ermüdenden Vortrag vom Standpunkt der Scholastik und des canonischen Rechtes aus Lamberts Thesen zu widerlegen suchte, dabei aber gegen diesen und gegen den Landgrafen selbst so anzüglich wurde, daß Lambert sich schließlich zu einem leidenschaftlichen Ausfall gegen den Guardian hinreißen ließ. Als nach Beendigung der Debatte Lambert dreimal mit lauter Stimme Jeden, der gegen seine Sätze Einsprache erheben zu müssen glaube, aufgefordert hatte das Wort zu ergreifen und sich Niemand meldete, schloß derselbe die Synode mit den danksagenden Worten des Priesters Zacharias: „Gelobt sei der Herr, der Gott Israels, denn er hat besucht und erlöst sein Volk!“

Der Guardian, dessen Bleibens in Hessen nicht mehr war, begab sich nach Cöln, wo er in einer Ausgabe seiner zu Homberg vorgetragenen Sätze seinen angeblich über Lambert erfochtenen Sieg verherrlichte, wodurch dieser veranlaßt wurde auch seine Thesen mit einem Briefe an die Cölner zu veröffentlichen.

Da dieselben von der Synode zu Homberg stillschweigend approbirt waren, so war von derselben – dieses nahm man wenigstens an, – auch die auf ihnen beruhende Reformationsordnung Lamberts vom 29. October approbirt worden, weshalb man in Gemäßheit derselben am Schluß der Synode einige Visitatoren erwählte, welche die Kirchenreform in den einzelnen Gemeinden beginnen sollten.

In ihren 34 Kapiteln enthält dieselbe im Verhältnis) zu andern evangelischen Kirchenordnungen der Reformationszeit manches Eigentümliche; das Allereigenthümlichste liegt jedoch darin, daß sie auf dem Gedanken einer von der historischen Entwicklung der Kirche völlig losgerissenen fundamentalen Neubildung der Kirche beruht. Sie schreibt nämlich (Kap. 15) vor, daß überall im Lande, ehe das neue Kirchenwesen eingerichtet wird, eine (längere oder kürzere) Zeit hindurch das Evangelium gepredigt werden soll. Ist dieses geschehen, so daß Jedermann von der Lehre des Evangeliums hinlänglich Kunde erhalten hat, so sollen in den einzelnen Gemeinden constituirende Versammlungen gehalten werden, wo Diejenigen, welche zur Kirche, d. h. zur Gemeinde der Heiligen gehören wollen, sich zu melden haben, so daß die Kirche durchaus auf der freien Entschließung ihrer einzelnen Glieder und auf einer mit aller Strenge gehandhabten Kirchenzucht beruht, also eine scharf abgegrenzte Gemeinschaft wirtlich wiedergeborenen Lebens ist. – Für die so zu constituirende Kirche werden nun folgende Bestimmungen gegeben: An der Spitze einer jeden Gemeinde steht ein von dieser erwählter Bischof, unter dessen Vorsitz sich die Gemeinde an jedem Sonntag versammelt. Die Gemeinde hat das Recht unwürdige Glieder durch den Bischof zu excommuniziren. Die Absolution eines Excommunizirten spricht der Bischof im Namen der Gemeinde. Neben dem Bischof fungiren Aelteste und Diaconen, jene für Aufrechthaltung der Zucht, diese vorzugsweise zur Ausübung der Armenpflege. Ueber der Gemeindeversammlung steht die jährlich am dritten Sonntag nach Ostern in Marburg zu haltende Synode, welche (als kirchlicher Landtag) aus sämmtlichen Bischöfen (d. h. Pfarrern), aus je einem Abgeordneten jeder Gemeinde, aus dem Landesherrn und den Grafen und Herren besteht. Die Synode wählt einen engeren Ausschuß von dreizehn Personen, der sie leitet und in der Zwischenzeit von einer Synode zur andern unaufschiebliche Geschäfte erledigt. Daneben bestehen drei Visitatoren, welche die Gemeinden regelmäßig visitiren und das Ergebniß der Visitationen an die Synode einberichten.

Von dem Fürsten und den geistlichen und weltlichen Ständen des Landes genehmigt und durch den Speierschen Reichstagsabschied geschützt hatte die (nicht im Namen des Landesherrn sondern der Synode, zu welcher der Landesherr gehörte, publizirte) Kirchenordnung Lamberts die Geltung eines Landesgesetzes, das keiner weiteren Autorisirung bedurfte, das vielmehr sofort zu vollziehen war. Daher traf der Landgraf, dem die Synode vorläufig die Ernennung der Visitatoren und der Pfarrer überlassen hatte, ungesäumt die dazu nöthigen Anordnungen, und eine Reihe einzelner Bestimmungen der Reformationsordnung kam schon im Jahre 1527 zur Ausführung. Vor Allem mußte dafür gesorgt werden, daß überall im Lande die reine Lehre des Evangeliums gepredigt wurde, indem die Reformationsordnung erst wenn dieses mit dem nöthigen Erfolg geschehen sei, ihrem ganzen Inhalte nach vollzogen werden sollte. Allein die Schwierigkeiten, welche hierbei in der Unwissenheit und Rohheit der Geistlichen und der Gemeinden vorlagen, waren so groß, daß das Ziel, welches in der Reformationsordnung als Voraussetzung für ihre volle Einführung bezeichnet war, niemals erreicht ward. Niemals kam man soweit, daß man zur Bildung von Gemeinden wahrhaft wiedergeborener Christen vorschreiten konnte. Indem daher neben der Reformationsordnung eine von dieser nur mittelbar abhängige kirchliche Gesetzgebung entstand, so geschah es im Laufe der Zeit, daß die Reformationsordnung Lamberts mehr und mehr zurückgestellt und schließlich ganz vergessen wurde. Aber einen dreifachen Gewinn hatte die Reformationsordnung Lamberts für die hessische Kirche, – und hierin haben wir die wahre Bedeutung derselben anzuerkennen -: Indem sich die kirchliche Gesetzgebung Hessens zunächst im Anschluß an Lamberts Reformationsordnung ausbildete, ging 1) der ideale, immer die höchsten und letzten Ziele scharf im Auge behaltende Geist, welcher diese auszeichnete, auch auf jene über, und bethätigte sich in einem Eifer für Zucht und Pflege des Lebens, der in dem Gebiete der sächsischen Reformation nicht in derselben Weise wahrzunehmen war; 2) gewann die hessische Kirche auf dem von der Homberger Kirchenordnung vorgezeichneten Wege einen Schatz, der im Gebiete der sächsischen Reformation auch nicht zu finden war, nämlich Presbyterien, in denen die kirchlichen Gemeinden als solche ihre lebendigen Organe erhielten; und 3) gewann die hessische Kirche durch die Homberger Reformationsordnung den Segen einer selbständigen, nicht durch landesherrliche Consistorien bevormundeten, sondern durch freigewählte Visitatoren (Superintendenten) und Synoden geförderten freien Entwicklung, welche bis zum Ende des 16. Jahrhunderts eine unterscheidende Eigenthümlichkeit der hessischen Landeskirche war.

Nach der Homberger Synode bis zur Errichtung der Universität zu Marburg lebte Lambert in dem Kloster des eben aufgehobenen Carmeliterordens zu Cassel, in unmittelbarster Nähe des Schlosses und des damaligen Canzleigebäudes. Wie Landgraf Philipp ihn auch damals beurtheilte, erhellt daraus, daß er derjenige Theolog war, welchen Philipp (ausweislich der noch nicht gedruckten ältesten Urkunde über die Begründung der Universität) vor Allen und unter allen Umständen als Professor an seiner vorzugsweise zur Pflege der evangelischen Theologie bestimmten Hochschule haben wollte. Einer seiner ersten Schüler zu Marburg war der Schotte Patrik Hamilton, der von ihm die Weihe zum Martyrium erhielt. In dieser seiner academischen Stellung blieb Lambert bis zu seinem Tod am 18. April 1530. Der damals in Marburg grassirende „englische Schweiß“ hat seinem Leben ein Ende gemacht.

Lambert hatte mancherlei Eigenthümlichkeiten, um deren willen ihn sein College Hermann von dem Busch das dreifache M zu nennen pflegte, indem derselbe behauptete, Lambert reise so oft nach Frankfurt, ut Manducet, Mendicet et Mentiatur, d. h. um gut zu essen, um bei den Buchführern zu Frankfurt seine noch restirenden Honorare einzumahnen, und um sich von dortigen Fremden, insbesondre Franzosen allerlei aufbinden zu lassen, was er dann leichtgläubig weiter erzählte. Daher hatte Lambert auch in Hessen allerlei Widersacher, welche ihm dieses und jenes nachsagten. Am wahrsten hat aber Lambert wohl sich selbst mit den Worten characterisirt, die er in einem Briefe an Friedrich Myconius schreibt: „Nachdem ich Christum erkannt und er mich zu seinem Evangelium berufen, habe ich niemals begehrt, daß weder irgend Jemand noch ich selbst nach meinem Sinne sich richte; sondern ich wünschte und habe mit allen Kräften dahin gestrebt, daß ich und Andre durch sein Wort regiert würden, und es schmerzte mich, wenn ich oder Andre nach unsrer Weise wandelten anstatt nach Gottes Anweisung. Ich wollte über Niemanden herrschen; aber das wünschte und wollte ich, wünsche und will ich noch, daß Alle dem Worte Gottes gehorchten. Das Gegentheil habe ich bei mir und Anderen stets verabscheut. – Ich erinnere mich nicht, jemals Etwas als falsch verworfen oder als wahr behauptet zu haben, ohne völlige Gewißheit aus des Herrn Wort. – Ich hasse Niemanden, sondern es schmerzt mich und ich seufze, wenn ich sehe, daß Jemand die christliche Freiheit mißbraucht, oder daß fast keine Liebe mehr in der Welt, und daß Alles voll Verleumdung, Lüge, Neid und Schmähsucht ist; welches ich hasse. Was ich hier geschrieben, das habe ich nach der Wahrheit geschrieben, und so wie es sich verhält. Wer anders von mir denkt und urtheilt, der behauptet Dinge die nicht aus der Wahrheit sind.“

Heinrich Heppe in Marburg.