Am 4. Mai 1529, da Dr. Martin Luther an seinen Freund, den Pastor in Magdeburg, Nikolaus Amsdorf, einen Geschäftsbrief schrieb, saß Katharina von Bora, seine Ehefrau, wohlgemuth an seiner Seite, und drei Stunden darauf war sie glücklich von einer gesunden Tochter entbunden. Am Morgen des nächsten Tages meldete unter Lobpreisung Gottes der glückliche Vater dies frohe Ereigniß dem Freunde und bat ihn mit folgenden Worten Pathenstelle zu übernehmen: „Achtbarer, würdiger Herr! Gott, der Vater aller Gnaden, hat mir und meiner lieben Käthen eine junge Tochter gnädiglich bescheret: so bitte ich euer Würden um Gottes willen, wollet ein christlich Amt annehmen, und derselbigen armen Heidin christlicher Vater seyn, und ihr zu der heiligen Christenheit helfen durch das himmlische hochwürdige Sacrament der Taufe.“ Diese Tochter war Magdalene, deren Seele Gott wohlgefiel, und der Herr eilte sie hinwegzunehmen aus dem bösen Leben: denn sie hatte noch nicht das vierzehnte Jahr vollendet, als der Herr, der sie gegeben, sie durch einen sanften Tod zu sich nahm in den Himmel.
Es war aber mit Dr. Luthers Hausstand, in welchen Magdalene hinein geboren wurde, also beschaffen. Luther hatte aus Gottes Wort erkannt, daß es wider des Herrn und Schöpfers Willen sei, die Ehe zu verbieten, und daß die Klostergelübde, die aus Zwang oder in Unverstand übernommen werden, unrecht sind und das Gewissen nicht binden sollen, daß aber der Ehestand ein von Gott geordneter heiliger Stand ist, auf welchem Gottes Verheißung und Segen ruht. So hatte er die Gewissen der Priester, Mönche und Nonnen, schon als er noch auf der Wartburg saß, im Winter 1522 von den Gelübden der Ehelosigkeit gelöset, und Viele waren in die Ehe getreten, ohne daß Luther, der eines frühen Todes gewärtig war, für sich selbst daran dachte. Zuletzt war er mit dem Prior Eberhard Brisger noch allein in seinem Augustiner-Kloster und war entschlossen, da auch dieser sich zum Austritt bereitete, das unbewohnte und herrenlos gewordene Gebäude dem Landesherrn zu übergeben: einstweilen hatte er es zu einer Pilger-Herberge für fromme Männer gemacht, die um des Evangeliums willen vertrieben waren. Nach Friedrichs des Weisen Tode (5. Mai 1525) wurde ihm von dessen Bruder und Nachfolger Johann dem Beständigen das Kloster nebst dem Klostergarten geschenkt, ein weitläufiges, aber verfallenes Gebäude, an dem viel zu bauen und zu bessern war, und wovon nur etwa ein Drittheil bewohnt werden konnte. So wurde das Kloster zum Lutherhaus und am 13. Juni 1525 führte Luther Katharina von Bora als seine Ehefrau in dieses Haus ein. Hatte er doch kurz vorher am 2. Juni sogar den Kurfürsten Albrecht von Mainz schriftlich ermahnt, sich in den ehelichen Stand zu begeben, das Bisthum zum weltlichen Fürstenthum zu machen und den falschen Namen und Schein geistlichen Standes fallen und fahren zu lassen. Obwohl er den Ehestand mit nüchternen Augen ansieht und alles Kreuz und alle Nöthe desselben kennt, so ist er doch unerschöpflich in dessen Lobe; „aber,“ sagt er, „zu einem solchen Stande gehört eine fromme und gottesfürchtige Person.“ Dann aber bezeugt er, giebt es „keine lieblichere, freundlichere, noch holdseligere Verwandtniß, Gemeinschaft und Gesellschaft, denn eine gute Ehe, wenn Eheleute mit einander in Friede und Einigkeit leben. Wiederum ist auch nichts Bitterers, Schmerzlicheres, denn wenn das Band von einander getrennt und geschieden wird. Nach welchem ist der Kinder Tod, wenn die sterben, welches ich versucht und erfahren habe.“
Zweimal hat Luther den Tod von Kindern erfahren: als Magdalene starb, hatte er schon eine andere Tochter, Elisabeth mit Namen, verloren, deren Verlust aber nicht so wehe that, weil sie schon vor Vollendung des ersten Lebensjahres starb: indessen ist der Grabstein, der ihre Ruhestätte bezeichnet, auf dem alten Gottesacker in Wittenberg noch erhalten bis auf den heutigen Tag: neben ihr ruht eine Enkelin Melanchthons. Magdalene war den trauernden Aeltern wie zum Ersatz für Elisabeth geschenkt, genau neun Monate nach deren Tode, und sie war ein gar liebes frommes Kind, sanftmüthig und gehorsam. Sie war nun das nächste und dritthalb Jahre lang das einzige Kind neben dem erstgebornen Sohne Johannes und, wenn Luther auf Reisen war, vergaß er nicht leicht in den Briefen an seine Frau Käthe die beiden Kinder Hänschen und Lenchen nebst der Muhme Lene zu grüßen. Als er während des Augsburger Reichstags 1530, wo die Confession überreicht wurde, in Koburg verweilte, da schrieb er den bekannten lieblichen Brief von dem Kinder-Paradies, das er im Geiste gesehn, an das vierjährige Hänschen: Lenchen war noch zu jung, als daß er auch an sie damals hätte schreiben können: sie war nur wenig über ein Jahr alt.
Ob sie ihren Namen der Muhme Lene verdankt, die als Hausgenossin Luthers zuerst in einem Briefe vom 15. Februar 1530 erwähnt wird, wissen wir nicht. Diese vielgenannte Muhme Lene war ein verwaistes, aber schon erwachsenes Mädchen, eine Schwestertochter Luthers, die als Familienglied und wohl auch als Gehülfin der Hausfrau in seinem Hause blieb, bis sie sich am 27. November 1538 mit einem werthen Freunde Luthers, HI. Ambrosius Bernd (Bernhardus) aus Jüterbog, Amtsschösser in Wittenberg, verheirathete, der sie im Januar 1542 als Wittwe zurückließ. Dieser Ambrosius war ein frommer Mann, auf den Abschied aus dieser Welt vorbereitet, starb aber so sanft, daß er des Todes Bitterkeit nicht schmeckte: der Tod war ihm ein Schlaf geworden, und Luther gedachte seiner öfters mit dem Wunsche, so sanft und selig einzuschlummern, wie er. Um dieselbe Zeit, im Januar 1542, ging Luther viel mit Sterbensgedanken um und machte sein Testament, ohne zu ahnen, daß sein liebes Töchterlein ihm vorangehn und noch in demselben Jahre abscheiden sollte. Aber Gott hatte es so beschlossen.
Am Anfang Septembers war Magdalene tödtlich erkrankt: ihr Bruder Johannes, der Gespiele ihrer Kinderjahre, jetzt ein sechzehnjähriger Jüngling, war schon seit Jahren aus dem durch das Zuströmen vieler Besucher und Gäste vielbewegten Vaterhause zu dem wackern Freunde Marcus Grödel in Torgau entsandt worden und wußte nichts von der Schwester Krankheit. Da schrieb am 6. September Luther folgenden Brief:
„Gnade und Frieden, mein lieber Marcus Crödel! Bitte, laß meinen Sohn Johannes nicht wissen, was ich Dir schreibe. Meine Tochter Magdalene ist todtkrank und wird bald zum rechten Vater im Himmel gehen, wenn Gott es nicht anders versehn hat. Aber sie sehnt sich so nach dem Bruder, daß ich den Wagen schicken muß: sie liebten sich einander so sehr, vielleicht lebt sie wieder auf, wenn sie ihn sieht. Ich thue, was ich kann, daß mir nicht später mein Gewissen den Vorwurf macht, als hätte ich etwas versäumt. Laß ihn also, ohne ihm zu sagen warum, schnell mit diesem Wagen herfahren; er soll bald zurückkehren, sei es, daß sie im Herrn entschlafen, oder daß sie uns wiedergegeben wird. Lebe wohl in dem Herrn! Sage ihm nur, es wäre etwas Geheimes, das ihm hier eröffnet werden sollte. Uebrigens ist Alles gesund.“ Vierzehn Tage schwebte das liebe Kind zwischen Leben und Tod. In dieser Zeit sagte Luther einmal: „Ich habe sie sehr lieb und wollte sie gern behalten, wenn sie mir unser Herr Gott lassen wollte; aber ist es Dein Wille, lieber Gott, daß Du sie dahin nehmen willst, so will ich sie gerne bei Dir wissen.“ Und zu dem Kinde sprach er: „Magdalenchen, mein Töchterlein, Du bliebest gerne hier bei Deinem Vater, und zeuchst auch gern zu jenem Vater?“ „Ja, Herzensvater, wie Gott will!“ antwortete sie. Als sie in den letzten Zügen lag, fiel er in der Kammer vor dem Bette auf seine Kniee, weinte bitterlich und bat, daß sie Gott wolle erlösen. So entschlief sie am 20. September Abends nach neun Uhr. In der Nacht vor ihrem Tode hatte ihre Mutter einen Traum, daß zwei junge schöne Gesellen gekommen wären und hätten sie wollen zur Hochzeit führen. Als Philipp Melanchthon am andern Morgen von diesem Traume hörte, sagte er: „Die jungen Gesellen sind die lieben Engel, die werden kommen und diese Jungfrau in das Himmelreich, in die rechte Hochzeit führen.“ So ists geschehen: denn sie war ein rechtes Gnadenkind, wie Luther in Glaubenskraft und christlicher Ergebung, aber mit gebrochenem Vaterherzen am 23. September seinem Freunde Justus Jonas bezeugt. „Du wirst schon gehört haben, – schreibt er -, daß meine liebe Tochter Magdalene wiedergeboren ist zum ewigen Reiche Christi. Wohl sollten wir, ich und meine Frau, nun nichts als danken und uns freuen über einen so glücklichen Hingang und seliges Ende, wodurch sie der Macht des Fleisches, der Welt des Türken und des Teufels enthoben ist: aber die Kraft der natürlichen Liebe ist so groß, daß wir ohne Schluchzen und Herzensseufzer, ja ohne großes Herzbrechen das nicht können. Denn zu tief im Herzen sitzt uns die fromme, folgsame Tochter, ihre Blicke, ihre Worte, ihr ganzes Wesen, wie sie war im Leben und im Sterben, daß auch Christi Tod (und was ist doch im Vergleich mit diesem aller Menschen Tod!) das nicht ganz austreiben kann, wie es doch sollte. So danke Du Gott an unsrer Statt. Denn er hat wahrlich ein großes Gnadenwerk an uns gethan, daß er unser Fleisch so verklärt. Du weißest, wie so sanft und freundlich und gar liebreich sie war. Gelobt sei der Herr Jesus Christus, der sie berufen, auserwählt und herrlich gemacht hat. O daß doch mir und uns Allen solch ein Tod, oder vielmehr solch ein Leben zu Theil werden möge! Das ist das Einzige, was ich mir von Gott, dem Vater alles Trostes und aller Barmherzigkeit erbitte.“ Etwas später schreibt er an Magdalenens Pathen Amsdorf, dem er für einen Trostbrief dankt. „Ja, ich hatte sie lieb, nicht nur darum daß sie mein Fleisch, sondern weil sie von so sanftem gelassenem Gemüthe war, und so kindlich mir ergeben. Aber nun freue ich mich, daß sie bei ihrem Vater lebt in so süßem Schlummer bis an jenen Tag. Und wie unsre Zeit ist und immer schlimmer wird, so wünsche ich mir und den Meinigen Allen, auch Dir und allen den Unsrigen solch ein Stündlein, mit so viel Glauben, so sanfter Stille: das heißt wahrhaftig im Herrn entschlafen, den Tod nicht sehen noch schmecken, und auch nicht ein Haar von Todesangst empfinden.“ Mit ähnlichen Aeußerungen begleitete der Vater die verschiedenen traurigen Geschäfte, die zur Bestattung unsrer Todten gehören.
Als die Leiche in den Sarg gelegt ward, sprach er: „Du liebes Lenchen, wie wohl ist Dir geschehen,“ sah sie dann also liegend an und sprach weiter: „Ach, du liebes Lenchen, du wirst wieder auferstehn und leuchten, wie ein Stern, ja wie die Sonne.“ Da man ihr den Sarg zu kurz gemacht hatte, sprach er: „Das Bette ist ihr zu klein, weil sie nun gestorben ist“ (und der Körper im Tode sich gestreckt hatte), und fügte hinzu: „Ich bin ja fröhlich im Geist, aber nach dem Fleisch bin ich sehr traurig; das Fleisch will nicht heran, das Scheiden vexirt einen über die Maßen sehr. Wunder Ding ist es, wissen, daß sie gewiß im Frieden und ihr wohl ist, und doch noch so traurig seyn.“ Als das Volk zum Begräbniß kam und ihm nach Gebrauch sein Beileid bezeugte, erwiederte er: „Es soll euch lieb seyn, ich habe einen Heiligen gen Himmel geschickt, ja einen lebendigen Heiligen. O hätten wir einen solchen Tod, einen solchen Tod wollte ich auf diese Stunde annehmen.“ Da sagte Einer: „Ja, es ist wohl wahr, doch behält ein Jeder gern die Seinen.“ Luther antwortete: „Fleisch ist Fleisch, und Blut ist Blut! ich bin froh, daß sie hinüber ist; keine Traurigkeit ist da, denn die des Fleisches.“ Da man den Sarg mit Erde beschüttete, sprach er: „Es ist eine Auferstehung des Fleisches.“ Als sie von dem Begräbniß zurückkehrten: „Meine Tochter ist nun beschickt, beide an Leib und Seel. Wir Christen haben nichts zu klagen; wir wissen, daß es also seyn muß. Wir sind des ewigen Lebens aufs Allergewisseste: denn Gott, der es uns durch und um seines lieben Sohnes willen zugesagt hat, der kann ja nicht lügen.“ Da aber die Mutter weinte und schluchzte und sich nicht trösten konnte, sprach er zu ihr: „Liebe Käthe, bedenke doch, wo sie hinkommt. Sie kommt ja wohl! Aber Fleisch und Blut fleischet und blutet, thut, wie seine Art ist; der Geist lebt und ist willig. Die Kinder disputiren nicht; wie man es ihnen sagt, so gläuben sie es. Bei den Kindern ist Alles einfältig, sterben ohne Schmerz und Angst, ohne Disputiren, ohne Anfechtung des Todes, ohne Schmerzen am Leib, gleichwie sie entschlafen.“ Da aber sein Sohn Johannes weichlich seinem Schmerze nachhing, viel weinte und von Torgau aus klägliche Briefe schrieb, wodurch er der Mutter das Herz schwer machte, ermahnte er ihn mit väterlichem Ernst.
In diesem Familiengemälde ist nichts Ueberschwengliches, nichts Erkünsteltes, nichts von der Vergötterung des Fleisches, wie es oft die verfeinerte weltliche Bildung der neuesten Zeit uns sehen läßt, und nichts von der falschen Geistlichkeit, welche die von Gott geschaffenen Empfindungen der Natur unterdrückt, sondern das Leben aus Gott und das menschliche Herz stehen im rechten Verhältnisse zu einander in aller Einfalt und Wahrheit. Der Glaube hält das Fleisch durch die Kraft des Wortes Gottes im Zaum; die Natur aber verleugnet ihre Schwachheit nicht, die durch die Gnade geheiliget, aber nicht zerstört wird, sondern in erneuerter Unschuld rührend hervorleuchtet. Wer dieß gelesen und das Lutherhaus in Wittenberg besucht, der denke neben dem großen Reformator auch an seine frühvollendete Tochter Magdalene und an ihr kindliches Wort: „Ja, Herzensvater, wie Gott will.“
E. Schmieder in Wittenberg.
Evangelisches Jahrbuch für 1856 Herausgegeben von Ferdinand Piper Siebenter Jahrgang Berlin, Verlag von Wiegandt und Grieben 1862