Giovanni Mollio von Montalcino

Erlitt den Märtyrertod zu Rom 5. Septbr. 1553.

1. Giovanni Mollios Herkommen und Jugendrichtung.

Vor unserem Geist wandelt in der Erinnerung vorüber die herrliche Schar evangelischer Märtyrer Italiens aus dem Zeitalter der Reformation, die alle, wie Paulus (Gal. 6,17) die Mahlzeichen des Herrn Jesu an sich tragen. An der Spitze derselben begegnet uns, geschmückt mit dem Kranz des Märtyrers, der ernste Franziskaner Giovanni Mollio, dessen Lebens- und Leidensbild wir hier zuerst zeichnen wollen.

Das schöne Toskana, das so viele ausgezeichnete Männer unter seinen Söhnen zählt, ist seine Heimat, Montalcino, unweit Siena, sein Geburtsort, nach dem er, wie es die Italiener zu tun pflegen, gewöhnlich genannt wurde. Sein Geburtsjahr kann nicht mehr genau ermittelt werden; indessen muss dasselbe entweder auf den Schluss; des fünfzehnten oder auf den Anfang des sechzehnten Jahrhunderts fallen. Seine Eltern waren arm und daher war auch Armut das Erbteil, das ihm von ihnen zufiel; aber dagegen hatte ihn Gott mit reichen Geistesgaben gesegnet. Frühzeitig bekundete er auch einen ernsten Sinn und eine heiße Begierde nach wissenschaftlicher Bildung und nach christlicher Vervollkommnung. Um dieses doppelte Ziel sicherer zu erreichen, trat er in den Franziskanerorden strenger Observanz.

2. Giovanni Mollios Lehrjahre in Brescia, Mailand und Padua.

Mit großem Ernste und Eifer lag er nun sowohl der Erfüllung seiner Ordenspflichten als dem Studium der Wissenschaften ob und erwarb sich das durch in hohem Grade das Zutrauen seiner Ordensvorsteher. In Folge dessen wurde er, als er noch kaum die Schwelle des Jünglingsalters überschritten, zum Professor an der Hochschule zu Brescia befördert. Hier, wie später in Mailand, erwarb er sich sowohl durch seine gründlichen und vielseitigen Kenntnisse als durch seine glänzenden Lehrgaben den Ruhm eines ausgezeichneten Lehrers. Da dem Franziskanerorden, zumal durch Sixtus IV. (1471 – 84), der selbst Mitglied desselben gewesen, große Vorrechte verliehen waren, namentlich überall, selbst ohne Begrüßung des Ortsgeistlichen, die Seelsorge auszuüben und als öffentlicher Lehrer aufzutreten; so eröffneten sich nun dem reichbegabten Professor glänzende Aussichten auf wissenschaftlichen Ruhm und auf kirchliche Ehrenstellen. Aber das Herz des ernsten Franziskaners ward um diese Zeit von einem Geisteszug ergriffen, der ihn mehr nach den Tiefen christlicher Erkenntnis und evangelischen Glaubens zog, als nach den Höhen des Ruhms und der Ehrenstellen. Wie der gleiche Odem Gottes den Frühling bringt sowohl nach den lieblichen Fluren Italiens, wo die Zitronen blühen, als nach den eichenumkränzten Ebenen Deutschlands und nach den Hochtälern der Schweizeralpen, so war es auch der gleiche Geist des Herrn, der uns „in alle Wahrheit leitet,“ welcher im Zeitalter der Reformation die Herzen derjenigen, welche sich nach der Erkenntnis der Wahrheit sehnten, mit wunderbarer Macht ergriff und zu dem gleichen Ziel, zum Glauben an Christum, aus dem allein das Heil erblüht, hinzog. Von diesem Geisteszuge ward auch Mollio, wie viele andere Mitglieder seines Ordens, in seinem ernsten Streben nach Erkenntnis der Wahrheit und nach dem Frieden der Seele, tief ergriffen; indem er die schmerzliche Erfahrung machen musste, dass weder das raue Franziskanergewand noch die pünktliche Erfüllung der Ordenspflichten die nach der Seligkeit dürstende Seele zu beruhigen und sie ihres Heils zu versichern vermögen. Auch das Studium der neu auflebenden klassischen Literatur gewährte ihm den ersehnten Seelenfrieden nicht; wohl aber wurden ihm unter dem Zuge des Geistes die herrlichen Schriftwerke der griechischen und römischen Weisheitsfreunde Wegweiser zu Christo und zu den Schriften des neuen Testamentes hin, die von ihm zeugen. Der Geist, welcher die Umgebung des jungen Professors durchwehte, war auch ganz geeignet, das Werk der Gnade in seinem Inneren zu fördern. In Brescia, der Vaterstadt des evangelischen Wahrheitszeugen Arnold, wie in Mailand, der stolzen Hauptstadt der Lombardei, ja durch ganz Oberitalien hatte sich auch durch das Mittelalter hindurch, eine dem Evangelio freundlich zugewandte religiöse und kirchliche Richtung erhalten. Unter schweren Leiden der Kriege, welche im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts über diesen herrlichen Ebenen sich zerstörend und verwüstend herüber und hinüber wälzten, hatte sich diese Richtung bei vielen ernsten Gemütern zur Überzeugung gestaltet, dass nur durch die freie Predigt des Evangeliums das schwere Unglück, das auf dem Land lastete, gewendet, und dass den seufzenden Bewohnern desselben, wie allen Menschen, allein aus dem Glauben an Christum das Heil erblühen könne. So schrieb im Jahre 1525 der Augustiner Egidio a Porta von Como an den Reformator Huldreich Zwingli in Zürich unter Anderem: „Mailand und sein ganzes Gebiet sind durch die unaufhörlichen Kriegszüge völlig verarmt. Selbst die, welche sonst ein mäßiges Vermögen besaßen, sind an den Bettelstab gebracht und darben, geschweige denn die Unzahl derer, die schon vorher arm waren. Nicht zu zählen sind die Weiber, welche sich aus Not der Schande ergeben. So schwer lastet Gottes Hand auf diesem Volk, dass aus Verzweiflung alles erdenkliche Unrecht begangen wird. Aber durch Gottes Fügung kannst Du unser Retter werden. Schreibe an den Herrn von Mailand und ermahne ihn, nötigenfalls auch drohend, auf Erlösung seiner Untertanen vom äußeren Elend und vom Geistesdruck bedacht zu sein. Jenes, indem er den Kahlköpfen ihr Geld, das sie doch nur übermütig macht, wegnimmt, dieses, indem er es verschafft, dass jeder, so weit es ihm verliehen, das lautere Wort Gottes ungescheut predigen darf; zumal wenn er bereit ist, über seine Lehre nach Gebühr Rede zu stehen. So wird dann die Kraft des Antichristen schnell dahin fallen!“

Der rege Handelsverkehr zwischen den Städten der Lombardei und denjenigen der benachbarten Schweiz und Deutschlands vermittelte auch die Bekanntschaft mit der evangelischen Lehre, die in Zürich, wie in Wittenberg mit so großem Nachdruck und Segen verkündigt wurde, sowie mit den Schriften der Reformatoren. So bildeten sich schon seit 1524 in Mailand und in anderen Städten der Lombardei und Venedigs kleine oder größere evangelische Gemeinschaften, welche in der Stille sich versammelten und das neue Testament und einzelne Schriften der Reformatoren lasen und sich daraus mit einander erbauten. Diesen evangelischen Kreisen, in welchen der gleiche Geist wehte, der auch sein Inneres ergriffen, schloss sich Mollio an, sie durch sein gründliches Wissen fördernd und von ihnen selbst im Glauben gefördert. Je mehr sich Mollio in das Studium der Schriften des neuen Testamentes und namentlich der Paulinischen Briefe vertiefte, desto klarer und mutiger verkündigte er auch in seinen öffentlichen Vorträgen die Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben an Christum. Von Mailand ward Mollio durch seine Ordensvorsteher für kurze Zeit nach Padua versetzt, wo er ebenfalls einen Kreis von Freunden und Beförderern der evangelischen Wahrheit traf, dem er sich anschloss.

3. Giovanni Mollio in Bologna, sein Sendschreiben an den kursächsischen Gesandten J. von Planitz.

Am Ende des Jahres 1532 kam dann unser Franziskaner-Professor auf Geheiß seiner Oberen nach Bologna. Obgleich damals der aus der deutschen Reformationsgeschichte hinlänglich bekannte Kardinal Campeggio dieser Stadt und Legation vorstand und seinen einst Carl V. erteilten Rat, „das giftige Gewächs der evangelischen Kirche mit Feuer und Schwert zu vertilgen“ in dieser Stellung selbst eifrig betätigte, so fand sich doch auch in dieser Stadt und namentlich unter den Professoren der Hochschule ein Kreis eifriger und mutiger Freunde der evangelischen Wahrheit, welchem sich Mollio anschloss und deren Gesinnungen und Hoffnungen wir aus ihren eigenen Worten kennen lernen wollen.

Mit gespannter Teilnahme verfolgten die Evangelischen in Italien die Entwicklung der evangelischen Kirche in Deutschland und in der Schweiz. Bange ward es ihnen für sie, als Carl V. 1530 den berühmten Reichstag zu Augsburg in der Absicht eröffnete, den Frieden und die Eintracht in der Kirche durch die Unterdrückung der Predigt des Evangeliums wiederherzustellen. „Ganz Italien,“ schrieb Paolo Roselli aus Venedig an Melanchthon, „sieht mit ängstlicher Erwartung dem Ausgang Eurer Versammlung entgegen.“ Freudig atmeten sie wieder auf, als die Kunde über die Alpen zu ihnen gelangte, die evangelischen Fürsten und Lehrer haben mutig und mit solchem Erfolge die evangelische Wahrheit verteidigt, dass der Kaiser jetzt nicht mehr daran denkt, sie zu unterdrücken, sondern vielmehr den Entschluss gefasst habe, ein allgemeines Konzil zu versammeln, um die längst ersehnte und vielseitig geforderte Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern durchzuführen. Als Carl V. daher wieder aus Deutschland nach Italien zurückgekehrt war und mit Clemens VII. in Betreff der Versammlung dieses Konzils in Bologna eine Unterredung hielt, da schien den Evangelischen Italiens die Erfüllung ihrer Hoffnung nahe gerückt. Zu dieser Zeit erschien als Gesandter des Kurfürsten von Sachsen bei Carl V. Johann von Planitz und zwar, wie in Italien allgemein geglaubt wurde, mit dem Auftrag, den Kaiser zu bestimmen, beim Papst die beförderliche Versammlung dieses Konzils auszuwirken. Indem auch die Evangelischen in Bologna diesem Gerücht Glauben schenkten, wandten sie sich an Planitz in einem Schreiben, das wohl der Feder Mollios entflossen sein dürfte, und dem wir zur Kennzeichnung der Gesinnungen und Hoffnungen dieser Männer einige Stellen entlehnen wollen. Nach Erwähnung oben bezeichneten Gerüchtes schreiben sie an den kurfürstlichen Gesandten: „Ist die Sache, wie wir gerne glauben wollen, wahr, so erstatten wir Euch Allen den besten Dank, Euch selbst, weil Ihr Euch bemüht, in dieses Land Babels zu kommen, Eurem Deutschland, weil es eine Kirchenversammlung fordert, und ganz besonders Eurem evangelischen Fürsten, der das Evangelium und den wahren Glauben so eifrig verteidigt. Denn nicht zufrieden, seinen Sachsen und Deutschen Christi Gnade und Wahrheit wieder gegeben zu haben, bestrebt er sich, dasselbe Glück auch England, Frankreich, Italien, Spanien und anderen Ländern zu verschaffen. Wir sind vollkommen überzeugt, dass Euch für Euch selbst gar wenig daran liege, ob die Kirchenversammlung berufen werde oder nicht. Wir sahen ja schon, dass Ihr als edle und treue Christen das tyrannische Joch des Antichrists abgeschüttelt habt. Eure Rechte und heiligen Privilegien auf das freie Königreich Christi habt Ihr gesichert. Demnach könnet Ihr, wo und wie es Euch gefällig ist, öffentlich lesen, schreiben und predigen, die Geister der Propheten hören und sie beurteilen der apostolischen Regel gemäß. Wir Wissen auch, dass Ihr, weit entfernt über die gehässige Anklage der Ketzerei Euch zu ärgern und zu betrüben, vielmehr Euch glücklich schätzen und Euch freuen würdet, wenn Ihr von Allen zuerst für den Namen Jesu Christi Tadel, Schmach, Einkerkerung, Feuer und Schwert erdulden müsstet. Hieraus erkennen wir deutlich, dass Eure Forderung einer Kirchenversammlung keineswegs einen einseitigen Vorteil für Deutschland bezweckt, sondern, dass Ihr, getreu dem Rat der Apostel, das Interesse und Heil anderer Völker im Auge habt. Daher bekennen sich auch alle Christen Euch zu wahrem Dank verpflichtet, und, namentlich wir Italiener, indem wir als nächste Nachbarn des Mittelpunktes der Tyrannei das Glück Eurer Befreiung beneiden müssen, obgleich wir den Tyrannen selbst von Herzen lieben.“

Indem sich dann im Schreiben die Hoffnung ausgedrückt findet, Planitz werde sich ernstlich beim Kaiser für die Berufung des längst ersehnten Konzils verwenden, fährt dasselbe also fort: „Dieses kann Euch wohl nicht missglücken, indem Se. Majestät genau weiß, dass die frömmsten, gelehrtesten und berühmtesten Männer ganz Italiens und besonders Roms sehnlichst ein solches Konzil herbeiwünschen. Wir sind ferner vollkommen überzeugt, dass diese Männer, sobald sie den Zweck Eurer Sendung erfahren, Euch freudig entgegenkommen werden.“

„Endlich hoffen wir, dass man es als sehr vernünftig und der Anordnung der Apostel und Kirchenväter gemäß finden wird, dass man den Christen die Freiheit gewähre, ihre Glaubensbekenntnisse gegenseitig zu prüfen, weil die Gerechten nicht durch die Werke Anderer, sondern durch ihren eigenen Glauben leben, sonst würde der Glaube nicht mehr Glaube sein, noch die Überzeugung, die durch Gottes Geist in unseren Herzen gewirkt wird, Überzeugung genannt werden können, sondern es wäre vielmehr ein gewaltsam auferlegter Zwang, der, wie jeder einsieht, durchaus nichts zur Seligmachung beitragen oder nützen kann. Allein, wenn die Bosheit des Satans noch immer fortwüten sollte, diese Wohltat uns vorzuenthalten, so wird man doch mindestens den Geistlichen und Laien gestatten, Bibeln zu kaufen, ohne gleich der Ketzerei beschuldigt, oder die Aussprüche Christi und des heiligen Pauli anzuführen, ohne gleich mit dem Schimpfnamen Lutheraner beschwert zu werden. Leider haben wir genug Beispiele eines solchen abscheulichen Verfahrens, und wenn dieses nicht ein Zeichen der Herrschaft des Antichrists ist, was ist es denn anders, wenn man sich den Vorschriften der Gnade und der Lehre, dem Frieden und der Freiheit Christi so offenbar widersetzt, sie mit Füßen tritt und verdammt?“

Dieses Schreiben ist ein schönes Denkmal der glaubenstreuen und mutigen Gesinnung, welche die Evangelischen Italiens im Zeitalter der Reformation beseelte. Genährt und gefördert wurde diese evangelische Richtung durch das Lesen der heiligen Schrift, sowie der Schriftwerke der deutschen und schweizerischen Reformatoren, die in Italien meistens unter erdichteten Namen verbreitet wurden. Auf Mollio scheint namentlich Bullingers Schrift: „Über den Ursprung der Irrlehre von der Messe und von der Anrufung der Heiligen“ einen tiefen Eindruck gemacht zu haben, indem er sich in einem Gespräche über diese Schrift mit seinem Freunde Zanchi schließlich also äußerte: „Kaufe Dir dieses Buch, und falls Du kein Geld hast, so reiß Dir lieber ein Auge aus und gib es dafür und lies dann das Buch mit dem anderen Auge.“ – In Bologna las und erklärte Mollio unter großem Beifall seiner Zuhörer die Briefe des Apostels Pauli, die ihm vor allen Schriften des neuen Testaments lieb und teuer geworden waren, weil auch durch seine Seele, wie durch die des großen Apostels, der Riss zwischen Gesetz und Gnade sich schmerzlich vollzogen hatte. Da aber die von Paulo gelehrte Rechtfertigung allein aus dem Glauben mit der päpstlichen Lehre vom Verdienste der Werke, vom Ablass und vom Fegefeuer im Widerspruch steht, so erfuhren auch die Vorlesungen Mollios bald heftigen Tadel von Seite der päpstlich gesinnten Partei. Namentlich glaubte sich ein gewisser Cornelio, Professor der Mathematik, berufen, die von Mollio gelehrte Rechtfertigung aus dem Glauben bestreiten zu müssen. Von diesem aber in einer öffentlichen Disputation mit leichter Mühe überwunden, verklagte Cornelio seinen Gegner in Rom wegen Verkündigung und Verbreitung von Irrlehren. Paul III. (1534-49) hatte jedoch Männer zu Kardinälen ernannt, welche selbst der Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben beipflichteten. Dieses gilt namentlich von den Kardinälen Gaspar Contarini, der in einem besonderen Traktat diese Lehre entwickelt hat, sowie von Reginald Polus und Jacob Sadolet. Unter dem Einfluss dieser trefflichen Männer ward Mollio, der in Rom sich sehr freimütig ausgesprochen und verteidigt hatte, wieder nach Bologna mit dem Entscheid entlassen: „Die von ihm vorgetragene Lehre sei zwar schriftgemäß und wahr, dürfe aber einstweilen noch nicht ohne Nachteil für den römischen Stuhl verkündigt werden. Er solle daher die Erklärung der Paulinischen Briefe unterlassen und dagegen aristotelische Philosophie lesen.“ Aber Mollio fuhr fort, die ihm teuer gewordene Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben auch in diesen Vorlesungen vorzutragen; daher wirkte der Kardinallegat Campeggio beim General der Franziskaner aus, dass er 1538 nach Neapel in das Kloster San Lorenzo als Lektor versetzt wurde.

Diese Versetzung gereichte aber keineswegs der evangelischen Bewegung zum Nachteil, wie es Campeggio beabsichtigt hatte. Den Evangelischen zu Bologna konnte Martin Bucer in einem Briefe vom 10. Sept. 1541 seine Freude äußern: „Dass ihre Zahl sich täglich mehre und sie auch immer mehr in der Erkenntnis Christi wachsen, so dass auch viele Andere durch sie zu dieser Erkenntnis geführt werden.“

4. Giovanni Mollio in Neapel als Mitglied der „seligen Gesellschaft“ des Juan Valdez.

Mollio ward auch selbst durch seine Versetzung nach Neapel in seiner evangelischen Richtung sehr gefördert. Hier begann seit 1536 namentlich bei den Gebildeten der höheren Stände eine Erweckung zu einem christlichen Lebensernst, wie die christliche Kirche ihn nur in Zeiten ihrer schönsten Entwicklung aufweist. Diese religiöse Erweckung war die Frucht der in der Stille betätigten, so gesegneten Wirksamkeit des edlen Spaniers Juan Valdez, der seit 1536 das Amt eines Sekretärs des Vizekönigs bekleidete. Schon in Spanien hatte sich Valdez mit den Schriften der deutschen Mystiker, welche die seligen Geheimnisse des Lebens in der Gemeinschaft mit Christo schildern, bekannt gemacht und namentlich das herrliche Buch „Von der Nachfolge Christi“ und einzelne Schriften Taulers in seine Muttersprache übersetzt. In Deutschland, wohin er im Gefolge Carls V. gekommen war, hatte er die Schriften der Reformatoren kennen gelernt, sich mehrere davon gekauft, und sie mit nach Neapel gebracht, wo ihm 1536 die Stelle eines Geheimsekretärs des Vizekönigs verliehen ward. Aus diesen Schriften hatte er die Lehre von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben an Christum geschöpft und sie mit der ganzen Glut seiner schönen Seele erfasst. Dabei erfüllte ihn, der sich, wie ein Zeitgenosse von ihm bezeugt, „von Gott zum Seelsorger der höheren Stände berufen fühlte,“ ein apostolischer Eifer, auch Andere für die gleiche Glaubens- und Lebensansicht zu gewinnen, aus der ihm der Friede der Seele erblühte. So vereinigte er bald einen Kreis ausgezeichneter Männer und Frauen, die er durch tiefsinnige Unterredungen in die Geheimnisse des Glaubens an Christum und eines in seiner Gemeinschaft geführten Lebens einweihte. Bald versammelten sich diese Freunde der evangelischen Wahrheit in der Wohnung des Valdez im Palaste des Vizekönigs, bald in Vittoria Colonnas Landhaus auf der lieblichen Insel Ischia, bald in der Villa Casertas in der Terra di Lavoro, um sich an den Gesprächen dieses außerordentlichen Mannes zu erbauen, „der,“ wie ein Zeitgenosse von ihm schreibt, „seinen schwächlichen Körper nur mit einem kleinen Teil seines Geistes regiert; mit dem besten und reinsten Teile aber gleichsam außer dem Leibe stets zur Betrachtung der göttlichen Wahrheit erhaben war.“ Mit großem Scharfblicke wusste Valdez die Männer und Frauen herauszufinden, in welchen sich die Bedürfnisse des Glaubens regten und der Zug des Herzens nach Christo hin sich kund tat, und solche in den Kreis seiner „seligen Gesellschaft“ hereinzuführen. So ward auch Mollio, wie seine beiden berühmten toskanischen Landsmänner Bernardino Occhino von Siena und Peter Martyr von Florenz, ein Mitglied dieses edlen Vereins. Diese drei ausgezeichneten Toskaner haben, wie sie selbst durch Valdez in ihrer christlichen Erkenntnis weiter gefördert wurden, die Wirksamkeit des edlen Spaniers auf sehr segensreiche Weise unterstützt. Wenn Valdez vermöge seiner hohen Bildung und Lebensstellung von Gott vorzugsweise zum Lehrer und Seelsorger der durch Adel und Bildung Bevorzugten bestimmt zu sein schien, so waren diese drei Freunde und Gehilfen des außerordentlichen Mannes durch Beruf und Begabung dazu angewiesen, die im Kreise der „seligen Gesellschaft“ besprochenen evangelischen Wahrheiten der Gemeinde zu verkündigen. Namentlich erfüllte der berühmte Kapuzinergeneral Occhino, damals der gefeiertste Kanzelredner Italiens, diese Aufgabe in ausgezeichneter Weise. Wenn dieser hochgewachsene Mann, mit blassem, abgezehrtem Antlitz, schneeweißem Haupthaar und Bart, der bis an den Gürtel hinabreichte, während der Fasten die Kanzel bestieg und in der klangvollen toskanischen Mundart seine wundervolle Beredsamkeit zur Verherrlichung des Glaubens an Christum und eines ihm geweihten Lebens entfaltete, so strömte die ganze Bevölkerung Neapels nach dem Dome San Giovanni Maggiore, so dass die weiten Räume desselben die Zahl der Zuhörer nicht zu fassen vermochte. Als Kaiser Carl V. 1536 einer Predigt Occhinos in Neapel beigewohnt hatte, brach er in den Ausruf aus: „Wahrlich, dieser Mönch könnte Steine zu Tränen rühren.“ Ähnlichen Zulauf und Beifall ernteten Peter Martyr zu San Pietro ad aram und Giovanni Mollio zu San Lorenzo in ihren Vorträgen über die Briefe des Apostels St. Pauli. Eine wunderbare Zeit der Gnade war durch das vereinte Wirken dieser glaubensvollen evangelischen Männer für Neapel angebrochen. Giambattista Falengo schildert diese Erweckung mit dem begeisterten Ausruf: „Wahrhaft wunderbare Erscheinung unserer Tage! Frauen, deren Sinn gewöhnlich mehr zur Eitelkeit als zur Wissenschaft neigt, zeigen sich tief eingedrungen in die Wahrheiten des Heils, und Menschen in den niedrigsten Verhältnissen, selbst Soldaten zeigen uns ein Bild des vollkommenen christlichen Lebens. Jahrhundert! würdig des goldenen Zeitalters. Barmherziger Gott, welch eine reiche Ausgießung des heiligen Geistes!“

So entfaltete sich unter der Wirksamkeit dieser evangelischen Männer hier „auf diesem auf die Erde gefallenen Stück Himmels“ ein Geistesfrühling, welcher an Anmut und Wonne den Naturfrühling in diesem irdischen Paradies weit überstrahlte. Wenn aber hier der heiße Sirocco weht, so welkt augenblicklich die glühende Blütenpracht dahin, so dass die Blume des Feldes, die am Morgen noch Salomons Herrlichkeit überstrahlte, am Abend welk und versengt dasteht, ein sprechendes Bild der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens. Ein ähnlicher versengender Glutwind kam auch über den Geistesfrühling, der damals in Neapel sich entfaltete, und bereitete demselben ein ähnliches Verderben, wie der Sirocco der Blütenpracht des Naturfrühlings.

5. Giovanni Mollio unter der Verfolgung der Theatiner und Jesuiten.

Das große Verderben, welches in der römischen Kirche herrschte und die nächste Veranlassung zur Reformation gegeben, wurde selbst von den eifrigsten Verteidigern des Papsttums anerkannt und bedauert. Statt aber eine Reformation der Kirche nach der Richtschnur des Wortes Gottes zu fördern oder wenigstens eine solche gewähren zu lassen, wollten die Eifrigsten unter den Verteidigern des Papsttums dem herrschenden Verderben steuern durch Belebung der alten Strenge gegen die Irrgläubigen, zu welchen sie die Evangelischen zählten, und durch Schärfung des Pflichteifers der Geistlichen in der Erfüllung ihrer kirchlichen Obliegenheiten. Unter den Männern, welche eine Reformation innerhalb der Schranken der Lehre und Einrichtungen der bestehenden päpstlichen Kirche durchführen wollten, nehmen die beiden Kardinäle Giampietro Caraffa und Gaetano da Thiene die ersten Stellen ein. Ersterer war ein aufbrausender, stürmischer Zelot, letzterer dagegen ein stiller, sanftmütiger, den Entzückungen eines geistlichen Enthusiasmus sich hingebender Mann. Diese beiden Männer sind die Stifter des für die Neubelebung und Erhaltung der päpstlichen Kirche, sowie für die Unterdrückung der evangelischen Erweckung sehr wirksamen Theatiner-Ordens. Auf die evangelische Bewegung in Neapel lenkten die Theatiner gleich ihre scharfe Aufmerksamkeit. Gaetano da Thiene begab sich selbst dahin und nahm Besitz von der San Pauls-Kirche, um von derselben aus dem Valdez und seinen Freunden entgegenzuwirken. Mit großer Eilfertigkeit und Entrüstung meldete darauf da Thiene seinem Freunde Caraffa, welche ketzerische Lehren in Neapel öffentlich verkündigt und verteidigt werden. Wie tief fühlten sich diese Eiferer verletzt durch Erscheinungen, wie sie Giannone, der Geschichtsschreiber Neapels, in folgender Weise schildert: „Diese neue Art der Predigt gibt, indem sie lebhaft die Geist bewegt, Gelegenheit zu häufigen Streitigkeiten über die heilige Schrift, über die Rechtfertigung durch den Glauben oder durch die Werke, über das Fegefeuer, und die bis dahin bloß den Theologen vorbehaltenen Fragen im Bereiche der Schulen traten nun in die Öffentlichkeit des Lebens. Sie wurden von Laien, ja selbst von Menschen ohne alle theologische Kenntnis und Gelehrsamkeit öffentlich besprochen. Ja man sah sogar geringe Handwerker von dem Gelüste ergriffen, über Gegenstände dieser Art zu sprechen, die Briefe des heiligen Paulus auszulegen, über die dunkelsten Punkte reden zu wollen; und die Ketzerei machte täglich neue Fortschritte, sich im Königreiche Neapel zu verbreiten, wie sie es in den meisten Gegenden Italiens bereits getan hatte.“ – Der Kardinal Caraffa, selbst Neapolitaner, beeilte sich den Vizekönig in einem Mahnschreiben vor den Feinden der Kirche in seiner Hauptstadt zu warnen und ihn zu ermahnen, dieselben sofort und mit allem Ernst zu unterdrücken. Inzwischen wurden die Gespräche der Mitglieder der „seligen Gesellschaft“ des Valdez, sowie die Predigten Occhinos und die Vorlesungen Martyrs und Mollios sorgfältig überwacht und auskundschaftet, und jede von der Kirchenlehre abweichende Äußerung sorgfältig bemerkt und nach Rom berichtet. Bis zum Jahre 1540 hatten die evangelischen Lehrer am päpstlichen Hofe ihre Beschützer und Verteidiger an den Kardinälen Contarini, Sadolet, Poole und Fregoso, aber mit diesem Jahr gestaltete sich ihre Lage immer düsterer und bedenklicher. Contarini ging als Legat zum Regensburger Gespräche und ward bald selbst am päpstlichen Hofe wegen seiner Nachgiebigkeit gegen die Protestanten verdächtigt. Valdez starb (1540) in Neapel tief betrauert von seinen Freunden, Occhino und Martyr verließen, müde der Verdächtigungen und Verfolgungen, diese Stadt, um bald durch Auswanderung nach der Schweiz ihr Leben und ihre evangelische Überzeugung zu retten. So befand sich noch Mollio allein von den ausgezeichneten evangelischen Lehrern in Neapel, um die kurz vorher so hoffnungsvoll aufblühende evangelische Gemeinde mit der Predigt des Evangeliums zu erbauen. Seine Beschützerinnen waren die Gräfin von Trajetto und Isabella Manrica, die auch zur „seligen Gesellschaft“ des Valdez gehörten. Letztere ward später selbst gezwungen, ihr Leben und ihre Überzeugung durch die Flucht nach der Schweiz zu retten. Mollios Stellung wurde besonders schwierig und gefährlich nach dem (1542) erfolgten offenen Übertritt Occhinos und Martyrs zur evangelischen Kirche der Schweiz, weil seine enge Verbindung mit diesen Männern bekannt war. Auf der anderen Seite vermehrten und verstärkten sich die Beschützer und Verteidiger der päpstlichen Kirche immer mehr, indem sie zugleich immer heftiger die Evangelischen befeindeten und verfolgten. Neben den Theatinern und zum Teil nach dem Vorbild dieses Ordens organisierte Ignatius Loyola in Venedig die Compagnie Jesu, die vom Papste 1540 bedingt und 1543 unbedingt als ein eigener Orden bestätigt wurde. Auf eifriges Eindringen des Kardinals Caraffa, der dabei vom Kardinal von Burgos, Juan Alvarez von Toledo, sowie von Ignatius Loyola unterstützt wurde, beschloss der Papst die Einführung der Inquisition (21. Juli 1542) zur Unterdrückung der Ketzerei, das heißt, der evangelischen Richtung und Lehre. Furchtbar war namentlich in Neapel die Betätigung aller dieser in einander greifenden Anstalten und Maßnahmen zu ihrer Unterdrückung. Die von den Seggi gestiftete Akademie ward unterdrückt, die frömmsten Christen, die nicht flüchtig ihr Vaterland verließen, eingekerkert und durch das Inquisitionstribunal zum Feuertod verurteilt. Auch Mollio musste 1548 Neapel verlassen, um von nun an zehn Jahre hindurch von der Inquisition und ihren Trabanten, den Theatinern und Jesuiten, umspäht, verfolgt und eingekerkert zu werden. Geronymo Mariano meldete 1544 dem Professor Pellican in Zürich, dass Mollio von Montalcino, der Regens eines Klosters von Mailand, um seines evangelischen Bekenntnisses willen in Gefangenschaft gehalten werde.

6. Giovanni Mollio vor dem Inquisitionstribunal und sein seliges Ende.

Endlich ward Mollio 1453 auf Befehl Julius III. (1540-55) in Ravenna ergriffen und fest verwahrt nach Rom geführt. Während seiner mehrere Monate dauernden Gefangenschaft beendigte er einen Kommentar über die Genesis, der gelobt wird. Den 5. Sept. 1553 wurde in der Kirche St. Maria di Menava mit großem Pomp ein öffentliches Inquisitionsgericht über ihn und einige seiner Schüler gehalten.

Leider verstanden sich die meisten von den letzteren, um ihre Leben zu fristen, zum Widerruf der früher bekannten evangelischen Lehre. Nur der treue Tisserano von Padua blieb bis zum Tod seinem Lehrer und der von ihm verkündigten evangelischen Wahrheit treu. Vor das Inquisitionstribunal, das aus sechs Kardinälen und mehreren Bischöfen bestand, erschien Mollio, mit der ihm dargereichten brennenden Fackel in der Hand, mutigen und festen Sinnes und verteidigte mit der größten Freimütigkeit die von ihm verkündigte evangelische Wahrheit. In seiner Verteidigungsrede behandelte Mollio seine Richter als ein Mann, der keine irdische Rücksicht mehr kennt. „Der Papst,“ sagte er unter anderem, „ist keineswegs der Nachfolger Christi oder des Apostels Petri oder das Haupt der christlichen Kirche, sondern vielmehr der wahre Antichrist, ein verfluchter und verdammter Fürst des antichristlichen Reiches, der sich mit gleichem Recht die tyrannische Herrschaft über die Kirche angemaßt, mit dem der Raubmörder seine unschuldigen Opfer erwürgt. Was Euch, Ihr Kardinäle und Bischöfe, betrifft, so habt Ihr die Gewalt, die Ihr Euch anmaßt, nicht durch ehrliche Mittel erlangt, sondern vielmehr durch ehrgeizige und verwerfliche Umtriebe. Darum kennt Ihr weder Maß noch Zucht, noch achtet Ihr irgend Tugend und Ehrbarkeit. Darum muss ich auch härter mit Euch reden, dass Eure Kirche nicht Gottes, sondern des Satans Kirche sei und das echte Babel. Wenn Eure Gewalt, wie Ihr es Vorgebet, von den Aposteln herstammte, so würde auch Eure Lehre mit derjenigen der Apostel und Eure Lebensweise mit der ihrigen übereinstimmen. Nun aber findet gerade das Gegenteil statt. Ihr verachtet und verstoßt auf die frevelhafteste Weise den Herrn Jesum Christum und sein Wort. Ihr glaubet nicht wahrhaftig, dass ein Gott im Himmel sei. Ihr verfolget und tötet Gottes treue Diener und löst seine Gebote auf. Ihr beraubt die armen Gewissen ihrer Freiheit und unterdrückt sie. Ihr maßt Euch tyrannischer Weise Gewalt über zeitliches und ewiges Leben und Tod an. Darum appelliere ich vor diesem Eurem Gericht und fordere Euch auf den jüngsten Tag vor den Richterstuhl Christi. Da werdet Ihr, es mag Euch lieb oder leid sein, von Eurem Tun und lassen genaue Rechenschaft ablegen müssen; und wenn Ihr nicht vorher Buße tut, so müsst Ihr ewig im höllischen Feuer brennen. Zum Zeugnis dieser Warnung nehmt diese brennende Fackel zurück, die Ihr mir in die Hand gegeben.“ Mit diesen Worten warf er entrüstet dieselbe vor die Füße seiner Richter. Die Kardinäle und Bischöfe knirschten mit Zähnen und schrien, man solle diesen Menschen aus ihren Augen entfernen. Hierauf ward über ihn und über seinen Schüler Tisserano das Urteil gesprochen, dass sie zuerst erwürgt und sodann ihre Leichname verbrannt werden sollen. Bei Anhörung dieses Urteils erhob Mollio seine Augen gen Himmel und sprach: „O Jesus Christus, mein Herr und Heiland, mein oberster Priester und mein getreuer Hirte! Auf der ganzen Welt gibt es nichts, an dem ich mehr Gefallen hätte, als dass ich um Deines Namens willen mein Blut vergießen soll.“

Hierauf wurden sie auf den Campo Fiore hinausgeführt, wo Tisserano zuerst gehenkt wurde, nachdem er noch für seine Feinde gebetet hatte. Mollio dankte noch Gott vor seinem Tod für die unaussprechliche Gnade, dass Er ihn zum Licht seines Wortes geführt und ihn zum Zeugen seines Evangeliums erwählt habe. Hierauf ward er gehenkt und sein Leichnam mit demjenigen des Tisserano sodann verbrannt. So ward dieser treue Diener Christi gewürdigt, seinen Glauben an den Heiland durch den Märtyrertod zu besiegeln. „Wer aber Christo getreu ist bis an den Tod, dem will Er die Krone des Lebens geben.“ (Off. 2,10.)

Der Franziskanerorden, dessen Mitglied Mollio gewesen, wurde einer strengen Untersuchung unterworfen, in Folge welcher noch Mancher, der demselben angehörte, die Flucht ergreifen oder in den Gefängnissen der Inquisition verschmachten musste. Auf päpstlichen Befehl wurde hierauf sämtlichen Professoren dieses Ordens verboten, die Bibel zu erklären. Nur die Werke des großen Meisters ihres Ordens, Duns Scotus, sollten sie ihren Vorlesungen zu Grunde legen. Aber „Gottes Wort ist dennoch nicht gebunden,“ (2. Tim. 2,9) wenn auch die treuen Verkündiger desselben um seinetwillen Gefängnisse und Banden erdulden und tragen müssen. „Selig aber sind die Gottes Wort hören und bewahren.“ Luc. 11,28.

Matthias Claudius - Portrait

Matthias Claudius

Ein Stillleben in der Tat. Schlicht und einfach wie der Mann ist auch sein Lebensgang. Hoch im deutschen Norden in dem holsteinischen Dorf Reinfeld ist er geboren den 15. August 1740 als der zweite Sohn des dortigen Pastors Matthias Claudius, eines ehrenfesten, verständigen, einfach bibelgläubigen Landgeistlichen, und einer stillen, frommen, herzguten Mutter. Bis hinauf zur Reformationszeit war die Claudius’sche Familie eine Pfarrfamilie und die Atmosphäre eines deutschen Landpfarrhauses, darin Matthias aufwuchs, hat er in keinem Augenblick seines Lebens, auf keinem Blatt seiner Schriften verleugnet. Etwa im fünfzehnten Lebensjahr kam der Knabe mit seinem Bruder Josias in die lateinische Schule in der sechs Meilen nordwärts an einem Landsee anmutig gelegenen Stadt Plön, damals dem Sitz eines kleinen Hofes. Dort unter der Leitung des tüchtigen Rektors Ernst Julius Alberti brachte er vier Jahre zu und trieb neben dem Lateinischen und Griechischen, sowie dem Französischen und Englischen mit Vorliebe Mathematik und etwas Physik. Wohlvorbereitet an Kenntnissen, wenn auch unter der nach der Sitte der Zeit etwas steifen Schulregel weder gemütlich noch intellektuell lebendiger aufgeweckt, bezog der neunzehnjährige Jüngling um Ostern 1759, wiederum mit seinem Bruder Josias, die Universität Jena zum Studium der Theologie, das er aber bald teils wegen leidender Brust teils wegen Mangels an Freudigkeit zum Predigtamt unter elterlicher Zustimmung mit der Rechtsgelehrsamkeit und Kameralwissenschaft vertauschte. Und doch, wenn überhaupt zu einem bestimmten Amt, zu welchem Beruf schien Claudius in Wahrheit mehr geschaffen, als zu dem eines Landpredigers? So übte denn auch die Rechtswissenschaft weder mit ihrem historischen Material, noch mit ihrer trockenen damals wie alle Disziplinen von der Wolfischen Philosophie beherrschten Methode eine wirkliche Anziehungskraft auf Geist und Gemüt des jungen Studenten aus. Sein Geist ging ins Weite. Er trieb die alten Sprachen fort, daneben zur Erholung die Musik, trat auch der vaterländischen Literatur zuerst näher, indem er Mitglied der „Teutschen Gesellschaft“ wurde, welche strebsamere und feiner organisierte Geister von dem damals sehr rohen Jenenser Burschenleben weg unter ihrem Banner versammelte. Dass er übrigens bei seiner sittlich-reinen Lebensführung einer weiteren akademischen Jugendlust an den romantischen Ufern der Saale sich keineswegs pedantisch entzog, bezeugt wenigstens ein heiterer Studentenstreich, an dem er sich beteiligte. In bunten Schlafröcken, mit Schlägern bewaffnet, machten etliche Jenenser Burschen einen Spazierritt in die Umgegend. Eine streifende Patrouille preußischer Husaren – es war während des Siebenjährigen Krieges – griff die Gesellschaft, in der sie eine Art verdächtiger Franktireurs sah, auf und brachte sie in ein Nachbardorf vor ihren Kommandanten, der, mit dem studentischen Treiben besser vertraut, sie freundlich bewirtete und in Frieden ziehen ließ. Einen trüben Schatten warf in Matthias Studienjahre der Tod seines treuen Bruders Josias, der an den Blattern starb, während er selbst die lebensgefährliche Krankheit glücklich überstand.

Etwa ums Jahr 1763 verließ Claudius die Universität, mit erweitertem Gesichtskreis, sittlich unverdorben, aber geistig unfertig, ohne weder für einen bestimmten praktischen Lebensberuf sich gründlich vorgebildet, noch nach seiner geistigen Eigentümlichkeit sich tiefer entwickelt zu haben. Sein poetischer Erstlingsversuch: „Tändeleien und Erzählungen“, 1763 in Jena, wahrscheinlich vor seinem Abschied von der Hochschule als dichterischer Ertrag seines akademischen Lebens erschienen, enthält unselbständige, künstlich gemachte Nachahmungen in der Manier Gerstenbergs und Gellerts, und lässt von der Eigenart des Wandsbecker Boten noch so wenig erkennen, als die ersten Leipziger Produkte des Studenten Wolfgang Goethe vom Genius eines Götz und Faust, eines Werther und einer Ephigenie.

Zu seiner geistigen Ausreifung mussten den Lehrjahren erst die Wanderjahre folgen.

Nachdem Matthias zunächst auf ein Jahr in die Stille seines Elternhauses zurückgekehrt, ging er im Frühjahr 1762 als Sekretär eines Grafen Holstein nach Kopenhagen, wie ja damals zwischen der deutschen Schriftstellerwelt und dem zum Teil hochgebildeten dänischen Adel ein sehr reger und freundlicher Verkehr stattfand. Klopstock war der geistige Herrscher in diesen Kreisen. Neben ihm lebten in der dänischen Hauptstadt der Dichter Gerstenberg; der geistliche Liedersänger Johann Andreas Cramer, Klopstocks Freund, dänischer Hofprediger; sowie der originelle Schönborn, früher Konsul in Algier, ein persönlicher Freund des Claudiusschen wie des Goetheschen Elternhauses; die beiden Grafen Stolberg. Der junge Claudius schloss sich lebhaft diesem edlen, geistig bewegten Zirkel an, wie denn Klopstocks Ode „Der Eislauf“ an ihn gerichtet sein soll. – Zwar verlässt er, unbefriedigt von seiner Stellung im Hause, schon nach einem Jahr Kopenhagen wieder, aber nicht ohne entschiedenen Gewinn für seine geistige Entwicklung. Sein Horizont ist erweitert, seine Phantasie geweckt, sein Gemüt vertieft, sein Genius regt die Flügel; er ist hineingezogen in jenen merkwürdigen zukunftsreichen Prozess der Sturm- und Drangperiode, in welchem alle tieferen Naturen, alle jugendlichen Kräfte, alle schöpferischen Mächte der neu erwachenden deutschen Literatur noch ungeschieden durcheinandergärten; in welchem ein Goethe und Lavater, ein Herder und Hamann, ein Klopstock und Heinse, ein Jacobi und Merk in brüderlichem Verkehr, ja zum Teil in enthusiastischer Freundschaft unter einem Banner sich zusammenscharten in der Richtung, der Natur gegenüber der Schule, dem Gemüt und der Phantasie gegenüber der philisterhaften Verständigkeit, dem Deutschtum gegenüber dem Franzosentum Bahn zu brechen. Die Losung ist: „Platz, ihr Herrn, dem Flügelschlag einer freien Seele“, und als heilige Bundesbücher gelten Homer, die Bibel, Ossian, Shakespeare.

Nach einem dreijährigen Stillleben im Elternhaus, wo sich Geist und Gemüt des jungen Mannes wieder sammeln mochte, finden wir ihn seit Sommer 1768 abermals im Geräusch einer Großstadt, in Hamburg, als Mitarbeiter an den “ Adress-Comptoir-Nachrichten“, in die er kleine Gedichte, Erzählungen und Rezensionen lieferte. Ein reges Geistesleben bewegte sich damals in der großen nordischen Handelsstadt; scharfe literarische Kämpfe wurden dort ausgefochten, wie Lessings Fehde mit dem Hauptpastor Göze. Der strebsame Verlagsbuchhändler Bode, der jüngere Reimarus, berühmter Arzt und Patriot, mit seiner geistvollen Schwester Elise Reimarus und seinem Schwager, dem begabten und angesehenen Kaufmann Sieveking, der gebildete Pastor Alberti u. a. bildeten einen lebhaften Gesellschaftskreis, dessen Führer Lessing war und dem sich auch Claudius mit aller Wärme seiner strebsamen, jugendlich-offenen Natur anschloss, Gesellschaften, Landpartieen, Theater harmlos mitgenießend. Insbesondere verband ihn mit Lessing bald eine warme Freundschaft, wie wenn der Gegensatz beider Naturen – hier des kindlich-warmen Gemütes, dort des scharfen kritischen Verstandes – sie zu einander hingezogen hätte. Auch den jungen Herder, dessen Genius ihm noch weit wahlverwandter war und der seine mächtige Anziehungskraft bald und für immer auch an ihm erprobte, lernte Claudius auf dessen Durchreise durch Hamburg im Jahre 1770 persönlich kennen, und es will etwas heißen, wenn der selbstbewusste, seine besten Freunde schonungslos geißelnde Herder, zu einer Zeit, wo er auf den jungen Goethe, seinen begeisterten Jünger, als auf einen etwas spatzenmäßigen „guten Jungen“ herabsah, unseren Claudius in einem Brief an Gleim „eine engelische Seele unter den Menschen“ nennt, wenn derselbe ein paar Jahre später an Lavater schreibt:

„Noch nie hab‘ ich gewünscht, mit einem Menschen zusammenzuleben, wie ich’s mit Claudius wünsche“, und wenn er in seine „Stimmen der Völker in Liedern“, als einziges zeitgenössisches deutsches Lied des „Wandsbecker Boten Abendlied“ aufnahm. Auch Klopstock siedelte 1770 von Kopenhagen nach Hamburg über, auch mit ihm wurde der freundschaftliche Umgang wieder angeknüpft und fortgepflegt.

Aber zum Beweis, dass Claudius in der Atmosphäre solcher Sterne erster Größe nicht zum selbstlosen Trabanten herabsank, ließ er nun sein eigenes bescheidenes Licht leuchten und bahnte sich seinen besonderen Weg, indem er nach Lösung seines Verhältnisses zu den „Adress-Comptoir-Nachrichten“ Redakteur des von Bode herausgegebenen „Wandsbecker Boten“ wurde, einer wöchentlich viermal erscheinenden Zeitung, die neben den politischen Nachrichten kleine prosaische Aufsätze, Poesien und Bücherkritiken brachte und Männer wie Lessing, Herder, Goethe, Stolberg, Voss, Cramer, Eschenburg unter ihren genannten und ungenannten Mitarbeitern zählte.

Hiermit hatte Claudius das Arbeitsfeld gefunden, das er fortan lebenslang mit ebenso viel Lust und Liebe als gesegnetem Erfolg bebaute. Hiermit hatte er auch die Heimat gefunden, wo er nun den eigenen Herd sich gründete und ein echt deutsches, idyllisch-patriarchalisches Familienleben führte.

Um Weihnachten 1770 siedelte er nach dem eine Stunde von Hamburg entfernten stattlichen gräflich Schimmelmannschen Marktflecken Wandsbeck über, der durch Claudius weltberühmt geworden ist. Ein großer, schöner, von Nachtigallen reichbevölkerter Park, durch dessen Baumgruppen man Hamburgs Kirchtürme von fern erblickte und in dessen Laubgängen Claudius und Voss, Klopstock und Hölty, Lessing und Fr. H. Jacobi, Herder und die Stolbergs gewandelt und geträumt haben, bildete den Hauptreiz der sonst flachen Wandsbecker Gegend. Hier in Wandsbeck fand nun Claudius auch den besten Schatz seines Lebens, seine tüchtige, treffliche Gattin, sein „Bauernmädchen“; wie er sie, stolz auf ihren inneren Wert bei dörflicher Abkunft und Erziehung, gern nannte, seine Rebekka, die Tochter des Zimmermeisters Joachim Friedrich Behn. Als er sich eine Mietwohnung im Dorf erfragte, lernte er das sechzehnjährige Mädchen kennen, das ihm in Abwesenheit des Vaters Bescheid gab. Im Herbst 1771 hielt er auf einem Gang in den Wald beim Vater um die Tochter an, und erwiderte bei der Nachhausekunft auf die Frage, ob er etwas geschossen: „Ja, ich habe einen guten Schuss getan.“ Er hatte vom Vater das Jawort erhalten und wandte sich nun erst an die Tochter. Am 15. März 1772 war die Hochzeit und zwar in der improvisierten Weise, wie sie jene, um kirchliche Formen unbekümmerten Geniekreis liebten und wie sie auch Voss in seiner „Luise“ beliebt hat. Claudius hatte, ohne den Zweck anzugeben, einige Freunde, darunter Klopstock, Schönborn, Ehlers und Bode, eingeladen; auch der Ortspfarrer war von der Gesellschaft. Claudius fing wie im Scherz an von Kopulation zu sprechen, zog die königliche Heiratserlaubnis aus der Tasche und die Trauung ging vor sich. „Rebekka wählen ist Geschmack, nicht wahr, Kollege Isaak?“ sagt er in seinem silbernen Abc.

Und seine Wahl war eine glückliche, seine Ehe eine gottgesegnete wie die des sanften Patriarchen. Sein „Bauermädchen“, schön, kräftig, fröhlich, liebenswürdig, von einfacher bürgerlicher Bildung, aber trefflichen Anlagen des Geistes und Herzens, bildete sich an ihm, dem geliebten und verehrten Manne, herauf, pflegte sein mit treuer, verständiger Liebe und gab ihm die volle Freiheit zur Entfaltung seines Geistes und zur Erfüllung seiner Lebensaufgabe. Er selber gewann im Ehestand den festen Grund und Boden für sein inneres und äußeres Leben, den ihm kein Amt, kein förmlicher äußerer Lebensberuf gab, und der Claudiussche Hausstand wurde das Vorbild eines christlichen Bürgerhauses mit seiner Freude und seinem Leid, seinem Kindersegen und seinen Nahrungssorgen, seinen sauren Wochen und frohen Festen, seiner einfachen Hausordnung und seiner weitherzigen Gastfreundschaft, seinen Schätzen von Geist und Gemüt bei äußerer Genügsamkeit, seiner herzlichen Gottesfurcht und reinen Sitte bei harmlos heiterem Humor, seinem frommen Ausblick zum Unvergänglichen und Unsichtbaren bei gesundem gemütlichem Anteil an allem, was die Erde gibt, der Boden trägt, das Jahr bringt im bunten Kreislauf von Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.

Man könnte mit der Gründung seines Hausstandes unseres Claudius Wanderjahre für abgeschlossen halten, unterbräche nicht noch einmal eine merkwürdige Episode die Wandsbecker Idylle, nämlich die missglückte Darmstädter Expedition.

So seelenvergnügt der junge Ehestand sich anließ und so reich das geistige Leben im Hause sich gestaltete durch den teils persönlichen, teils brieflichen Verkehr mit einem immer größeren Freundeskreis die Hainbundsdichter Miller, Höltt, Boie, Bürger, Voss, die Grafen Stolberg (mit ihrer edlen Schwester Auguste) betrachteten den Wandsbecker Boten als ihren Bundesbruder; mit Herder und Fritz Jacobi, mit Hamann, dem Magus aus Norden, und Lavater, dem Propheten im Süden, wurden Briefe gewechselt – ein Schatten ließ sich nicht bannen: Nahrungssorgen klopften an die Tür; der Asmus omnia sua secum portans oder „Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten“, periodisch erscheinend im Selbstverlag des Verfassers, sicherten der schnell anwachsenden Familie ein genügendes Einkommen nicht. Der junge Hausvater glaubte sich nach Amt und Brot umgehen zu müssen. Freund Herder, damals Konsistorialrat in Bückeburg, sollte dazu helfen, und seine eifrigen Bemühungen hatten endlich einen, wie es schien, glücklichen, ja glänzenden Erfolg.

Auf Herders Empfehlung bei dem vielvermögenden Darmstädter Regierungspräsidenten, Freiherrn Karl Friedrich v. Moser, dem bekannten christlichen Staatsmann, Verfasser des Fürstenspiegels: „Herr und Diener“, der als erster Staatsminister und Präsident sämtlicher Landeskollegien das unumschränkte Vertrauen des originellen Landgrafen Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt besaß, wurde dem „lausigen Wandsbecker Avisenschreiber“, wie er sich selber launig tituliert, im Sommer 1775 die Stelle eines Geheimen Kanzleisekretärs angeboten, die sich nach weiteren Verhandlungen im November desselben Jahres zu der eines Oberlandkommissarius mit 800 fl. Gehalt umgestaltete, in Wirklichkeit aber nie zu einer rechten Konsistenz gelangen sollte.

Vorerst zwar ist Claudius in vollem Glück. Mit überströmender Freude dankt er seinem hohen Gönner. „Ich habe eine alte Mutter, die ich, so lange sie noch lebt, uns gern verlasse; aber meine jetzige Situation ist von der Art, dass ich eine irgend erträgliche Versorgung mit beiden Händen ergreifen muss, viel mehr eine so vorteilhafte als die ist, mit der Ew. Excellenz mich beehren wollen. Es bliebe also nur die Frage, ob ich mir getrauen dürfte, eine solche Stelle anzunehmen, da einem ehrlichen Manne eine strenge Erfüllung der Pflichten, die er über sich nimmt, doch immer die Hauptsache bleibt. Wenn ich von meiner Neigung sprechen dürfte, so ist die für ein einsames Leben, für Feld und Wald und Bauervolk von jeher gestimmt gewesen; das darf ich auch noch sagen, dass ich es an gutem Willen, herzlicher Tätigkeit und Treue nicht werbe fehlen lassen; ob ich aber Geschick genug habe ein Rad in der Maschine zu sein, dadurch ein Fürst seine Vatermilde über sein gutes Landvolk ausbreiten will, dass weiß ich nicht, weil ich noch keine Erfahrung davon gemacht habe und ich nichts von mir annehmen mag, als was ich aus gehabter Erfahrung weiß, und ich noch keine Erlaubnis habe, auf die Winke und den guten Rat desjenigen zu rechnen, unter dessen Oberaufsicht die ganze Maschine ihre Wirkung tun soll. Sollten Ew. Excellenz nach diesem Bekenntnis mich dieser oder einer anderen kleinen Stelle einigermaßen würdig finden, so dürfte ich wohl hoffen, dass meine Überkunft bis zur gelinderen Witterung Zeit hätte, da ich vor einigen Wochen erst wieder Vater geworden bin!“

Der leise Zweifel, den er in diesem Schreiben andeutet, „ob er als Rad in die Maschine“ und gerade in diese Maschine tauge, erwies sich als wohlgegründet.

Glücklich zwar trifft er am 16. April 1776 in Darmstadt ein, nachdem er unterwegs seinen Herder in Bückeburg besucht; „nicht gnädig, sondern freundschaftlich“ wird er vom Präsidenten v. Moser, mit Herzlicher Liebe von der Familie Flaxland, der Herders Frau angehörte, empfangen, und immerhin ermutigend bei seinen bescheidenen Ansprüchen lautet sein Bestallungsdekret. „Demnach wir von Gottes Gnaden Ludwig, Landgraf zu Hessen bei der zu Verbesserung des allgemeinen Nahrungsstandes und Polizeiwesens angeordneten Landkommission, Unseren lieben, getreuen Joh. Matthias Claudius, zu Unserem Ober-Land-Commissario, mit dem Rang eines wirklichen Cammer-Raths, dergestalt bestellt haben, dass er unter den Befehlen Unsers zur Ober-Aufsicht des Instituts ernannten Präsidenten, Freiherrn von Moser – den vorfallenden Geschäften mit Treue, Fleiß und Diensteifer abwarten und vor diese Bemühung alljährlich Sechshundert Gulden Besoldung, 2/3 an Geld und 1/3 an Naturalien – zu beziehen haben soll.“

Die geistige Atmosphäre in Darmstadt hatte manches, was einen Claudius sympathisch anwehen konnte. Mit dem Hof zwar kam er in keinerlei Berührung. Der Landgraf residierte gewöhnlich in Pirmasens, wo er seine Soldaten exerzierte. Seine Gemahlin Karoline, die große Landgräfin, die Freundin Friedrichs des Großen, der ihr eine Marmorurne mit der Inschrift: „Femina sexu, ingenio vir“ widmete, die Verehrerin Klopstocks, war kurz vorher gestorben, Prinzessin Luise als Gemahlin des Herzogs Karl August nach Weimar abgegangen. Aber ein Kreis interessanter, gebildeter und gemütvoller Männer und Frauen fand sich dort zusammen. Herder hatte sich dort seine begabte, edle Gattin Karoline Flaxland geholt; Goethes, des genialen jungen Wanderers, anregende Besuche aus dem benachbarten Frankfurt, wirkten noch nach; sein merkwürdiger Freund und Berater, der verstandesscharfe Weltmann und Literaturkenner Kriegsrat Merck, wohnte in Darmstadt. Und doch akklimatisierte sich der Wandsbecker Bote nicht in der rheinischen Ebene.

Sein amtlicher Wirkungskreis war von vornherein zu unbestimmt und schwebte, obwohl es hauptsächlich auf Bildung des Volkes, Verbesserung des Landbaues, Hebung des materiellen und sittlichen Wohlstandes, also auf sehr praktische Ziele, abgesehen war, zu sehr in der Luft, als dass ein Mann von so wenig praktischer Begabung und geschäftlicher Gewandtheit wie unser Freund etwas daraus hätte machen können. Die wohlgemeinten Reformplane seines in Hessen landfremden Gönners Moser waren zwar im Geistes der Zeit christlich-philanthropisch gedacht, erwiesen sich aber in der Durchführung ziemlich utopisch; sie waren im Sinn ihres Urhebers volksfreundlich gemeint, wurden aber durchs aus nicht volkstümlich, stießen vielmehr, weil sie den geschichtlich gewordenen, faktisch bestehenden Verhältnissen des Landes zu wenig Rechnung trugen und zu herrisch und rücksichtslos durchgeführt wurden, auf erbitterten und zähen Widerstand. Welches Rad in dieser Volksbeglückungsmaschine eigentlich Claudius persönlich zu treiben hatte, wissen wir nicht; vielleicht wusste er es selber nicht recht; vielleicht wussten es nicht einmal seine Vorgesetzten genau. Am besten jedenfalls passte für ihn und passte er für die vom Anfang des Jahres 1777 ihm übertragene Redaktion der Hessen-Darmstädtischen privilegierten Landeszeitung, die er im Geiste des Wandsbecker Boten durch volkstümlichen Ton, belehrende Mitteilungen, moralische Erzählungen, Poesie und Humor zu würzen suchte und mit welcher er in und außerhalb des Landes viel Beifall fand. Aber trotzdem wurde ihm nicht wohl. Er fühlte sich nicht an seinem Platz. Vertriebliche Kollisionen mit einzelnen seiner Vorgesetzten und Kollegen blieben nicht aus. Zwischenträgereien trübten selbst sein Verhältnis zu seinem aufrichtigen Freund und Gönner v. Moser. Und als er vollends im März 1777 in eine ernste Krankheit fiel, war sein Entschluss zur Heimkehr gefasst, den er hauptsächlich mit der für ihn und die Seinigen ungesunden Darmstädter Luft zunächst buchstäblich gemeint, aber auch figürlich geltend begründete.

Moser selbst spricht den Ärger über sein rasches Abbrechen noch einige Jahre hernach in den herben Worten aus: „Seine herzliche und populäre Schreibart schien die Erwerbung eines solchen Mannes bei einer Anstalt schätzbar zu machen, wo so wenig auf Befehl und so viel auf Überzeugung ankommt. Er war aber zu faul, mochte nichts tun, als Vögel singen hören, Klavier spielen und spazieren geben, konnte die hiesige Luft nicht vertragen, fiel in eine tödliche Krankheit und ging von selbst zu seinen Seekrebsen wieder zurück.“ Mehr Gerechtigkeit lässt ihm eine Klageschrift der Feinde Mosers gegen den allmächtigen Minister und seine Landeskommission widerfahren, worin es heißt: „Des Herrn Landgrafen Hochfürstliche Durchlaucht werden mit lauter Träumen von hergestelltem Kredit, Wohlstand der Kassen und des Landes unterhalten und das ganze herzige Publikum mit Zeitungsnachrichten hintergangen, des Endes sogar eine neue Landeszeitung angelegt und ein eigener Zeitungsschreiber bestellt, um die Landeskommissionslügen gegen jährliche Besoldung von 800 Gulden durch schöne Einkleidung recht wahrscheinlich zu machen. Es war der bekannte Claudius, ein ehrlicher Mann, der eben deswegen wieder wegging und sich’s zur Ehre seines Herzens machte, lieber jährlich 800 Gulden zu entbehren, als solche durch Windbeutelei zu verdienen.“

Mit einem Reisegeld, das Herder, nunmehr Oberhofprediger in Weimar, ihm von der edlen Herzogin Luise dort verschaffte, kehrte Claudius heim unter sein trautes Wandsbecker Dach. Es mochte ihm ums Herze sein wie dem Psalmisten, da er sang: „Unsere Seele ist entronnen wie ein Vogel dem Strick des Voglers; der Strick ist zerrissen und wir sind los.“ Und auch das andere Psalmwort ging nun an ihm in liebliche Erfüllung: „Der Vogel hat ein Haus funden und die Schwalbe ihr Nest, da sie Junge hecken.“

Die Lehrjahre sind nun überstanden, auch die Wanderjahre sind vorüber, die Meisterjahre beginnen. Was er nicht konnte, hatte er jetzt erfahren, was er konnte, das übte er von nun an immer besser. Sein äußeres und inneres Leben hatte nach unstetem Umhertasten in der Ferne, wobei ihn sein offenes Herz, sein argloses Gemüt, seine Anbekanntschaft mit sich selbst und der Welt mehr als einmal irregeführt, das ruhige Geleise gefunden, in dem er seine Eigenart walten lassen und mit dem ihm anvertrauten Pfunde wuchern konnte, sich selbst zum Behagen, seinem Volke zum Segen.

Im Schoße seiner blühenden Familie, im Kreise alter und neuer Freunde flossen ihm glückliche Jahre und Jahrzehnte dahin. Fünf Mädchen nach einander wurden ihm geboren, denen erst an sechster Stelle 1783 der langersehnte „Dauphin“ folgte, den er schon jahrelang voraus launig besungen hatte. Sodann aber folgten noch eine Tochter und vier weitere Söhne.

Dabei hat das Haus immer offene Türen für Freunde von nah und fern.

Ein Jahr lang ist Joh. Heinr. Voss mit seiner jungen Frau der traute Hausnachbar und Hausfreund; es war ein idyllisches Zusammenleben beider Haushaltungen, bei einfachster Lebensweise gewürzt durch Gemüt und Phantasie, Genügsamkeit und Humor. „Abends“, erzählt Ernestine Voss, „waren wir häufig mit Claudius zusammen, und in dem Haus, wo nach vorhergegangener Untersuchung das meiste Essenswürdige sich fand, ward die Tafel gedeckt. Eine bedeutende Rolle spielte ein Stück kaltes Pökelfleisch oder ein Karpfen, den man vom Fischer im Schlossgarten selbst aus dem Teiche heben sah und ins Schnupftuch gebunden nachhause trug. Wenn Claudius bei uns war, hatte er immer seine älteste Tochter mit einem Kreuzgürtel auf den Rücken gebunden; die ward dann in unser Bett gelegt, bis sie wieder heimgingen.“

Die beiden ältesten Söhne von Fritz Jacobi, einen acht- und einen zehnjährigen Knaben, hatte Claudius zwei Jahre lang bei sich zur Erziehung. Als Jacobi im Sommer 1780 dieselben abzuholen kam, machten die Väter zu gegenseitiger Freude ihre persönliche Bekanntschaft. „Der Wandsbecker Bote“, schreibt Jacobi, „hat in jeder Beziehung meine Erwartung übertroffen. Er ist ein wahrer Bote Gottes, sein Christentum so alt als die Welt. Übrigens erscheint er im Leben ganz so wie in seinen Schriften: erhaben nur insgeheim, voll Scherz und Schalkheit im öffentlichen Umgang.“

Auch Schönborn, Lessing, Campe, Sophie v. La Roche u. a. kehrten ein. Mit dem benachbarten Adel, den hochgebildeten und edelgesinnten gräflichen Familien v. Schimmelmann, Reventlow, Stolberg wurde ein herzlicher Verkehr, brieflich und persönlich, gepflogen. Mit entlehntem Geld kaufte Claudius 1781 ein eigenes Haus; hinter demselben Hof, Garten und Wiese, die sich bis zum Wandsbecker Gehölz erstreckte. Da entfaltete sich ungehemmt jenes in Gott fröhliche Familienleben mit den selbsterfundenen Festen, wovon er in einem Brief an Andres schreibt: „Du weißt, dass in jeder gut eingerichteten Haushaltung kein Festtag ungefeiert gehalten wird und dass ein Hausvater zulangt, wenn er auf eine gute Art und mit einigem Scheine des Rechts einen neuen an sich bringen kann.“

Auch die Nahrungssorgen wurden mit der Zeit beseitigt durch die Großmut des Kronprinzen – Mitregenten von Dänemark – den Claudius im Jahr 1787 im Hinblick auf seine acht Kinder um irgendeine Stelle mit sicherem, wenn auch bescheidenem Einkommen bat.

Gewitzt durch frühere Erfahrungen, sagt er in der Bittschrift: „Wenn es mir auch erlaubt sein würde, so wüsste ich nicht zu sagen, wozu ich eigentlich geschickt bin, und ich muss Ew. Königl. Hoheit untertänig bitten, dass Sie gnädigst geruhen, ein Machtwort zu sprechen und zu befehlen, wozu ich geschickt sein soll.“ Durch Graf Schimmelmanns Vermittlung bekam er die Stelle eines ersten Revisors der Schleswig-Holsteinischen Bank zu Altona mit einem Gehalt von 800 Rthlr., der Ermächtigung, in Wandsbeck zu wohnen, und der einzigen Verpflichtung, alljährlich im Herbst der Rechnungsrevision im nahen Altona beizuwohnen.

Im Verlauf der Zeit allerdings warf auch der Ernst des Lebens seine Schatten herein in den patriarchalischen Frieden des Hauses. Am politischen Horizont stiegen die Sturmwolken der französischen Revolution herauf und entluden ihre Gewitterschläge. In Hamburg und auf den benachbarten Edelsitzen wimmelte es von Emigranten. Dumouriez, Lafayette u. a. siedelten sich auf kürzer oder länger an. Auch im Claudiusschen Freundeskreise spürte man die Erschütterung. Die politischen Anschauungen schieden sich. Die heroischeren Naturen, wie Klopstock und Voss, jubelten, vom süßen Most der jungen Freiheit trunken, der Revolution zu, bis sie, durch ihre blutigen Orgien ernüchtert, sich mit Abscheu abwandten. Die zarteren und bedächtigeren Gemüter, unter ihnen Claudius, Stolberg, Jacobi, sahen in dem großartigen Drama der Revolution von vornherein fast lediglich ein finsteres Spiel dämonischer Mächte, eine frevelhafte Auflehnung gegen göttliche wie menschliche Ordnung. Claudius insbesondere, so freimütig er auch den Großen die Wahrheit sagt:

„Gut sein! gut sein! ist viel getan,
Erobern ist nur wenig;
Der König sei der bess’re Mann,
Sonst sei der Bess’re König!“

und so sehr er sich als Mann des Volkes und Freund des Volks fühlt: so entschieden tritt er aller falschen, zügellosen Freiheit gegenüber. Ein politischer Blick oder ein geschichtsphilosophischer Standpunkt liegt ihm fern. Ein patriarchalisches Verhältnis zwischen Fürst und Volk ist sein Ideal. Und von dieser Anschauung aus verstehen wir ebenso seine zürnende „Klage“ über die Pariser Gräuel von 1793, wie seine „Fabel“ von 1795 gegen die von Struensee in Dänemark eingeführte Pressefreiheit. Im Tierreich kommt man um Abschaffung des Zensors Brummelbär ein. König Löwe genehmigt das Gesuch. Aber nun ziehen sich die edleren Bestien, überschrieen vom Tierpöbel, zurück. Da schüttelt der Löwe das Haupt:

„Ich rechnete aus angestammtem Triebe
Auf Edelsinn und Wahrheitsliebe
Sie waren es nicht wert, die Sudler klein und groß,
Macht doch den Bären wieder los !“

Freund Voss freilich ließ dagegen ein herbes Streitgedicht los: „Der Kauz und der Adler. Keine Fabel.“ Ein Kauz verklagt beim König Adler den Hahn als Trompeter der Aufklärung und begehrt den Uhu zum Zensor.

„Der Adler tat, als hört er’s nicht,
Und sah ins junge Morgenlicht.“

Kant erachtete das Vossche Epigramm „einer Hekatombe wert“.

Auch innerhalb seiner vier Wände blieb dem biederen Boten das Hauskreuz nicht erspart. Wohl war sein Familienleben im ganzen ein in Gott gesegnetes und in Gott vergnügtes. Mit welch dankbarer Freude er am Tage seiner silbernen Hochzeit, am 15. März 1797, auf ein fünfundzwanzigjähriges Eheglück zurückblickte, spricht er rührend seiner Rebekka aus:

„Ich habe Dich geliebet und Dich will ich lieben,
So lang Du, goldner Engel, bist,
In diesem wüsten Lande hier und drüben,
Im Lande, wo es besser ist!“

Wie wohl denen ward, die unter seinem Dach einkehrten und ihn da walten sahen, die kaum mittelgroße Gestalt im bequemen Hausrock, mit dem treuherzigen, durch eine gebogene Nase und hervortretende Unterlippe ausdrucksvollen Gesicht, dem schlicht rückwärtsgestrichenen, von Kamm zurückgehaltenen Haar und den strahlenden blauen Augen, und die seinem meist plattdeutsch geführten, bei allem sanften Ernst harmlos-heiteren Gespräche lauschten, das spricht nach einem Besuche bei ihm der Generalsuperintendent Ewald in Detmold aus: Was man auch von seinen religiösen und politischen Meinungen sagen mag, der Mann ist kein anderer geworden. Er hat keinen finsteren Blick bekommen, ist allen Menschen herzlich gut, ein braver Gatte, Vater, Freund und Mensch. Er lacht herzlich über manche Dinge, worüber sich viele unserer Toleranz- und Humanitäts- und Stoizismusprediger halbtot ärgern würden.“

Ein gesundes praktisches Christentum waltete im Hause. Elterliche Autorität und kindliche Pietät, aber dabei unbefangene Bewegung nach der Individualität jedes Einzelnen, Gebet und Bibellektion die Weihe des Tages, aber darum keine Spur einer trübseligen und engherzigen Frömmelei.

Die Söhne unterrichtete der Vater selbst in Sprachen und Realien, mehr anregend zu eigenem Studium als streng methodisch. Neben der deutschen Literatur, wo „Stillings Leben“, Pestalozzi’s „Lienhard und Gertrud“, „Reineke Fuchs“ Lieblingsbücher waren – wurde Englisch, Französisch, sogar Spanisch getrieben. Auch mit der Astronomie beschäftigte man sich gern. Musik übte alt und jung. Der Vater selbst war ein fertiger Klavierspieler, die Töchter sangen, die Söhne lernten verschiedene Instrumente; Bachs, Händels, Mozarts, Reichardts Melodien durchklangen das Haus.

Doch wurde es allmählich stiller. Vier Söhne nach einander bezogen die Hochschule, drei zum Studium der Theologie; zwei Töchter verheirateten sich, Karoline mit dem Buchhändler Friedrich Perthes, Anna mit dem Arzte Max Jacobi, einem Sohn des alten Herzensfreundes, auf französischem Boden, in der Nähe von Aachen. Nach der Geburt ihres ersten Kindes schreibt der Großvater an Gräfin Katharina Stolberg: „Die kleine Republikanerin trinkt und speit, als wenn sie in einem wohlgeordneten Staat lebte. Aber bei alledem verheirate ich doch keine Tochter mehr nicht allein nach keiner entfernten Republik, sondern nach keinem entfernten Lande. Die Entfernung ist ein halber Tod.“

Auch der ganze Tod trat schmerzlich in sein Haus und an sein Herz. Besonders nahe ging ihm der Verlust seiner zweiten Tochter Christiane, die mit 20 Jahren am Nervenfieber starb. Ihr sang er das rührende Lied nach, das in des „Knaben Wunderhorn“ aufgenommen ist: „Es stand ein Sternlein am Himmel“, sowie das andere: „Bei ihrem Grabe“.

Unter solch ernsten Erfahrungen des äußeren Lebens, verbunden mit dem Einfluss der vorrückenden Jahre, vertiefte sich je mehr und mehr auch das innere Leben des Mannes. Sein religiöser Standpunkt wurde fester und bestimmter. Von einem gemütseligen Gefühlschristentum kommt er immer entschiedener zum positiven Bibel- und zum lutherischen Kirchenglauben. Während er einst auf Lessings Seite gegen den Hauptpastor Göze gestanden hatte, bekämpft er nun immer eifriger nicht nur die flache Aufklärung der Zeit, sondern auch den Kantischen Rationalismus, dem er es nicht verzeihen konnte, dass er das biblische Christentum zu Vernunftideen verflüchtige und die höchsten Wahrheiten des Glaubens, Gott, Unsterblichkeit, Vergeltung, zu bloßen Hilfsideen für die praktische Vernunft herabsetze. Freilich vermochte er trotz der Aufklärungen, die er sich von Freund Jacobi über Kants System erbat, dasselbe philosophisch weder recht zu begreifen noch gerecht zu würdigen.

Um eine gewisse Wendung, wenn auch keineswegs eine Umkehr in Claudius innerem Leben zu bemerken, darf man nur die späteren Teile des Wandsbecker Boten, vom vierten an, mit den früheren vergleichen. Der Ton wird, wie die Gegenstände der Besprechung, ernster. Theologische, philosophische, mystische, erbauliche Schriften beschäftigen den Verfasser, wie Plato, Spinoza, Tauler, Jakob Böhme, Pascal, Fenelon und besonders Luther. Der ästhetische Gesichtspunkt tritt hinter die sittlich-religiöse Tendenz, Scherz und Humor hinter ernste, manchmal trübe Betrachtungen und polemische Artikel mehr und mehr zurück, wenn auch des Verfassers harmlose Laune und gutmütige Weitherzigkeit sich nie ganz verleugnet. Wie er seine Mission nunmehr auffasst, spricht er am deutlichsten und liebenswürdigsten aus im Vorwort zum siebenten Teil seiner Werke vom Jahre 1802: „Es stehet nur wenigen an, dies große Thema [des Christentums] zu dozieren; aber auf seine Art und in allen Treuen aufmerksam darauf zu machen; durch Ernst und Scherz, durch gut und schlecht, schwach und stark und auf allerlei Weise, an das Bessere und Unsichtbare zu erinnern und … durchs Faktum zu zeigen, dass man nicht ganz und gar Ignorant, nicht ohne allen Menschenverstand und [doch] ein rechtgläubiger Christ sein könne; das steht einem ehrlichen und bescheidenen Manne wohl an, und das ist am Ende das Gewerbe, das ich als Bote zu bestellen habe.“

Es konnte nicht fehlen, dass auf dem schmalen Wege, den er seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts immer entschiedener einschlug, nicht nur ein Teil seiner früheren Leser, sondern auch manche der alten Jugendgenossen sich von ihm lossagten. Der grundbrave, aber stockrationalistische, psychisch wie physisch hartknochige Voss schreibt schon 1785: „Claudius versinkt immer tiefer in den grundlosen Morast, der ihm ein Paradies scheint“; doch blieb das persönliche Verhältnis leidlich, wie auch die Freundschaft mit Stolberg durch dessen Übertritt zum Katholizismus bei Claudius keineswegs erschüttert wurde. Desto entschiedener wandte sich Goethe ab. Aus dem Gärungsprozess seiner Sturm- und Drangperiode hatte er sich zur ruhig klaren Klassizität durchgearbeitet und stieß nun was ihm auf diesem Weg in die Quere kam mit einem Widerwillen, ja einer Schroffheit ab, die sich erst im vorrückenden Alter, auf dem Standpunkt von „Wahrheit und Dichtung“, zu mildem Geltenlassen abklärte.

Bekannt ist, wie herb er in jener Periode seines „Julianischen Christenhasses“ den früheren Herzensbruder Lavater beurteilte. Nicht sehr viel glimpflicher kommt Claudius weg, wenn auch ihm gegenüber die Antipathie wie die Sympathie weniger lebhaft hervortritt, weil ein näheres persönliches Verhältnis nie bestanden hatte. Schon in den italienischen Briefen an Herder nennt ihn Goethe „einen Narren, der voll Einfaltsprätensionen stecke“. Noch kälter als Goethe stand ihm Schiller mit seinem sittlich-vornehmen Pathos und seinem selbstbewussten Kantianismus gegenüber. Als die beiden Olympier ihre Xenienblitze ausstreuten, kam denn auch Claudius nicht ungestreift weg. Goethe widmete ihm mit Bezug auf seine Übersetzung von St. Martins „Erreurs et verité“ das Epigramm:

„Irrtum wolltest du bringen und Wahrheit, Bote von Wandsbeck:
Wahrheit sie war dir zu schwer, Irrtum den brachtest du fort.“

Des Boten Repliken gehörten wenigstens nicht zu den allerschlechtesten im famosen Xenienstreit. Unter anderen travestierte er zwei bekannte Distichen von Goethe und Schiller. So mit Bezug auf Goethes „Eislauf“:

„Der berühmte Almanach.“

„Fallen ist der Sterblichen Los. So fällt hier der Schiller
Wie der Meister, doch stürzt dieser gefährlicher hin.“

Sodann:

Das Distichon.“

„Im Hexameter zieht der ästhetische Dudelsack Wind ein;
Im Pentameter drauf lässt er ihn wieder heraus.“

Wird aber so sein literarischer Weg allmählich einsamer, zumal nachdem die ältesten Freunde und Gesinnungsgenossen, ein Hamann, Klopstock, Herder weggestorben, so sammeln sich um den alternden Boten, abgesehen von einem getreuen Leserkreis in allen Ständen, der statt des ästhetischen Genusses sittliche Belehrung und religiöse Erbauung bei ihm sucht, in Anerkennung seiner christlichen Richtung wie seiner eigenartigen Persönlichkeit auch tüchtige jüngere Geister, die verehrend zu ihm aufblicken, wie Schelling, Steffens, Schubert, Franz Baader, Friedr. Schlegel, Seiler, Neander, Runge, Overbeck u. a. Und so steht er mit seinem christlichen Laienevangelium nicht nur in der Periode des herrschenden Rationalismus als ein unerschrockener Prediger in der Wüste da, sondern er gehört auch zu den ehrwürdigen Propheten und Vorläufern des mit den Befreiungskriegen im deutschen Vaterland neu erwachenden christlich-germanischen Geistes, und das Morgenrot dieser besseren Zeit umleuchtet ihm noch vor seinem Scheiden verklärend das greise Patriarchenhaupt. Freilich nicht ohne dass er von den vorangebenden Stürmen noch hart mitgenommen wurde. Die Napoleonische Gewaltherrschaft lastete schwer auf seiner treuen deutschen Seele, und tief ging es ihm zu Herzen, seinen geliebten Landesvater und gnädigen Wohltäter, den König von Dänemark, unter dem Zwang der politischen Verhältnisse gegen Deutschland stehen sehen zu müssen. In seinen eigenen Familienkreis griff der furchtbare Ernst der Zeit herein, indem sein Schwiegersohn, der patriotische Friedrich Perthes, im Frühjahr 1813, als Marschall Davoust den russischen Obersten v. Tettenborn aus Hamburg vertrieb, nur durch schleunige Flucht der Gefangenschaft und dem drohenden Schicksal eines Palm, dem schimpflichen Rebellentod, entging. Und dem alten Mann selber, dem 73jährigen Boten, ging die Not an den Leib, als er im Sommer jenes Jahres vor dem Kriegssturm aus der trauten Wandsbecker Heimat flüchten musste, um in Kiel, später in Lübeck, eine Zuflucht zu suchen. „Wir sind hier so weit wohl“, schreibt er von dort, „wir haben ein kleines Stübchen, darinnen ein Bett und Kanapee stehen, dann aber auch so wenig Raum ist, dass ein Mensch sich kaum umwenden kann. Wir kochen selbst Grütze und Kartoffeln, nur ist die Feuerung überteuer. Aus der Zeitung werdet ihr erfahren haben, dass Wandsbeck in der Alliierten Hände ist. Fritz ist dort und hält Haus und hat die Ruh verkauft. Im Keller sieht es aus wie vor der Schöpfung, wüste und leer.“

Doch durfte er noch den Tag der Befreiung erleben und auf heimischem Boden sterben. Im Mai 1814 konnte er in sein von Franzosen und Russen hart mitgenommenes Wandsbeck zurückkehren und feierte dort inmitten der Seinigen am 15. August den letzten Geburtstag. Aber seine Kraft war gebrochen, die Beschwerden des Alters lasteten schwer auf seinem zart gebauten Körper. Als sich sein Zustand verschlimmerte, zog er auf dringende Bitten mit der Mutter Rebekka zu seinen Kindern Perthes nach Hamburg, um dem Arzt näher zu sein. „Papa ist müde und matt“, schrieb Karoline nach seiner Ankunft, doch können wir Gott nicht genug danken, dass er so leidensfrei ist. Er ist so ruhig und freundlich, ja man möchte sagen vergnüglich, dass ich aus Freude darüber den Schmerz, der in mir ist, nicht zu Worte kommen lasse.“

Sanft entschlief er am 21. Januar 1815. Nachmittags 2 Uhr ließ er sich auf eine Seite legen und den Schweiß abtrocknen, sagte einige Mal: „Gute Nacht, gute Nacht!“ – schlug noch einmal die Augen groß und hell auf, blickte segnend nach seiner Rebekka, tat drei starke Atemzüge und verschied.

Noch 17 Jahre überlebte ihn die treue Gefährtin. Sie starb 1832, in einem Jahr mit den alten Freundinnen Ernestine Voss und Katharina Stolberg. Er selber ward begraben zu Wandsbeck, wo seine Leiche noch einmal vor dem alten trauten Wohnhaus niedergesetzt, dann in die Kirche und von da auf den Friedhof gebracht und neben der vorangegangenen Tochter Christiane beigelegt wurde. Ein gusseisernes Kreuz mit der Inschrift Joh. 3, 16: „Also hat Gott die Welt geliebt usw.“ bezeichnet jetzt seine Ruhestatt. Am hundertjährigen Gedenktag seiner Geburt, 15. August 1840, wurde dem heimgegangenen Boten im Wandsbecker Gehölz ein granitener Gedenkstein errichtet mit Stab, Hut und Tasche, wobei sein ältester Enkel, Matthias Claudius, Worte der Weihe sprach.

Kilian

Unter den Männern gesegneten Andenkens, welchen Deutschland nächst Gott das Kleinod des Evangeliums verdankt, nimmt der h. Kilian eine ehrenvolle Rolle ein. Der Schauplatz seiner Missionsthätigkeit, welcher mit seinem Blute befeuchtet und fruchtbar gemacht wurde, war besonders der jetzige unterfränkische Kreis Bayerns, ein Landstrich lieblich und blühend, wie nur einer im deutschen Vaterlande, reich an Weinbergen, Obstgärten und wogenden Kornfeldern und belebt durch den silberbellen, schiffbaren Main, welcher in weiten Krümmungen das Land durchströmt. Diese Gegend gehörte in alten Zeiten zu den Stammsitzen der urdeutschen, suevischen Hermunduren, die von den Gestaden der Donau bis in die Gegend von Magdeburg wohnten und später in der Geschichte unter dem Namen der Thüringer auftraten. Ihr großes Reich wurde in der ersten Hälfte des 6ten Jahrhunderts durch den Frankenkönig Theodorich mit Hilfe der Sachsen zerstört und hierauf alles Land südlich der Unstrut dem großen Frankenreiche einverleibt. Als jedoch Slaven und Avaren den Verfall der thüringschen Macht benützten, um westlich vorzudringen und erstere sich am Maine und der Rednitz festsetzten, stellte der Franke Dagobert ein Herzogthum Thüringen nördlich und südlich des thüringschen Waldgebirges wieder her und gab ihm eigene Volksherzoge. Der erste derselben war Aruobo oder Radulf, welchem sein Sohn Heban I. folgte. Einen jüngeren Sohn des letztern, Gogbert, finden wir auf dem herzoglichen Stuhle zur Zeit, da Kilians Wirksamkeit im Lande beginnt.

Das Volk war zahlreich, ein starkes, freiheitgewohntes Geschlecht von Jägern und Kriegern, aber noch überall bedeckt von heidnischer Finsternis. In dem Schlosse zu Würzburg, (jetzt Festung Marienberg) wo der Herzog residierte, war zugleich das Heiligthum einer weiblichen Gottheit, die vom Volke weit und breit verehrt wurde. Diana, die Göttin der Jagd, heißt sie bei den Alten; es wird aber wohl die Frau Holda der Deutschen gewesen sein. Zwar finden sich schon, wenn anders der Sage zu trauen ist, einzelne Spuren des Christenthums, wie Lichtstrahlen in dichter Finsternis, etwas vor Kilian. Zu Hollheim am Maine soll ein angesehener Mann, Iberius mit Namen, nebst seiner Gattin Mechild, als Christ gelebt haben; dessen Tochter Bilibild wurde, der Sage nach, bei einem Einfalle der Hunnen, welche Deutschland öfters verheerten, in zarter Jugend nach Würzburg geflüchtet und dort im Christenthume erzogen. Später wurde sie die 2te Gemahlin des schon erwähnten Herzogs Hedan I. Allein die Geschichte der Bilibild ist sehr dunkel und zweifelhaft. Möglich wäre einige Bekanntschaft mit dem Christenthume in unsrem thüringschen Herzogthume allerdings gewesen, da es ja zu dem großentheils schon christlichen Frankenreiche gehörte und da Kriegszüge im Heergefolge der Franken auch in christliche Gegenden führen konnten. Kilian fand nur Heidenthum vor. Der Weg des Lebens war unbekannt. Doch war jetzt die Zeit gekommen, wo Gott sein Licht auch den in Finsternis und Todesschatten sitzenden Thüringern erscheinen lassen und ihre Füße auf den Weg des Friedens richten wollte.

Sein erstes Werkzeug hiezu, Kyllena, oder, wie den Deutschen der Name mundgerechter war, Kilian, war gegen die Mitte des siebenten Jahrhunderts n. Chr. (a. 640) in einer angesehenen Familie in Irland geboren, in jener Insel also, welche sich lange Zeit hindurch ebensowohl durch ihr treues Halten an einem ursprünglichern und reinern Christenthume, wie durch ihren regen Missionseifer auszeichnete. Von seiner Jugend wissen wir nicht viel. Die Mönche des Mittelalters, welche zu ihrer Zeit fast allein die Feder geführt und uns Aufzeichnungen hinterlassen haben, gefielen sich in Ausschmückungen des Lebens der Heiligen Gottes; spätere Erzähler wußten immer mehr, als die früheren, sehr vieles tragt offenbar das Merkmal der Erdichtung an sich und dadurch ist die zuverlässige Geschichte der Heiligen leider! sehr verdunkelt worden. Wir müssen das sogleich von vorn herein bemerken. Wenn jedoch berichtet wird, daß Kilian schon von Jugend auf sich stark zum Studium der 1. Schrift hingezogen fühlte, daß er von seinen Eltern, einem Kloster zur Erziehung anvertraut wurde, weil damals die Klöster allein die Stätten einer höheren Bildung waren, daß hier im Kloster das Wort des Herrn Luc. 9, 23. (wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach,) ihn traf und den Wunsch in ihm rege machte, seinem Gotte und Heilande an den Heiden zu dienen, so ist dagegen wohl nichts aus innern oder äußeren Gründen einzuwenden. Mit mehrern Begleitern verließ Kilian Vaterland, Freundschaft und irdischen Besitz und erschien als Bote des Evangeliums in der Maingegend um Würzburg. Unter seinen Gefährten werden besonders die Priester Solonat (Colomann), Gallo und Arnwal und der Diacon Totnan (Donatus) genannt. Die Gegend ist schön, fruchtbar und stark bewohnt, das Volk kräftig an Leib und Seele, nur die allenthalben herrschende heidnische Blindheit betrübt die Missionare tief. Hier glaubt also Kilian die Stätte seiner künftigen Wirksamkeit gefunden zu haben. Doch ehe er wirklich mit der Arbeit beginnt, – erzählen nun unsere Berichterstatter aus dem Mittelalter, reist er zuvor nach Rom, um vom Papste sich Vollmacht zu seiner Missionsthätigkeit geben zu lassen. Statt des Papstes Johannes, den er auf dem Stuhle zu Rom vermuthet, trifft er den Papst Conon, wird von diesem, welcher Kilians Hingabe und Tüchtigkeit leicht erkennt, freundlich aufgenommen, mit der gewünschten Vollmacht begabt und wieder nach Würzburg zurückgesendet. Allein diese Romfahrt eines Briten, wie Kilian war, ist nicht sehr wahrscheinlich und muß dahin gestellt bleiben. Wäre die Angabe über diese Reise richtig, so würde sich hienach Kilians Ankunft zu Würzburg für das Jahr 686 und der Beginn seiner Arbeit für 687 bestimmen lassen.

Kilian durchzog nun das Land am Main mit der Predigt von Christo, (der Sage nach bis auf die Höhen des Rhöngebirges,) treulich unterstützt von seinen Gefährten Golonat und Totnan. Eine alte, überaus treuherzige Lebensbeschreibung unsres Heiligen erzählt: Kilian lehrt aus dem Evangelium Gottes, wie Gott vergeblich (aus Gnaden) um seines Sohnes willen uns die Sünde verzeihe, wie ein gnädigen, gütigen Gott wir hätten, was Barmherzigkeit er uns bewiesen; daneben ließ er auch nicht unangezeigt den Zorn Gottes, der so gar wider die Sünder ergrimmet, strafet dabey die Sünd und warnet die Sünder, verschonet Niemands, Hohem und Niederm zeigt er die Wahrheit an und den rechten Weg des Lebens.“ Gott gab Gnade, daß Vieler Herzen für die Predigt von dem allein wahren Gotte und Heilande aller Menschen geöffnet wurden. Auch der Herzog Gozbert hörte von dem heiligen Manne und seinen gewaltigen Worten, ließ ihn zu sich rufen, unterredete sich mit ihm und siehe! auch der Herzog wird vom Evangelium überwunden, wird ein Christ und läßt sich taufen. Welche Aussicht eröffnet sich nach solchem Vorgange für die Bekehrung des ganzen thüringschen Volkes! Doch ein Umstand trübte bei Kilian die Freude und mischte in die Hoffnung bange Besorgnis: Gozbert war mit der Witwe seines älteren Bruders verehelicht, und eine solche Ehe war nach den Ansichten Kilians und seiner Zeit unstatthaft. Auch Corbinian in Freisingen hatte aus ähnlicher Ursache schwere Kämpfe zu bestehen. Den Glaubenszeugen jener frühen Zeit mochte das Vorbild Johannis des Täufers vorschweben, welcher zu Herodes sprach: es ist nicht recht, daß du deines Bruders Weib hast! Matth. 14, 4. Dabei übersahen sie etwa, daß doch der Fall mit Herodes ein anderer war, denn Herodes hatte seines noch lebenden Bruders Philippi Weib, nicht des Verstorbenen Witwe zur Gattin. Freilich suchte jene Zeit schon Ehen unter Verwandten auf jede Weise zu beseitigen und gab dem freien Geiste des Evangeliums überhaupt schon eine gesetzliche Richtung. Daß auch Kilian von den Einflüssen seiner Zeit nicht frei war, darf uns nicht Wunder nehmen, denn auch die Heiligen Gottes sind und bleiben irrthumsfähige Menschen, so lange sie im Thale der Schwachheit wandeln. Um so ehrwürdiger muß uns die Gewissenstreue erscheinen, mit welcher er selbst das Leben auf das Spiel setzte, um zu thun, was er für recht und gut hielt und was er nicht unterlassen zu dürfen glaubte.

Eine Zeit lang schwieg Kilian, um den Herzog erst in christlicher Erkenntnis wachsen und in Liebe und Hingebung an das ihm gepredigte Wort stärker werden zu lassen. Endlich hielt Kilian die Zeit für gekommen, da er hoffen durfte, einen günstigen Eindruck auf den Herzog zu machen und ihn zur Trennung von seiner Gemahlin bewegen zu können. Er redete mit christlichem Freimuthe. Der Herzog erschrak, er kämpfte einen schweren Kampf mit sich selbst, aber er siegte endlich, denn er erbot sich, auch das Liebste, was er besaß, dem Herrn zu opfern. Ehe jedoch die Trennung vollzogen werden konnte, wurde Gozbert durch dringende Geschäfte abgerufen und nun war Kilian mit seinen Genossen der Rache des erzürnten Weibes preis gegeben. Geilane, so hieß des Herzogs Gemahlin, war auf’s Höchste ergrimmt über die Gefahr, verstoßen zu werden, welche sie bedrohte und entschlossen, sich um jeden Preis in Ehe und Würde zu behaupten, zugleich sich an ihren vermeintlichen Feinden zu rächen. Sie erschrickt nicht vor blutiger That. Die heiligen Männer Kilian, Colonat und Totnan, ahnen, was ihnen bevorsteht und bereiten sich darauf vor, Gott auch mit ihrem Tode zu preisen. Freudig ohne Traurigkeit, andächtig ohne Furcht liegen sie Tag und Nacht dem Gebete und Lobe Gottes ob, die Märtyrerkrone erwartend. Da, unter ihren Gebeten, treten die von Geilane gedungenen Mörder Nachts in das Gemach, Kilian ermahnt seine Gefährten, die nicht zu fürchten, welche bloß den Leib, aber nicht die Seele vermögen zu tödten, und willig erleiden die frei den Tod durch das Schwert. Schnell, um jede Spur des Mordes zu vertilgen, werden die Leichname mit Kleidern, Crucifix und Büchern an der Stelle, wo die Unthat geschehen war, verscharrt. Als Todestag wird der 8. Juli 689 angegeben.

Die Sage fügt noch hinzu, daß dem Morde der heiligen Männer die Rache auf dem Fuße nachfolgte. Zwar als Gozbert zurückgekehrt war und nach seinen Lehrern fragte, antwortete Geilane trotzig: sie wisse nicht, wohin sie sich begeben hätten. Auch Kain hatte auf die Frage des Herrn: wo ist Dein Bruder Habel? erwidert: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Vielleicht wäre das Geschehene verborgen worden, wenn nicht einer der Mörder, von Gewissensqualen gepeinigt und fast wahnsinnig von Angst, die ihn verzehrte, unter allem Volke herumgelaufen wäre und sich selbst des Mordes der Heiligen angeklagt hätte. So kam das Gerücht hievon auch dem Herzoge zu Ohren. Dieser versammelte hierauf die Getauften, um zu berathen, was zu thun sei. Da trat einer der Anwesenden im heimlichen Einverständnisse mit Geilane auf und machte den Vorschlag: man möchte den Mörder der Banden entledigen und ihn allein der Bestrafung des Christengottes überlassen; sei dieser Gott wirklich allwissend, allmächtig und gerecht, wie Kilian gepredigt habe, dann werde er nicht verfehlen, seine gemordeten Diener zu rächen; geschähe das aber nicht, so sollte es ein Zeichen sein, daß der Christenglaube falsch sei und dann wollten alle wieder zum Dienste ihrer väterlichen Götter zurückkehren. Dieser Vorschlag gefiel der Versammlung. Allein kaum war der Gefangene freigelassen, als er in wahnsinniger Wuth sich selbst so zerfleischte, daß er auf der Stelle starb. Auch der andere Mörder soll sich mit einem Dolche getödtet haben und Geilane in einem traurigen Geisteszustande gestorben sein. Wir lassen diese und andre Berichte einer spätern Zeit dahingestellt und erwähnen nur noch, daß, so heimlich auch der Mord Kilians und seiner Genossen geschehen war, doch eine nicht weit von der Mordstätte wohnende christliche Matrone, Burgunda, etwas davon gemerkt hatte und auf diesem Wege später der Ort des Begräbnisses entdeckt wurde. Hier wurden die Gebeine der Knechte Gottes von dem ersten Würzburgischen Bischofe Burghard erhoben.

Obwohl Kilians Tod nach menschlichem Urtheile die Bekehrung des Volkes am Maine um mehr als ein Menschenalter verzögerte, so blieb doch der von ihm ausgestreute, mit seinem Blute gedüngte Same des Evangeliums nicht verloren. Die herzogliche Familie blieb dem Christenthume treu, denn Gozberts Sohn und Nachfolger Heban II. ist bis 716 als Erbauer einer Marienkirche auf dem Schlosse zu Würzburg und überhaupt als Wohlthäter der Kirche und ihrer Anstalten bekannt und dessen Tochter, Immina, führte erst auf dem Schlosse zu Würzburg, dann im Kloster zu Karlsburg ein stilles und frommes Leben. Ein solches Vorbild kann nicht ohne gesegnete Wirkung gewesen sein. Als der Apostel der Deutschen, Winfried oder Bonifazius im J. 719 zuerst nach den thüringschen Mainlanden kam, fand er wohl keinen eignen Herzog mehr vor, so daß anzunehmen ist, daß Heban II. und sein Sohn Thuring in einem Feldzuge des Franken Carl Martell umgekommen sein mögen, worauf der herzogliche Stuhl Thüringens nicht mehr besetzt wurde. Das Land im Süden des thüringschen Waldes, von nun an unmittelbar von den fränkischen Regenten des herrscht, änderte sogar jetzt den Namen und wurde seitdem Neu- oder Ostfranken genannt. Doch fand Bonifaz schon überall Anhaltspunkte für seine christliche Wirksamkeit und, wem sollten diese zu danken gewesen sein, als Kilian und seinen Gefährten? So geht es stets im Reiche Gottes: der Eine pflanzt, der Andre begießt, der Eine legt den Grund, der Andre baut darauf, Gott aber gibt das Gedeihen. Und an dem Gedeihen fehlte es im theuren Frankenlande nicht, seitdem durch die Stiftung des Bisthums Würzburg mit dem ersten Bischofe Burghard (741) eine feste kirchliche Ordnung eingerichtet war.

G. Brock in Auernheim bei Heidenheim in Mittelfranken.

Gerhard Tersteegen

Mit großem Wohlgefallen und mit herzlichem Danke gegen Gott sehen die Gläubigen auf diesen Mann, der uns so augenscheinlich zeigt, was das Christenthum in dem schwächsten Werkzeuge vermag, der durch ein edles, frommes, in Christi Nachfolge geführtes Leben als Muster aufgestellt werden darf und dessen Wirksamkeit in Wort, That und Schrift eine höchst bedeutende war, wie namentlich seine Lieder auch noch Tausenden zur Erbauung dienen. Möchte die Kirchengeschichte uns viele solcher Männer nennen können, und doch hat sie ihn bisher kaum der Erwähnung gewürdigt.

Gerhard Tersteegen wurde zu Moers in der Preußischen Rheinprovinz den 25. November 1697 geboren. Sein Vater war Kaufmann reformirter Confession, der bei seinem frühzeitigen Tode 1703 nicht soviel hinterließ, daß die Mutter den talentvollen Knaben, der schon in demselben Jahre in das später durch die Franzosen geschmälerte Gymnasium seiner Vaterstadt aufgenommen wurde, dem Studium der Theologie, wie Plan und Wunsch war, widmen konnte. Von seinen 7 Geschwistern wird uns nichts Erhebliches erzählt, sie starben alle früh, obwohl sie stark waren; der körperlich schwache Gerhard nahm sich der hinterlassenen Familie nach Kräften liebreich an und unterrichtete auch einige Kinder derselben, obwohl er von den Geschwistern wenig Liebe, ja wohl Verachtung erfahren hatte.

Nachdem Tersteegen die lateinische Schule besucht und sich besonders Kenntnisse in den alten Sprachen erworben hatte, wurde er zu einem Kaufmann in Mülheim an der Ruhr geschickt, bei welchem er die Lehrlingszeit aushielt. Die Sprachkenntnisse kamen ihm später zu Gute, und die nicht freundlichen vier Lehrlingsjahre waren für den phantasiereichen Jüngling eine heilsame Übungsschule. Nach Ablauf derselben und einigen fortgesetzten kaufmännischen Versuchen lernte er von einem frommen Leinweber dessen Handwerk und bald darauf, da dieses für seine Schwächlichkeit sich nicht eignete, das Seidenbandmachen, das er mehrere Jahre betrieb, bis er etwa 30 Jahre alt es aufgab, theils weil es ihm zu seinem Unterhalte nicht mehr nöthig war, theils weil er sonst genug und zwar wichtige Dinge zu thun hatte. Der Handwerker war nach gründlicher Erweckung ein tüchtiger Arbeiter im Weinberge seines Herrn und Heilandes geworden und in Seinem Dienste auch ein nicht unbedeutender Schriftsteller.

Er war von frommen Eltern erzogen, namentlich hatte die länger lebende Mutter großen Einfluß ausgeübt; in Mülheim wandte er sich immer mehr dem religiösen Leben zu, wobei ihm guter Umgang und Lektüre dienlich wurde. Bedeutenden Einfluß hatte der gleichfalls in Mülheim lebende Candidat der Theologie, Wilh. Hoffmann, der nie ein Amt bekleidete, in Erbauungsversammlungen aber auch außerhalb seines Wohnortes thätig war und befreundet mit dem bekannten Hochmann, in dessen Geiste, wenn auch stiller, wirkte, auch durch Schriften. Derselbe bestimmte ihn auch in den Übungen, wie damals die Versammlungen genannt wurden, zu reden, und erweiterte ohne Zweifel auch seine Kenntnisse in der hebräischen, lateinischen und griechischen Sprache; sie blieben Freunde bis zu seinem Tode 1746, auch in der letzten schmerzensvollen Zeit nicht getrennt, der eine durch Geduld und Glaubensmuth auch im Tode, der andre durch aufopfernde Liebe und Handdienste erquickend.

Tersteegen wurde durch Gottes Gnade früh erweckt; mannigfaltige zum Theil harte Verhältnisse förderten sein inneres Leben, er mußte durch Kämpfe hindurchgehen wie so viele Glaubenshelden, bis er endlich zu dem Frieden gelangte, den die Welt nicht geben kann und zu der festen Glaubensstellung, so daß er 1724 am Abende vor Charfreitag eine Verschreibung an seinen Heiland niederschreiben konnte, ihm treu zu sein bis an den Tod; er hat Wort gehalten und sein langes Leben hindurch einen weltüberwindenden Glauben bewährt. Christus war ihm das Leben und Sterben sein Gewinn. Wie Zinzendorf kannte er nur Eine Passion, die war sein Heiland. Von Ihm redete, schrieb er; in Mülheim war er der Seelenfreund Unzähliger, und dort wie an anderen Orten verehrten ihn viele als den, der sie zum Heiland geführt hatte. Tag und Nacht stand er seinen Mitmenschen zu Dienste. Er verstand auch einfache Arzneimittel zu bereiten, wobei er sich vorzüglich nach Richter in Halle richtete, und vertheilte sie unentgeltlich an Arme. Sie wurden von vielen begehrt und auch weithin verschickt. Trotz seiner geringen Mittel hatte er von jeher eine bedeutende Wohlthätigkeit ausgeübt und von seinem elterlichen Vermögen nichts behalten. Er lebte stets einfach und kannte den Genuß, Andre genießen zu lassen. Der arme Handwerker ging schon in frühen Jahren Abends, wenn er nicht bemerkt werden konnte, mit Gaben zu Armen und entzog sich was er andern schenkte, während so Viele mit den kleinen Gaben ihres großen Überflusses noch prunken und sie protokollieren lassen. Doch um das geistige Wohl Anderer war er am meisten bekümmert, und hierin hat er Unmögliches geleistet, so daß Jung Stilling behauptet, seit der Apostel Zeiten hätte Keiner so viel Seelen dem Herrn zugeführt. Die Liebe Christi drängte ihn, er hatte selbst Gnade erfahren. Man lese seine geistliche Lotterie, sein Blumengärtlein, das schon früh entstand, 1729 zuerst erschien und allmählig erweitert wurde; welch ein tiefes, frommes, kindliches Gemüth spricht sich überall aus! Das eigne Lob galt ihm nichts; Gott zu preisen und zu dienen, war seine Aufgabe; Ihm überließ er sich, von Ihm nahm er Alles, was sich ereignete, Leid und Freud, mit Dank und Vertrauen. So sagt er:

Wer etwas liebt und will, was Gott nicht selber ist,
Verlängert seine Qual und hindert seinen Frieden;
Rein ab bis auf den Grund, aufrichtig, ohne List;
Wer Gott will sein gemein, muß werden abgeschieden;

und an andrer Stelle:

Gott ist die Sonne; ich ein Strählchen Seines Lichts,
Trenn‘ ich von Ihm mich ab, bin ich ein finstres Nichts;
Halt‘ ich mich stets an Ihn, so wird mir Licht und Leben
Und alle Tugenden sein stiller Einfluß geben.

Der gebrechliche Mann, dessen Sinn auf stille Zurückgezogenheit ging, wollte doch selbst die mit Unruhe verbundene Thätigkeit nicht meiden und wirkte wo und wie er konnte; in jüngern Jahren mag er dem Quietismus sich in etwa zugeneigt haben, wie auch einem strengeren Separatismus. Auch seine Reisen waren missionsartig; jährlich ging er nach Holland, wo ein großer Freundeskreis war, zum Theil aus den höchsten Ständen. Ein dortiger Freund, Pauw, unterstützte ihn reichlich; er, der so viele glänzende Anerbieten ausschlug, nahm von ihm und einigen andern Freunden gern das Wenige, was er bedurfte, die meisten Gaben Dürftigen zuwendend; seine vielfachen Schriften mochten ihm wenig einbringen. Später reiste er oft nach Crefeld, wo er in der Mennonitenkirche auf vielfaches Bitten auch einmal die Kanzel bestieg, und ins Bergische, wo namentlich in Solingen, Wanne, Elberfeld, Gemarke ihm viele in christlicher Brüderlichkeit zugethan waren und ihn als ihren geistlichen Vater ehrten, auch noch nach seinem Tode, z. B. Engelbert Evertsen, Jac. Teshemacher und Wilh. Week. Es war ein lieblicher Brüderbund, alle dem Herrn dienend; Tersteegen, ihr gefeierter Mittelpunkt und ihre Stütze, blieb einfältig und demüthig; seine Liebe und Langmuth war nicht zu erschöpfen und zeigt sich auch in Tausenden von Briefen, die er nach allen Seiten schrieb. Viele sind gedruckt und werden noch mit Segen gelesen. An Anfeindungen fehlte es nicht, namentlich von Geistlichen; man kennt den dürren Zustand der damaligen Kirche und mancher mochte unserem Tersteegen seinen Ruhm und Zuspruch nicht gönnen, wie er wohl auch wegen Unlust an den unerquicklichen Predigten die Kirche nicht besuchte und auch am heiligen Abendmahle nicht Theil nahm, obwohl er andre nicht bestimmte, ein Gleiches zu thun. Er verkannte den damals so verdunkelten Werth der Kirche und führte mehr ein innerliches Leben und hatte eine kleinere Gemeinschaft mit gleichgestimmten Seelen. Mancher Prediger aber schätzte ihn sehr hoch und wandte sich an ihn, um sich seiner großen Erfahrung zu bedienen. Sein Leben floß segensreich für viele dahin, bis es 1750 noch bewegter wurde. Damals entstanden im Mülheimischen geistliche Bewegungen, wozu die Anregung von einem zu Duisburg Theologie studierenden Holländer Chevalier ausging. Tersteegen nahm Theil daran, weil er sie für gut hielt und sprach, nachdem frühere Versammlungen eingegangen waren, wieder öffentlich mit ungeheurem Beifall. Hunderte strömten in sein Haus, um ihn zu hören. Wir haben in den geistlichen Brosamen noch viele seiner damals gehaltenen Reden, in denen ein tiefer Ernst herrscht und eine große Herzlichkeit; aus seinen Gebeten weht den Leser der Hauch der innigsten frommsten Empfindung an. Bald erhob sich gegen ihn ein großer Sturm, indem die Mülheimer Geistlichkeit gegen ihn auftrat und seine Wirksamkeit zu hemmen suchte, besonders der ref. Prediger Wurn. Wir wissen, wie einem Arnd, Spener, Francke von Amtsbrüdern begegnet wurde; dem, Laien mußte es noch übler ergeben. T. vertheidigte sich mit aller Sanftmuth und wurde von der Obrigkeit geschützt. Auch gegen seine Schriften wurde sogar auf Synoden geeifert. An seinem Freunde, dem Oberkonsistorialrathe Heder in Berlin hatte er einen tüchtigen Beschützer und das Blumengärtlein erschien mit Preuß. Privilegium zu Duisburg; derselbe theilte auch ein jetzt unbekannt gewordenes Schriftchen von ihm „Gedanken über die Werke des Philosophen von Sanssouci“ dem großen Friederich mit, der über den Gegner seiner religiösen Ansichten die Worte aussprach: Können das die Stillen im Lande?

Der schwache in beschränkten Lebensverhältnissen lebende Mann blieb unverheirathet, wozu er auch Neigung haben mochte; er hegte sonst gegen den Ehestand wenigstens in spätern Jahren die größte Achtung, nur wünschte er, daß er nicht von Gott abführe. Man hat ihn wohl als Feind der Ehe angeklagt, wie auch als unkirchlichen Mystiker und Separatisten, wie schon oben angedeutet ist. 1. war kein Feind der Kirche und schätzte die tüchtigen Prediger, wie ihn z. B. der 1761 nach Mülheim berufene P. C. Engels; aber er verkannte nicht den damaligen Verfall und hielt sich zurück, eine Genossenschaft warmer Christen bildend, die der Kirche sehr heilsam wurde; auch jetzt noch zeichnen die Tersteegianer sich durch Kirchlichkeit aus und sind dem Separatismus und dem Sektieren feind, wie er es war. Er äußerte sich, er habe etwas wichtigeres zu thun, als eine Sekte zu stiften. Lebendige Christen aus allen Confessionen waren ihm liebe Brüder, er fragte nicht, woher sie kämen, sondern wohin sie gingen. Wollen wir ihn einen Mystiker nennen, so geschiehts im edelsten Sinne; er selbst schätzte den Lodenstein, de la Badie, Berniere, die Guion, wie die älteren Thomas a Kempen, Rusbroeck, Tauler und übersetzte manches aus ihren Schriften. Er hielt sich an die heilige Schrift als Richtschnur seines Glaubens und Lebens und blieb nüchtern, verständig, praktisch, auf die Hauptwahrheiten stets hinweisend ohne sich in dunkle Lehren zu vertiefen. Sein Leben war strenge wie es ein edler Pietismus fordern konnte, aber er blieb weit entfernt von allem mürrischen, sonderlichen Wesen. Vom heiligen Abendmahle hielt er sich zurück weil er mit Calvin und dem Heidelberger Katechismus glaubte, es mit offenbaren Sündern nicht genießen zu dürfen, doch ließ er Andern ihre volle Freiheit und sprach über die Heiligkeit der Sakramente mit großer Ehrfurcht. Er redet oft vom inneren geistigen Genusse des Abendmahles. Er war ein durch und durch religiöser Mann, sein Wandel im Himmel, sein Leben in Gott verborgen mit Christo. Sein Freund Stahlschmidt aus Freudenberg, der in früheren Jahren sich an ihn als seinen Seelenarzt gewendet und liebevolle Aufnahme gefunden hatte, urtheilte nach seinem Tode, er sei ein apostolischer Mann gewesen, in dessen Weltanschauung und Überzeugung alle Confessionen sich hätten wiederfinden und versöhnen können.

T. blieb bis zu seinem Tode in Mülheim wohnen und starb den 3. April 1769 mit ruhiger Ergebung und unter herzlichen Unterredungen mit vielen auch aus der Ferne zum Abschiede herbeieilenden Freunden. Ihr Trost war sein Glaube und seine Hoffnung, worin sie mit ihm übereinstimmten; sein Andenken blieb im Segen und noch nach vielen Jahren grüßten sie sich mit Sprüchen und Versen aus der Lotterie und dem Blumengärtlein, das ihnen von dem höchsten Werthe war, wie es noch ein Lieblingsbuch inniger Seelen ist, mit Recht gepriesen von einsichtsvollen Rennern, wie von Bunsen, Lange, Schubert, Knapp. Das Lied: Gott ist gegenwärtig rc. ist in viele Gesangbücher aufgenommen und bei Missionsfesten hat der Vers aus einem andern: Wann grünt Dein ganzer Erdenkreis rc. schon unzählige erquickt und spricht sein Gefühl für Mission aus, wie es die damalige Kirche nicht kannte. Im Gebiete der inneren Mission war er ein Held, ohne allen Glanz und Namen. Er ruht von seiner Arbeit und seine Werke folgen ihm nach. Allen Christen ist er ein theurer Bruder, sie danken und preisen Gott, daß er ein so herrliches Werkzeug ausgerüstet zum Dienste in der Kirche und zum Segen Vieler.

Das dankbare Mülheim hat ihm 1838 ein Denkmal gelegt bei dessen Einweihung alle evang. Prediger ihre Verehrung gegen den theuren Mann aussprachen. Die schon bald nach seinem Tode durch seinen in Homburg b. d. H. lebenden Freund Dr. Burcard verfaßte sehr bezeichnende Inschrift lautet:

Hier ruht ein Gottesmann, ein Menschenfreund und Christ,
Der recht durch Kreuz bewährt, nunmehr vollendet ist;
Ein Priester von Gott selbst, der stets vor ihn getreten,
Und tausend Seelen Heil durch Christi Geist erbeten,
Der Jesu nur gelebt und Jesum nur verklärt.
Ach daß ein solcher starb! Doch nein, es lebt Tersteegen
Und bleibt bei Zion hier im ew’gen Ruf und Segen.

G. Kerlen in Mülheim a. d. Ruhr.

Anselm von Havelberg.

In dem Stammlande der preußischen Monarchie hat die Kirche des Mittelalters nur wenig Bedeutendes, des allgemeinen Andenkens Würdiges hervorgebracht. – Als der kirchliche Geist der mittleren Zeiten in dem inneren, namentlich in dem rheinischen Deutschland schon eine Fülle von Blüthen getrieben hatte, zu einer mit Erschöpfung drohenden Überreife gelangt war, wurden diese Marken erst dem slavischen Heidenthum abgerungen. In den wenigen Jahrhunderten, die dann der römischen Kirche hier noch beschieden waren, gedieh man zu keiner eigenthümlichen Ernte. Diese Lande sind, wie wir vertrauen, vom Herrn zu Pflanzstätten eines höheren Lebens, zu jenen Kämpfen erwählt, in denen die Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit dem Menschengeschlecht unverlierbar erworben werden soll.

Um so mehr fordert uns wahre Gerechtigkeit auf, den wenigen Männern, die auf diesem Boden in der Anschauungsweise und in den Formen des Mittelalters von Dem Zeugnis gegeben haben, was alle Kirchen in Ewigkeit gemeinsam bekennen – eifrig nachzugeben und ihr Bild auch in dem unscheinbaren Rahmen vor unseren Augen zu erneuen. Ohne Frage gehört Anselm von Havelberg zu ihnen; das Bisthum der alten Kirche hat in der Mark Brandenburg keinen größeren Mann aufzuweisen. Schon das allein macht ihn wichtig, daß sein Leben und Wirken hier in den Moment des endlichen, nun nicht wieder in Frage gestellten Sieges des Christenthums, in die Zeit der dauernden, nunmehr unantastbaren Gründung des deutschen Staates in diesen Landen fällt. Die Leser des Kalenders sind bereits bei dem Namen Otto’s des Großen an den Ursprung unserer märkischen Bisthümer, Brandenburg und Havelberg erinnert worden. Aber diese erste Saat zertrat der Aufstand des Jahres 983. Die Kirchen im Wendenlande waren wieder zerstört oder zu Stätten des Götzendienstes geworden; die Bischöfe, die für beide Diöcesen durch das ganze elfte Jahrhundert regelmäßig ernannt werden, essen am Hofe des Kaisers oder bei befreundeten Amtsgenossen im Reiche das Gnadenbrod; in ihren eigenen Sprengeln ist ihnen weder Macht noch Gut und Zins geblieben; es kommen Momente, in denen selbst die heutige Altmark, der sächsischen Kaiser erste und sicherste Eroberung, der heidnischen Barbarei anheimzufallen droht. Erst mit dem Anfang des 12ten Jahrhunderts schreitet man wieder vor; die beiden Bischofsstädte werden, wenn auch nicht unmittelbar in Deutsche Hand, doch zu einem gewissen Grad von Botmäßigkeit zu den Reichsgewalten gebracht. Doch wie langsam baut sich die Kirche wieder auf; um das Jahr 1114 wagt ein Bischof von Brandenburg zum ersten Male wieder jenseits aber noch sehr nahe der Elbe, zu Leikkau, im heutigen Kreise Ziesar, seine Residenz zu nehmen, an der Stätte, wo er dort unzählige Götzenbilder gefällt hatte, St. Peter eine Kirche zu gründen; im Mai 1128 findet der Apostel der Pommern, der heil. Otto auf seiner zweiten Missionsreise Havelberg mit allem Prunk des Götzendienstes angethan; die Stadt ist rings von Fahnen umstellt; man feiert das Fest des Kriegsgottes Gerovit; der vorsichtige Mann wagt, den „Wohnsitz der Ungerechtigkeit“ nicht einmal zu betreten.

So war der Zustand, als Anselm 1129 zum Bisthum gelangte; er hat es bis 1155 verwaltet. Er ist seit anderthalb Jahrhunderten der Erste, der wieder in Havelberg hat Platz nehmen können; er weiß eigene und fremde Mittel zur Gründung des Prämonstratenserstifts zu Jericho zu vereinigen (1144); in stattlichen Bauten, da der ihm zuerst angewiesene Raum zu klein geworden, erhebt sich noch während Anselms Lebenszeit das Stift vor dem Thore des Orts. Einige Jahre darauf wird das Domkapitel, das bis in unsere Tage bestanden, gegründet. Das Leben gewinnt eine christliche Gestalt. 1149 kann in Havelberg bereits eine Zusammenkunft stattfinden, auf der ein Pommernfürst vor den brandenburgischen Markgrafen und andern sächsischen Fürsten seinen Glauben an Christum, und seinen Entschluß, denselben zu vertheidigen und auszubreiten, bekundet. 1150 ist der Bischof so weit gediehen, sich durch Kaiser Conrad III. die Privilegien Otto’s des Großen und Heinrichs II. für sein Bisthum erneuern, den alten Sprengel wieder herstellen zu lassen; 1151 gewähren ihm die Markgrafen die Rückgabe Alles Dessen, was dem Stift durch ihre Vorgänger zu Unrecht entzogen worden; mit der unschätzbaren Erlaubnis, die er sich in jenem kaiserlichen Privilegium erwirbt, Colonen jedes Landes und Stammes in die verödeten Stiftsländereien zu rufen, wird er so viel an ihm der Urheber der Deutschen Ansiedelung, die unseren Landen eigentlich ihr geschichtliches Dasein gegeben hat.

An der großen Verwandlung freilich – die sich so innerhalb zwanzig Jahren vollzieht – hat das Schwert und die Regierungskunst unseres Albrecht des Bären, der bald nach des Bischofs Antritt – 1134 – zur Mark gelangte, großen Antheil. Mit den Kriegszügen der Jahre 1137 und 1138 hat Albrecht die letzte Empörung der Heiden im Havelbergischen, die 1136 noch einmal zur Verwüstung der Stadt geführt hatte, gerächt, und die Priegnitz, den Kern des Sprengels, dauernd der neuen Ordnung unterworfen; von ihm stammt der Erfolg des Kreuzzuges von 1147, der die letzten Gefahren von diesen Grenzen verscheuchte.

Aber Anselm steht daneben mit dem geistlichen Schwert an den Pforten unserer Geschichte. Dieser merkwürdige Mann gehört uns nicht durch Geburt an; er stammt sehr wahrscheinlich aus dem überrheinischen Deutschland, aus dem Süden des damaligen Herzogthums Niederlothringen – Gebieten, die beute zwischen Rheinpreußen, den Königreichen Niederland und Belgien getheilt sind. Dann war der große Norbert, mit dem er ohne Zweifel früh in Verbindung kam, sein Landsmann. Die Kräfte zu wecken, die für die völlige Erfüllung der abendländischen Völker mit dem dreieinigen Gott, für ihren Kampf mit dem Islam nöthig waren – dahin zielten alle jene großen Regungen, die seit der Mitte des eilften Jahrhunderts in den erhöhten Ansprüchen des päpstlichen Stuhls, in der kirchlichen Literatur, in der Stiftung neuer Orden und wie sonst sich zeigen. Als Gründer des Prämonstratenserordens ist Norbert einer der vornehmsten Repräsentanten dieses neuen Geistes. Es hing ohne Frage mit der veränderten Richtung, die das deutsche Königthum nach dem Ausgang des jenen neuen kirchlichen Kräften abholden salischen Hauses in König Lothars Hand nehmen sollte, zusammen, daß dieser 1126 den Norbert aus so weiter Ferne zum Erzbisthum Magdeburg berief. Wir haben den letzteren dort nach der Größe, wie nach der Gefahr seiner Stellung, kennen gelernt. Er hat, wie sich leicht nachweisen läßt, eine Anzahl jüngerer Genossen, Landes- und Sinnesverwandte in die neue Heimath mitgebracht, unter ihnen unsern Anselm. Bei jenem denkwürdigen Fest, der neuen Weihung der Magdeburger Domkirche, da der Erzbischof dem gezückten Schwert der Aufrührer, im Herrn gefaßt, entgegentrat, war Anselm an seiner Seite. Norberts Plan mußte sein, die Jünger in die wichtigsten Ämter des Metropolitansprengels zu bringen, auf sie die Fortsetzung seines Werks zu gründen. Der Burggraf von Havelberg, wohl nur mit halbem Herzen Christ, hatte 1128 vor Bischof Otto den Abfall seiner Stadt mit der Strenge Norberts rechtfertigen wollen; um jeden anderen Hirten würde sich leicht die Herde sammeln. Gerade Norberts Jünger, Anselm ers hielt 1129 den zuletzt vier Jahre erledigten Havelberger Sitz. Sieht man hernach alle diese dem slavischen Heidenthum abgewonnenen Lande, die Marken, Pommern, Schlesien, Polnisch-Preußen mit den Stiftungen der Prämonstratenser und der ihnen dem innersten Impulse nach verwandten Cistercienser überdeckt, die Bekehrung und Cultur hier fast ausschließlich auf diese Orden gegründet – so erkennt man, wie sich Norberts Werk bewährt hat. Hier, bei Anselm’s Erhebung, stehen wir vor dem ersten der gesegneten Entschlüsse, die zu dem großen Ziel geführt haben.

Wunderbar freilich auf den ersten Blick, daß sich Anselm so selten zu Hause, bei seiner Kirche antreffen läßt. Schon im Jahre 1133 begleitet er Lothar auf den Römerzug; unter den Bischöfen, denen der Kaiser dort die letzte rechtliche Entscheidung zwischen Innocenz II. und seinem Gegenpapst Anaclet anvertraut, ist Anselm. Zu noch größeren Dingen wird er in den nächsten Jahren bestimmt. Lothar ist in dem Fall, eine wichtige Gesandtschaft des byzantinischen Kaisers, die ihn zu einem Bunde gegen die – Beiden unbequem genug – in Unteritalien und Sicilien erwachsene Normannische Macht aufgefordert hat, zu erwidern. Einer wahren Einigung der beiden Kaiserkronen mußte der Friede der beiden Kirchen, deren Schirmherrschaft für Jede der höchste Beruf, vorhergehen; es war beinahe ein Jahrhundert, seit 1053 ein Versuch dazu von der päpstlichen Curie gemacht, und zu heftigerer Feindschaft ausgeschlagen war; noch nie hatte die weltliche Gewalt des Abendlandes sich daran versucht: als es jetzt geschah, ward gerade Anselm dazu erwählt. Während sein Havelberg eben von den Heiden heimgesucht wird, hat er sich getrost auf den Weg gemacht. Am 10. April 1136 vor der Kirche der heiligen Irene im Pisanerquartier von Constantinopel begonnen, ward das merkwürdige Religionsgespräch zwischen ihm und dem Erzbischof Nicetas von Nicomedien in der folgenden Woche in der Sophienkirche fortgesetzt auch schon die Wahl dieses Orts ein Zeichen, welchen Werth man auf die Mäßigung und den Friedenseifer des Vertreters der abendländischen Kirche legte. Zurückgekehrt muß er sogleich Lothar auf den zweiten italienischen Zug folgen. Auch hier erfreut er sich wieder hoher Ehren; an Mariä Geburt ruft ihn Innocenz II., der eben selbst die Messe celebriert hat, zur Predigt auf. Auch der Wechsel, der mit dem Eintritt der entgegengesetzten Partei in die höchste Gewalt, mit der Thronbesteigung Conrads III., des ersten Hohenstaufen (1137) über den Kaiserhof gekommen, berührt Anselms einflußreiche Stellung nicht. Wir sehen ihn viele Jahre hindurch im höchsten Vertrauen des neuen Königs; 1147 sendet ihn Conrad III. nach Rom, die wichtigen Nachrichten von dem eben beendeten Frankfurter Reichstag – die Wahl seines Sohnes Heinrich zum Nachfolger, und den Entschluß des Kreuzzuges zu überbringen. Hierauf hat ihn Eugenius III., so recht seinem bischöflichen Amte gemäß, zum geistlichen Reiter und Berather des Kreuzzuges ernannt, der auf eben jenem Frankfurter Tage unter der Führung des Markgrafen Albrecht gegen die Liutizen beschlossen worden war. Daß er für Ruhe und Frieden sorge, die Eintracht unter Euch erhalte, Euch zur Förderung der christlichen Religion ermahne“, lautet des Papstes Auftrag, „daß Ihr ihn liebet und in Ehren haltet, seinen heilsamen Rathschlägen, Ermahnungen und Befehlen in Demuth gehorchet,“ des Papstes Forderung an die Kreuzfahrer. 1149 finden wir Anselm wieder unter des Papstes Gesandten, die bestimmt sind, Conrad bei seiner Rückkehr von dem verunglückten Kreuzzuge zu trösten. –

Eine kurze Zeit der Ungnade bei König Conrad ruft ihn in die Einsamkeit seiner eben erst im Werden begriffenen Schöpfungen; aber schon mit der Thronbesteigung Friedrichs Barbarossa ist er wieder am Hof; noch einmal erscheint er 1154 – mit königlicher Botschaft, wohl der Brautwerbung, in Constantinopel: an demselben Tag – 1155, da Friedrich aus der Hand Papst Adrians I. die Kaiserkrone empfängt, ward Anselm zum Dank für so lange Dienste an Reich und Kirche zum Erzbisthum Ravenna, damals nach der öffentlichen Schätzung dem zweiten geistlichen Sitze der Christenheit, erhoben. In jenen berühmten Lagern Friedrichs vor Mailand begegnet er uns zum letzten Male; dem Gedanken an Vergleich mit den Mailändern soll er entschiedenen Widerstand geleistet haben, „bei glattem Worte auf der Zunge tragen sie ein schwarzes Herz in der Brust. Es werde ihnen gemessen mit dem Maße, womit sie gemessen haben. Kirchen und Städte hat Mailand verwüstet, und werde nun selber verwüstet.“ Den großen Erfolg dieser Mahnung hat er nicht erlebt; noch während der Belagerung den 12. August 1158 ward er abgerufen.

So vielfach und wechselnd war die Bühne dieses Lebens. Wer wollte deshalb leugnen, daß es nicht vorzugsweise unserm engeren Vaterlande gegolten habe! Kaiser und Papst waren in jenem Jahrhunderte die Mittelpunkte aller christlichen Geschichte; wer in ihrer Nähe lebte, hatte gerade Gelegenheit, das sonst vielleicht in die Ferne Verlorene zum Nächsten und Wichtigsten zu machen. Des großen Meisters Herrmann von Salza Verdienste um die Gründung des christlichen und Deutschen Staats an der Ostsee wird Niemand bestreiten. Dennoch hat er nie das Preußenland betreten; indem er in den schwierigsten Unterhandlungen zwischen Friedrich II. und seinen gewaltigen Feinden hin und her ging, mit Papst und Kaiser in der Kammer saß, zu Drei geheimsten Rathes zu pflegen sorgte er am besten für sein fernes Ordensgebiet.

Unser Anselm hat wenigstens einige Jahre, wie es scheint, ununterbrochen von der Mitte des Jahres 1149 bis 1152 in der Mark gelebt. Wie bezeichnend, daß ihm die Pflichten, denen er hier obliegt, erst den ganzen Ernst seines Lebens zu enthalten scheinen, daß er alles Frühere, wie ein Spiel, dessen nun genug sei, zurückweist.

In einem Briefe an den Abt Wibald von Corvey, einen höchst ausgezeichneten, für die Zeit sehr bedeutenden Mann, vergleicht er sein Havelberg der Krippe, den Stand am Hofe, den er eben verlassen, dem Richthause. Da, wo Christus in der Krippe liegt, singen ihm die Engel einen Lobegesang, wo er aber an der Gerichtsstätte vor den Fürsten steht, rufen die Juden: Ans Kreuz mit ihm! Dort gehet ein neuer Stern leuchtend auf, die Engel verkünden die Ehre Gottes: Könige bringen Gaben und Geschenke, hier verspotten Kriegsknechte den Herrn, geißeln und schlagen ihn, speien ihm ins Angesicht, fallen ihn mit dem Faustschlag spitzer Rede, den Dorn, in dem der Saft des ewigen Lebens verdorrt ist, drücken sie in sein Haupt. „Ich bin hier“ – berichtet er den Freunden „mit meinen armen Brüdern nicht müßig. Einige bauen an dem Thurme der Befestigung vor dem Angesicht des Feindes, andere halten Wache zur Vertheidigung gegen einen Überfall der Heiden; Einige, ganz hingegeben an das Göttliche, warten täglich des Märtyrertodes, unterdes andere durch Gebet und Fasten ihre Seele reinigen zur Rückgabe an Gott, und andere beschäftigt mit dem Lesen der heiligen Schrift, über heilige Gegenstände nachdenken und dem Leben und Vorbilde der Heiligen nacheifern: wir Alle aber, nackt und arm, sind bewußt, unserem nackten und armen Heilande nachzufolgen.“ Ein ander Mal ängstigt es ihn wohl, daß seine Freunde ihn hier vergessen könnten; halb scherzend wirft er dem Wibald Untreue vor.

„Glaube mir Bischof“ antwortet ihm Jener, zugleich zum besten Zeugnis für die Nachwelt wenn ich die ganze Welt besäße und nicht Dich und die wenigen seltenen Männer, die Dir gleichen, zu Freunden hatte, ich sehr sehr arm wäre; ihr seid wahrhaftig mein Schatz, an dem ich immer zehre, ohne daß er abnimmt, den kein Dieb mir rauben, weder Motte noch Rost mir verderben kann.“ Es sind die ersten Worte gebildeten, wahrhaft menschlichen Verkehrs, die sich auf diesem Boden vernehmen lassen, die ersten Zeichen, daß jener in Christo wurzelnde Verband, der das gesamte Geschlecht in eine Gemeinde versammeln soll, seine Fäden auch hierher erstreckt hat.

Und in dieser Abgeschiedenheit zu Havelberg sind auch Anselms Werke entstanden. Zwei seiner Schriften betreffen den Streit der Mönche und Kanoniker diese alte Fehde, die seit der Einführung jener zu gemeinsamem evangelischen Leben verbundenen Convente durch den heiligen Augustinus, sich in mancherlei Gestalten fortgezogen hatte, und nun, da ja auch Norbert ein Kanoniker, da seine Prämonstratenser die „Armen Christi“ regulierte Chorherrn sein sollten, mit neuer Gewalt losbrach. In Anselms Nähe ward der Brodneid der Mönche namentlich in einer heftigen Schrift des Abt Egbert von Huisburg fühlbar. Diesem begegnete er in seiner ersten Schrift, die zweite entwickelt die Frage vom kanonischen Leben gleichsam positiv. Von der Gehässigkeit, die bei dem Gegner waltet, hält er sich nicht ganz frei, doch versichert uns die Bewunderung, die er dem großen Mönche seiner Tage, dem heiligen Bernhard von Clairvaux zollt, daß es ein wahrhaft geistlicher Zorn ist, mit dem er das in Habsucht und Völlerei versunkene Mönchthum ergreift. Mit Genugthuung bemerken wir, daß er das Lehramt in der Kirche vor dem Dunkel, der mit den mönchischen Gelübden alle Gaben des heiligen Geistes erworben glaubt, zu bewahren weiß. Kaum daß ein vollkommener Mönch einen guten Kleriker mache – an dies Wort des heiligen Augustinus erinnert er dabei.

Unser evangelischer Sinn geht freilich höher, als daß wir Anselm gestatten sollten, um des Friedens willen den Platz an Gottes Thron gleich wie unter Seraphim und Cherubim unter Mönche und Kanoniker zu vertheilen; doch hat auch die Schriftauslegung noch ihren Reiz und Werth, die in des Herrn Wandel auf Erden die vollkommene Harmonie des beschaulichen und des zugleich in Predigt und Seelsorge thätigen Lebens erkennt, und ihn so als den Fürsten und Führer aller wahren Kanoniker preist.

Auch Anselms Hauptwerk, die drei Bücher der Controversen, die den Bericht über sein Gespräch zu Constantinopel enthalten, haben von jenem römischen, der zeitlichen Kirche dienenden Charakter und zugleich von dem unverfälschten Zeugnis von Christo und Seinem Evangelium. Die Sprecher führen ein Gefecht darüber, ob nach der Lehre der römischen Kirche das Abendmahl mit ungesäuertem, oder nach griechischer Gewohnheit mit gesäuertem Brode zu halten sei, ob diese Kirche besser thue, zu dem geweihten Weine das ungeweihte Wasser hinzuzugießen, oder jene, an dem mit Wasser gemischten Wein die Weihe zu vollziehen. Der Leser, der es begleitet, wird bald inne, daß es Anselm nicht sowohl um die Entscheidung dieser Fragen selbst, vielmehr darum zu thun ist, für Rom das Recht zu behaupten, allein durch seine Autorität kirchliche Sitten der Art, sofern sie nicht dem Evangelium widersprechen, einzuführen. Ja, wo er das Hauptthema der Disputation, daß der heilige Geist vom Vater und vom Sohne zugleich ausgehe, durchführt, erkennen wir mit ihm, daß in die entgegengesetzte Lehre, an der der Gegner festhält, sich gleichsam der letzte Rest der arianischen Lehre geflüchtet habe. Wir sind mit ihm darin einig, daß der dürftige Einwurf der Gegner: „daß die Lehre vom Ausgeben des heiligen Geistes vom Vater und vom Sohne zu der Annahme zweier Principien und damit zu der Vielherrschaft führen würde“ lediglich von dem alten Unvermögen herrührt, die unauflösliche und untheilbare Einheit des Wesens in der Dreiheit der Personen zu denken. Aber freilich kann es uns nicht entgehen, daß er die vom Vater und vom Sohne ausgehende Gottheit des heiligen Geistes, die er so dem Irrthum abgerungen, alsbald selber gebraucht, auf sie den ganzen Apparat der römischen Kirche, gerade diese Form des heiligen Mahles, die hier eingeführt worden, gerade diese Hierarchie, mittelst der hier die Christenheit regiert werde, zurückzuführen; hier allein soll die ewige Wahrheit des Trösters sein, „welchen mein Vater senden wird in meinem Namen.“

Doch unbefangen genug läßt er den Gegner sein rückhaltloses Urtheil über die römische Kirche aussprechen, die je nach ihrem Gutdünken wählt und verwirft, lobt und tadelt, feststellt und verändert, niederschreibt und ausstreicht, befiehlt und verbietet, Alles ohne andere Richtschnur, als ihre eigene Autorität.“ Wenn der Römische Bischof auf dem erhabenen Throne seiner Herrlichkeit sitzend, auf uns losdonnern und von seiner Höhe herab seine Gebote uns hinwerfen, ohne uns zuzuziehen eigenmächtig nach seinem Wohlgefallen über uns und unsere Kirche richten, ja befehlen wollte – wie könnte denn da eine Brüderschaft oder eine Vaterschaft noch bestehen? Wir würden dann nicht Söhne, sondern Knechte der Kirche heißen und sein ….. Was nützte uns dann die Kenntnis der Heiligen Schrift, was die Gelehrsamkeit und der Unterricht der Lehrer? Welchen Werth hätten dann noch die trefflichsten Köpfe der weisen Griechen? Das einzige Ansehn des römischen Bischofs, das nach Deiner Behauptung Alles überbietet, macht ja das Alles überflüssig. Er mag der einzige Bischof, der einzige Lehrer sein, mag über Alles ihm allein Anvertraute, wie ein guter Hirt, allein Rechenschaft ablegen. Wenn er im Weinberge des Herrn Mitarbeiter haben will, so rühme er sich mit Vorbehalt seiner Oberherrlichkeit in aller Demuth, aber er verachte nicht seine Brüder, welche die Wahrheit Christi nicht zur Knechtschaft, sondern zur Freiheit im mütterlichen Schoße der Kirche erzeugt hat.“

Erkläre Niemand das Wagnis, dergleichen Äußerungen unter die Augen Papst Eugenius III. in eine auf sein Geheiß abgefaßte Schrift zu bringen, mit jener Objectivität, die auch den Gegner das Seine wenn immer in den Wind sprechen zu lassen beliebt, oder mit der feinen Ironie, die bei dieser Gelegenheit das sonst Verpönte anbringen will. – Recht angesehen, weiß unser Anselm bei aller seiner Hingebung an Rom doch von einer Kirche, auf die des Papstes-Scepter keinen ewigen Anspruch erworben hat von der Kirche, die mit Abel dem Gerechten begonnen, und mit dem letzten Erwählten vollendet sein wird, die als diese ewige Mutter Eines bei sich, je nach der Schwäche und Veränderlichkeit ihrer Kinder sich allem Wechsel der Formen unterwirft, die unter dem Donner und Posaunenschall am Sinai, und unter dem Erdbeben von Golgatha ihre großen Wandelungen vollbracht, das Geschlecht, wie verstohlen von dem Götzendienst zum Gesetz gebracht, mit erziehender und heilender Hand vom Gesetz zum Evangelium geleitet habe. In den sieben Siegeln der Offenbarung Johannis sieht er die Zeitalter dieser Kirche; das weiße Pferd kündet die bell leuchtenden Tage der Apostel an; das zweite ist roth von dem Blute der Märtyrer; in dem schwarzen droht das Zeitalter der Ketzereien; das fahle spiegelt den täuschenden, vor des Herrn Wahrheit verbleichenden Glanz der falschen Christen ab, gegen die sich eben die heiligen Männer, wie Augustin, Benedict, Norbert und Bernhard bewaffnen mußten. Während die letzten Zeitalter dem Kampfe mit dem Antichrist und dem seligen Triumphe bestimmt sind, nimmt Anselm für seine Zeit das Geheimnis des fünften Siegels in Anspruch – da die Heiligen ruhn von ihrem Märtyrerthum, aber Angesichts der unendlichen Leiden der streitenden Kirche zum Herrn schreien, warum er im Gericht verziehe, zu rächen ihr Blut an Denen, die auf der Erde wohnen! – So sieht auch er auf eine größere, in schwerem Kampf zu gewinnende Zukunft hinaus. Dem Nicetas, der für die Beilegung der Streitigkeiten zwischen Griechen und Lateinern ein allgemeines Concil gewünscht hat, freudig beifallend ruft er: „daß ich dies erlebte und bei einem so heiligen Concilium gegenwärtig sein dürfte, wo Petrus das Haupt der Apostel in der Person seines Stellvertreters, des römischen Papstes, mit der ganzen versammelten Kirche, die Gott ihm anvertraut hat, sitzet und der heilige Geist, von dem wir gehandelt, über Alle herabsteigt und alle Wahrheit bis ans Ende der Welt lehrt, und alle Eins macht in Christo mit Petrus und im Glauben Petri. Rom also möchte er hinübernehmen in die neue Zeit, aber nur ein solches Rom, das mit Christo eins geworden, an dem die Wahrheit des Heiligen Geistes lauter und voll sich bewährt hat! – Könnte das Mittelalter unserer Lande einen besseren Vertreter in der allgemeinen Kirche haben?!

Siegfried Hirsch in Berlin.

Alexander, Bischof von Jerusalem.

Am 21. Januar 1842 zog ein Alexander als erster evangelischer Bischof in Jerusalem ein, an demselben Tage, wo der König von Preußen, dessen Glaube dieses Bisthum gegründet hat, Friedrich Wilhelm IV., in London ankam, um Zeuge bei der Taufe des Prinzen von Wales zu sein. Dieser erste Bischof evangelischen Bekenntnisses, an den sich die Hoffnung eines neuen christlichen Lebens für Jerusalem und Palästina knüpft, ist im Jahre 1845 gestorben und hat den trefflichen Samuel Gobat zum Nachfolger gehabt, unter den die junge Saat des evangelischen Glaubens im Morgenlande schon zu keimen beginnt. Bei der Ueberschrift: Alexander, Bischof von Jerusalem: möchten unsre Leser wohl zunächst an diesen ersten Verwalter eines neuen Bisthums in der Heiligen Stadt sich erinnern und wir gedenken mit ihnen gern in Liebe und Gebet dieses Saatkorns. Aber der 18. März weist uns auf einen andern Alexander zurück, der in viel früherer Zeit (von 212 – 251 n. Ch. G.) den bischöflichen Stuhl von Jerusalem zierte und endlich mit dem Märtyrertod im Gefängnis seinen Glauben besiegelte.

Die Kirche Jerusalems hat von Anfang an bis auf diesen Bischof Alexander ebenso, wie späterhin, die wunderbarsten Schicksale gehabt. Hier wurde nach der Auferstehung des Herrn durch Ausgießung des heiligen Geistes die erste christliche Gemeinde gegründet, die Mutter der ganzen Christenheit, die unter der gemeinschaftlichen Leitung aller Apostel stand und an Herrlichkeit und Heiligkeit so einzig war, daß sie nur in der letzten Siegeszeit der christlichen Kirche, auf welche die Verheißung der Apostel uns hoffen läßt, ihres Gleichen haben wird. Diese heilige Muttergemeinde zerstreute sich nach der Steinigung des Stephanus und ihre Mitglieder wurden, wie ein guter Same, in nahe und ferne Länder ausgesäet. Die Gemeinde, die unter Verfolgungen in Jerusalem zurückblieb und viele Juden, auch Priester und Pharisäer, als Neubekehrte in sich aufnahm, war der ersten Muttergemeinde nicht mehr gleich, und während bald die meisten Apostel ihrem Berufe gemäß in fremde Länder das Evangelium trugen, wurde Jakobus, der Bruder des Herrn, der erste Leiter der Ortsgemeinde der heiligen Stadt und wird als erster Bischof Jerusalems gezählt. Während des jüdischen Krieges, der mit der Zerstörung Jerusalems endigte (70 n. Ch. G.), wurde er getödtet und sein Nachfolger war Symeon. Die christliche Gemeinde aber wanderte vor der Belagerung der Stadt, eingedenk der Gebote des Herrn, aus und begab sich jenseits des Jordans nach der kleinen Stadt Pella, wo sie blieb, bis der Sturm vorüber war. Die Bischöfe wechselten nach Symeons Tode schnell und in 80 Jahren etwa, von 65 bis 135 n. Ch. G. werden 14 Bischöfe von Jerusalem aufgezählt, sämtlich von Israelitischer Abkunft, und, wie ihre Gemeinde, um dieser Abstammung willen, durch ihr Gewissen und durch Rücksicht auf die Umgebung der Juden noch ganz an die Sitten und Gebräuche des Judenthums gebunden. Nachdem aber der römische Kaiser Hadrian in Folge einer neuen Empörung der Juden Jerusalem in eine heidnische Colonie umgewandelt und allen Juden den Zutritt zu dieser Stadt streng untersagt hatte, entstand daselbst eine ganz neue Gemeinde von Christen, die entweder früher Heiden gewesen oder wenigstens alle Reste früherer jüdischer Sitten aufgegeben hatten.

Der erste Bischof dieser neuen Gemeinde (138 n. Ch. G.) hieß Marcus: der zwölfte unter dessen Nachfolger hieß Narcissus, ein durch Frömmigkeit und Sanftmuth ausgezeichneter Mann (um das Jahr 200 n. Ch. G. erwählt). Dieser wurde durch falsche Anklagen bewogen sein Amt niederzulegen und sich in eine Wüste zurückzuziehen, um als Einsiedler seinem Gott zu dienen. In kurzer Zeit folgten ihm drei Bischöfe, Dius, Germanion und Gordius. Drei Männer aber, die mit falschen Eidschwüren die lügenhaften Anklagen gegen Narcissus beschworen hatten, wurden von Gottes Strafgericht heimgesucht, und Einer von ihnen bekannte und beweinte seine schwere Schuld. Dies bewog die Gemeinde den unschuldig angeklagten Narcissus in seiner Einsamkeit aufzusuchen und in sein Amt wieder einzusetzen, obgleich er schon hochbetagt und für die schwere Aufgabe des bischöflichen Amtes zu schwach war: denn er war schon an 100 Jahre alt. Deshalb beschloß man, um das zweite Jahr des Kaisers Caracalla (um 212 n. Ch. G.), ihm einen andern Bischof als Gehülfen an die Seite zu setzen, und dieser war Alexander, dessen Geschichte wir jetzt, so weit die vorhandenen Nachrichten reichen, kurz erzählen wollen.

Alexanders Geburtsjahr ist ebenso wenig bekannt, als sein Vaterland. Aber mit großer Wahrscheinlichkeit läßt sich vermuthen, daß er zwischen 170 und 180 n. Ch. G. in Kleinasien geboren ist, vielleicht in Cappadocien, wo schon zu des Apostel Petrus Zeiten (1 Petr. 1, 1.) christliche Gemeinden waren. Kleinasien, die Heimath eines Irenäus, war um diese Zeit noch der Mittelpunkt, von welchem durch den Samen, den der Evangelist Johannes dort ausgestreut hatte, ganz besonders frommer christlicher Eifer, mit reiner klarer Erkenntnis verbunden, ausging, und Alexander sog früh den Geist der alten Blutzeugen ein. Aber damals erhob sich in Alexandrien eine Schule christlicher Lehre, die der treffliche Pantänus mit dem Geiste lauterer Frömmigkeit und zugleich mit dem Triebe nach christlicher Wissenschaft erfüllte. Und einzelne Bruchstücke aus einem Briefe Alexanders, die Eusebius in seiner Kirchengeschichte aufbewahrt hat, machen es wahrscheinlich, daß Alexander eine Zeitlang mit dem berühmten Origenes Zuhörer und Schüler des Nachfolgers von Pantänus, des berühmten Clemens von Alexandrien, gewesen ist. In dieser Schule mag er die christliche Freundschaft mit vielen gleichgesinnten Zeugen der Wahrheit, auch mit den nachmaligen Bischöfen von Cäsarea in Palästina und von Antiochien, der Hauptstadt Syriens, mit Theoktistus und Asklepiades geschlossen haben, auch mit Origenes selbst, an den er schreibt: Dies ist, wie du weißt, Gottes Wille, daß die Freundschaft, die unsre Altvordern gegründet haben, fest und unverbrüchlich unter uns bleibe, ja von Tage zu Tage inniger und unzertrennlicher werde. Denn wir haben ja jene seligen Väter gekannt, die vor uns in den Wegen der Tugend gewandelt sind, zu denen auch wir bald hingehen werden: den wahrhaft seligen Pantanus, meinen Meister, und den heiligen Clemens, der auch mein Meister war und dem ich viel Gutes verdanke, und so manchen Andern dieser Art. Und durch diese bin ich mit dir vertraut geworden, der du mir der wertheste Meister und Bruder bist.“

In einer Christenverfolgung unter dem Kaiser Severus (um das Jahr 204) wurde Alexander ins Gefängnis geworfen und schrieb mit Beziehung darauf an die Antiochenische Gemeinde, die eben damals den Asklepiades zu ihrem Bischof erwählt hatte: „Zur Zeit meiner Gefangenschaft machte mir Gott meine Ketten leicht, als ich erfuhr, daß Asklepiades, der durch seinen Glauben dazu so vollkommen geeignet ist, durch Gottes Vorsehung das Bischofamt in eurer Kirche überkommen habe.“

Alexander ward bald nach jener Verfolgung Bischof in Cappadocien. Er übernahm aber in Folge eines Gelübdes und um die heiligen Orte zu sehen, eine Wallfahrt nach Jerusalem, nicht ohne zu ahnen, daß der Herr etwas Besonderes mit ihm vorhabe. Als er nach der heiligen Stadt kam, erweckten göttliche Stimmen die dortigen Frommen, ihn als den von Gott ihnen bestimmten Bischof, als Gehülfen des greisen Narcissus, aufzunehmen: die benachbarten Bischöfe Palästina’s willigten ein und man hielt ihn in Jerusalem fest (um das Jahr 212).

Hier verwaltete er gegen vierzig Jahre lang treulich sein Amt, während Narcissus, der ein Alter von mehr als 116 Jahren erreichte, ihm noch lange zur Seite stand und, wenn auch zu andern Diensten unfähig, doch im Gebet für seine Herde mit ihm vereint war. Alexander aber suchte für die christliche Erkenntnis seiner jüngern Amtsgenossen zu sorgen, sammelte nicht nur Bücher, sondern gründete auch ein Bibliothek – Gebäude, in dem ein reicher Bücherschatz nach und nach aufgehäuft wurde. Als Origenes durch den feindseligen Geist seines Bischof Demetrius genöthigt war, Alexandrien zu verlassen, nahm ihn (im J. 228) Alexander im Verein mit dem Bischof Theoktistus von Cäsarea mit offenen Armen auf und ließ ihn in seiner Gemeinde das Wort Gottes verkündigen, ohne den böswilligen Einspruch des Demetrius zu fürchten.

Er war schon ein Greis, als Decius (249 n. Ch. G.) den Kaiserthron bestieg, der erste Kaiser, der es inne wurde, daß der christliche Glaube eine Macht sei, die dem heidnischen Rom den Untergang drohte. Er faßte den verzweifelten Gedanken, das Christenthum, das die Herzen je mehr und mehr durch heilige Siege eroberte, durch eine blutige allgemeine Verfolgung auszurotten. Hatten frühere Kaiser die Christen als eine schwache Secte behandelt und nach den heidnischen Staatsgesetzen dann und wann den Gerichten übergeben, Decius verfolgte den christlichen Glauben als den gefährlichsten Feind des Reichs und verbreitete nach langer Ruhe desto größern Schrecken, indem er die Christen haufenweise und besonders die Bischöfe und Presbytern ins Gefängnis werfen, martern und tödten ließ. So fielen die Bischöfe zu Rom und Antiochien, und auch Alexander ward in den Kerker geworfen. Er wurde mehrmals verhört und mußte unter den rohen Händen der Kriegsknechte im Gefängnis schmachten. Der ehrwürdige Greis blieb standhaft, wie er in jüngern Jahren sich unter ähnlichen Leiden erwiesen hatte. Aber hochbejahrt, wie er war, unterlag er den täglichen Peinigungen und starb im Gefängnis als treuer Zeuge Christi (vermuthlich im Jahre 251). Die abendländische Kirche feiert sein Gedächtnis am 18. März, als an dem Tage, wo er das irdische Jerusalem mit dem himmlischen vertauscht hat.

H. E. Schmieder in Wittenberg.

Anselm von Canterbury

Ein etwas lockerer Ritter aus der Lombardei, Namens Gundulf, hatte etwa um das Jahr 1030 zu Aosta in Piemont sich niedergelassen und ein tugendsames Fräulein der Stadt, Ermonberga, geheirathet. Aus dieser Ehe entsproß – außer einer Tochter, Richera – ein Sohn, Anselm, welcher einst ein bedeutendes Licht in Kirche und Wissenschaft werden sollte. Den Knaben schon zog es in charakteristischer Weise nach Oben. In seinen Träumen erstieg er z. B. am liebsten die Gipfel der Alpen, um die Wohnung des großen Königs aufzusuchen, von dem ihm die Mutter gesagt hatte, daß er im Himmel throne und die Welt regiere. Kaum fünfzehn Jahr alt, wollte er bereits Mönch werden und fragte deshalb bei einem ihm bekannten Abte an. Doch dieser wies ihn zurück, wenn er nicht die Einwilligung des Vaters hätte, und da bat nun der Knabe Gott, daß er ihn doch recht krank werden lassen möchte, indem er nach dem damals herrschenden Grundsatze, Sterbenden nicht diese Bitte abzuschlagen; denn das Mönchsthum sah man als eine Pforte zum Himmel an  – dann sicherlich seinen Wunsch zu erreichen hoffte. In der That erkrankte er auch. Doch der Abt wollte ihn auch jetzt noch nicht aufnehmen, und so warf sich nunmehr Anselm auf das Gegentheil: statt der Bücher und Andachtsübungen nahm er ritterliche Künste vor, und nicht lange so that es die Welt ihm an. Nur die Mutter zügelte noch seine Lust an derselben. Allein bald verlor er auch diese, und „ankerlos trieb nun das Schifflein seines Herzens auf den Fluthen der Welt umher.“ Doch da erweckte ihm Gott einen „innern Krieg“: er entzweite ihn mit dem Vater, und unvermögend, es in dessen Nähe auszuhalten, entschloß er sich endlich das väterliche Haus zu verlassen. Drei Jahre wanderte er in Burgund und Francken umher. Endlich kam er nach Avrenches in der Normandie. Hier hörte er von dem großen Rufe, den ein Landsmann, Namens Lanfranc, in dem benachbarten Kloster Bec als Lehrer der Theologie erlangt habe. Dadurch wurde die alte Liebe zum Studieren in ihm wieder rege; er begab sich nach Bec und saß hier eifrig über den Büchern. Diese Anstrengung befreundete ihn allmählig auch wieder mit dem Mönchsthum. Was es mit dessen Beschwerden denn auf sich haben könne, meinte er, wenn er sich jetzt schon so viel versagen müsse? Aber wo Mönch werden? In Bec – da würde er neben Lanfranc nicht aufkommen können; in Clegny aber oder einem andern ansehnlichern Kloster noch weniger sich hervorthun können, weil da schon Alles auf’s Beste bestellt sei. Denn noch war es ihm nur um einen glänzenden Wirkungskreis zu thun; „noch war ich nicht gebändigt,“ pflegte er zu sagen, wenn er später dieser Zeit gedachte, „noch tobte in mir die Welt.“ „Aber wie?“ fragte er sich mit der Zeit, als er ernster die Sache zu überlegen anfing; „heißt das Mönch werden, wenn man nur seinen Ehrgeiz befriedigen will? ist nicht Demuth das erste Erfordernis eines Jüngers Christi? Und wo könnte ich mich besser in dieser Tugend üben, als gerade in Bec, wo ich Lanfranc stets über mir habe?“ So beschloß er denn, hier sich nieder zu lassen. In seinem sieben und zwanzigsten Jahre (1060) trat er in das Kloster ein.

Es war dies eines der merkwürdigsten, die es damals gab. Vor zwanzig Jahren erst hatte es ein normannischer Ritter, Namens Berluin, gegründet, den mitten im glänzendsten Hofleben auf ein Mal die Angst um das Heil seiner Seele ergriffen, und der nun dem Drange seines Herzens nicht anders zu genügen gewußt hatte, als indem er mit zwei gleichgesinnten Genossen auf einem seiner Güter (Borneville) ein Kloster zu bauen anfing, ohne noch mit dem Mönchsleben irgendwie näher bekannt zu sein. dem tiefen Verfalle der Klöster in seiner Nachbarschaft hatte er auch keines finden können, das er sich zum Muster hätte nehmen können; er hatte daher das seine, so gut er selbst es verstand, eingerichtet, Nichtsdestoweniger traf diese Einrichtung fast ganz mit der zusammen, welche einst der heil. Benedict in seinen Klöstern eingeführt hatte, und die neuerdings in der Congregation von Clugny wieder aufkam. Nach drei Jahren (1040) hatte Herluin sein Kloster in Folge eines Brandes an eine andere Stelle verlegt, an den Bach, welcher ihm den Namen gab, in einem Seitenthale der Rile; und hier ward ihm 1042 ein Gehülfe zugeführt, welcher durch die Wissenschaft, die er in das Kloster brachte, demselben noch eine andere Bedeutung verlieh. Es war dies eben jener Lanfranc – ursprünglich ein Rechtsgelehrter in Pavia, der sich aber auch mit Dialektik beschäftigt hatte und durch diese für die Philosophie gewonnen worden war, die er nach Verlassung seiner Vaterstadt seit 1040 in Avrenches vortrug. Durch die Philosophie aber ward er wieder zur Theologie gezogen, und die Theologie brachte ihn zur Erkenntnis der Eitelkeit seines bisherigen Treibens, so daß er 1042 Aprenches plötzlich wieder verließ, um einen Ort zu suchen, wo er ganz in der Stille der Betrachtung der göttlichen Dinge leben könnte. Auf dieser Reise war er eines Abends in der Nähe der Rille angelangt, als ihn Räuber überfielen, die ihn bis auf die Haut auszogen und fern von dem Wege an einen Baum festbanden. Eine ganze lange Nacht mußte er in dieser peinlichen Lage zubringen, und um so peinlicher wurde diese für ihn, als er zu seinem Schrecken entdeckte, daß er trotz aller Gelehrsamkeit nicht im Stande war, durch Gebet oder durch ein geistliches Lied sich zu stärken. Als er aber am folgenden Morgen von vorüberziehenden Reisenden, die er mit seinem Geschrei erreichte, befreit ward, erkundigte er sich bei diesen nach dem ärmsten Kloster, das sie in der Nähe wußten, und hier aufgenommen – es war Bec – verbrachte er die drei ersten Jahre in der tiefsten Zurückgezogenheit, aller Wissenschaft sich entschlagend und nur frommen Uebungen hingegeben, um die Kunst zu beten zu lernen. Erst als er die Eitelkeit seines Herzens hinlänglich gebrochen glaubte, wagte er wieder als Lehrer aufzutreten, und richtete nun auf Herluin’s Wunsch, der ihn 1046 zum Prior ernannte, eine Schule in dem Kloster ein, die alsbald ein Hauptsitz der Wissenschaft wurde, nach dem Schüler aus allen Nachbarländern strömten.

In diese Schule und dieses Kloster nun trat, wie gesagt, auch Anselm ein, und so rasch fand er sich in den Sinn und Geist, der hier herrschte, daß, als Lanfranc im Jahr 1063 zum Abte eines neugestifteten Klosters in Caen berufen wurde, Herluin ihn an dessen Stelle zum Prior erhob. Als solcher entwickelte er die fruchtbarste Thätigkeit für die weitere Hebung des Klosters, in religiöser wie in wissenschaftlicher Hinsicht. Besonders widmete er der Jugend sein Augenmerk. Denn wie das Wachs nicht zu hart und nicht zu weich sein müsse, um ein Siegel darauf zu drücken sei es nämlich zu hart, so nehme es den Eindruck gar nicht an; sei es aber zu weich, so verfließe derselbe gleich wieder – so seien Menschen, die bis in ihr höheres Alter nur mit den Dingen dieser Welt sich beschäftigt hätten, schon viel zu hart, um die Geheimnisse des Himmelreichs auch nur zu verstehen; Kinder aber noch viel zu weich, als daß Eindrücke davon haften könnten; das Jünglingsalter aber, das sei die rechte Zeit, um auf das Gemüth zu wirken, weil Selbstständigkeit und Empfänglichkeit da in glücklicher Mischung noch gleich sehr vorhanden seien. Von jener rauhen Disciplin aber, welche damals in den meisten Klöstern geübt wurde, wollte Anselm nichts wissen. Jungen Leuten müsse man, wie jungen Bäumen, ihre Freiheit lassen, wenn sie nicht verwachsen sollten. Daher pflegte er seinen Zöglingen Manches nachzusehn, um nur erst ihr Vertrauen zu gewinnen. War ihm dieses gelungen, dann wurde er ernster und strenger, bis er schließlich auch das bekämpfen konnte, was er anfangs geduldet hatte. Durch die Jugend wirkte er auch auf die ältern Klostergenossen ein, die ihm anfangs nicht sehr wohlwollten, weil sie meinten, daß er zu rasch zum Prior befördert worden sei, die sich aber zuletzt doch auch seiner Leitung anvertrauten, als sie merkten, daß ihm ein seltener Blick in das menschliche Herz verliehen war, der ihn leicht das rechte Wort für Jedermann treffen ließ. Selbst von Außerhalb wandte man sich daher mit der Zeit um geistlichen Rath an ihn. Man berief ihn nicht nur nach fremden Klöstern, um Worte des Lebens zu spenden, sondern er erhielt auch fast täglich Besuche und Briefe von Personen aus allen Ständen, die um Trost, Bescheidung und Aufmunterung baten. Dazu kam ein pastoraler Eifer, welcher eher die Andern ermüden ließ, ihn zu hören, als ihn, sie zu ermahnen und zu belehren. Man konnte von ihm wie vom heiligen Martin sagen: Christus, Gerechtigkeit, ewiges Leben kamen ihm nicht aus dem Munde. Doch war es nicht bloß diese seelsorgerische Thätigkeit, die er außer den Stunden, welche der Unterricht erforderte, mit solchem Eifer trieb, sondern auch die leibliche Noth nahm sein Mitleid in Anspruch. Täglich besuchte er das Krankenhaus, fragte geben, was ihm fehle, und reichte ihm selbst die Arznei. Den Gesunden ein Vater, war er den Kranken eine Mutter, oder vielmehr Kranken und Gesunden Vater und Mutter zugleich.“ Trotz der Menge von Geschäften aber, die er solchergestalt zu besorgen hatte, wußte er doch auch noch für dasjenige Zeit zu gewinnen, was seiner Neigung am Meisten entsprach: für theologische Meditation. Der Tag zwar verging in der Regel mit jenen Geschäften; die Nacht aber war die Zeit, wo er sich dem innersten Zuge seines Geistes überlassen konnte. Denn wie ihm das Fasten nach wenigen Jahren schon so zur Gewohnheit geworden war, daß er selbst nach längerer Abstinenz kaum noch Hunger empfand: so auch das Wachen. Fast nie ging er vor dem Frühgottesdienste zu Bett; häufig fanden ihn die Brüder, die diesen vorzubereiten hatten, wenn sie durch das Kloster gingen, statt in dem Dormitorium, in dem Capitel auf den Knieen liegend. Auch noch nachher blieb er nicht selten auf, und dies war nun die Zeit, wo er entweder stillen Andachtsübungen oblag, oder in der Schrift und den Vätern studierte, oder endlich der Meditation sich ergab und die großen Erkenntnisprobleme erwog, die sich ihm des Tags beim Unterrichte aufgedrängt hatten: woraus dann die Werke erwuchsen, welche ihn zum Begründer einer neuen Periode der Theologie gemacht haben Werke, die in der That das leisteten, was sie bezweckten, nämlich das Verständnis des Glaubens“ förderten, indem sie einen Einblick in dessen Mysterien gewährten, wie er bis dahin in der Kirche nicht vorgekommen war.

Nach Hecluin’s Tode im Jahre 1078 wurde Anselm einstimmig zum Abte des Klosters gewählt. Dadurch fiel ihm nun auch die Leitung der äußern Angelegenheiten desselben zu, und wenn er auch diese zu einem großen Theile bewährten Brüdern übertrug, indem er selbst vielmehr fortfuhr das Innere zu leiten, besonders den Unterricht und die Disciplin, so konnte er doch auch jenen sich nicht ganz entziehn, sondern mußte sich oft in Person mit Dingen befassen, welche seiner Neigung ziemlich fern lagen. Dennoch stand er auch da seinen Mann. Hatte er z. B. sein Kloster auf den Gerichtstagen der Grafschaft zu vertreten, auf welchen es oft sehr tumultuarisch herging, indem die processierenden Parteien einander mit Schreien zu überbieten suchten, so pflegte er anfangs ganz ruhig dazusitzen, ja wohl mitten im Getümmel an die nächste Umgebung eine kleine Predigt zu halten, oder wollte ihn Niemand hören, sich dem Schlummer zu überlassen; nichtsdestoweniger wußte er, wenn nun an ihn die Reihe kam, zu reden, mit ein paar Worten die Sache, um die es sich handelte, in das rechte Licht zu stellen und die Ränke und Listen der Gegner zu Schanden zu machen. Auch von den ökonomischen Sorgen, welche jetzt auf ihm lasteten, ließ er sich nicht sehr anfechten. Denn immer noch war das Kloster so arm, daß man oft nicht wußte, wovon man den folgenden Tag leben sollte. Auf alle Klagen der Küchen- und Kellermeister hatte er dann nur die Antwort: „Hofft auf der Herrn, der wird schon Rath schaffen!“ Und in der That liefen, oft noch an dem selben Tage entweder Almosen von reichen Nachbarn ein, oder Schiffe mit Geschenken aus England erschienen auf der Seine, oder es trat einer in das Kloster, der ihm sein Vermögen zubrachte u. s. w. Dabei herrschte die aufopferndste Gastfreundschaft in Bec. „Spanier und Burgunder“, ruft ein Zeitgenosse aus, aber auch die nächsten Nachbarn können das bezeugen; denn die Thüre der Beccenser steht jedem offen, der bei ihr anspricht.“ Hatte Anselm selbst in Angelegenheiten seines Klosters eine Reise zu machen, so benutzte er diese zugleich zu geistlicher Einwirkung auf die Kloster nicht nur, sondern auch auf die Laienfamilien, bei denen er vorsprach. Und überall hieß man ihn willkommen; denn er trat nicht im Tone des Lehrers, sondern des Freundes, des Hausgenossen auf; es waren nicht trockene Regeln, die er gab, sondern er bediente sich aus dem Leben gegriffener Beispiele, treffender Bilder, schlagender Sprüche, kurz der Gleichnisrede. Dabei drängte er sich Keinem auf, sondern richtete sich, so weit es mit dem Gewissen vereinbar war, nach den Sitten der verschiedenen Stände, ließ lieber etwas von der Strenge des Mönchsthums nach, als daß er durch Schroffheit zurückgestoßen hätte, und suchte mit dem Apostel Allen Alles zu werden, auf daß er alle gewänne. Hiedurch sorgte er auch für die Interessen seines Klosters auf’s Beste. Denn Jeber beeiferte sich, diesem etwas zuzuwenden. Selbst König Wilhelm der Eroberer, „dieser sonst so furchtbare Herr“, gehörte zu dessen Gönnern, und ebenso bezeigten die Päpste der Zeit ihm ihr Wohlwollen; Urban II. ertheilte ihm z. B. die Exemtion von der bischöflichen Gewalt. Da nun Anselm fünfzehn Jahre (1078-1093) als Abt an der Spitze des Klosters stand, wie er fünfzehn Jahre (1063-1078) als Prior demselben vorgestanden hatte, so gedieh dasselbe zu einer seltenen Wohlfahrt heran. Hatte Herluin während seines vierzigjährigen Regiments 136 Mönche in Dasselbe aufgenommen, so nahm Anselm während seines fünfzehnjährigen 180 auf. Diesseit und jenseit des Canals galt es als das Musterkloster; nach mehreren Seiten entsandte es geistliche Colonieen, und Bischofs- und Erzbischofs-Stühle wurden aus demselben besetzt.

Eine solche Besetzung nun war es auch, die Anselmen im Jahre 1093 dem Kloster entführte. Da es nämlich mehrere Besitzungen in England hatte, so hatte Anselm auch dorthin öfters reisen müssen, und hatte auch dort Aller Herzen gewonnen. Seit 1089 nun war dort der erzbischöfliche Stuhl von Canterbury erledigt, und doch that dessen Wiederbesetzung um so bringender noth, als der Nachfolger Wilhelms des Eroberers seit 1087, Wilhelm (II) der Rothe, die englische Kirche arg bedrückte. Nur von einem kräftigen Primas ließ sich da Abhülfe erwarten, und so hatten alle diejenigen, welchen der Nothstand der Kirche zu Herzen ging, ihre Augen schon längst auf Anselm gerichtet. Bisher aber hatte Wilhelm der Rothe von einer Wiederbelebung der Stelle nichts wissen wollen, da er selbst die Einkünfte derselben während der Vacanz bezog. Nur dies gab er, wie zum Hohne, am Ende des Jahres 1092 zu, daß man Gott um die Wiederbesetzung anriefe, d. h. öffentliche Gebete zu diesem Behufe anstellte; denn so, meinte er, würde er die Sache noch immer in seiner Hand behalten. Allein im Februar 1093 erkrankte er gefährlich, und in der Todesangst entriß man ihm endlich das Versprechen, der Haupt- und Mutterkirche des Reichs wieder einen Hirten zu geben. Zufällig befand sich nun gerade damals Anselm in der Nähe des königlichen Krankenlagers. Sofort berief man ihn an dasselbe und bestimmte den König auch dazu, Anselmen den Hirtenstab zu überreichen. Vergebens sträubte sich dieser; man drückte ihm den Stab recht eigentlich in die Hand und kehrte sich an keine seiner Vorstellungen. Es half nichts. Anselm mußte dem allgemeinen Rufe folgen, wie klar er auch erkannte, daß die härtesten Kämpfe seiner warteten, da er die Wiederherstellung der Freiheit der Kirche als die erste Aufgabe betrachten mußte, die ihm mit dem neuen Amte zufiel.

Wirklich hoben denn auch diese Kämpfe bald nach seiner Stuhlbesteigung (am 25. September 1093) an. Kaum genesen, fiel nämlich der König in seine frühere Sinnesweise zurück und behandelte die Kirche auf das Allerschnödeste, indem er sie nur als ein Mittel betrachtete, seine (immer leere) Schatzkammer zu bereichern. „Das Brot Christi ist ein fettes Brot“, pflegte er zu sagen, und: „Die Krone hat die Hälfte ihrer Einkünfte an die Kirche verloren; warum soll ich sie nicht wieder einzubringen suchen?“ Schon das verfeindete ihn daher mit dem neuen Erzbischofe, daß dieser ihm als Huldigungsgeschenk eine, wie der König meinte, viel zu geringe Summe bot – fünfhundert Pfund Silber – und durch keine Drohung zu bewegen war, sie zu erhöhen. Auf dieselbe Weise, wie das Erzbisthum von Canterbury, hatte ferner der König alle übrigen Bisthümer und Abteien, wenn sie erledigt wurden, unbesetzt gelassen, um ihre Einkünfte zu genießen. Anselm forderte, daß sie neue Vorsteher erhielten, und drang überdies auf die Einberufung einer Generalsynode, um Maßregeln gegen die grenzenlose Verwilderung der Sitten, welche in der letzten Zeit eingerissen war, zu treffen. Beides schlug ihm der König rund ab, und als sich Anselm nunmehr an den Papst wenden wollte, um durch dessen Auctorität an’s Ziel zu gelangen, suchte ihm der König auch diese Zuflucht abzuschneiden, indem er das Schisma, welches durch die Aufstellung eines Gegenpapstes durch Kaiser Heinrich IV. im Jahr 1080 entstanden war, benutzte, um sich die Entscheidung beizulegen, wer in England als der rechtmäßige Papst zu gelten habe. Der König selbst aber hatte sich bisher für keinen der beiden Päpste erklärt, um ungehindert mit der Kirche schalten und walten zu können, während Anselmes von Anfang an mit Urban II. hielt. Nun verstand sich zwar zuletzt (1095) auch der König zu der Anerkennung dieses Papstes, und alle Intriguen, das Ansehn desselben gegen Anselm zu benutzen, scheiterten. Allein die reformatorischen Maßregeln, welche Anselm bezweckte, kamen doch nicht zu Stande. Denn zuerst diente die Besetzung der Normandie, welche nach dem Tode Wilhelms des Eroberers an dessen ältesten Sohn, Robert III., gefallen war, der sie aber jetzt, um an dem ersten Kreuzzuge Theil nehmen zu können, auf drei Jahre an den jüngeren Bruder, den König von England, abtrat – zuerst diente die Besetzung der Normandie dem Könige als Vorwand, um die Anträge Anselms zurückzuweisen; und dann, als er endlich nach England zurückgekehrt war (1097), hatte er einen Aufstand der Waliser zu dämpfen. Nach dessen Beendigung hoffte freilich jedermann, daß der König dem Erzbischofe Gehör geben würde. Statt dessen bedrohte er ihn mit einem Processe wegen der angeblichen schlechten Beschaffenheit der von dem Erzstifte zu dem Kriege gestellten Truppen. Kurz: der König wollte den Erzbischof schlechterdings nicht zu Worte kommen lassen, und so beschloß denn Anselm, da der Papst jetzt wieder in England anerkannt war, persönlich diesen anzugehn, um ihn zu einem Einschreiten in der Sache zu veranlassen. Der König erklärte zwar, daß er dann Anselm als abgesetzt betrachten und das Erzstift wieder einziehn würde. Doch Anselm wollte lieber das zeitliche Gut, als die Würde und Freiheit der Kirche opfern, und trat daher wirklich im November 1097 die Reise an. In Lyon erkrankt, traf er erst im Mai 1098 in Rom ein. Hier empfing ihn der Papst sehr ehrenvoll und erließ sogleich ein Schreiben an den König, um volle Freiheit für Anselm zu verlangen. Allein eine Antwort desselben stand sobald nicht zu hoffen; daher bat er Anselmen, einstweilen in seiner Nähe zu bleiben und den Erfolg jenes Schreibens abzuwarten, und da es in Rom zu heiß war, so folgte Anselm der Einladung eines ehemaligen Beccensers, des Abts Johannes zu St. Salvator in Telesi, welcher ihm ein Gut dieses Klosters, Namens Sclavia, zum Aufenthalte anbot, das hoch und luftig gelegen war und die freieste Aussicht auf das glückliche Campanien gewährte. In dieser reizenden Einsamkeit verbrachte er den Sommer 1098 und vollendete eines seiner bedeutendsten Werke, das der Beantwortung der schwersten Frage, die der Glaube dem Denken stellen kann, der Frage: „Warum Gott Mensch?“ gewidmet war. Nur einmal stieg er in die Ebene hinab: als ihn nämlich die normannischen Fürsten in Unteritalien, welche damals grade das aufrührerische Capua belagerten, gern kennen lernen wollten. Mitten in ihrem Lager stattete er ihnen da einen Besuch ab und machte selbst auf die Sarazenen des Herzogs Roger von Sicilien tiefen Eindruck.

Im October begleitete er den Papst zu einem Concil in Bari, wo hauptsächlich durch seinen Einfluß die lateinische Lehre vom Ausgange des h. Geistes, der griechischen gegenüber, den Sieg erfocht. Von da kehrte er mit dem Papste nach Rom zurück, und hier traf nun endlich die Antwort des Königs auf das Schreiben des Papstes ein. Sie lautete ablehnend, und so kündigte nunmehr der Papst dem Könige die Excommunikation an, wenn er den Erzbischof von Canterbury nicht bis Michaelis 1099 vollständig in sein Amt wieder eingesetzt haben würde. Allein noch vor Ablauf dieser Frist, am 29. Juli 1099, starb Urban II., und der folgende Papst, Parchal II., wollte nicht sogleich beim Beginne seines Pontificats den Streit mit der englischen Krone erneuern. Auch hatte Anselm bereits zu Ende April 1099 Rom verlassen und bei einem alten Freunde, dem Erzbischof Hugo von Lyon, ein Unterkommen gefunden.

Im folgenden Jahre (1100) starb nun aber auch der König (auf einer Jagd in dem „Neuen Forste“ bei Winchester). Heinrich (I.), sein jüngerer Bruder, der ihm folgte, rief sogleich den verbannten Erzbischof zurück und versprach die Abstellung aller bisherigen Mißbräuche. Nichtsdestoweniger gerieth doch auch er mit Anselm in Streit, weil dieser in Folge des Beschlusses einer römischen Synode, der er selbst noch im April 1099 beigewohnt hatte, und die jede Annahme eines geistlichen Amts aus Laienhand, so wie jede Vertreibung eines Geistlichen durch Laien verboten hatte, sich weigerte, von dem Könige sich mit seinem Amte bekleiden („investieren“) zu lassen und demselben den üblichen Lehnseid zu leisten, So treu er es auch mit dem Könige hielt, als der Herzog Robert (III.) im September 1100 aus dem Morgenlande zurück kehrte und die Thronfolge in England in Anspruch nahm. Denn während da die Barone nur zu geneigt waren, zu Robert (III.) abzufallen, stand Anselm mit aller Kraft für Heinrich I. ein. Allein Lehnsmann des Königs wollte er allerdings nicht werden, weil ihm dies mit der Freiheit des kirchlichen Regiments zu streiten schien, während andererseits der König die Sicherheit des weltlichen Regiments für gefährdet hielt, wenn der Klerus nicht in jener Abhängigkeit von ihm stände. Schon zu Ende des Jahres 1100 sandte daher Heinrich einen seiner Vertrauten nach Rom, um wo möglich eine Aenderung jenes Synodalbeschlusses zu bewirken, und als dieser unverrichteter Sache zu Ostern 1101 zurückehrte, beschloß man, von Seiten des Reichs eine zweite Gesandtschaft an den Papst, die denselben so dringend als möglich dazu auffordern sollte. Bei deren Rückkehr (im Mai 1102) ergab sich nun aber der ärgerliche Umstand, daß die päpstlichen Schreiben, die sie mitbrachte, anders lauteten, als der Bescheid, den sie mündlich von dem Papste empfangen haben wollte. Während nämlich jene dem Könige das Recht der Belehnung mit kirchlichen Aemtern durchaus absprachen, sollte Pascal II. mündlich geäußert haben, daß der König sich immerhin dieses Rechts bedienen möge, sobald er die Aemter nur würdigen Personen verleibe. Bei diesem Zwiespalt blieb nichts übrig, als eine dritte Gesandtschaft nach Rom, und diese brachte nun zwar im März 1103 die Bestätigung des früheren schriftlichen Bescheids; allein der König wollte doch nicht von seinem Rechte lassen und stellte daher an Anselm selbst das Ansinnen, nach Rom zu reisen, um eine günstigere Entscheidung herbeizuführen. Auch die Stände drangen in ihn, und da man ihm ausdrücklich gestattete, dem Papste einfach den Thatbestand vorzulegen, jeder Einwirkung auf das päpstliche Urtheil aber sich zu enthalten, so entschloß sich Anselm zu der Reise, obwohl er recht gut erkannte, daß man damit nur seine Entfernung bezwecke. Dies stellte sich denn auch bald genug als die eigentliche Absicht heraus. Denn als der Papst dabei beharrte, dem Könige das Investiturrecht zu verweigern, so erklärte der königliche Gesandte, welcher mit Anselm nach Rom gekommen war, daß sein Herr diesem dann auch nicht gestatten könne, nach England zurückzukehren. Anselm mußte also abermals ein Unterkommen im Auslande suchen und fand es auch dies Mal bei seinem Freunde, dem Erzbischof von Spon. Vergebens suchte er von hier aus brieflich, den König umzustimmen; nach dem dritten Briefe brach dieser die Correspondenz ab. Vergebens wartete er aber auch auf ein Einschreiten des Papstes. Zwar die Bischöfe, die sich von dem Könige investieren ließen, auch die Räthe des Königs excommunicierte Paschal auf einem Lateranconcil zu Anfang des Jahres 1105. Aber gegen den König selbst verschob er den Spruch von Frist zu Frist, weil dieser durch immer neue Gesandtschaften ihn hinhielt.

Nach dem so anderthalb Jahre verflossen waren, beschloß endlich Anselm selbst zu diesem letzten Mittel zu greifen, um der Sache ein Ende zu machen. Er begab sich im Mai 1105 in die Nähe der Normandie, wo der König sich damals (im Kriege mit seinem Bruder Robert) aufhielt, um demselben die Excommunication anzukündigen. Vorher aber theilte er seinen Entschluß einer Schwester des Königs, der Gräfin Adele von Blois, einer alten Gönnerin des Klosters Bec, mit, und diese eilte, ihren Bruder davon in Kenntnis zu setzen. Zu diesem Aeußersten wollte es der König doch nicht kommen lassen. Er veranstaltete also im Juli 1105 eine Zusammenkunft mit Anselm (in der Burg L’Aigle) und erklärte sich bereit, auf das Investiturrecht zu verzichten, wenn er wenigstens auf den Lehnseid rechnen dürfe. Nun wollte ihm zwar Anselm auch diesen nicht zugestehn; doch der Papst, den man wieder zum Schiedsrichter wählte, trat hierin auf die Seite des Königs, und so gab Anselm nach. Auf einer zweiten Zusammenkunft im August 1106 (in Bec) verglich man sich über alle übrigen noch streitigen Punkte; und unter allgemeinem Jubel kehrte nunmehr Anselm nach England zurück. Das beste Vernehmen herrschte seitdem zwischen ihm und dem Könige; Heinrich ging auf alle Maßregeln, die Anselm ihm vorschlug, ein; ja, er ernannte ihn sogar einmal, als er England auf längere Zeit verlassen mußte, zum Reichsverweser. Die Kirche stand wieder in Ehren, und der große Kampf, welcher damals überhaupt zwischen ihr und dem Staate geführt wurde, hatte wenigstens in England seine erste versöhnliche Lösung gefunden.

Wie nach Außen die Freiheit, so war es nach Innen die Einheit des kirchlichen Regiments, deren Wiederherstellung sich Anselm eifrigst angelegen sein ließ, und bei seiner Festigkeit wußte er in der That die englischen Bischöfe, welche unter Wilhelm dem Rothen sich möglichst unabhängig zu stellen gesucht hatten, allmählich wieder in die rechte Unterordnung unter den Stuhl von Canterbury zurückzuführen; selbst den Erzbischof von York nöthigte er dazu.

Aber freilich war ihm die Stärkung des kirchlichen Regiments nach Innen wie nach Außen nur Mittel zum Zwecke. Denn was ihm am Meisten am Herzen lag, war die Herstellung christlicher Sitte und Zucht im Lande. Daher drang er mit solchem Eifer von Anfang an auf die Einberufung einer Generalsynode, weil nur diese allgemeine disciplinarische Maßregeln treffen konnte, und unter Heinrich I. im Jahr 1102, sowie später noch einmal im Jahre 1108, hatte er die Freude, eine solche zu Stande kommen zu sehen. Eine Reihe der kräftigsten Beschlüsse wurden gefaßt; der Klerus wurde wieder an seinen geistlichen Beruf erinnert und der Verwilderung der Laienwelt, die besonders die Fleischessünden, und zumal unter den Normanen, eine furchtbare Höhe hatte erreichen lassen, mit den ernstesten Strafen begegnet. Aber wohl erkannte Anselm, daß mit diesen disciplinarischen Mitteln nicht viel ausgerichtet werden würde, wenn nicht die herrschende Gesinnung eine bessere würde, und da sich auf diese nur durch das praktische Beispiel, das unmittelbare Vorbild erfolgreich einwirken ließ, so ging seine Hauptsorge auf die Reformation der englischen Klöster. Denn diese sollten nach ihm die Licht- und Lebensherde sein, die die christliche Frömmigkeit am “ Vollkommensten“ darstellten und durch diese Darstellung bildend und erziehend auf die “ Welt“ zurückwirkten. Den Klöstern widmete er daher die allergrößte Aufmerksamkeit, indem er ihnen nicht nur tüchtige Vorsteher zu verschaffen suchte, sondern auch selbst an der Leitung ihres innern Lebens Theil nahm, indem er von Zeit zu Zeit Hirtenbriefe an sie richtete, welche väterliche Ermahnungen, Warnungen, Rathschläge u. s. w. enthielten.

Mit derselben Treue, mit der er so als Primas das Wohl der englischen Kirche überhaupt – und nicht bloß dieser; denn der Primat von Canterbury erstreckte sich auch über Irland, Schottland und die benachbarten Inseln – auf dem Herzen trug: mit der selben Treue sorgte er für die Diöcese, über die er zunächst als Bischof gesetzt war: für die kentische. Fast beständig war er auf Visitationsreisen, um zu sehn, wie es in den einzelnen Parochien stände, und selbst an Ort und Stelle die nöthigen Anordnungen zu treffen. Seine Hauptthätigkeit galt aber auch hier dem Kloster, welches mit der Kathedrale verbunden und die Pflanzschule für den Klerus der Diöcese war, während die ältern Mitglieder das Capitel des Erzbischofs bildeten. In diesem Kloster fand er sein Bec wieder; hier „schöpfte er Athem,“ wenn er von den weltlichen Geschäften, die die Administration der Güter des Erzstifts erforderte, müde war. Denn an solchen fehlte es freilich auch nicht, und diese gehörten mit zu dem Schwersten, was sein Amt ihm auferlegte, so daß er wohl zuweilen äußerte, er möchte lieber als Knabe im Kloster vor der Ruthe des Lehrers zittern, als auf dem Bischofsstuhle sitzen. Daher war es ihm eine Erholung, wenn er mit den jungen Leuten im Kloster verkehren, oder gar, in einen stillen Winkel des Zimmers sich zurückziehn und – meditieren konnte. Denn das Nachdenken über die Wahrheiten des Glaubens blieb ihm immer die liebste Erholung, und als Frucht desselben gab er auch jetzt noch von Zeit zu Zeit ein theologisches Werk heraus.

Desgleichen blieb er fortwährend der ascetischen Lebensweise getreu, die ihm seit seiner Klosterzeit zur andern Natur geworden war. Eben diese rieb ihn aber auch mit der Zeit auf. Denn in Folge der häufigen Fasten und Wachen stellte sich allmählich eine krankhafte Schlaf- und Appetitlosigkeit ein, die zuweilen mit Fieberschauern verbunden war. Einen sehr bedenklichen Anfall erlitt er bereits im Jahre 1106, dem 73sten seines Lebens; dieser wiederholte sich im Frühjahr 1107 und schwächte ihn so, daß er seine Reisen nicht mehr zu Pferde machen konnte, sondern sich in einer Sänfte tragen lassen mußte. Eine dritte Erkrankung im Juli 1108 brach vollends seine Kraft. Alle Speisen wurden ihm zum Ekel; er mußte sich Gewalt anthun, etwas zu essen. So siechte er langsam hin, bis er endlich im Frühjahr 1109 so schwach wurde, daß er sich in die Kirche auch nicht einmal mehr tragen lassen konnte. Stil lag er seitdem auf seinem Bette und richtete mit gebrochener Stimme an jeden, der ihn besuchte, Worte frommer Ermahnung.

Am Palmsonntage äußerte Einer von Denen, die um ihn waren, es scheine, daß er Ostern diesmal am Hofe eines andern als seines irdischen Königs und Herrn feiern solle. „So scheint es,“ erwiderte er, „und ich werde gern seinem Rufe folgen; doch würde ich es auch dankbar annehmen, wenn er mich noch eine Zeit lang bei euch lassen und mir eine Frage zu lösen gestatten würde, die mich jetzt lebhaft beschäftigt: über den Ursprung der Seele.“

„Könnt ich nur etwas genießen,“ setzte er hinzu, ich würde wieder gesund werden; denn abgesehen von der äußersten Schwäche, fühle ich keinen Schmerz.“ Aber schon am Dienstag Abend konnte man ihn nicht mehr verstehn, wenn er sprach; so erstorben war seine Stimme. Da bat ihn der Bischof Radulf von Rochester, ob er nicht noch einmal seinen gegenwärtigen und übrigen Kindern, dem Könige und der Königin, sowie dem Volke des Landes, das unter seiner geistlichen Aufsicht gestanden, Segen und Absolution ertheilen wolle. Sofort richtete er sich auf, machte mit der Rechten das Kreuzeszeichen und senkte dann das Haupt auf die Brust. Nach Mitternacht, als die Brüder in der Kathedrale die Frühhoren anstimmten, nahm Einer von Denen, die um ihn wachten, das Evangelienbuch und las ihm daraus den Passionstext vor, der an diesem Tage zur Messe gelesen zu werden pflegte. Als er zu den Worten gekommen war: „Ihr aber seid es, die ihr beharrt habt bei mir in meinen Anfechtungen, und ich will euch das Reich bescheiden, wie mir’s mein Vater beschieden hat, daß ihr essen und trinken sollt über meinem Tisch in meinem Reich“ (Luc. 22, 28 – 30.), fing Anselm langsamer zu athmen an, und mit Anbruch der Morgenröthe, am Mittwoch vor Ostern, den 21. April 1109, entschlief er, um in das Reich einzugehn, welchem schon hienieden seine Seele angehört und sein Wirken gegolten hatte.

 

Aurelia

Aurelia ist eine jener Nebelgestalten, wie dieselben die Vorgeschichte der Einführung des Christenthums in verschiedenen Ländern häufig zeigt. Diese Gestalten wurden um so leichter zu Heiligen erhoben, je unbestimmter sie waren; die Phantasie übte leicht ihr frommes Spiel da, wo Niemand nähere Kunde zu geben im Stande war. Doch der Herr kennet die Seinen und wir gönnen ihnen den Himmel, wenn sie ihn aus Gnaden empfangen haben.

Von Aurelia wissen wir nicht Eine hervorstechende That, ja nicht Ein eigenthümliches Wort, sondern bloß den Namen und kaum etwas mehr. Die Legende erzählt: Aurelia sei eine der eilftausend Jungfrauen gewesen, die unter Anführung der Ursula von Rom nach Cöln am Rhein zogen, man weiß nicht recht wann? dort von den Hunnen unter Attila überfallen und wegen ihres Christenglaubens niedergemetzelt wurden. Aurelia aber habe Cöln nicht erreicht, sondern sei zu Straßburg erkrankt und gestorben. Diese Sage von Aurelia, Ursula und den 11 tausend Jungfrauen findet man schon im 6ten Jahrhundert erwähnt, aber erst im 12ten Jahrhundert wurde sie ausgeschmückt durch Gerlach, Abt von Deutz, und Elisabeth, Aebtissin von Schönau, und noch in der Mitte des 17ten Jahrhunderts schrieb der Jesuit Crombach in Cöln einen dicken Folianten zur Vertheidigung der Ursula und ihrer 11 tausend Gefährtinnen. Besonders in der Gegend von Cöln glaubte man fest an diese wahrhaft grandiose Dichtung, die es mit den Zahlen nicht genau nahm und die wohl ihren Grund in einem Unwissenheitsfehler bat, wie er im 9ten Jahrhundert sehr erklärlich ist, wo man nämlich die Inschrift: XI M. Virgines (11 Märtyrerjungfrauen) ins Ungeheure steigerte und daraus XI Mille Virgines machte.

Beim Wiedererwachen des Forschungsgeistes im 16ten Jahrhundert scheute sich der katholische Schullehrer zu Hagenau, der gelehrte Hieronymus Gebweiler nicht, diese Sache für eine lächerliche Fabel zu erklären. Spätere Kirchengeschichtschreiber als: Baronius, Balthasar Bebel in Straßburg, Mosheim, Grandidier u. s. w. stimmen vollkommen ein. Es fragt sich nun, was wissen wir von Aurelia? Da die 11tausend Jungfrauen nicht existierten, war sie wenigstens eine Gefährtin der Ursula? Auch dies beruht nur auf einem sehr unbestimmten und späten, zweifelhaften Zeugnis des Petrus de natalibus, der eine gewisse Aurea unter den 11 tausend Jungfrauen, als Tochter einer Königin von Sicilien nennt. Allein mag Aurelia die Gefährtin der Ursula gewesen sein, oder nicht, ihre Verehrung als Heilige ist in der Rheingegend uralt, muß also doch wohl einen geschichtlichen Grund haben. Als der heil. Gallus am Ende des 6ten Jahrhunderts nach dem freilich zerstörten Bregenz kam, fand er dort schon eine Aureliencapelle, zwar durch heidnische Bräuche entheiligt, die er aber wieder weihte; und Königshofen berichtet, daß bereits um das Jahr 500 außerhalb der Mauer der damaligen Stadt Straßburg eine Kirche zu Ehren der Aurelia erbaut ward. Das geschichtlich zu Erweisende mag etwa dieses sein: Aurelia war eine Römerin, darauf deutet ihr Name; ihr Leben fällt in die letzte Zeit der Römerherrschaft am Rhein; durch die Römer aber war das Christenthum zuerst unsern Vorfahren am Rhein, keltischen Stammes, bekannt geworden. Seit dem 9ten Jahrhundert findet sich Aurelia in unseren Martyrologien, Brevieren, Ritualbüchern als Jungfrau bezeichnet. Sie kam in Begleitung einiger gleichgesinnter Frauen (die Sage nennt Einbeth, Warbeth, Witbeth, deutschklingende Namen) in unsre Rheingegend. Sie mag durch irgend eine That oder ein Streben des Glaubens oder der Liebe dem Christenvolke werth geworden sein, also daß ihr Andenken die Zerstörung der ersten römischchristlichen Einrichtungen durch den Alemannensturm im 5ten Jahrhundert überdauerte. Sie soll an einem 15. October zu Ende desselben Jahrhunderts zu Straßburg gestorben sein. Ihr Sarg und Reliquien wurden in der Kirche St. Aurelien zu Straßburg aufbewahrt und wurden vom Volk als wunderwirkend verehrt. Zur Stärkung dieses Wunderglaubens wurde in späteren Zeiten allerlei Schauerliches erzählt, z. B. als einer den Sarg der Aurelia aufbrechen wollte, sei der Teufel in ihn gefahren, so daß er in seiner Wuth seine eigenen Hände und Füße aufgefressen; ein andermal war ein Haufe von Straßburger Bürgern, das Fest der heiligen Aurelia verachtend, am 15. October, dem Aurelientage, hinaus an die Rothe Kirche gegangen, um einen Graben vom Schlamm zu säubern, mehr als zwanzig derselben aber starben plötzlich. So suchte der Aberglaube von jeher die Menschen weit eher zu fürchten, als sie zu trösten.

Die Kirche St. Aurelien zu Straßburg stand lange Zeit außerhalb der Ringmauern und sagt Königshofen: „Was gar schön und luftlich und gemühtig von mitten wasser und weiden.“ Bischof Ruthard soll dieselbe um das Jahr 910 haben neu erbauen lassen und übergab das Patronat und die Gefälle derselben dem Stift St. Thomä. Bischof Heinrich von Bahringen und Papst Honorius III, bestätigten 1249 diese Schenkung.

St. Aurelien blieb nun die Pfarrkirche der Gärtner jenes Stadttheils. Diese nahmen in der Reformationszeit die evangelische Lehre mit heißem Eifer an. Martin Butzer ward ihr erster Prediger. Im Jahr 1524 wurde der Sarcophag der heiligen Aurelia aufgebrochen; man fand darin eine Menge Knochen, die nie zu einem menschlichen Körper gehört haben konnten. Die Knochen und der Sarcophag wurden weggeschafft und die Krypte zugeworfen. An die Stelle der alten baufälligen Kirche wurde in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine neue schöne, evangelische Kirche erbaut und im Mai 1765 eingeweiht; nur der alte Thurm steht noch zum Zeugnis für Aurelia. Heil dem, dessen Namen bleibt ewiglich, wenn auch seiner Werke hienieden vergessen wird! und wenn selbst unsers Namens auf Erden nicht mehr gedacht wird, so möge er doch im Himmel angeschrieben sein!

T. W. Röhrich in Straßburg.

Bartholomäus (Nathanael)

Nathanael, dessen hebräischer Name: „Gottesgabe“ bedeutet, der Vorgänger aller Theodore, Deodate, Theodorete und Dorothee, der „echte Israelit, in welchem kein Falsch ist“ (Joh. 1, 47), wurde auf Grund von Joh. 21, 2 in Vergleichung mit den Apostelverzeichnissen in Matth. 10, Marc. 3, Luc. 6 und Apostelgesch. 1 schon im frühesten christlichen Alterthum für eine und dieselbe Person mit Bartholomäus (Sohn Thalmai, ein alter palästinensischer Name) gehalten. Er wohnte zu Kana in Galiläa, wo der Herr kurz nach seiner Begegnung mit ihm zuerst auf der Hochzeit „seine Herrlichkeit offenbarte.“ Ob Nathanael zu dem Hause gehörte, welches den Herrn zu seinem Feste lud, ob er ihn als einen Schüler des Täufers noch im Jordanlande oder erst nach seiner Rückkehr gen Galiläa irgendwo traf, bleibt unbestimmt. Daß er aber einer von denen war, „die auf den Trost Israels warteten“, geht aus der Erzählung bei Johannes hervor. Auch von dem Täufer musste er wohl, als Freund des Philippus, der wie Simon und Andreas diesem Vorläufer des Herrn zugehörte, in größerm Maße angeregt sein. Die erste Berührung mit dem Herrn war eine ihm unbewußte. „Ehe denn dich Philippus rief, da du unter dem Feigenbaum warest, sahe ich dich“, spricht Christus zu ihm und dieses Wort ruft die tiefsten Glaubenstöne seiner Seele hervor, ist die Lösung seiner stillen Räthsel. Der Mund der Wahrheit bezeichnet die Thatsache dieses Sehens als etwas „Großes“ und kündigt als das „noch Größere“ die Oeffnung des Himmels und das Auf- und Abfahren der Engel Gottes an. Demnach muss es ein wunderbares Sehen gewesen sein, ein Sehen mit dem höheren Geistesblick, nicht mit dem leiblichen Auge. Denn sonst hatte es nichts Tieferes zu bedeuten. Aber nicht dieser Fernblick, so staunenswerth er auch war, kann die Glaubenstöne aus Nathanaels Seele hervorrufen, noch weniger aber sie zu solcher Höhe stimmen, daß sie aussprachen, was ein Nikodemus auf alle Zeichen des Herrn noch nicht wagte, was Petrus nur durch „Offenbarung des Vaters im Himmel“ zu sagen vermochte. Es war ihm klar, daß der ihn „unter dem Feigenbaum“ gesehen, ob er wohl räumlich in weiter Ferne von ihm war, noch tiefer geblickt haben müsse, hinein in die verborgene Welt seines Herzens. Und wenn der Herr auf diesen Blick hin in’s Innerste des künftigen Jüngers das köstliche Zeugnis über ihn sprechen konnte, ehe dieser nur den Mund geöffnet außer zu einem Zweifel, was muss das Auge des Herrn da gesehen haben unter dem Feigenbaum? Ohne Zweifel ein Herz voll Sehnsucht nach dem Heil, eine von der Hoffnung der Erlösung, durch Johannes Zeugnis von dem Kommenden, wie in Morgendämmerung angeleuchtete Seele, ein Gebet, das sich an die Himmelsleiter der Verheißungen und Weissagungen klammerte und zu dem lange verschlossen gewesenen Himmel emporstrebte.

So hatte ihn der Herr gefunden, ehe Philippus ihn fand. Er aber wußte es nicht, sondern der erste Klang der neuen Welt, in die er nach wenigen Augenblicken eintreten sollte, war des Philippus Wort: „Wir haben den gefunden, von welchem Moses im Gesetz und alle Propheten geschrieben haben, „Jesum, Josephs Sohn, von Nazareth.“ – Es war zu viel für seine sehnende Seele. Das Herz war zu enge für die plötzliche Erfüllung seines innigsten Verlangens, diese rasche Erhörung seines tiefsten Gebetes. Er glaubte im Unglauben und war ungläubig im Glauben. Er widersprach nicht der Sache, nicht der Zeit, nicht dem Namen, nicht der Person. Nur an das letzte Wort: “ Nazareth“ heftete sich sein Zweifel.

Nazareth ist ihm zu klein, zu arm, um solche Fülle des Lebens, wie sie seinem sehnenden Herzen der Messias bringen sollte, zu fassen, ja gar menschlich hervorzubringen. Aber dem verlangenden Gemüthe schlägt die Einladung: „Komm und siehe es!“ alle Zweifel nieder. Er schweigt, er geht, er sieht. Und nicht das lobende Wort des Herrn, das er wohl hört, öffnet die Schleusen seines Innern, sondern zum rechten Beweise, daß wirklich in ihm kein Trug war, fragt er nach der Quelle dieses freundlichen Zeugnisses, das er sich selbst nicht würde gegeben haben. Die Art, wie der Herr es ihm gibt, macht falsche Bescheidenheit unmöglich. Er sieht sich im tiefsten Innern, in seinem heiligsten Geheimnisse erkannt und der Ruf: „Rabbi! du bist Gottes Sohn! du bist der König von Israel!“ bildet den Wendepunkt seines geistlichen Daseins. Ein Blitz der gläubigen Erleuchtung hat ihn in’s Herz der Ewigkeit blicken lassen, es ist der „Sohn Gottes“ vom Himmel gekommen, wie ihn die letzten Propheten geweissagt, vor dem er anbetend steht. Da war der Apostel geboren im heiligen Geiste und der Anfang war da von dem Oeffnen des Auges für das Niederströmen der Ewigkeit in die Zeit, das Hineinleuchten des Gnadenlichtes in die Nacht der sündigen Welt; des Menschen Sohn, der niedrige, ist der Gegenstand des Dienstes der himmlischen Heerschaaren, Krippe und Kreuz sind umleuchtet vom Strahlenglanze der Herrlichkeit.

So steht dieses Apostelbild, nur kurze Zeit von der meldenden Geschichte gesehen, nur genannt mit der Schar der Zwölfe bis zur Himmelfahrt des Herrn, vor unsern Augen. Ein stiller, lieblichernster, tiefinnerlicher Jünger des Herrn leuchtet er in unsere Zeiten herab. Ob Indien, Lykaonien, Armenien der Schauplatz seines apostolischen Zeugens und Leidens war, es bleibt dunkel. Die Zeugnisse des Alterthums lassen nur als wahrscheinlich betrachten, daß er im südöstlichen Arabien oder im südlichen Persien den Gottessohn und König Israels verkündete und dort im Glauben die Engel Gottes hinauf- und herabfahren sah.

W. Hoffmann in Berlin

Benedictus von Nursia

Wie man auch immer über das Mönchsthum urtheilen mager so viel ist gewiß, daß die abendländische Christenheit dem Benedictiner Orden einen großen Theil ihrer Bildung verdankt.

Durch Benedictiner wurde das Christenthum bei uns ausgebreitet; in ihren Klöstern fand im Mittelalter die Wissenschaft ihre Pflege und auch nach der Reformation war es dieser Orden besonders, der sich durch schöne Gelehrsamkeit, namentlich durch die Herausgabe der Kirchenväter und kirchenhistorischen Werke ein großes Verdienst erwarb. Der Stifter dieses Ordens, der „Patriarch des abendländischen Mönchsthums,“ ist Benedict von Nursia.

Die Stadt Nursia, die im Jahr 1702 durch ein Erdbeben beinahe ganz zerstört worden ist, lag in Umbrien (dem Herzogthum Spoleto) am Fuße der Apenninen, und schon die alten Dichter, wie Virgil, erwähnen ihrer als einer unter kaltem Himmelsstriche gelegenen, häufigem Frost ausgesetzten Stadt. Hier wurde im Jahr 480 Benedict zugleich mit seiner Zwillingsschwester Scholastica geboren. Der Vater, Eutropius, stammte aus dem ansehnlichen Hause der Anicier, die Mutter, Abundantia, aus der Familie der Niguardati. Schon als Kind soll Benedict nach der Legende viele Wunder verrichtet haben. Wir halten uns bei diesen nicht auf, sondern bemerken nur, daß der Knabe, nachdem er sein siebentes Jahr zurück. gelegt hatte, von seinem Vater nach Rom gebracht wurde, um dort zu studieren. Allein nach fünfjährigem Aufenthalt daselbst floh Benedict (492) bloß in Begleitung seiner Amme, die ihm treu anhing, heimlich aus der Stadt, um sich in die Einsamkeit zurück zuziehen. Erst ließ er sich in Aufidena nieder, wo er die Einwohner von dem Götzendienst entwöhnte, dem sie noch ergeben waren. Bald darauf ging er nach dem eine geringe Strecke von Aufidena entfernten Subjaco (Sublaco), eine Tagreise von Rom. Engel sollen ihn dahin geleitet haben. Dort zog er sich in eine Höhle zurück, und sah niemanden, außer dem in einem benachbarten Kloster wohnenden Mönch Romanus, der ihn in seinem Vorsatze, der Welt zu entsagen, bestärkte und ihn (wie die Klostersage berichtet) als Mönch einkleidete. Wichtiger für Benedicts inneres Leben war, daß er durch diesen frommen Mann auf die heilige Schrift hingewiesen und mit ihren Schätzen bekannt gemacht wurde. Benedict selbst bezeugt, daß ihm von nun an die h. Schrift ein Licht auf seinem Wege geworden sei; an ihr fand seine Seele die rechte Nahrung. Gottes Wort ward ihm süßer als Honig und Honigseim. Er erkannte in ihm die stärkste Waffe gegen alle Versuchungen der Sünde und des Fleisches. Diesen setzte Benedict (nach dem Geiste der Zeit) auch häufiges Fasten und mancherlei Peinigungen entgegen, wie sie das Mönchsthum in den seltsamsten und ausgesuchtesten Formen aufzuweisen hat. Nachdem er 3 Jahre in der Einsamkeit zugebracht hatte, wobei Romanus für seinen Unterhalt sorgte((Er ließ ihm das Brot, das er mit ihm theilte, an einem Stricke über den Felsen hinunter, der das Kloster von der Grotte Benedicts trennte. Dieser gab, wenn er Speise bedurfte, das Zeichen mit einer Glocke. Als der Teufel dieses Werk aus Neid zerstört hatte, ward durch einen frommen Presbyter für ihn gesorgt, den ein göttliches Gesicht angewiesen hatte, seine Ostermahlzeit mit ihm zu theilen. )), (auch die umher wohnenden Hirten besuchten ihn bisweilen, um Worte des Lebens aus seinem Munde zu vernehmen) ließ er sich bereden, Vorsteher (Abt) eines in der Nähe liegenden Klosters zu werden. Allein die Widerspenstigkeit der dortigen Mönche, die sich seiner strengen Zucht nicht unterwerfen wollten (man stellte sogar seinem Leben nach), bewog ihn, sich aufs Neue in die Einsamkeit zurückzuziehen. Sodann errichtete er selbst nach und nach Kloster in der Umgegend; zwölfe werden uns von der Sage genannt, deren jedes er wieder mit zwölf Mönchen bevölkerte. Einige der Mönche behielt er in seiner Nähe. Unter den Schülern, die er heranzog, sind besonders Maurus und Placidus zu nennen. Der Erstere, der Sohn eines gewissen Equilius war 12, der Letztere des Tertullus Sohn, 7 Jahr alt, als sie dem frommen Meister zugeführt wurden. Auch hier war indessen Benedict vor Verfolgungen nicht sicher. Nachdem er den Nachstellungen des neidischen Priesters Florentius, wie die Legende berichtet, durch ein Wunder entgangen war, begab er sich im Jahr 528 nach dem Castrum Casinum, einer hoch gelegenen und verfallenen Burg in der Provinz Terra di Lavore, zwischen Subjaco und Neapel. Auch in dieser Gegend wucherte noch das alte Heidenthum. Apollo hatte daselbst einen Tempel und einen geweiheten Hain. Benedict schritt kräftig ein, er zerstörte das Götzenbild und den ihm geweihten Altar, verbrannte den Hain und weitete den Tempel dem Dienste des h. Martinus und des Apostels Johannes. Hier wurde denn das große Stammkloster des Benedictiner Ordens angelegt, das den Namen Monte Cassino führt. Der König der Ostgothen, Totilas, bewies dem heiligen Manne alle Achtung und nahm von ihm Zurechtweisung an. Nach einem segensreichen Wirken, das von der Zeit als ein durch höhere Kraft getragenes begriffen und von der Mönchssage in’s Wunderbare ausgeschmückt wurde, starb Benedict, nachdem er seinen Tod vorausgesagt haben soll, den 20. März 543. Noch ein neues Kloster hatte er zu Terracina gestiftet. Die Abtei von Monte Cassino wurde 589 durch die Longobarden zerstört und erst nach einem Jahrhundert wieder aufgebaut. Eine abermalige Verwüstung trat 884 durch die Araber ein. Doch erstand das Kloster wieder aus seinen Trümmern und nahm in der Folge eine weit großartigere Gestalt an, als die ursprüngliche gewesen war.

Verweilen wir noch einen Augenblick bei dem von Benedict gestifteten Orden selbst, seinen Regeln und seiner Geschichte. Das Mönchsthum hatte im Morgenlande seinen Ursprung und hatte dort frühzeitig einen rein beschaulichen Charakter angenommen, so daß der heilige Ernst und die Gluth der Andacht bisweilen in finstere Schwärmerei ausarteten, während besonnene Männer, wie Basilius d. Gr. durch weise Vorschriften und durch eigenes Beispiel das unverkennbar in der Zeit liegende und durch die Verhältnisse der Zeit gerechtfertigte Streben nach innerer Vertiefung regelten und ihm einen würdigen, den Bedürfnissen der Zeit entsprechenden Ausdruck zu geben suchten. Durch morgenländische Redner, wie namentlich durch Athanasius, der in der arianischen Verfolgung sich in’s Abendland geflüchtet hatte, war der Sinn für die mönchische Lebensweise auch dahin verpflanzt worden; namentlich hatte die von diesem Kirchenvater verfaßte Lebensbeschreibung des h. Antonius, des ersten Einsiedlers, großen Einfluß auf die Gemüther. Auch Hieronymus, Ambrosius, Augustinus redeten in verschiedener Weise und von verschiedenen Gesichtspunkten ausgehend, dem Mönchsthum das Wort. Sodann war es in den ersten Zeiten des 5ten Jahrhunderts der Mönch Johannes Cassianus, der als Vorsteher eines Klosters zu Massilia (Marseille) die morgenländischen Mönchseinrichtungen auf das Abendland übertrug. Der Mann aber, der recht eigentlich die orientalische Pflanze dem abendländischen Boden dergestalt anzupassen verstand, daß sie den fremdartigen Ursprung vergessen ließ, der gewissermaßen aus den vorhandenen Elementen eine neue Schöpfung ins Dasein rief, war eben Benedict. Was seine Regel auszeichnete, war die beständige Rücksicht auf die mehr praktischen Bedürfnisse des Abendlands. Die Regel verleugnete nicht den Geist der Askese (der Selbstbeschränkung und strengen Enthaltsamkeit), wie er dem Mönchsthum eigen ist, aber sie vermied die Uebertreibung und suchte dem rein beschaulichen Leben ein Gegengewicht zu geben in der Arbeitsamkeit und in der Sorge für geistliches und leibliches Wohl Anderer. Mit richtigem Takte wußte er was Klima und Lebensweise des Abendlands erforderten, bei seinen Vorschriften zu berücksichtigen, ohne deshalb in Schlaffheit und falsche Anbequemung an die Schwachheit der Menschen zu verfallen. So gestattete er unter anderm seinen Mönchen den Genuß des Weines, aber in beschränktem Maße; auch ließ er den Aebten eine gewisse Freiheit, je nach dem Wechsel der Jahreszeiten und der physischen Beschaffenheit der Personen, Ausnahmen von der Regel eintreten zu lassen. Der Gehorsam gegen den Abt war die Grundlage aller übrigen Verordnungen. In ihm sollten die zur Gemeinschaft verbundenen Brüder ihren Vater, in ihm den sichtbaren Stellvertreter Christi erblicken. Erst nach einem Probejahre wurden die Glieder des Ordens in denselben aufgenommen, nachdem sie sich durch ein Gelübde zu unbedingtem Gehorsam gegen den Abt und zu lebenslänglichem Verbleiben im Kloster verbindlich gemacht hatten. Eine durch Barmherzigkeit gemilderte Strenge, Besonnenheit, Demuth, innige Liebe zu Gott und Christus sollten die Tugenden sein, durch die der Abt seinen Untergebenen vorleuchtete. – Die Kleidung der Benedictiner bestand (und besteht noch) in einer schwarzen Rutte, daher sie auch die schwarzen Mönche hießen, zum Unterschiede von andern, die zum Theil aus den Benedictinern hervorgegangen sind; wie die Cluniacenser (913), die Camaldulenser (1012), die Vallombrosaner (1073), der Orden von Grandmont (1080), die Cistercienser (Bernhardiner, 1153, die sich durch weiße Kleidung unterscheiden), die Fontebraldiner (Orden von Fontevraud), die Humiliaten, Coelestiner u. a. in. Auch die geistlichen Ritterorden, wie die Johanniter und Templer schlossen sich zum Theil an die Benedictiner Regel an. Nach der Reformation suchte auch das Mönchsthum der katholischen Kirche sich innerlich zu erheben, und so nahm auch der Benedictiner Orden einen neuen geistigen und wissenschaftlichen Aufschwung. Besonders hat sich die Congregation des h. Maurus durch Gelehrsamkeit und auch durch lebendige Frömmigkeit mehrerer ihrer Mitglieder ausgezeichnet.

Karl Rudolf Hagenbach in Basel.