Heinrich Müller.
Auf dem dunklen Grunde des nationalen Elends, der sittlichen Verwilderung, der Zerrüttung des christlichen Gemeinde- und Familienlebens, die im Gefolge des dreißigjährigen Krieges sich zeigten, hebt sich doppelt tröstlich und versöhnend das Lichtbild der Arbeit ab, welche die lutherische Kirche während des 17. Jahrhunderts insbesondere auf dem Gebiete der Predigt und Seelsorge an dem armen geschlagenen und zertretenen Volke Deutschlands getan hat. Man ist gewöhnt, das 17. Jahrhundert, welches die Aufgabe hatte, das von der Reformation erzeugte Leben evangelischer Erkenntnis zum festen dogmatischen Ausdruck zu bringen, als das Zeitalter der toten Orthodoxie, der unfruchtbaren theologischen Scholastik und Polemik zu kennzeichnen und auf die doktrinäre Richtung der Predigten jener Zeit geringschätzig herab zu blicken; und in der Tat hat Valentin Andreä, der damals eine Rose unter Dornen blühte, recht, wenn er von der großen Menge jener zeitgenössischen Prediger sagt: „Sie wollen lieber die Dreieinigkeit definieren, als anbeten, die Gegenwart Christi beweisen, als verehren, die Reue und Buße beschreiben, als in sich fühlen, die Verdienstlichkeit der Werke widerlegen, als ein gutes Werk tun und lieber die heiligen Wissenschaften treiben, als mit der Praxis der christlichen Liebe sich beschäftigen.“1Veri Christianismi solidaque philosophiae libertas Argentora 1618 pag. 99. – Und doch bildete sich schon damals, geweckt und gefördert durch den Geist der Calixtinischen Schule, ein entschiedener Gegensatz gegen den trocknen Scholastizismus in der Predigt aus. Es ging eine tiefe Sehnsucht nach Geist und Leben, nach Saft und Kraft, nach einer gesunden lebenskräftigen Praxis in der Predigt durch das Jahrhundert, und nicht nur die Vertreter des damals wild wuchernden theosophischen Mystizismus eines Weigel, Schwenkfeld, Jakob Böhme, sondern auch die geisterfüllten Zeugen der lutherischen Kirche: ein Johann Arndt, Philipp Nicolai, Johann Gerhard, Christian Scriver kamen dem lebendigen Heilsverlangen erweckter Christen entgegen, führten das Volk zur Quelle evangelischer Heilserkenntnis in der Schrift und bezeugten in ihren Predigten, dass das Christentum nicht tote Doktrin, sondern Leben in der Gemeinschaft mit Christo und in seiner Nachfolge sei. Der Christus für uns sollte nach ihrem Zeugnis vor Allem der Christus in uns werden.
In der Reihe jener das 17. Jahrhundert mit dem lebendigen Zeugnis von Christo erfüllenden Prediger, welche nach Luthers Vorgang eine edle aus der Tiefe der heiligen Schrift und innersten Herzenserfahrung geschöpfte Mystik mit der Glaubenslehre der Kirche verbanden, finden wir auch den Mann, der durch seine reiche theologische Begabung sowie durch seinen innern und äußern Lebensgang insbesondere berufen war, die Wiedererneuerung des kirchlichen Lebens seiner Zeit mit herbeizuführen: Heinrich Müller aus Rostock.
Lassen wir zunächst die wichtigsten Züge und Momente aus seiner Lebensgeschichte an uns vorübergehen. Mitten unter den Drangsalen des 30 jährigen Krieges, da Wallenstein nach Vertreibung der Herzöge Adolf Friedrich und Albrecht von Mecklenburg sich der Stadt Rostock bemächtigt hatte, wurde Heinrich Müller am 18. Oktober 1631 in Lübeck geboren, wohin seine Eltern, Peter Müller, ein angesehener Kauf- und Handelsherr Rostocks, und Elisabeth geb. Stubben, für kurze Zeit sich geflüchtet hatten. Unter den günstigsten Verhältnissen konnten die bald darauf in ihre Heimat zurückgekehrten Eltern sich der Erziehung ihres Sohnes, den ihr frommer Sinn frühzeitig zum Dienste der Kirche (der Vater war selbst Vorsteher der Kirche zu St. Marien) bestimmt hatte, widmen. Wahrhaft bewundernswert war die rasche geistige und geistliche Entwicklung des körperlich schwachen Knaben, der nach Beendigung der klassischen Studien, lateinischer und griechischer Sprache, in denen er sich eine gründliche Kenntnis erworben, bereits im dreizehnten Lebensjahre die Universität Rostock beziehen konnte. Hier ward der fromme und gelehrte Joachim Lütkemann, ein ebenso scharfsinniger Denker als christlicher Theologe, der zu sagen pflegte: „Ich will lieber eine Seele selig, als hundert gelehrt machen,“ sein Lehrer in der Philosophie, aber zugleich sein Führer zur Gottseligkeit und Erzieher zu einem lebendigen Herzenschristentum. Auf Anraten eines väterlichen Freundes Johannes Quistorp widmete er sich hierauf dem theologischen Studium auf der Universität Greifswalde und erwarb, 1650 nach Rostock zurückgekehrt, im Alter von noch nicht zwanzig Jahren auf seiner heimatlichen Universität die Magisterwürde. Nach damaliger Sitte unternahm er zunächst eine wissenschaftliche Reise, um die Zustände auswärtiger Universitäten, insbesondere aber hervorragende Theologen seiner Zeit und ihre theologische Richtung kennen zu lernen. Sein Weg führte ihn über Danzig und Königsberg nach Helmstedt, Leipzig, Wittenberg und Braunschweig. Männer wie Georg Calixtus, Carpzov, Calov und Meißner zogen ihn vor Allen dahin. In Leipzig trat er insbesondere zu Carpzov, von dessen milderer auch das praktische Christentum betonender Richtung er sich sympathisch berührt fühlte, in ein innigeres Verhältnis und war sein täglicher Tischgenosse. Bald aber von seinen Eltern nach Rostock zurückgerufen, widmete er sich mit rastlosem Eifer der akademischen Tätigkeit, hielt philosophische und theologische Vorlesungen und gewann durch die Ursprünglichkeit, Frische und Tiefe seiner aus der heiligen Schrift geschöpften Predigten in dem Maße die Herzen der Gemeindeglieder, dass er ungeachtet seiner Jugend, kaum 21 Jahre alt, zu dem Archidiakonate an St. Marien gewählt wurde. Nur mit innerem Zagen übernahm er das heilige Amt. „Ich erinnere mich wohl,“ schreibt er selbst, „dass, da ich im 20. Jahre meines Alters das hochheilige Amt antrat, das ich jetzt in der Kraft des Herrn bediene, mir zu allen Füßen kalt war; denn ich noch unerfahren war und in göttlichen Dingen ungeübte Sinne hatte, wenig Muts, die Gottlosen getrost zu strafen. Was sollte ich tun? Vor meinem Gott kniete ich in meinem Kämmerlein und sprach mit Jeremia: Ach Herr, Herr, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. Der Herr aber sprach zu mir: Sage nicht, ich bin zu jung, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende und predigen, was ich dich heiße. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten.“
Im Jahre 1653 ernannte ihn die Universität Helmstedt zum Doktor der Theologie; später wurde er zum Professor der griechischen Sprache und 1662 zum ordentlichen Professor der Theologie in Rostock ernannt. Gleichzeitig wurde ihm das Pfarramt zu St. Marien übertragen. Mit welcher Hingebung und Treue er sein Predigt- und Seelsorgeramt verwaltete, davon gab die Liebe und das Vertrauen seiner Gemeinde ein helles Zeugnis. Keine noch so glänzenden Berufungen, die aus der Nähe und Ferne an ihn ergingen, konnten ihn von seinem Amt und der Gemeinde wieder trennen. Als von Hamburg aus ein Ruf an ihn erging, sagt er in seinem Antwortschreiben: „Ich habe in meiner Vaterstadt eine gute Gemeinde, die mich wie einen Engel Gottes wert hält, das Wort des Herrn, durch mich gepredigt, zur Erbauung annimmt und mich mit Wohltaten überschüttet. Was könnte mich bewegen, dieselbe zu verlassen. Reichtum habe ich nie gesucht, lass mir an meinem Groschen, an Nahrung und Kleidung sehr gern genügen; daran fehlt mir’s, Gott Lob, nicht. Auch suche ich keine größere Gemeinde; ich habe an der meinigen von etlichen Tausenden genug zu tun, es ist nicht damit abgetan, dass man eine lauliche Predigt hält und dann spricht: Dixi et salvavi animam meam2Ich sprach und habe meine Seele gerettet. Nein, fürwahr es gehört mehr zur treuen Haushaltung. Für eine jede Seele wird man Rechenschaft geben müssen, und wird einst heißen: Deine für seine Seele, wo man nicht bestehen kann.“ Er selbst war der Gemeinde ein leuchtendes Vorbild in der Übung christlicher Liebe und Barmherzigkeit, ein Freund und Wohltäter der Armen, unter die er oft nach dem Beichtsitzen die Beichtpfennige verteilte, ein Beschützer der Witwen, ein Vater der Waisen, seine Gemeinde, und vor Allem die Schwachen und Kranken auf betendem Herzen tragend, unermüdet in der Sorge für das Heil der ihm befohlenen Seelen, so dass sein Amtsbruder Barclay in der Gedächtnispredigt über seinem Sarge der Gemeinde zurufen konnte: „Was hat ihn so frühzeitig unter die Erde gebracht? Seine gar zu große Sorgfalt für eure Seelengesundheit; zu Tode hat er sich studiert und meditiert.“
Im Jahre 1671 wurde er vom Rat und der Geistlichkeit einstimmig zum Stadt-Superintendenten gewählt; bei seiner Einführung standen ihm die Tränen der Demut und Rührung im Auge, so dass der herzogliche Superintendent Sommerfeld, der ihn einführte, ausrief: „Was sehe ich? Tränen bei Ehren; das will ich merken.“
Obwohl fest im Zentrum der lutherischen Lehre stehend, drang Heinrich Müller in seinen Predigten vor Allem auf die Erneuerung des inwendigen Menschen, auf rechtschaffene Früchte der Buße und ein praktisches tätiges Christentum. „Wir heilen Babel“, schrieb er mit den Worten des Jeremias3Diese Worte: Jeremias 51,9 wählte er selbst auch zu seinem Leichentexte. 1675 an den gottseligen D. Spener; „ach, dass sie sich nur wollte heilen lassen.“ Mit dem Schwerte des Geistes eiferte er gegen alles Heuchel- und Scheinchristentum, gegen eine tote Rechtgläubigkeit, die in äußerem Gottesdienste den Schein eines gottseligen Wesens an sich trägt, aber seine Kraft verleugnet. In einer Predigt über die Epistel am 10. Sonntag nach Trinitatis (1. Kor. 12,1-12) eifert er „wider die vier stummen Kirchengötzen, denen die Christenheit nachgeht“, und zwar in einer nur den böswilligen Gegnern missverständlichen Weise; denn er selbst erläutert seine Worte: „sie tröstet sich ihres äußerlichen Christentums, dass sie getauft ist, Gottes Wort hört, zur Beichte geht, das Abendmahl empfängt, aber die innere Kraft des Christentums verleugnet sie; sie verleugnet die Kraft der Taufe, weil sie nicht im neuen, sondern im alten Menschen wandelt, da doch die Taufe ein Bad der Wiedergeburt und Erneuerung ist; sie verleugnet die Kraft des göttlichen Wortes, weil sie das Wort Gottes widerlegt mit ihrem gottlosen Leben und macht’s zu Lügen; sie verleugnet die Kraft der Absolution, weil sie unverändert bleibt in ihrem Wesen nach wie vor; sie verleugnet die Kraft des heiligen Abendmahls, weil sie nicht lebt in Christo, mit welchem sie vereinigt ist, sondern wandelt nach den Lüsten ihres Fleisches und ergießt sich in allen Sünden. Wie stimmt Christus und Belial zusammen? Dies Alles ist Abgötterei. Denn Gott ist ein Geist und will, dass wir ihm im Geist und in der Wahrheit dienen. Was findest du denn bei der heutigen Christenheit anders als lauter heidnische Gräuel?“ Schon beim Anhören der Predigt hatten Viele an den obigen Ausführungen Müllers Anstoß genommen. Andere verdächtigten ihn auf Grund derselben der wiedertäuferischen Gesinnung; auch von auswärts wurden Schmähungen wider ihn laut. Ja, als man bald darauf ihn für die Katharinengemeinde zu Hamburg zu gewinnen suchte, erhob der dortige Pastor zu St. Petri, Johannes Müller, wider ihn die Anschuldigung irriger Lehre unter Bezugnahme darauf, dass er den „Taufstein, den Predigtstuhl, den Beichtstuhl und den Altar“ die vier stummen Kirchengötzen der heutigen Christenheit genannt habe. –
In den bald darauf von Heinrich Müller herausgegebenen: Geistlichen Erquickstunden, einem wahrhaft klassischen Erbauungsbuche für alle Zeiten, voll köstlicher, geistvoller, kernhafter Sentenzen aus der Tiefe der Schrift, der innersten Erfahrung, der Betrachtung der Welt geschöpft, und den daran gefügten: „Theologischen Bedenken von der Abgötterei der heutigen Maul-Christen und brüderlichen Bestrafung“ widerlegt er jene falschen Beschuldigungen und getröstet sich des Trostes, dass er um Christi Willen (Matth. 5,11) geschmäht würde und mit Paulo sprechen könne: „Mir ist’s ein Geringes, dass ich von euch gerichtet werde“ (1. Kor. 3). Nichtsdestoweniger fühlte er sich veranlasst, von ihm befreundeten verständigen und gottseligen Theologen ein Urteil darüber einzuholen, ob seine Worte schriftgemäße göttliche Wahrheit seien oder nicht. Die ihm gegebenen Gutachten zeugten übereinstimmend zu seinen Gunsten, u. a. schrieb Dr. Gossmann, Superintendent in Stralsund: „Von Herzen freue ich mich, dass die güldene apostolische Schlusskette, ein Buch, das ich hochhalte und liebe, ebenso wenig vorm Satan soll Frieden haben, als der Heiland selbst“ und schloss mit den Worten: Ich bitte meinen allerwertesten herzlich geliebten Bruder sich doch an solche Teufelspossen nicht zu kehren. Ride et vicisti4Lache, und Du hast gewonnen; Gott Lob ein Andrer kennt noch, was schwarz ist und was weiß.5Weiter heißt es: „Was gedruckt ist, soll gedruckt bleiben, so lange als das falsche Christentum von der Kraft Gottes nicht mehr versteht, als Kalk und Stein. – Von Herzen freue ich mich, dass die güldene Apostolische Schlusskette, ein Buch, so ich hoch halte und aus dem Grund liebe, eben so wenig vom Satan soll Fried haben, als der Heiland selbst.“
So ließ sich Heinrich Müller als ein treuer Hirt und Seelsorger durch keine böswilligen Anfeindungen zurückhalten, mit johanneischem Bußernst und Feuereifer das pharisäische Scheinchristentum mit seinen Sünden und Lastern zu strafen und im treuen Dienste der Gemeinde seine Kräfte zu verzehren.
Nur zu frühe wurde er seiner Familie (22 Jahre lang hatte er mit seiner Gattin Margarethe Elisabeth Siebrand aus Rostock, die ihm fünf Söhne und eine Tochter schenkte, in glücklicher friedlicher Ehe gelebt) und seiner ihm ans Herz gewachsenen Gemeinde entrissen. Schon im Jahre 1669 heftig erkrankt, erhob er sich noch einmal zu frischer Tätigkeit. „Wie will ich noch reden“, gelobte er damals mit Hiskia (Jes. 38,15). Sein Dankaltar und seine evangelische Schlusskette waren die Lobopfer, die er nach seiner Genesung dem Herrn darbrachte; da erkrankte er 1675 aufs Neue, um nicht wieder aufzustehen, an einer skorbutischen Auflösung aller seiner Säfte6heroica adfectio wird diese Krankheit in dem lateinischen Berichte seines Arztes genannt. Mit christlicher Geduld und Freudigkeit sah er dem Tode entgegen. Mit tiefer Demut und Andacht feierte er das heilige Abendmahl und sang mit schwacher Stimme verschiedene geistliche Lieder: „Herr Jesu Christ, wahrer Mensch und Gott, O Lamm Gottes unschuldig.“ „Liebe Kinder“, sprach er sodann zu den um sein Bett Versammelten “betet, betet, dass Gottes Wille an mir vollbracht werde; denn was mein Gott will, gescheh‘ allzeit: sein Will, der ist der beste.“ Von seiner geliebten Gattin, von seinen Kindern und von seinem Beichtvater (dem Archidiaconus Barklay) nahm er Abschied unter vielen Tränen und herzbewegenden Worten des väterlichen Segens und Ermahnung zum Glauben und zur Gottesfurcht: „Nicht ich“, sprach er, „sondern mein Elend und Jammer wird sterben. Ich weiß nicht, dass ich in meinem ganzen Leben einen recht fröhlichen Tag in dieser Welt gehabt habe; nach diesem Leben wird meine Herzensfreude erst recht angehen. Ungehindert von dem Leib des Todes werde ich vor dem Stuhle des Lammes mit größerer Kraft für meine Söhne, für euch, mein lieber Beichtvater, für alle meine Schäflein, sonderlich auch für meine Wohltäter beten. Darum seid auch Alle getrost. Ich weiß, dass ich gar bald, ohne einige Verstellung und Gebärden und Herzensangst aus diesem Leben abscheiden werde.“ Und so geschah es auch. An demselben Tage, dem 23. September 1675, ging er, noch nicht 44 Jahre alt, den Namen Jesu im Herzen und auf den Lippen, in sanftem Frieden still und selig heim. Der Tag seines Todes war ein allgemeiner Trauertag, „dass eine solche Säule der Kirche, ehrwürdig im Ministerio und Consistorio sowie in der Akademie so früh gefallen war“. Das Symbolum, das er sich nach 2. Kor. 6-10 selbst erwählt: „Allezeit fröhlich“ fand als der Ausdruck seiner Siegesgewissheit im Glauben seine rechte Bewährung in seinem Leben und Sterben.
Betrachten wir nun die Stellung Heinrich Müllers innerhalb der theologischen Entwicklung seiner Zeit, so kann er zwar als ein Vorläufer des Pietismus gelten, insofern er durch die sittlichen und kirchlichen Notstände seiner Zeit auf das Innerste ergriffen und bewegt, in seinen Predigten vor Allem auf eine Erneuerung des christlichen Lebens durch rechtschaffene Buße und lebendigen Glauben drang: aber doch wusste er, die Heilswahrheiten der Schrift und den ganzen Reichtum der lutherischen Lehre mit der ihm eignen Energie des Glaubens darzulegen und zu entfalten. Aus seinen Predigten spricht der tiefe Schmerz über das Verlorengehen so Vieler, die den Weg des Heils nicht finden, und das glühende Verlangen, die Sünder zu bekehren von dem Irrtum ihrer Wege. Dabei war ihm unter den Erfahrungen seiner Zeit eine Weltanschauung eigentümlich, die allerdings ihre Begründung in der Lehre der heiligen Schrift hat: nämlich der oft bis zum Widerspruch sich steigernde Gegensatz zwischen Gott und Welt. Gott ist der Heilige, die Welt ist sündhaft; Gott der Ewige, die Welt vergänglich; Gott der Selige, die Welt voll Jammer und Elend, das durch allen Trug und Schein weltlicher Ehrbarkeit und Glückseligkeit hindurchbricht; daher das Heimweh des Christen nach dem Himmel, und die Aufgabe des Christenlebens auf Erden, die Seligkeit in Christo zu schaffen mit Furcht und Zittern. Diese Anschauung tritt bei Heinrich Müller überall in den Vordergrund; er richtet Alles nach dem Worte der Wahrheit und betrachtet Alles vom Standpunkte der Ewigkeit (sub specie aeterni), daher auch sein mächtiges Zeugnis gegen alle eitle Weltlust und Weltseligkeit. Sein Kampf richtet sich insbesondere gegen alles Scheinchristentum der toten Werke, gegen den eitlen Götzendienst, den man auch in sogenannten kirchlichen Werken übt, sobald der Geist ernster Buße, die Wahrheit eines lebendigen Glaubens fehlt, der in Liebe tätig ist. Selbst ein rechter Beter und Streiter Gottes ruft er in allen Tonarten die Gläubigen auf zum Kampfe wider die Macht der Sünde, zur Wachsamkeit über sich selbst, zur Heiligung und zum Gebet. So gewinnen seine Predigten einen eminent praktischen Charakter; sie gehen darauf aus, die Lehre der Kirche sofort in das Leben zu übersetzen, in die Tat der Buße und des Glaubens an Christum. Wohl muss man auch aus seinen Predigten hier und da das Gold heraussuchen unter vielen Schlacken, wenn er der homiletischen Unsitte seiner Zeit einmal huldigend gelehrte theologische Exkurse (auch in lateinischen Zitaten) und Untersuchungen auf die Kanzel bringt (vgl. die oft 20-30 Folioseiten langen Festpredigten), aber seine besten Predigten und Reden sind frei von theologischer Schulweisheit; sie gehen vielmehr von dem Schriftwort, seinen Textgehalt und Gedankengang oft bis in das Einzelnste und Kleinste verfolgend und entfaltend, aus und mit schlagender Kürze auf das Leben der Gemeinde, die herrschenden Irrtümer, Übelstände und Missbräuche der Zeit ein.
Wollen wir einen Meister der populären Predigt suchen, in Heinrich Müller ist er uns gegeben. Wie selten Einer versteht er es, die tiefsten Saiten des menschlichen Herzens, wie sie im Volks- und Familienleben sich äußern, anzuschlagen und so den Weg zum Herzen und innern Leben seiner Hörer sich zu bahnen. Mit klarem Blick, mit tiefem Scharfsinn beobachtet er das Volk in seiner Denk- und Anschauungsweise, in seinen Reden und Sitten, und straft die Sünde nicht im Allgemeinen, sondern individualisierend auf alle Stände, Lebensalter, Geschlechter, in ihren konkreten Gestalten und Erscheinungen, ja er verfolgt sie bis in ihre äußersten Schlupfwinkel des Herzens und Lebens. Als er einst in Gegenwart einer fürstlichen Person hatte gelehrt predigen wollen, blieb er stecken. In der nächsten Predigt erklärte er: „Vor acht Tagen hat Doktor Müller predigen wollen; jetzt aber soll der heilige Geist predigen.“
Dabei ist er aber keineswegs exklusiv ein Bußprediger, sondern weiß mit der Lieblichkeit des Evangeliums, mit der herzandringenden Sprache mitleidender, erbarmender Liebe die Sünder zu locken und zu Christo einzuladen. Das Geheimnis der Macht seiner Predigt aber ruht in seiner von Christo ergriffenen und durchdrungenen Persönlichkeit; er selbst lebt so in der Schrift, dass sie sich überall lebensvoll ihm gestaltet; er predigt biblisch, ohne in seinen Predigten Bibelzitate zu häufen; denn Alles, was er predigt, ist aus den Tiefen der heiligen Schrift geschöpft; sein Leben in der biblischen Wahrheit lässt ihn auch frei und ungezwungen des Bibelwortes sich bedienen, bald verkürzt, bald unverkürzt, bald wörtlich nach Luther, öfter aber nach eigner Übersetzung.
Auch seine Themata sind leicht und ungezwungen dem als Text vorliegenden Schriftwort entnommen, er stellt darin den Grundgedanken des Textes, freilich oft in zu allgemeiner Fassung, hin, und verfolgt dann den Text Vers für Vers, Wort für Wort, nur hie und da Abschweifungen aus praktischen Rücksichten auf das Bedürfnis der Gemeinde sich gestattend. Ohne immer streng zu disponieren, hält er in der Ausführung der Grundgedanken eine logische Ordnung fest, die sich organisch gliedernd durch die ganze Predigt zieht. Dabei fehlt es freilich in der Ausführung an Wiederholungen nicht, die aber, getragen von der Beweglichkeit seines Geistes und der Frische seiner Darstellung, nur selten ermüdend wirken.
Die Volkstümlichkeit der Predigten Müllers tritt aber besonders hervor in der Weise, wie er die Schriftwahrheiten an das Herz der Gemeinde und des Volkes bringt. Es ist eine originelle Geistesfrische voll jugendlicher Anmut und Lieblichkeit, die seinen Stil belebt und beherrscht; seine Diktion ist eine so reine, edle, natürliche, dem Genius der deutschen Sprache entsprechende, dass sie abgesehen von einzelnen Worten und Wendungen für unsere Zeit als eine klassische mustergültige gelten kann; sie erinnert bezüglich ihrer biblischen, volkstümlichen Kraft an Luther und Arndt, zeichnet sich aber vor diesen noch durch ihre gedrungene Kürze im Ausdruck und ihren sententiösen Stil aus. In kurzen, prägnanten, oft änigmatisch7nicht zu durchschauen oder zu erklären klingenden Sätzen entfaltet er in Trost und Mahnung der Schrift einen überraschenden Reichtum der Gedanken und geht in Thesen und Antithesen, in Sprichwort und Sentenzen, Schlag auf Schlag auf das Herz und Gewissen der Hörer los. Er selbst spricht in der Vorrede zur apostolischen Schlusskette zu den Sonn- und Festtagsevangelien: „Aufs Kürzeste habe ich Alles gefasst, ist’s doch besser mit wenigen Worten Viel, als mit vielen Worten Nichts auszusprechen.“
Seine Sprache ist reich an Bildern und Gleichnissen, die seinem dichterischen Sinne meistens ungesucht in der Natur und dem Leben des Hauses und Volkes sich bieten, zuweilen aber doch auch an die Spielerei der schon auftauchenden emblematischen8gehobenen Predigtweise erinnern (z. B. in Themata wie der geistliche Fuchsfang: Matth. 7,14; die geistliche Schäferei: Joh. 10,19; Honigblümlein der armen Sünder: Luk. 10,41). In der obengenannten Vorrede bekennt er selbst: „Geblümelt habe ich auch zuweilen, nicht, dass ich im Predigen des Blümelns gewohnt bin, sondern dem Leser eine Anmut zu machen und den Liebhaber der Allegorien an solche Allegorien zu führen, die nicht nur der Schrift keine Gewalt antun, sondern auch zugleich trösten und besserlich sind.“ Im Allgemeinen macht H. Müller von der Allegorie nur einen beschränkten Gebrauch; wo er sie aber anwendet, z. B. bei den Erzählungen der evangelischen Geschichte, deren Inhalt eine symbolische Auffassung zulässt, da weiß er auch die ganze Fülle seiner poetischen Anschauungen hineinzulegen und bis in die kleinsten Züge zur Darstellung zu bringen. Seine dichterische Begabung hat er nicht nur als Prediger, sondern auch als Verfasser mehrerer geistlicher Lieder bekundet, die in mehreren Gesangbüchern Aufnahme gefunden.