Matthäus Zell, der erste elsässische Reformator und evangelische Pfarrer in Straßburg.

Matthäus Zell

Am 21. September des Jahres 1477, am Tage des Apostels Matthäus, der diesmal auf einen Sonntag fiel, wurde, in der freien Reichsstadt Kaisersberg, von ehrbaren und schlichten Rebleuten ein Söhnlein geboren, welches zu einer gesegneten Arbeit im Weinberg des Herrn berufen war, Matthäus Zell1Zell hieß Matthäus, und nicht Matthias. Die häufige Verwechslung kommt von der Gewohnheit unsres Volks, beide Namen Matthis auszusprechen. Er unterschrieb immer Matthäus Zell..

Frühe schon zeigte es sich, was aus dem Kindlein werden sollte. Seine schönen Gaben und seine Frömmigkeit lenkten auf ihn die Aufmerksamkeit seines Landsmanns, des berühmten Münsterpredigers in Straßburg, Johannes Geiler, der zu ihm gesagt haben soll: „Wachse, Knabe, du auch wirst ein großer Mann werden.“ Er mag es auch gewesen sein, der die nicht unbemittelten Eltern bewog, den Sohn studieren zu lassen.

Zell besuchte der Reihe nach mehrere gelehrte Schulen, wahrscheinlich als „fahrender Schüler“ nach der Sitte der Zeit; war zu Mainz, wo er, wie er selber später erzählte, „auch einmal vernarrt, in kindlicher Einfalt 300 Verse zu Ehren der Heiligen dichtete“, und zu Erfurt, wo ihn sein „Schulgeselle“ und späterer Mitarbeiter, Capito, „lange Jahre gekannt und allewege aufrichtig und redlich befunden.“ Er reiste auch nach Italien, und nahm nach seiner Rückkehr Kriegsdienste im kaiserlichen Heere gegen die Schweizer an. Dann aber legte er sich wieder eifrigst auf die Bücher, „so dass er einen hohen Verstand erlangte.“ Zu Freiburg im Breisgau erwarb er den Titel und die Würde eines Magisters (Meister) der Philosophie oder der freien Künste (1505). Hier wohnte er in einer „Bursa“ (Studentenpension), welche unter der Leitung des Johann Eck, des nachherigen heftigen Gegners der Reformation, stand. Zu Ehren dieses Lehrers und bei Gelegenheit einer durch denselben veröffentlichten Schrift verfasste Zell zwei lateinische Verse, die das älteste sind, was wir von ihm besitzen.

Noch war Zell von der mittelalterlichen Scholastik ganz umstrickt. Über den Altmeister derselben, Aristoteles, hielt er in Freiburg Vorlesungen. Doch fühlte er bereits eine heimliche und unwiderstehliche Neigung zur Theologie. Er studierte die heiligen Schriften und erhielt bald das Recht, auch diese Wissenschaft zu lehren. Merkwürdiges Zusammentreffen! Am 31. Oktober 1517, am Tag wo Luther seine Thesen anschlug, wurde er zum Rektor der Universität Freiburgs gewählt.

Das Studium der Heiligen Schrift verfehlte nicht auf Zell die Wirkung hervorzubringen, welche dasselbe auf jedes aufrichtige, wahrheitsuchende Gemüt ausübt. Mächtig wirkten auch Geilers Predigten und Schriften auf seinen inneren Entwicklungsgang ein. Immer mehr lernte Zell es einsehen, dass viel Aberglauben und viele Missbräuche in die Kirche eingerissen waren, zugleich aber auch, dass es ihm an der dem Papst ganz ergebenen theologischen Fakultät zu Freiburg nicht gestattet sein würde, frei und offen seine Überzeugung vorzutragen. Außerdem hatte der leutselige Zell, ein Mann des Volks wie wenige, ein wahres Sehnen nach einer praktischeren Tätigkeit. Deshalb dürfen wir uns nicht wundern dass er, im Jahr 1518, obgleich er schon in seinem 41sten Lebensjahr stand, die akademische Laufbahn verließ, um die erste Pfarrstelle der Stadt Straßburg, die eines „Leutpriesters“ der Münstergemeinde und eines Beichtvaters für die dem Bischof vorbehaltenen Fälle anzunehmen.

Es ist uns nicht möglich in dem engen Rahmen, den wir uns vorzeichnen müssen, den damaligen Geisteszustand in Straßburg und das Anwachsen der reformatorischen Bewegung zu schildern. Geilers Predigten waren nicht spurlos unter dem Münstergewölbe verhallt; obgleich er ein treuer Sohn der römischen Kirche bis an sein Ende verblieben, so hatten seine wiederholten und beredten Klagen, die Aufdeckung mannigfacher Schäden des Kirchenwesens, der Reformation Vorschub geleistet. Tat der Bischof nichts, so schritt die weltliche Obrigkeit gegen die gröbsten Missbräuche ein und suchte durch Mandate die Unsittlichkeit der Geistlichen gewissermaßen in Schranken zu halten. Schon bei verschiedenen Gelegenheiten hatte die Bürgerschaft ihren Unwillen gegen die geistlichen Treiber und Seelenverderber kundgetan; zahlreiche Schmähschriften und Spottgedichte erschienen, die 95 Thesen Luthers wurden an die Wohnungen der Geistlichen angeschlagen, die Schriften des Reformators in Straßburg vielfach gekauft, nachgedruckt und eifrig gelesen.

Auch der Leutpriester von St-Lorenz las sie mit Freuden. „Ich sag unverhohlen, erzählt er selbst, ich bin durch Luthers Schriften in die Heilige Schrift geführt worden; durch welches Lesen und Erwägen mir das Fell auch weggefallen, das mir wahrlich dick vor den Augen hing, und also sind mir meine Augen aufgegangen, die Wahrheit zu sehen. Darum ich Gott danken muss, der mich bei solcher Erkenntnis behalten wolle, es koste gleich Leib oder Gut.“

Diese Wahrheit hatten wohl schon andere Prediger vor ihm in Straßburg erkannt und gepredigt, und Geilers prophetisches Wort, welches er einst vor Kaiser, Bischof und vielen Fürsten gesprochen: „wenn ich von unserm gnädigen Bischof Jesu Christo rechten Bericht habe, höre ich, er werde andere Reformatoren schicken, die es besser verstehen werden. Sie sind schon mit den Bullen auf dem Weg. Ich werde es nicht erleben, aber viel werden’s sehen und erleben,“ dieses Wort schien jetzt in Erfüllung zu gehen. Fast gleichzeitig standen in verschiedenen Kirchen Männer auf, die das Evangelium „rein und lauter“ verkündigten, im Alten St-Peter, bei den Carmelitern (wo jetzt die St-Ludwigskirche steht), im Augustinerkloster (St. Barbara), und im Münster, wo Geilers Neffe, Wickgram, sein Nachfolger war. Die Einen aber wurden abgesetzt, den Andern Urlaub oder „eine Verehrung“ gegeben, so dass ein Rechtsgelehrter jener Zeit, Gerbel, in einem Brief an Luther am Ende des Jahres 1521 klagt: „Ich ärgere mich zu Tode in Straßburg, einer Stadt, die unter allen die abergläubigste ist; denn mit Ausnahme einiger Weniger, welche Christum lieben, sind unsere Prediger ganz kalt, und es ist nur Einer, der das Evangelium lehrt.“ Dieser Eine war Zell. Er wagte es, trotz des päpstlichen Bannfluches und der kaiserlichen Achtserklärung, die in demselben Jahre gegen Luther und dessen Anhänger ausgesprochen worden waren. Er hatte ein warmes Herz für das arme von der Kirche geknechtete Volk. Sein Amt als bischöflicher Beichtiger bot ihm Gelegenheit genug, das ganze damalige Kirchenwesen kennen und verabscheuen zu lernen. „Es haben mich die armen Landleute oft gejammert, sagt er, wie man sie um der geringsten Ursach willen, etwa weil sie in der Fast2Fastenzeit Butter gegessen, zu mir hereingeschickt, das Ihrige zu versäumen und zu verzehren; diese armen Leut hab ich stets flugs und bald abgefertigt, sie auch nit gemolken und geschröpft, wie sonst geschehen ist.“

Nachdem der Seelenkampf in ihm beendigt war, musste es zum öffentlichen Kampf mit der Kirche und deren Behörden kommen. Seiner gerechten Entrüstung über die herrschenden Missbräuche, die er täglich besser erkannte, musste Zell endlich auch in seinen Predigten Luft machen, wollte er anders der Wahrheit die Ehre geben. Freilich fehlte der Widerspruch nicht. Oftmals wurde er wegen seines Verfahrens und „ketzerischer Opinion3ketzerischer Meinungen“ von seinen Vorgesetzten zur Verantwortung gezogen: nichts konnte ihn jedoch von dem einmal betretenen Weg abbringen.

Als auf den Christtag 1521 beim Läuten die große Münsterglocke, damals die größte Glocke der Welt, einen Riss bekam und zersprang, sagten die Mönche: das ist ein Himmelszeichen gegen die gottlosen Neuerer. Meister Matthis aber meinte: es bedeute gar nichts, als dass man die Glocke wieder umgießen müsse.

Die fanatischen Gegner suchten ihn durch andere Mittel einzuschüchtern, sie schalten ihn auf ihren Kanzeln und öffentlich einen Ketzer, Buben und dergleichen, wiegelten das Volk auf: man sollte den Luther mit allen seinen Anhängern verbrennen; und dass es ihnen Ernst dabei war, beweisen die wiederholten meuchelmörderischen Nachstellungen auf Zells Leben. Zahlreiche Freunde andererseits warnten und beschützten ihn; sie forderten ihn auf mutig vorwärts zu gehen und hielten des Nachts Wache vor seinem Haus. Nicht geringes Aufsehen machten die Landleute, welche nach Straßburg strömten um seine Predigt anzuhören, so dass „alle Winkel voll waren“. Bald war die Lorenzen-Kapelle im Münster, in welcher Zell auftrat, zu klein, um die Menge zu fassen. Im Juni 1522 verlangte die Bürgerschaft dass dem geliebten Prediger die für Geiler einst erbaute „Doktorkanzel“ in der Mitte des Gotteshauses eröffnet würde. Die Domherren aber ließen dieselbe mit einer Türe und einem eisernen Gitter verschließen. Da verfertigten die Schreiner aus der nahen Kurbengasse eine hölzerne Kanzel, die sie mit Zustimmung des Magistrats, für Zell, so oft er predigte, der steinernen Kanzel gegenüber aufstellten, und dann wieder wegtrugen. Indessen wuchs seine Popularität und sein Einfluss von Tag zu Tag, besonders auch weil das Volk, das ihn kurzweg „Meister Matthis“ nannte, seinen unsträflichen Wandel sah.

Da das Domkapitel keinen rechten Mut noch Willen zeigte, das „heiße Eisen“ anzugreifen, glaubte der Bischof Wilhelm von Hohenstein selbst einschreiten zu müssen und richtete in den ersten Tagen des Jahres 1523 die Bitte an den Magistrat, seinen Beamten, welche die ungehorsamen Priester zu strafen hätten, beizustehen und sie vor Misshandlungen von Seiten der Pfarrkinder Zells zu schützen. Der Rat antwortete: „Zell habe bis jetzt nichts anders denn das Wort Gottes und die heilige Schrift gepredigt und sich übrigens zur Belehrung erboten, wenn er mit Gottes Wort widerlegt würde. Des Rates fester Wille sei, so lange Zell dabei bleibe, ihn zu schützen und zu schirmen. Doch wolle man dafür sorgen, dass unnütze Zänkereien von beiden Seiten unterbleiben.“ Zu gleicher Zeit ließ er dem Pfarrer des Münsters und den übrigen Prädikanten der Stadt sagen: „Sie sollen das Evangelium und die heilige biblische Schrift, pur, lauter, unvermischt von menschlichen Fabeln, und dergleichen, und ohne Furcht dem gemeinen Volk zu Heil lehren und predigen.“

Es fanden nun zwischen Zell und seinen unmittelbaren Obern, dem Domkapitel und dem Hohen Chor, abermalige, langwierige Unterhandlungen statt, um ihn zu bewegen, freiwillig seine Stelle aufzugeben. Dieselben führten zu nichts, und als der Prediger versprechen sollte, wenigstens künftighin den Mandaten des Nürnberger Reichstags zu gehorchen, welche die „lutherische Ketzerei“ und das Lesen der Bücher Luthers verboten, protestierte er dagegen und erklärte: „Er könne diese Mandate nur insofern annehmen, als dies dem Wort Gottes nicht abbrüchig oder nachteilig sei; er werde immer sein Bestes tun, die Wahrheit tapfer sagen, das Wort Gottes aber in keinem Wege anbinden lassen.“ Notgedrungen und auf Bitte des Magistrats gestattete das Domkapitel dem Zell, dass er noch ein Jahr Leutpriester zu St-Lorenz bleibe; doch wurde das Beichtigeramt von ihm genommen, die Doktorkanzel aber eröffnet. Auf die Mahnung, er solle sich im Predigen etwas kürzer fassen, bemerkte er: „das Wort Gottes sei so unterdrückt und werde dem armen Volk so wenig zu Teil;“ so wie er schon früher erklärt hatte: „an keinem Ding ist höher und mehr gelegen als am Predigen, welches er deswegen aufs Treueste ausrichte.“

Als der Bischof sah dass er beim Domkapitel beinahe ebenso wenig als beim Magistrat gegen Zell ausrichtete, tat er nun einen entscheidenden Schritt: er übergab die Sache seinem in Straßburg residierenden Vikar, Jakob von Gottesheim, welcher im Frühjahr 1523 durch seinen Fiskal 24 Klageartikel gegen den Prediger aussetzen ließ; Zell erwiderte dagegen mit einer lateinischen Verteidigung, die er dem geistlichen Gericht zustellte, und zu gleicher Zeit mit einer in deutscher Sprache veröffentlichten „christlichen Verantwortung“. In diesem „allen Liebhabern evangelischer Wahrheit“ gewidmeten Buch, leugnete Zell die Anklagepunkte nicht, berichtigte aber dies und jenes, entwickelte die Streitfragen noch weiter und begründete die reformatorische Lehre durch Beweise aus der Heiligen Schrift. Seine darin ausgesprochenen Ansichten über Fasten, Sakramente, Messe, Beichte, Totenopfer, Ablass, Autorität des Papstes und der Konzilien, Bann, allgemeines Priestertum, Priesterehe, usw., sind die eines jeden aufgeklärten evangelischen Christen unserer Zeit. Obenan steht der echt reformatorische Grundsatz: „Es soll uns allein das Evangelium, das heißt das Wort Gottes zwingen, dem wollen und sollen wir auch gehorchen in den Dingen, so unser Seelenheil betreffen.“ „Ich habe, sagt Zell, den Richterstuhl des bischöflichen Vikars nicht gescheut, aus einem Vertrauen auf die Wahrheit, die auch vor ihren Feinden unerschrocken bestehen darf.“

Zells „Verantwortung“ ist ein bleibendes Denkmal seines erleuchteten christlichen Geistes, seiner Gottesfurcht und seiner unerschrockenen Wahrheitsliebe. „Sie ist das große geistliche Manifest der Reformation, welches dieselbe in Aller Herzen und Überzeugung begründete und zwar fünf ganzer Jahre vorher, ehe sie gesetzlich und verfassungsmäßig eingeführt wurde4Baum: Capito und Bucer, S. 205. Der bischöfliche Verfasser der Anklageschrift, Gervasius Sopher, wurde selbst evangelisch und war später Schaffner des St-Thomasstifts..“ Das durch das geistliche Gericht über Zell verhängte Urteil: „Er sei in den großen Bann verfallen, aller geistlichen Ämter und Würden beraubt und solle nach dem kanonischen Recht mit Feuer verbrannt werden“, war aber bei der damaligen Stimmung der Bevölkerung und des Magistrats weiter nichts als ein Hieb in die Luft und vermochte den Prediger nicht einmal von seiner Stelle zu entfernen. „Die ehrbare Bürgerschaft zeigte viel guten Willen für Zell, so berichtet ein Zeitgenosse, und ist ihm in der Stille ohn alle Unruh beigestanden, als er wegen obiger Artikel vor dem bischöflichen Vikar erscheinen musste; er war der Gemeinde sehr lieb und wert.“

Noch stand aber Zell allein unter den Geistlichen der Stadt Straßburg. Von den Domherren einst befragt, ob er denn allein gegen den Bischof und ein so großes Fürstenkapitel wie das des Münsters ankämpfen wollte, hatte er erwidert: „Es ist wahr, einer allein kann nicht viel ausrichten. Aber die Sache ist Gottes und meine Arbeit ist die Arbeit in seinem Weingarten; da weiß ich nun gewiss, dass der Hausvater bald wird mehr Arbeiter bestellen, dass ich Gesellen in dieser Pflanzung haben werde. Er ist schon ausgegangen zu bestellen, was gilt’s?“

Und siehe, in der Mitte des Jahres 1523 konnte er in öffentlicher Predigt seine Gegner fragen: „Wie dünkt euch nun? Hab ich nicht geweissagt, Gott werde bald noch mehr Arbeiter schicken?“ Zu den bereits an Straßburger Kirchen angestellten Gesinnungsgenossen und Gehilfen, Symphorian Pollio, Domprediger im Münster, Theobald Schwarz, Zells Vikar, Anton Firn, zu St-Thomä, und andern, gesellten sich im Jahr 1523 drei von auswärts herbeigekommene wackere Mitstreiter, Wolfgang Capito aus Hagenau, Caspar Hedio aus Ettlingen, und besonders Martin Bucer aus Schlettstadt, der alsobald nach seiner Ankunft in Zells Wohnung und dann auf dessen Kanzel in der St-Lorenzen-Kapelle das Neue Testament auszulegen begann. Der entschiedenste von Allen war aber immer noch Zell.

Capito, der neuernannte Probst des Stiftes zu St-Thomä, hatte sich berufen gefühlt, den mutigen Pfarrer, dessen Ansichten er im Übrigen teilte, auf die Gefahren seines Auftretens und allzu raschen Vordringens, „das da hinein rauscht“, aufmerksam zu machen und ihn an den friedfertigen Charakter des geistlichen Amts zu erinnern. Zell sollte, nach seiner Ansicht, um der Eintracht willen und um die Gemüter nicht allzu sehr aufzuregen, eine Zeit lang sich von Straßburg entfernen und anderswohin oder in sein „Gewahrsam“ sich zurück ziehen. „Es sei ja auch anderswo gut predigen.“ Aber da war er an den Rechten geraten. „Lieber Probst, sprach Zell zu ihm, Ihr redet wohl davon als Einer dem die Sache nicht hart angelegen, und der die Schrift für einen Kunstgegenstand der Wissenschaft, und nicht für eine Gabe Gottes hält. Sie ist nun aber das Wort Gottes in der Wahrheit und damit soll man nicht hinlässig noch leichtsinnig oder höflich umgehen. Wie ich rede, so mein‘ ich’s auch. Ich brauche nicht kluge Worte, aber wahre Worte brauche ich. Wir bedenken mit Paulo: dass, wo wir den Menschen gefielen, wir noch nicht Diener Christi wären….. Wir bedenken was wir zu tun schuldig sind, als Diener des Wortes5Im Munde Zells finden wir hier zum ersten Male diese schöne Bezeichnung für evangelische Geistliche: Diener des Wortes. und christlicher Freiheit und wir sehen nicht an, welchen Nutzen wir dadurch erlangen mögen. Gott schicke es wie er wolle, so wissen wir was unser Befehl ist. Darum allein bitten wir, dass Gott sein Wort nicht wolle vergebens und umsonst sein lassen, und lassen ihn ferner walten….. Christus ist der rechte Weg und die Wahrheit, den ich nur allein predige. Dass aber dadurch Papst, Bischöfe, Pfaffen und Mönche verkleinert werden, das achte ich nicht, das geht mich nichts an. Es ist meines Amtes allein, dass Christus in der Gläubigen Herzen groß werde und an ihm allein und nicht an irgend welchen Kreaturen unsere Hoffnung hänge…. Ich gebe mich nicht für den Gelehrtesten aus, ich weiche Euch und Eures Gleichen in solcher Ehre williglich. Aber doch würde ich das Wort Gottes Eurem und der Welt Urteil nicht unterwerfen.“ Über den Rat des allzuvorsichtigen Probstes, dass Zell freiwillig von seinem Amte abtreten möge, erwiderte dieser: „Wie kann ich die frommen Leute mit Ehren verlassen, von dem Bekenntnis des Glaubens abtreten? Werden Mittel und Wege gefunden, dass ich hier bleiben möge, will ich mich nicht weigern und keinen Fleiß sparen, sollte ich schon auf meinen eigenen Pfennig zehren: und das zu Gut der frommen Gemeinde, die des Wortes so fähig und begierig ist. Ich habe nichts Anderes davon zu erwarten als große Nachrede, Schande, Spott und zunächst (wo nichts Raueres sich zuträgt) Verjagung und Verweisung des Landes, mit Verlust aller meiner Habe und angeerbten Nahrung…. Meiner Person gilt es mir gleich, ich bleibe oder nicht, der Wille Gottes geschehe.“

In dieser Unterredung, die unstreitig zu den denkwürdigsten Szenen in der Straßburger Reformationsgeschichte gehört, war Capito dermaßen durch Zells „Wissen, Verstand und Geist, Übung und Erfahrung in der heiligen Schrift“, wie er selbst erzählt, überwältigt worden, dass er nun auch mutig auf dem ihm angewiesenen Arbeitsfeld die Hand an den Pflug legte und nicht mehr umschaute. „So hatte der treue und tapfere Evangelist, Matthäus Zell, durch seinen gewaltigen Schlag die Schale gesprengt, und der furchtsame Nikodemus war zu einem evangelischen Bekenner und unwandelbaren Kampfgenossen geworden.“

Von nun an sehen wir, wie diese Männer gemeinschaftlich, ein Feder mit der von Gott verliehenen Gabe, das Werk der Reformation immer mehr begründen und fördern. Zunächst suchten sie den unerhörten Schmähungen, mit denen ihre Gegner sie alle, besonders aber Matthäus Zell, überhäuften, ein Ende zu machen und beklagten sich deshalb beim Rat. Die Herausforderung eines Dorfpriesters, welcher sich gerühmt hatte, er „wolle mit ihnen öffentlich disputieren und aus der Schrift beibringen dass sie beide Ketzer seien“, nahmen Zell und Capito (denn sie waren gemeint) mit Freude an und ersuchten den Magistrat um die nötige Erlaubnis. Dass dieselbe aber nicht gewährt wurde, dafür sorgte mit Anwendung allerlei Kniffe der bischöfliche Offizial, welcher, wie es scheint, von einer öffentlichen Disputation für seine Sache nichts Gutes erwartete. Auf das wiederholte, mündliche und schriftliche Ansuchen Zells und Capitos, „um ein Verhör und Gespräch mit dem Messpfaffen“, wurde ihnen erlaubt die Streitpunkte schriftlich einzureichen.

Am 1. Dezember 1523 gebot der Magistrat „allen so sich des Predigens unterziehen, künftig nichts anderes, als das heilige Evangelium und die Lehre Gottes und was zur Mehrung der Liebe Gottes und des Nächsten dient, frei öffentlich dem Volk zu predigen.“

In diese Zeit fällt ein Ereignis, das den Fortgang der „erneuerten Religion“ bedeutend beschleunigte, „eine wunderbare und unerhörte Sache, wie ein Zeitgenosse berichtet, denn das, was christlich ist, war bisher bei uns etwas seltenes.“ Mehrere der Geistlichen Straßburgs, welche den evangelischen Grundsätzen zugetan waren, traten in den Stand der Ehe. Bei der zweiten „Priesterhochzeit“, am 9. November, hielt Zell unter dem St-Lorenzportal eine Rede an das Volk zum Lobe des christlichen Ehestandes. Am Schlusse dieser „Kollation“, die viel Anklang fand und nachher gedruckt wurde, ruft Zell dem neuvermählten Amtsbruder Anton Firn, unter andrem, die Worte zu: „Darum, lieber Anton, sei unerschrocken, denn selig bist du, der durch diese Tat mit dem Antichristen brichst; auf deiner Seiten steht Gott und sein Wort… Es werden dir, so Gott will, bald mehr christlicher Brüder nachfahren, welche bisher noch erschrocken, nit ein klein Herz empfangen werden.“

Zell selber zauderte auch nicht länger und verehelichte sich am 3. Dezember 1523, in seinem 46ten Lebensjahr, mit der ehrbaren, geist- und charaktervollen, 26jährigen Tochter eines Schreinermeisters, Katharina Schütz von Straßburg. „Wir nahmen uns einander im Herren und seinem Wort, ohn einigen bösen G’sünch (Gesinnung), weiß Gott, wider des bösen Papstes lügenhaftiges und des Teufels herkommen Gebot der Ehe, sagt 25 Jahre später die vortreffliche Frau, die Zell zu seiner Lebensgefährtin und Gehilfin gewählt hatte, unsere Eheberedung war nit von Widem (Geschenk, Dotation der Braut), Morgengab, Silber noch Gold, sondern von Feuer und Wasser, um des Bekenntnisses Christi Willen.“ In dem von Menschen gedrängt vollen Münster segnete der schon verheiratete Bucer diesen Ehebund ein, und reichte dem Hochzeitpaare das heilige Abendmahl unter beiderlei Gestalt. Andere Geistliche folgten diesem Beispiel und das Volk fand es ganz in der Ordnung.

Für den Bischof aber war es des Guten zu viel. Am 20. Januar 1524 zitierte er die sieben verheirateten Priester nach seiner Residenz Zabern, um dort ihr Urteil zu vernehmen. Sie erschienen nicht, erklärten aber dass sie bereit wären, sich als Bürger vor ihre rechtmäßige Obrigkeit, den Magistrat, zu stellen. Der durch den Bischof sofort über sie ausgesprochene päpstliche Bann wurde am 3. April an der großen Münstertüre öffentlich angeschlagen. An demselben Abend versammelte Zell seine Freunde in seiner Wohnung, verfasste die Nacht hindurch mit Hilfe Capitos, in deutscher und lateinischer Sprache, eine „Appellation“ gegen den Bannspruch, welche am 5. April in Gegenwart eines Notars und einiger Zeugen, von allen Mitgebannten unterzeichnet wurde, Zells Name an der Spitze. Sie legten die Gründe dar, aus welchen sie in die Ehe getreten, und beriefen sich auf ein zukünftiges freies Konzilium, „das Regel von der Schrift nehme und nit anderswo her.“ Zugleich war in ihrem Schreiben der ganze Gräuel des Zölibats der Priester, „des Satans Werk“, aufgedeckt und gebrandmarkt. Wir müssen Zell den größten Anteil an dieser Tat, wie überhaupt an dem ganzen Ankämpfen gegen unchristliches Wesen und Menschensatzung, zuschreiben. „Es war ein Glück, sagt Capito, dass Meister Matthis vor Allen die ganze päpstliche Grundsuppe aufgerührt.“

Die Pfarrer behielten ihre Frauen, aber auch ihre Stellen. Und dabei blieb es. Bereits war die neue Bewegung in Straßburg zu mächtig geworden und die Prediger konnten am Ende des Jahres 1524 an Luther berichten: „die welche sich nicht an das Wort des Evangeliums halten, haben alle Pfarren, bis auf eine einzige, verloren.“

Der Bischof hatte alle seine Pfeile verschossen. Die Mönche und die wenigen Geistlichen, die noch auf seiner Seite standen, machten einen letzten Versuch, die bereits verlorene Sache noch zu retten, indem sie die Reformatoren zu öffentlichen Unterredungen herausforderten und sie in ihren Schriften aufs Heftigste angriffen. Es entspann sich ein Federkrieg im Geiste jener Zeit, wobei man sich in beiden Lagern sehr erhitzte. Die Gegner stellten nicht bloß Disputiersätze auf, sondern streuten die scham- und grundlosesten Verleumdungen über die evangelischen Pfarrer aus. Dem Meister Matthis, als dem Hauptfeind, hatten sie ein voll gerütteltes Maß von schändlichen Nachreden zugedacht. Er schwieg dazu. Seine Ehefrau aber, Katharina, die im Schreiben wie im theologischen Disputieren gewandt war, und schon einmal wegen der Priesterehen dem Bischof von Straßburg „raue Briefe“ geschickt hatte, griff zur Feder und verfasste eine „Entschuldigung für Matthis Zellen, iren Eegemahel“6[[https://glaubensstimme.de/doku.php?id=autoren:z:zell:katharina_zell_-_entschuldigung|Text in der Glaubensstimme]]. Diese Schrift, eine begeisterte Verteidigung der Ehe der Geistlichen, enthielt so heftige Ausfälle gegen die Gegner, dass die Obrigkeit, welche gern alles vermieden hätte, was Öl in das Feuer gießen konnte, dieselbe konfiszieren ließ. Zell wurde deshalb selber vor zwei Abgeordnete des Rats geladen und gebeten, seiner Frau solch eine spitze und stachelige Schriftstellerei zu verbieten. Die Verleumdungen der Gegner waren übrigens der Art gewesen, dass sie auch eine Person von kälterem Blute, als „Doktor Katharina“ war, in den Harnisch hätten bringen können7Diese merkwürdige Schrift, welche so selten ist, dass Jung und Röhrich glaubten sie sei gar nicht mehr vorhanden, befindet sich auf der Zürcher Bibliothek, und in Abschriften auf der neuen Stadtbibliothek Straßburgs so wie im Wilhelmerstift. Der vollständige Titel lautet:\\
„Entschuldigung Katharina Schüinn, für Matthes Zellen, jren Eegemahel, der ein Pfarrher und dyener ist im Wort Gottes zu Straßburg, von wegen grosser lügen uff in erdiecht.\\
„Darin etlich stolze Sophisten angriffen sein, als D. Murner, D. jo. Cocleus, Bruder Conrad Treger, Augustiner Ordens provincial so iüngst mit vil lügen die christlichen Prediger understanden hat zu verunglimpffen.\\
„Was schwach ist vor d’welt, das hat got erwelt, das er was stark ist, zu schanden macht. 1 Corint. 1.“
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Von nun an tritt Zells Persönlichkeit mehr in den Hintergrund; es wäre aber ungerecht, ihm jede fernere Mitwirkung und jeden Einfluss auf den weiteren Ausbau der evangelischen Kirche Straßburgs, in Kultus und Lehre, abzusprechen.

Mit seiner Zustimmung hielt sein Helfer, Theobald Schwarz, am 19. April 1524, die erste deutsche Messe in einer unterirdischen Kapelle des Münsters; er selbst feierte bald darauf das heilige Abendmahl, unter beiderlei Gestalt, im Hauptschiff dieser Domkirche an einem besonderen Altar, wozu auch viele Landleute sich einfanden, und taufte, einer der Ersten, mit Gebet und Einsegnung in deutscher Sprache. Schon in diesem Jahre las er keine Seelenmessen und Vigilien mehr und weigerte sich das Weihwasser einzusegnen.

Als später Klöster und Stifte entweder geschlossen oder einer andern Bestimmung überwiesen, Pfarreien errichtet, niedere und höhere Schulanstalten gegründet, die Bilder und „Götzen“ in den Kirchen abgetan, am 20. Februar 1529, trotz aller Drohungen des Bischofs und des Kaisers, auf das energische Begehren der Bevölkerung hin, die Messe offiziell abgeschafft und die anderen notwendigen Veränderungen im Gottesdienst unternommen wurden, sind es Bucer, Capito, Hedio, nebst einigen hervorragenden Laien, wie der Stättmeister Jakob Sturm von Sturmeck, die als handelnde Personen auftreten; Matthäus Zell aber ist stets ihr besonnener Ratgeber gewesen. Allwöchentlich kamen die Prediger Straßburgs in seinem Pfarrhaus in der Bruderhofsgasse zusammen, um die Angelegenheiten der Kirche zu beraten, die neuesten Schriften vorzulesen und zu besprechen, eine Vereinigung aus welcher der nachherige Kirchenkonvent, Straßburgs oberste kirchliche Behörde, hervorging, und fast immer noch in den gemeinschaftlich verfassten Schriften steht Zells Namen obenan. Der im Thomasarchiv aufbewahrte Entwurf eines Antrags des Rats an die Schöffen der Zünfte „belangend Abthuung der Messe“, vom 9. Januar 1529, ist von seiner Hand. Er selbst erschien auf den Zunftstuben, um den Bürgern zuzusprechen, dass sie auf die Abschaffung dieses Restes katholischen Gottesdienstes dringen sollten, predigte aber auch gegen die Bilderstürmer und jede Anwendung der Gewalt.

Er galt viel bei den Ratsherren, welche fleißig seine Predigten hörten. Seiner Ehrfurcht und Vertrauen einflößenden Persönlichkeit, seiner ungeheuchelten Frömmigkeit schreiben es die Zeitgenossen meistenteils zu, dass der Magistrat Straßburgs, ohnerachtet der drohenden Gefahren, das Werk der Reformation, frei und unverhindert, fortsetzen ließ. Vom Volke wurde Meister Matthis immer als der Hauptführer der reformatorischen Bewegung in Straßburg angesehen, wie er auch deren Urheber gewesen.

Sein Ansehen erstreckte sich über das Weichbild der Stadt hinaus. Die durch mehrhundertjährige Unterdrückung und Plackereien aller Art zur Empörung gegen die Geistlichkeit und den Adel getriebenen Bauern begehrten im Jahr 1525 „Meister Matthis und seine Gesellen zu Straßburg“ als Schiedsrichter. Mit Bucer und Capito, samt seiner mutigen Gattin, ritt Zell, trotz großer Gefahr, in früher Morgenstunde am Osterdienstag, ins Bauernlager zu Altorf, wo die Prediger die aufrührerischen Massen, welche bereits beklagenswerte Gewalttätigkeiten sich hatten zu Schulden kommen lassen und im Begriff waren, noch andere zu begehen, zur Ruhe und Ordnung mahnten, jedoch vergeblich. Eine Disputation mit gefangenen Priestern und Mönchen, worauf die Bauern sich schon als auf ein Spektakelstück freuten, lehnten sie ab und erklärten, „zu disputieren sei hier weder Zeit noch Ort, und die evangelische und heilige Wahrheit begehre ganz andere Umgebung und Verfassung.“ Auf der Heimreise stiegen sie im Dorf Enkheim ab, um noch gemeinschaftlich eine Schrift zu verfassen, in welcher sie ihre Stellung zum Bauernkrieg auseinandersetzten und ihre dringenden Ermahnungen wiederholten. Hatte doch der Bischof besonders Zell und Capito für diese Empörung verantwortlich gemacht.

Die Straßburger Prediger wussten sehr wohl, dass Zell den bei weitem größten Einfluss auf die Bürgerschaft ausübte, ja dass sein Wort und Rat am allermeisten galt. Sie suchten deshalb den volkstümlichen Mann, so viel als möglich, auf ihrer Seite zu haben.

Zell aber ging am liebsten seinen eigenen Weg. So wie er der katholischen Kirche gegenüber beteuerte, er sei allein von der Heiligen Schrift abhängig und nicht von einem Menschen, er habe Luthers Lehre gepredigt, „nit darum, dass es Luthers Lehre ist, sondern dass es wahr ist und Gottes Lehre,“ so hat er auch in den inneren Zwistigkeiten der evangelischen Kirche stets seine Selbständigkeit gewahrt. Er missbilligte die Streitigkeiten über das Abendmahl, welche nur allzu früh wie ein verderblicher Frost auf die junge Saat der Reformation fielen und die bedauernswerte Spaltung zwischen den Anhängern Luthers und denjenigen Zwinglis hervorriefen. Nicht als ob die wohlgemeinten Unionsversuche der Straßburger Theologen unserem Friedensmanne zuwider gewesen wären: er hielt aber dafür, dass man das christliche Volk mit den Wortzänkereien und Lehrhändeln verschonen sollte und weigerte sich dieselben auf die Kanzel zu bringen. Gegen die scholastischen, spitzfindigen, auf Schrauben gestellten Unterscheidungen, zu welchen die Schriftgelehrten in beiden Lagern ihre Zuflucht nahmen, empfand Zell die tiefste Abneigung. Einst von Melanchthon, in Tübingen, befragt, was er von dem Nachtmahl des Herrn halte, sprach er sich aufs entschiedenste gegen alle die Ausdrücke, Auslegungen und Erklärungen der Theologen über dies Sakrament aus, und sagte: „Der Teufel hat diese Wörter aus der Höllen gebracht (weil sie so viel Zwietracht veranlasst). Man soll allein bei den einfachen Worten Christi bleiben und glauben, wie er selbst geredet hat.“ Worauf Melanchthon zu ihm sagte: „Du hast recht geantwortet.“

Die Sakramente sind für ihn „sinnliche oder empfindliche Zeichen der verheißenen Gnaden Gottes, dabei wir vermahnt und solcher Verheißung desto sicherer und tröstlicher in unsern Gewissen werden.“ So sprach er sich aus, zu einer Zeit, wo der Abendmahlsstreit noch nicht ausgebrochen war. „Im Nachtmahl wird eine himmlische Speise und Trank gereichet, das nit dieser Zeit und Art ist. Die Schrift lehret nirgends, dass Brot und Wein in den Leib und das Blut des Herrn verwandelt werden, sondern, dass sie in und nach der heiligen Handlung, Brot und Wein bleiben.“ „So hat mein lieber Mann im Nachtmahl gelehrt, sagte Katharina Zell, dass man nit Christum im Brot suchen, sondern zur Rechten Gottes des Vaters und in der Gläubigen Herzen.“ In späteren Jahren bekannte er sich noch viel bestimmter zu der geistigeren reformirten Auffassung vom heiligen Abendmahl, wie die meisten Straßburger, welche bekanntlich auf dem Reichstag von Augsburg, 1530, mit drei andern Städten, ihr eigenes, in der Abendmahlslehre von der „Augsburger Konfession“ sich unterscheidendes Bekenntnis übergaben. Nach Lehre und nach Art des Gottesdienstes, war damals unsere Stadt eine ganz reformirte. Noch im Jahr 1542, in den Unterhandlungen, die mit den Predigern von Frankfurt gepflogen wurden, erklärte Zell in Gemeinschaft mit seinen Straßburger Amtsbrüdern, dass in dem heiligen Abendmahl Christus wahrhaftig, aber nicht irdisch, sondern himmlisch zugegen sei.

Die Taufe, lehrte er, soll frei sein, der Zeit und Alters halb; sie ist nicht die Wiedergeburt und Seligmachung. Aus allen Kräften bekämpfte er „den Unglauben und Irrtum der im Papsttum gewesen, dass die ungetauft gestorbenen Kinder nicht zu andern Christen, sondern beiseits an einen besonderen Ort begraben wurden, dass sie sollen des Angesichts Gottes beraubt sein“; musste aber noch erleben, dass auch in der protestantischen Kirche, auf Straßburger Kanzeln, behauptet wurde: Die Kinder, welche ohne die Taufe sterben, sind in des Teufels Gewalt und bleiben darinnen. Zells Ansicht über diese heilige Handlung war evangelischer als die der orthodoxen Eiferer seiner und späterer Zeit.

Im Großen und Ganzen stimmten seine theologischen Ansichten mit der kirchlichen Lehre des Reformationszeitalters überein. In Folge der naturgemäßen und unaufhaltsamen Entwicklung des religiösen Geistes sind wir, Christen des 19ten Jahrhunderts, dahin gekommen dass wir in vielen Punkten anders denken als Zell; wir alle werden aber von Herzen das unterschreiben, was der stets auf das Praktische gerichtete Theologe vom Evangelium sagt:

„Wir wissen wol was das Evangelium ist, ein gute Botschaft von Gott, durch Christum uns zuwegen bracht, der Gnaden und Barmherzigkeit, welche uns in den Schriften der heiligen Evangelisten und Apostel zusammengefasst ist; denn dieselbigen alle dahin langen, dass wir erkennen die Gnad Gottes durch Christum uns beschehen. Da wird angezeigt der Glaub in Christum, das ist, wie wir sollen die Gnad Gottes erlangen, durch den Glauben und Vertrauen, auf Christum steif gesetzt; wie solcher Glaube unser Herz ganz und gar von Sünden reinigt; wie nachfolgt die Liebe zu Gott, denn wer möcht ihn nit lieb haben, da so viel Guts ihm von Gott beschehen ist; so folget dann auch die Liebe des Nächsten, denn so wir je Gott nichts tun können, welcher unserer Güter nicht bedarf und Alles vorhin hat, so geben wir dasselb unserm Nächsten, dem wir tun, helfen und raten, verzeihen, ihn strafen, und ihm seine Bürden sollen helfen tragen und desgleichen… Summa summarum, was sich nit streckt auf den Glauben in Christum und auf die Liebe des Nächsten, das heißt nit das Evangelium gepredigt… Was ist Christum pur predigen anders als das Gesetz der Liebe predigen?“ war für ihn reine Lehre.

Das Von solchen Grundsätzen geleitet, fasste er den Begriff Kirche in einem freisinnigeren Geist auf als die meisten Theologen seiner Zeit und lehrte: „In die Kirche gehören alle die in Christum glauben, woher sie ja kommen oder wer sie sehen. Wo aber nit der Glaub in Christum ist, sie seien getauft oder nit, da ist kein Kirch.“

Diesen Grundsätzen entsprach sein Verhalten zu den Sektierern, welche damals schon im Elsass einen überaus günstigen Boden gefunden hatten. Er behandelte sie mit Milde, obgleich er die Gefahren nicht unterschätzte, welche der kaum organisierten evangelischen Kirche von Seiten der Übertreibungen und Schwärmereien der Wiedertäufer bereitet wurden. Im Jahr 1526, als er eben im Münster predigte, unterbrach ihn ein Wiedertäufer von Benfeld und schrie in die lautlose Versammlung: „Du lügst gegen den Heiligen Geist, Bruder Matthis, in der Macht des Geistes gebiete ich dir, dass du herabsteigest und mir den Platz räumst, dass ich wahrlicher aus dem Geist rede denn du!“ Bei dem großen Tumult, der darauf entstand, war des Predigers Bestreben nur darauf gerichtet die Menge zu beschwichtigen, die allzu bereit war mit dem Ruhestörer kurzen Prozess zu machen.

In seiner Gesinnungsart fast allein stehend unter seinen Zeitgenossen verwahrte er sich aufs Bestimmteste gegen die strengen und leider auch blutigen Maßregeln, welche der Magistrat gegen die Sektierer einige Male zu ergreifen sich genötigt glaubte und sagte öffentlich auf der Kanzel und im Konvent der Prediger: „Ich nehme Gott, Himmel und Erdreich, zum Zeugen an jenem Tag, dass ich unschuldig will sein an dem Kreuz und Verjagen dieser armen Leute.“ Er hätte hier wiederholen können was er früher den Katholiken zugerufen hatte: „scripturas, scripturas (Schriftbeweise), ihr Herren, non ferrum (nicht das Schwert). Christus hat nicht mit Eisen, Stöcken oder Blöcken gehandelt.“ – Zell wollte die Schafe nicht zerstreuen, sondern sammeln.

Das Haupt der Wiedertäufer, den schlesischen Edelmann Schwenkfeld, hielt Matthäus Zell als „einen christlichen Bruder, ob er auch wohl ungleichen Verstand in etlichen Punkten mit ihm gehabt,“ beherbergte ihn, trotz des obrigkeitlichen Verbots, so dass dieser noch in späteren Jahren dankend erzählte, er habe im Haus des Münsterpfarrers „Frieden, Lieb und Freundschaft gefunden.“ So oft dieser Umgang mit Sektierern ihm vorgehalten wurde, pflegte Zell in echt evangelischer Weise zu erwidern : „Wer Christum für den wahren Sohn Gottes und den einigen Heiland aller Menschen bekennt und glaubt, der soll mein Tisch- und Hausgenosse sein, ich will auch Teil und Gemein mit ihm im Himmel haben.“ Seine edle Gattin war ebenso gesinnt wie er und konnte von sich schreiben: „Ich habe mit meines frommen Mannes Willen und Wohlgefallen mich vieler Leute angenommen, für sie geredt und geschrieben, es seien die so unserm lieben Dr. Luther angehangen oder Zwinglin, oder Schwenkfelden und die armen Taufbrüder, reich und arm, weis oder unweis, nach der Rede des h. Pauli, alle haben zu uns dürfen kommen. Was hat uns ihr Namen angegangen? wir sind auch nit gezwungen gewesen, Jedes Meinung und Glaubens zu sein, sind aber schuldig gewesen, einem Jedem Liebe, Dienst und Barmherzigkeit zu beweisen, das hat uns unser Lehrmeister Christus gelehrt.“8[[https://glaubensstimme.de/doku.php?id=autoren:z:zell:katharina_zell_brief_5_an_rabus|Aus der 5. Erklärung der Katharina Zell]] Trug nicht auch diese Milde und Duldsamkeit dazu bei, Meister Matthis so beliebt zu machen? Wo das christliche Volk nicht irre geleitet wird, so ist demselben eben nichts verhasster, auch heute noch, als die Verdammungs- und Verfolgungssucht der Theologen.

Die Weitherzigkeit Zells, über welche die andern Straßburger Prediger zuweilen sehr ungehalten waren, mag auch noch in anderen Kreisen als ein Mangel an Entschiedenheit und als Charakterlosigkeit angesehen worden sein. So hegte Johannes Eck, der ihn von Freiburg her kannte, die Hoffnung, dass er ihn in den Schoß der römischen Kirche zurückführen könnte, schrieb an ihn, im Jahr 1534, wies hin auf die in der protestantischen Kirche herrschende Uneinigkeit und teilte das lügenhafte Gerücht mit, Ambrosius Blaurer, der Reformator von Konstanz, habe auch widerrufen. Wir besitzen die Antwort Zells nicht mehr, welche von den Gesinnungsgenossen sehr gelobt wurde; jedenfalls ist sie dem katholischen Doktor genügend erschienen, da derselbe fortan den Altvater der Straßburger Reformatoren ruhig ließ und keinen zweiten Bekehrungsversuch bei ihm machte. – So lehrt uns Zell, dass man in der Beurteilung und Behandlung der Andersdenkenden mild und gerecht sich zeigen kann, ohne deshalb in seinem Bekenntnis weniger entschieden zu sein. Besteht darin nicht die echte Freisinnigkeit, nach der wir alle streben sollen?

Der Reformator Zell hatte durch seine Hauptschrift, die schon oft erwähnte „Verantwortung“, bewiesen, dass er wie Wenige seiner Zeitgenossen die Feder zu führen wisse. Sein Stil ist klar, markig und nervig, bilderreich, oft witzig, wahrhaft volkstümlich. Dennoch war das Bücherschreiben seine Sache nicht; er selbst sagt im Vorwort zu seiner Apologie und Schirmrede, dass ihm sein Leben lang nichts weniger in den Sinn gekommen, denn dass er auch sollt‘ Bücher schreiben. Gedruckt sind noch von ihm eine „Auslegung des Vatter Unsers auf Gebettweis gestellt, zum Gebrauch der lieben Jugend“, ein Katechismus unter dem Titel „kurze schriftliche Erklärung für die Kinder und Angohnden, der gemeinen Artikeln unsers christlichen Glaubens, der 10 Gebott, des Vatter Unsers“ (1534), und zwei andere Büchlein für den Jugendunterricht. Außerdem soll er noch einige Schriften verfasst haben, welche er aber, als einer den der literarische Ruhm ganz gleichgültig ließ, nicht veröffentlichte9Zwei Briefe Zells aus den Jahren 1527 und 1543 werden im Thomasarchiv, ein anderer von 1534 auf der Zürcher Stadtbibliothek aufbewahrt. Eine Abschrift des letzteren befindet sich im „Thesaurus epistolicus Reformatorum alsaticorum“, einer Sammlung von Urkunden und Briefen unserer elsässischen Reformatoren oder an dieselben, welche Prof. F. W. Baum mit unendlichem Fleiß entziffert, zum größten Teil selbst abgeschrieben und mit diplomatischer Genauigkeit geordnet hat. Viele wichtige Dokumente sind auf diese Weise der Nachwelt erhalten worden, nachdem die Originalien in dem Bibliothekenbrand vom Jahr 1870 zu Grunde gegangen sind. Diese 22 Bände, mit 2927 Nummern, sind eine unschätzbare Fundgrube für die Forscher elsässischer Reformationsgeschichte, welche dem hochverehrten und nun so schwer heimgesuchten Lehrer hierfür nicht dankbar genug sein können. Aus dieser reichhaltigen Quelle haben wir die meisten der bis jetzt unbekannten und hier mitgeteilten Notizen über Zells Leben und Wirken geschöpft. Einer der Briefe (https://briefe.glaubensstimme.de/1523/12/31/zell-matthaeus-an-wolfgang-capito/) und die Briefe seiner Frau sind in der Glaubensstimme widergegeben..

Meister Matthis war nicht sonderlich hochgelehrt. Wir finden bei ihm weder die Gedankenschärfe und Tiefe eines Bucer, noch die gründlichen vielseitigen Kenntnisse eines Capito und Hedio, noch die Schulgelehrsamkeit Anderer; er diente aber der Kirche und der Gemeinde mit dem von Gott ihm verliehenen Pfund, welches in einer durchaus populären Darstellungsart und in einer seltenen Begabung für das Hirtenamt in der Gemeinde bestand. Seine Haupt- und Lieblingstätigkeit war die Predigt und die Seelsorge.

Obgleich Zell von der damals schon weit verbreiteten Kanzelunart nicht frei war, dass er „zu lang predigte und das Volk über die Maßen aufhielt“, und „nicht immer beim Text blieb“, wie dies ihm durch seine Kollegen und seinen eigenen Vikar auf einer im Jahr 1533 zu Straßburg abgehaltenen Synode, wo ein Jeder seine Wünsche oder Klagen vorbringen durfte, vorgeworfen wurde, so hatte er dennoch den größten Zulauf; er war eben „ein verständlicher Prediger“. An der Wärme seines Vortrags, an seinem tiefen Ernst fühlte man dass er redete, weil er glaubte. Als er auf einer Reise in Konstanz dreimal in einem Tage die Kanzel bestiegen hatte, fehlte auch dort ihm der Beifall der Zuhörer nicht, welche ihm nachrühmten, „er sei wegen seiner Klarheit dem Bucer überlegen“. Und welch ein heiliger Eifer beseelte ihn, als er auf der herrlichen Kanzel des Straßburger Münsters stand! „Denket, liebe Herren, redet er das Domkapitel an, dass der Herr nicht gesprochen hat: Gehet in die Welt und singet, was Niemand versteht und Niemand dadurch gebessert wird, sondern, prediget das Evangelium allen Kreaturen, das zehntausend Mal besser ist, wie St.-Paul sagt.“ Eine seiner begeistertsten Zuhörerinnen, seine Ehefrau, erzählt von seiner letzten Predigt: „Solcher Ernst ist ihm in derselben, wie in der vorigen, also von Herzen gangen und hat ihn entstellt, dass etliche es ihm zugemessen haben, als einen ungeschickten Zorn. Er hätt‘ aber mit guter Wahrheit mögen sagen mit seinem Herrn Christo zum Vater: der Eifer von deinem Haus hat mich also gefressen.“ Daher mag auch der ihm gemachte Vorwurf kommen: „Hr. Matthis sei zu ruch und frech in Worten auf der Kanzel“, wie er es in seiner Unterredung mit Capito selbst unverhohlen ausgesprochen hat: „Die Wölfe schreie ich hart an; diese muss man nur stracks aus dem Stall schrecken, nicht kließlen10kitzeln und streicheln, sonst fressen sie die Heerde vor den Augen der Hirten… Die armen Schäflein aber, die das Wort angenommen, führe und weide ich tugendlich und spreche ihnen ganz sanft zu.“ Viel lieber als die damals unvermeidliche Polemik gegen die katholischen Gegner war ihm die Erbauung der Gemeinde. Gleich im Anfang seines reformatorischen Wirkens legte er in täglichen Predigten, auf Grund des Briefs an die Römer, die evangelische Heilsordnung dar: die Rechtfertigung durch den Glauben und nicht bloß durch äußerliche Werke. Schon im Jahr 1523 hielt er eine Reihe von Predigten über das 5te Buch Mosis, wozu der Buchdrucker Köpfel die neue lutherische Bibelübersetzung nachdruckte, damit die Leute das Buch in die Kirche mitnehmen und desto leichter dem Vortrag folgen könnten: eine Sitte, welche bewies, dass es dem Prediger am meisten daran gelegen war, den Zuhörern verständlich zu werden und sie mit der heiligen Schrift vertraut zu machen. Außer Zells gewaltiger „Kollation“ bei der Trauung von Anton Firn, besitzen wir leider keine seiner Predigten, die sich nach dem einstimmigen Urteil der Zeitgenossen sowohl durch den echt volkstümlichen Ton als den tief religiösen Gehalt und die praktischen Anwendungen auszeichneten. Zell hätte auf keinen Fall den Vorwurf verdient, den einst Luther dem Bucer gemacht, als dieser vor ihm in Wittenberg gepredigt hatte: „Ihr suchet euere Predigt gar zu hoch, Herr Doktor, und schwebet in den Lüften, im Gaischt, Gaischt, darum gehören euere Predigten nur für die Gelehrten!“ Nein, Meister Matthis pflegte, wie der große sächsische Reformator, vor allem zu sehen, was er für Zuhörer habe, ob sie ihn auch verstehen könnten. Sein ganzes Bestreben ging sodann darauf: Christum und das christliche Leben zu predigen.

Nur im Geiste können wir ihm als Seelsorger in die Häuser der Armen, der Kranken, an die Betten der Sterbenden folgen; dieser Teil seiner Wirksamkeit entzieht sich, wie natürlich, einer ausführlichen Schilderung. Für seine Tüchtigkeit im Unterricht der Jugend spricht aber die Tatsache, dass seine Amtsbrüder ihm die Anfertigung des schon erwähnten ersten Straßburger Katechismus übertrugen. Die gründliche und sorgfältige Unterweisung des aufwachsenden Geschlechts in den Hauptlehren des Christentums war ja eine der schönsten und nützlichsten Früchte am Baum der Reformation, welche auch in Straßburg heranreiften. Schon aus jener Zeit stammt unsere, damals auch Kinderbericht genannte, sonntägliche Kinderlehre, an deren Einrichtung der Pfarrer der Münstergemeinde sich eifrigst beteiligte.

Ebenso war er ein strenger Wächter über die Sitten; wenn es sein musste, ein gewaltiger Strafprediger, wie sein Vorläufer Johann Geiler, und durchaus kein Leisetreter, trotz aller Milde und Herzensgüte. Er begnügte sich aber nicht damit, auf der Kanzel die Geißel des Wortes gegen die Laster seiner Zeit zu schwingen; oftmals und in dringendster Weise wandte er sich an den Magistrat der Stadt, damit derselbe eingreife und den einreißenden Ärgernissen Einhalt tue. Auf der Synode von 1533 verlangte Zell, dass „man Ordnung mache, nit einen jeden seinen Mutwillen ließ treiben, mit fressen, trinken und öffentlicher Gottslästerung“.

Stets suchte er auf eine strengere Beobachtung der Sonntagsfeier, sowie auf eine straffere Handhabung der Kirchenzucht hinzuwirken.

Dem Armenwesen widmete er die größte Aufmerksamkeit. „Man soll zusehen, sagte er, wie man die Bürger vor Armut behüte“, und beteiligte sich mit Leib und Seele an Allem, was in dieser Hinsicht unternommen wurde. Der Straßenbettel wurde abgeschafft, ein allgemeines Almosen angeordnet, Almosenstöcke, statt des Opfergelds für die Priester, in den Kirchen aufgestellt, der Grund zur St-Marx-Stiftung gelegt, ein städtischer Gasthof „der Elenden Herberge“ errichtet, usw.

In der Ausübung der Privatwohltätigkeit und der Gastfreundschaft ging Zell ebenfalls mit dem guten Beispiel voran. „Sein Haus, schreibt ein Chroniker, war eine offene Herberge aller vertriebenen evangelischen gläubigen Christen, die er aus dem Seinigen speiste und erhielt, nicht nur über Nacht, sondern auch oft bis in die dritte und vierte Woche, tröstete und vermahnte sie zur Geduld, stärkte und unterrichtete sie in wahrer Erkenntnis Christi.“ Einmal waren es 150 vertriebene evangelische Bewohner des Städtchens Kenzingen, im Breisgau, die sich nach Straßburg geflüchtet hatten. Zell beherbergte deren 80 in der ersten Nacht, und hatte 50 bis 80 vier Wochen lang über Tisch, eine Last, die er aber nur mit der tätigen Beihilfe „viel frommer Herren und Bürger“ tragen konnte. Glücklicherweise war auch sein Haus, das sich von der Bruderhofsgasse bis zur Judengasse ausdehnte, sehr geräumig. Ein anderes Mal waren es die unglücklichen Familien der erschlagenen Bauern, welche an die Türe des gastfreundlichen Hauses klopften, ja, welche zum Teil die ebenso opferfreudige Ehefrau selbst auf dem Lande aufgesucht und mit sich in die Stadt geführt hatte. Sodann waren es deutsche, französische, italienische Flüchtlinge, um des Glaubens willen verbannt und verfolgt, nach deren Bekenntnis nicht gefragt wurde, ob reformirt oder ob lutherisch; die unzähligen Armen ungerechnet, die Opfer schlimmer Zeiten und namentlich einer dreijährigen Teuerung. Die Hausregel für Zell und Katharina hieß: Gastfrei zu sein vergesset nicht. Dies brachte wohl auch unruhige Stunden ins Haus, und das innige trauliche Familienleben mag zuweilen darunter gelitten haben. Oftmals war die Ehefrau abwesend, um die Leidenden in den Gefängnissen heimzusuchen, oder um den Kranken und Sterbenden beizustehen. „Dies hat mein frommer Mann mir aber herzlich gern zugelassen, sagt sie, und mich sehr darum geliebt, sich selbst und sein Haus meiner vielmal lassen mangeln, und mich gern der Gemeinde geschenket.“ Keine andere Stadt war in jenen bewegten Zeiten eine solche „Herberge der Gerechtigkeit und eine so feste Burg aller um des Evangeliums, der Wahrheit und des Gewissens willen Angefochtenen und Verfolgten aller Länder, als die damals eben so edle als mächtige, löbliche Freie Reichsstadt Straßburg und ihre freisinnige, biedere und barmherzige Bürgerschaft.“ Was die ganze Stadt im Großen, das war das Zellsche Haus im Kleinen.

Auch das theologische Studienstift zu St-Wilhelm, welches zur Heranbildung evangelischer Pfarrer vom Jahr 1543 an bis auf diesen Tag sich erhalten hat, ist dem christlichen Ehepaar viel Dank schuldig. Wir finden Matthäus Zell unter den Begründern sowie unter den ersten Visitatoren (Aufsehern) dieser Anstalt, deren materielle Existenz seine Gattin zu sichern suchte, indem sie mit zwei andern Bürgersfrauen „für Anschaffung der nötigsten Mobilien und Unterhalt der armen Studenten in der Stadt Geld sammelte und fleißig Hilf und Arbeit tat, damit das Werk seinen Fortgang überkomme“. Das Collegium Wilhelmitanum, diese Pflanzschule für Diener unserer evangelischen Kirche, musste dem ersten evangelischen Pfarrer der Stadt und des Elsasses lieb und teuer sein.

Auswärtige Gemeinden wandten sich an Zell, um Prediger und Seelsorger zu erhalten, wie z. B. Bischweiler und Hanhoffen, welche im Jahr 1525 ihren freudigen Dank aussprechen, dass er ihnen einen „rechtgeschaffenen Priester“ geschickt habe. Der Synode von 1533 empfahl er, dass „man sich rechter Geistlichkeit annehme“.

Die reformatorische Bewegung, welche, gleichzeitig wie in Straßburg, in Kaisersberg entstand, ist wohl auf seinen Einfluss zurückzuführen. So oft er, seiner dort gelegenen Güter oder seiner Verwandten wegen, seine Vaterstadt besuchte, mag er den guten Samen daselbst auszustreuen nicht versäumt haben. Wie freute es ihn zu vernehmen, dass der Stadtpfarrer Simson Hillner entschieden das Evangelium zu predigen angefangen und Anklang gefunden hatte, und schon Änderungen im Gottesdienst vornehmen wollte. Bald aber musste seine Freude sich in Trauer verwandeln, als er erfuhr, dass der dem Kaiser Karl V. ganz untertänige Magistrat den mutigen Prediger hatte hinrichten lassen (1523). Kaisersberg hat unserm Elsass den ersten Reformator, Matthäus Zell, und den ersten Märtyrer des evangelischen Glaubens, Simson Hillner, gegeben11A. Erichson, Le protestantisme Kaysersberg. Strasb. 1871. Seite 7-12..

Eine Lebensskizze Zells wäre unvollständig, wenn wir bloß sein öffentliches und amtliches Wirken, und nicht auch sein häusliches Leben betrachteten. So wie die Eheschließung der Reformatoren eine Bekenntnistat war, in gleicher Weise sollte das eheliche Leben derselben einen Beweis für die Wahrheit des Satzes liefern, „dass die Ehe auch den Dienern der Kirche nütz und gut, ihnen bei ihrem Dienst am Hause Gottes nicht hinderlich, sondern förderlich und der Gemeinde zum Segen sei.“

Treten wir über die Schwelle des Münsterpfarrhauses. An der Seite ihres Gatten tritt uns Frau Katharina entgegen. Wir haben in dieser Schilderung oftmals schon Gelegenheit gehabt, von dieser einzigartigen Pfarrfrau zu reden. Man hat ihr mit Recht in unsern Tagen den Namen Reformatorenmutter beigelegt; sie selbst nannte sich gern „eine Kirchenmutter, eine Ziererin des Predigtstuhls und der Schule.“ Sie war eine Diakonissin, im apostolischen Sinn dieses Wortes, und Zell pflegte sie scherzend „seinen lieben Helfer“ zu nennen. Sie stand in Briefwechsel mit Feind und Freund, mit Bischof Wilhelm von Straßburg, mit Luther, Zwingli und andern Reformatoren und tat sich, wie wir schon gesehen haben, als Schriftstellerin hervor. Außer der merkwürdigen Verteidigung ihres Gatten, verfasste sie eine Trostschrift an die „leidenden christgläubigen Weiber der Gemeinde zu Kenzingen, ihre Mitschwestern12[[https://glaubensstimme.de/doku.php?id=autoren:z:zell:katharina_zell_-_brief_an_die_schwestern_in_kentzingen|Text in der Glaubensstimme]]“, sodann eine Vorrede zu einem 1534 herausgegebenen Gesangbuch für die häusliche Erbauung, wodurch sie „die wüsten und schändlichen Lieder, die von Mann und Frau, auch von Kindern gesungen wurden“, zu verdrängen hoffte, und gab eine Erklärung des 51sten und 130sten Psalmes heraus.

Bucer sagt von ihr: „M. Matthes Frau ist ein gottsfürchtig, fromm Mensch, allein dass sie sich selbst, wie wir alle, ein wenig zu lieb hat, daher etwan (zuweilen) die übrige Weisheit und der Regierpräst (Gebrest, Gebrechen) desto mehr hervor bricht.“ In einem andern Brief desselben Mannes, welcher von der Meinung des Apostels gewesen zu sein scheint: es sollen die Weiber in der Gemeinde schweigen, heißt es von der Zellin: „es wyblet allemal um sie, da sie der Red etwan mild (zu freigebig) und nit abhold ist. Sie ist mir aber im Herzen lieb.“ Bucer sah ungern dass Zell, wie er glaubte, „von seinem Weib beherrscht sei“. Frau Käthe mag nicht immer diesen bösen Schein vermieden haben, obgleich sie es nie wollte aufkommen lassen; sie beteuerte im Gegenteil: „wie sie ihrem Manne in Allem gefolgt sei und ihres Mannes Ehre und Willen ihr stets als das Höchste auf Erden gegolten habe.“

Jedenfalls wird es von keinem Zeitgenossen bestritten, dass die Beiden ein Herz und eine Seele waren, und dass ihre Ehe, trotz des vorhandenen Altersunterschieds, eine glückliche und innige war. Als nach 24 Jahren diese ehelichen Bande durch den Tod gelöst wurden, konnte Katharina nicht Worte genug finden um dem Gatten nachzurühmen: „wie lieb er sie gehabt, und gern verzogen hätte allzeit, ehe sie ihn gebeten, und, so viel an ihm gewesen, ihr freundliche und christliche Gesellschaft bewiesen.“ Nicht minder liebevoll war sie selbst gegen ihn. Wie sie schon zu den Lebzeiten Zells jede Verunglimpfung desselben aufgegriffen und mit scharfer Feder abgewiesen hatte, so hörte sie auch nach seinem Tode nicht auf, sein Andenken aufs Beste in Schutz zu nehmen. In ihren späteren Schriften und Briefen kehrt immer das Lob ihres Mannes wieder. Dass die beiden Ehegatten aber gegenseitig aufeinander einwirkten, dass der „Herr im Haus“ nicht allein herrschte, sondern sich auch gern belehren und anregen ließ, dass auch die Frau ihre eigene Meinung haben und aussprechen durfte, das finden wir ganz in der Ordnung einer christlichen Ehe. Gern vergegenwärtigen wir uns die Beiden, wie sie, nachdem sie den Tag über durch die mannigfaltigen Berufsgeschäfte getrennt waren, des Abends in der großen Wohnstube noch einige traute Stunden zusammen verleben, von den Begebenheiten des Tags, von Krieg und Friede, von Reich Gottes und Welt sich unterhalten, fromme Lieder sich vorsagen, wie Katharina uns erzählt, und aus der vielgebrauchten, auf dem Tisch aufgeschlagenen Bibel das Wort Gottes lesen und vom Evangelium ihrer Seligkeit“ reden. Dies war ihre liebste Erholung nach des Tages Last und Hitze, und gewiss auch die beste Stärkung für den andern Morgen. Solch eine eheliche Gemeinschaft hat Dr. Luther im Auge gehabt, als er sie eine Pflanzstätte der Kirche nannte, von welcher das Wort des Herrn gilt: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Wer sieht nicht ein wie viel für die Kirchen daran gelegen sei, welche Frauen ihre Vorsteher haben! Glücklich der Mann, der die rechte findet!

Auch Zells Ehe fehlte das Hauskreuz nicht. Das erstgeborene Kind starb schon im Jahr 1527. „Mit großem Schmerz brachten wir beide es nach St-Urban, erzählt Frau Katharina, es war das erste tote Mensch auf dieser Gruben13m Jahr 1527 wurden die Gottesäcker zur Stadt hinaus verlegt. Die Bestattung des Kindes Zells war also die erste auf dem Friedhof von St-Urban..“ Wie sehr die Mutter sich nach einem Ersatz für diesen Verlust sehnte, „zur Mehrung des Reichs Christi und zum Zeichen der Gnade und des Friedens zwischen Gott und ihr“, davon zeugt ein Brief, den sie im Jahr 1534 an einen Freund schrieb und in dem sie noch weiter sagt: „Ich achte dass die Kinder sichtbarliche und aufgesteckte Zeichen der Gunst Gottes sind. Jetzt will ich’s dem Herrn befehlen, der erbarme sich mein mit der traurigen Anna, deren gleich Gelübde ich Gott getan habe, der erfreue mich mit Sara und Rebecca. Ich will auch gern mein Tagwerk willig tun.“ Dieser Wunsch ging in Erfüllung. Das Glück der Eltern währte aber nur kurze Zeit; auch dies zweite Kind starb im zartesten Alter. Ein drittes Knäblein, das ihnen geboren wurde, überlebte den Vater, war aber immer kränklich und ein Gegenstand großer Sorgen. Noch im Jahr 1557 brachte die verwitwete Mutter ganze Nächte wachend bei ihm zu. Ebenso wenig als die übrigen elsässischen Reformatoren hinterließ Zell eine Nachkommenschaft, die mit seinem Namen bis auf uns gekommen wäre. Diese Männer sollten nur durch ihre Taten in der Nachwelt fortleben.

Zell besaß einiges Vermögen, welches namentlich im väterlichen Erbgut, einem „Rebacker“ in Kaysersberg bestand. Ein ihm gehöriger Garten und zwei Häuser in Freiburg, nebst einer ausgeliehenen Geldsumme, waren ihm schon in den zwanziger Jahren, weil er von der römischen Kirche abgefallen war, von der österreichischen Regierung weggenommen worden, worüber er sich mehrmals, aber ohne Erfolg, beschwerte, daran erinnernd, dass er „20 Jahre lang in Freiburg gestudiert, gelesen und geholfen regieren und bei seiner Abreise Stadt und Universität ihm Zucht und Ehre bewiesen.“ In Straßburg besaß er einen Garten vor dem Fischertor, rechts beim Hinausgehen, an einem Ort, welcher jetzt zu den Festungswerken gehört. In Folge der zahlreichen für die Unterstützung Anderer gebrachten Opfer, war Zell in seinen letzten Lebensjahren in eine Lage geraten, die, wie er selbst sagt, an die Armut grenzte.

Die „Münsterpfarre“ trug nämlich nur wenig Geld ein, aber desto mehr Arbeit und Mühe. Die Besoldung bestand in 72 Gulden, 30 Viertel Roggen und 52 Ohmen Wein für das ganze Jahr, und damit sollte Zell noch einen Sigristen und zwei „Miethlinge“ (Vikare) unterhalten.

Diese Letzteren gehörten auch zum Haus. Während seiner 30jährigen Amtsführung hatte Zell eine ganze Reihe von Gehilfen, von welchen Einige besonders Erwähnung verdienen. Der erste war der schon genannte Theobald Schwarz (Nigri), der unmittelbar nach den Hauptführern der Straßburger Reformation eine der ersten Stellen einnimmt und späterhin Pfarrer zum Alten St-Peter wurde. Ein anderer Vikar Zells war Hans Englisch, der wegen evangelischer Predigt (1527) von Buchsweiler vertrieben worden war. In den folgenden Jahren waren an der „Helferei“ des Münsters angestellt: Wolfgang Musculus, von Dieuze in Lothringen, welcher später Reformator der Stadt Augsburg wurde und als einer der hervorragendsten Theologen des 16ten Jahrhunderts und Professor in Bern seine rühmliche Laufbahn beschloss; Johannes Schmidt, der „Augsburger“ genannt, den der Patron etwas „halsstarrig“ fand; und Caspar Steinbach, welcher der erste (1534) das lautere Evangelium in der Wilhelmer Kirche predigte. Conrad Schnell, ein ehemaliger Priester und später der Nachfolger Bucers zu St-Thomä, stand auch einige Zeit dem alternden Münsterpfarrer zur Seite, „zur Besuchung der Kranken und andern Kirchendiensten“, behielt aber nebenbei seine Schreinerwerkstätte. Wir führen noch Hrn. Niklaus an, den Zell einen „guten Mann“ nennt, und der seine Pfarrei Lützelstein, weil er die Messe nicht lesen wollte, hatte verlassen müssen. Dieser befand sich in der bedürftigsten Lage, längere Zeit ohne Gehalt, weil ein anderer Helfer noch die „Nutzung“ hatte. Der wohltätige Zell kam ihm zu Hilfe, indem er ihm, „in seiner eigenen Armut, mit einer Suppe oder sonst darstreckte.“ Sein letzter Helfer war Ludwig Rabus, von dem später noch die Rede sein wird. Der Unterhalt dieser Helfer, die Zell in seinem Haus beherbergen und nähren musste, war keine geringe Last, zu deren Erleichterung er sich oftmals an den Magistrat wandte, denn die große Münsterpfarrei sollte doch gehörig versehen werden.

Trotz dieser schwierigen Umstände ermöglichte es die äußerst einfache Lebensweise Zells, so wie die haushälterische Tüchtigkeit der Frau Katharina, dass in ihrem Haus für Andere stets noch genug übrig blieb. „So hat er, ruft ihm die Gattin nach, seinem Haus und Gesind darinnen weder Hoffart, Mutwill, noch dergleichen gestattet, aber ein schlicht einfältig und still Wesen geführt, ja an seinem Leib abbrochen in allen Dingen, und so schlechtlich gelebt mit Essen und Kleidung, dass sein Haus offen und sein Tisch willig und fröhlich allen Fremdlingen, armen und guten Freunden im Glauben gewesen ist.“ Folgender Zug, der in Pantaleons „Buch der Helden“ erzählt wird, charakterisiert unsern Zell in der schönsten Weise: „Auf eine Zeit hat sich begeben dass er von einem anderen Prediger zu dem Nachtmahl geladen wurde; wie nun keine andere vornehme Gäste vorhanden und dieser viel silberne und vergüldte Geschirre auf das „Biffat“ gestellt, hat sich Matthis ob dieser Pracht und Reichtum an einem Prediger verwundert, ihn als seinen Bruder ernstlich bescholten und ist ungeessen auf dies Mal von ihm gangen. Nach diesem hat er den Bruder insonderheit ermahnet, und dahin gebracht, dass er ein Teil seines Silbergeschirrs verkaufet, und sich hernach etwas freygebiger gegen die Armen erzeiget.“

Das Pfarrhaus in der Bruderhofsgasse, welches den Armen und den Flüchtlingen aller Art, den bedürftigen Studenten, Jahr aus Jahr ein, offen stand, beherbergte auch von Zeit zu Zeit noch andere gar liebe und vielgeehrte Gäste. Nach einem 1540 in Hagenau abgehaltenen Religionsgespräch wurden in demselben nicht weniger als „gelehrte Herren“, unter welchen der Reformator Nord-Deutschlands, Urbanus Rhegius, bewirtet. Noch höhere Freude- und Ehrentage waren es für das Zellsche Ehepaar, als die schweizerischen Reformatoren, Zwingli und Oecolampad, auf der Reise nach Marburg, im Jahr 1529, zwei Wochen unter ihrem Dache verlebten und beide auf der Münsterkanzel vor der freudig erregten Bürgerschaft sich hören ließen. Noch viele Jahre nachher erinnerte sich Frau Katharina mit Wonne daran, wie sie „14 Tage Magd und Köchin gewesen und den Heiligen die Füße gewaschen.“ Diese Schweizer Gäste konnten auch nicht genug rühmen, wie „unsäglich Zucht und Ehr’„ man ihnen erwiesen hatte.

Die gleiche Ehre und Freundschaft wurde unserm Zell und seiner Frau auf verschiedenen Reisen zu Teil. Im Jahr 1533 folgten sie der Einladung der geistesverwandten Nachbarn in Konstanz und Bern. Als 1538 eine Annäherung zwischen den Theologen Straßburgs und Luther stattgefunden hatte, unternahm Zell eine größere Reise nach Norddeutschland. Obgleich oft leidend, wollte Katharina ihn nicht allein wandeln lassen, und begleitete ihn, „um ihm zu dienen und Sorge auf ihn zu tragen, wie er es wohl bedurfte.“ Sie kamen bis an die Seestädte, hörten manchen Prediger und besuchten die Gelehrten. Der Glanzpunkt dieser Wanderung war aber für beide der Besuch bei Luther, in Wittenberg, von welchem sie, so wie auch von Melanchthon, freundlich empfangen und ehrlich gehalten wurden.“

Was die äußere Erscheinung Zells betrifft, so fehlt uns hierüber jegliche Notiz der Zeitgenossen; wir können uns aber eine Vorstellung davon machen nach einem Bildnisse des Reformators, welches ihn auf seinem Sterbebett sehen lässt14Dieser auf der Straßburger Landes- und Universitätsbibliothek aufbewahrte Holzschnitt, von der Hand eines tüchtigen Künstlers, nach welchem alle späteren Bildnisse Zells so wie auch das dieser Schrift beigegebene, von Hrn. Professor Hugo Bürkner, in Dresden, verfertigte Bild, gezeichnet worden sind und der auch in jüngster Zeit fotografiert worden ist, trägt die Überschrift: „Des Erwirdigen gotgeliebten Meister Matthes Zellen, des Pfarrhers im Münster zu Straßburg, ware Contrafactur seines todten angesichts. im 1548. Jar. den 10 tag Jenners“. – Am Rande steht: Das Gebett Meister Matheus Zellen, für sich, sein Volk, und Kirchen, inn bayden nächten da ihn das wee umb sein Brust so harrt an ist kommen“. Unter dem Bilde zwei Gedichte auf Zell, ein deutsches und ein lateinisches.. Danach zu schließen war Zell eine stattliche Gestalt, groß und kräftig, mit breiten Schultern. Das Gesicht war ausdrucksvoll, ohne Bart, die Stirne hoch, die Nase stark ausgeprägt, der Mund fein geschnitten; im ganzen Antlitz viel Freundlichkeit nebst Energie. Ein reichliches Haar bedeckte noch das Haupt des 70Jährigen.

Allmälig war für Zell der Feierabend herangenaht. Er war vom Tagewerk müde geworden, sollte aber, ehe er zur Ruhe ging, des Lebens Bitterkeiten in mannigfacher Hinsicht noch zu kosten bekommen.

Er fühlte jetzt die Beschwerden des Alters und die Arbeit war nicht kleiner geworden. Als die Pest vom Jahr 1541 ausbrach und in Straßburg so viele Menschenleben dahinraffte, dass in mancher Woche nicht weniger als 150 Leichenbestattungen vorkamen, ward auch die Gesundheit des greisen Seelsorgers durch das Übermaß der Anstrengung erschüttert. Ein an den Magistrat gerichtetes Gesuch um einen Vikar unterstützten die anderen Prediger mit dem Bemerken: „Die Münstergemeinde sei die größte und fürnehmste der Stadt und Meister Matthis abgearbeitet und ganz blöd.“ Mit betrübtem Herzen sah auch die treue Gattin, „was großer Arbeit er Tag und Nacht hatte, und wie sauer und schwer in seinem Alter sein Studieren, Predigen und alles ihm worden war.“ Schon im Jahr 1544 klagen seine Freunde dass die Kräfte ihn verlassen und dass das Zusammenbrechen seiner Leibeshütte stündlich erwartet wird. Er selbst hatte als ein vorsichtiger Christ sein Haus schon längst bestellt, und war auf den Heimgang bereit. Er erholte sich aber wieder und das, was ihm an Lebenskraft zurückgeblieben, zusammenfassend, stieg er wieder fröhlich auf seine Kanzel und versah die Pfarrei mit dem gewohnten Eifer.

Sein Gottvertrauen und seine Geduld wurden noch auf eine andere harte Probe gestellt. Schon waren mehrere seiner treuesten Mitarbeiter im Werk des Herrn, Capito und andere, von der Welt abgerufen worden und ein neues Predigergeschlecht, welches einen „andern Geist“ hatte, war aufgekommen. Es zeigten sich die ersten Vorboten jener auch in andern protestantischen Ländern wahrzunehmenden Bewegung, die auf den weiteren Gang der Reformation einen so verderblichen Einfluss ausübte, dass man nämlich glaubte: das Werk der Kirchenverbesserung sei vollendet, die Wahrheit gefunden und es bleibe nichts mehr zu tun als zu lehren wie Luther gelehrt hatte. Das von den ersten Reformatoren Straßburgs hochgehaltene Panier wahrer christlicher Freisinnigkeit fing an verpönt zu werden. „Ich bin der alt Matthäus Zell, von vielen verachtet, sagte der Münsterpfarrer acht Tage vor seinem Tod, es wird aber noch dazu kommen und bald, könnte man mich wieder aus der Erden graben, man würde es tun. Ich gehe aber zu meiner Ruhe.“ – „Ach Herrgott, rief die Gattin späterhin wehmütig aus, ich wollte auch graben!“ Sie gedachten dann zusammen der Worte, die Dr. Luther zu ihnen in Wittenberg gesprochen: „Hütet, hütet euch, dass ihr nimmermehr lasset wiederum einkommen, was abgetan ist und keinen Grund in der Schrift hat!“ Zell konnte sich der trüben Ahnung nicht erwehren: „Es wird nach meinem Tod noch dazu kommen, dass man aus Predigthören, Tauf- und Nachtmalhalten wieder ein Werk wird machen, wie im Papsttum aus Mess- und Ablasskaufen ist gemacht worden.“

Aber nicht bloß innerhalb der Kirche regte sich schon ein Geist, der in Kultus und Lehre einen Rückschritt herbeiführen sollte, auch von außen her nahten schwere Gefahren. Der Krieg zwischen den evangelischen Reichsständen und dem Kaiser war durch die Niederlage der Ersteren in einer unglücklichen Schlacht, im Jahr 1547, entschieden worden. Rasch verbreitete sich die Nachricht, der Sieger wolle dem Religionszwiespalt ein Ende machen, und, bis dass Mittel und Wege dazu gefunden würden, durch ein Reichsgesetz unterdessen (lateinisch: interim) eine gemeinsame Religionsform einführen und den katholischen Gottesdienst, da wo er abgeschafft, bis aufs Weitere wieder herstellen. Wie konnte die alleinstehende Stadt Straßburg sich der stärkeren Macht widersehen? Das Jahr 1548 zeigte nur allzuklar, wie gegründet diese Befürchtungen waren.

Als eine besondere Gnade Gottes müssen wir es ansehen dass Zell diese schwere Demütigung seiner Kirche und der Straßburger Bürgerschaft, die Zurückgabe des eigenen teuren Heiligtums, des Münsters, an die römischen Priester, nicht mehr erlebte. Zwei Jahre nach Luthers Tod nahte auch für ihn die Befreiung von aller Trübsal dieser Welt.

In diesen letzten Augenblicken, von denen Zells Gattin allein Zeugin war und über welche sie in ihrer „Klagrede“ einen so rührenden Bericht hinterlassen hat, schauen wir den Reformator in edler Verklärung aller seiner Eigenschaften.

„Auf vergangenen Sonntag morgen den 8 dieses Monats Januari (1548)15Dieses Datum wird ebenfalls in einem Brief Bucers, vom Ende Januars, angegeben.“ erzählt Frau Katharina, „ist er fröhlich aus seinem Haus gangen den Namen Jesu seines Herrn groß zu machen: ja sein Anschlag (Vorhaben) warkgleich seinen Glauben zu bekennen und zuletzt dann sein Volk zu trösten und zu warnen vor falscher Lehr und gottlosem Tun alles Gräuels, der sich künftig wiederum möchte erregen und einsehen… Auf solchen vorgenannten Sonntag ist sein Eifer und Not so groß gewesen in der Predigt vom Herrn Christo, dass er vor weinen nicht reden konnte und ihm schwer um sein Herz worden. Dann ist er den Tag wiederum frisch g’sin, annoch zu einem guten Freund gangen und sein Gespräch von göttlichen Sachen und dem Tod gehabt. Es war dies bei dem Rechtsgelehrten Gerbel, bei dem Zell den plötzlichen Tod eines gemeinsamen Freundes erfuhr. „Gott wolle mich, sprach er, mit einem ähnlichen Ausgang begnadigen!“ Zu Nacht hat er wohl mögen ohne sonder Weh schlafen gehn. Um 11 Uhr aber ist ihm so weh um seine Brust worden, und große Not erlitten dass er aufgestanden, angefangen vor Gott seine Sünd‘ zu bekennen, das Vater Unser gebetet und gesagt: „ich mein‘ das will Martin Luthers Krankheit werden,“ und darauf: „o Gott, lass mich kein Gräuel wider dich und dein Wort sehen; als mich jetzt dünkt, du wollest mich wie ihn dahin nehmen, so sag‘ ich mit ihm, du hast mir auch deinen lieben Sohn Christum geoffenbaret und mich armes Werkzeug samt den anderen braucht denselbigen der Welt zu predigen; den bekenn‘ ich noch wider die Pforten der Hellen, lieb‘ und ehr‘ ihn auch als meinen eigenen Herrn und Heiland.“ Also mit anderen vielen Reden und Gebeten die 4te Stunde zum Tag erlangt, und ist ihm wiederum ganz wohl worden, des Betts begehrt, sich niedergelegt, ruhig und wohl geschlafen. Den Montag sich gesund und fröhlich erzeigt, viel Gespräch mit lieben Freunden gehabt, gelesen und geschrieben bis in die Nacht und sein letzt Schreiben ist g’sein der Text seiner Predigt im Johannes da Christus sagt: Für wahr, sag‘ ich euch, wer mein Wort hält, der wird den Tod nicht sehen ewiglich. Hat darauf fröhlich zu Nacht geessen, sich schlafen gelegt, Gott gedanket dass ihm jetzt wohl sei. Um 11 Uhr ist ihm das Weh um die Brust wiederum ankommen, ist eilends aufgestanden, sich selber angetan, in seiner Stuben gangen und große Not erlitten, mit viel niederfallens auf seine Knie, weinen und beten zu Gott, hat sein erst Gebet wiederholt auch in seiner Not mir befohlen, ich sollte seinen Vikaren sagen, dass sie Schwenkfelden und die Wiedertäufer mit Frieden lassen, und Christum predigen mögen. Gleich darauf sprach er mit großem Ernst: „O Herr, ich hab dich treulich verkündt und geprediget, was du uns getan und gelehrt hast; desselben lass mich armen auch genießen und lass mich nicht dahinten. Gib mir jetzt einen gnädigen Abscheid. Lass dir dein Volk befohlen sein, hab du sie auch lieb und gib ihnen wiederum einen Mann, der sie lieb‘, wie ich sie geliebt hab. Gib ihnen keinen Triber noch Herrscher über dein Erbteil, dass der Bau den ich auf dich gesetzt hab, nicht verwüstet werde, bleib du selbst der Erzhirt über sie. Ich gib dir jetzt mein Amt auf und befehl dir meinen Geist“ – darauf sich in den Sessel g’setzt, bald still worden, seine Augen und Mund selber zugetan mit aller Ruhe, also mit meinem Zusprechen und Bekanntnus des Glaubens in meinen Armen verschieden zwischen ein und zweyen. Da hab ich in meinen großen Ängsten, Schrecken und Herzenleid unsern Gott angerufen dass er seinen Knecht wolle empfangen und seinen Geist aufnehmen in die Zahl seiner Propheten und Apostel und ihm Gemeinschaft geben mit allen Außerwählten in Zion…“

Groß und allgemein war die Trauer, als Hedio an demselben Tage, es war der 10. Januar, in der Predigt im Münster den Tod Zells ankündigte. Scharenweise kam das Volk in dessen Wohnung um die geliebten Züge noch einmal zu sehen. „Seine Augen waren nicht sterblicher Weise, sondern als eines sanften Schlafs zugetan, sein Antlitz den ganzen Tag noch das eines Lebenden. Viel Tränen wurden während zwei Tage mit dem Kuss seines todten Leibes vergossen.“ Ein Künstler zeichnete das Bild des Entschlafenen. Am 11. Januar fand die Beerdigung statt. „Wir haben, berichtet Bucer an einen auswärtigen Freund, die Überreste des wahrhaft frommen Mannes unter einer solchen Leichenbegleitung zur Erde bestattet, wie sie keinem Menschen gedenkt und wie sie nicht wieder Jemand sehen wird.“ Es folgten über 3000 Menschen jeden Ranges, nach andern 5000, und unsere Stadt zählte damals kaum 25,000 Einwohner. Die von Zell selbst gewählte Ruhestätte war auf dem Gottesacker St-Urban, in der hindertsten Reihe, in der Ecke, wo er wünschte, zu seinen beiden Kindern gelegt zu werden. Daselbst hielt Bucer zwei Reden, die eine auf Deutsch, die andere in lateinischer Sprache für die französischen Flüchtlinge, welche um den Freund und Wohltäter tief trauerten. Nachdem das Volk sich zum Teil zurückgezogen hatte, soll die Witwe selbst zur offenen Gruft hingetreten sein, und, nach der Aussage eines Augenzeugen, Abraham Löscher, die Tugenden ihres Mannes gepriesen, die Trennung ihres ehelichen Bandes beklagt, und erklärt haben, dass sie durch diese Prüfung sich nicht habe niederschlagen lassen, sondern durch die Tröstungen der Religion wieder aufgerichtet worden sei. Wir besitzen eine Schrift unter dem Titel: „Klagred und Ermahnung Katharina Zellen zum Volk bey dem Grab M. Matheus Zellen, Pfarrer zum Münster zu Straßburg, des frommen Manns, bey und über seinem todten Leib. 11. Januar 1548,“ sind jedoch nicht der Ansicht, dass dies die Rede gewesen, welche Katharina Zell auf dem Friedhof gehalten habe. Diese Klagrede, die 50 geschriebene Quartseiten beträgt, ist wohl erst später entstanden und die weitere Ausführung der am Grab gesprochenen kürzeren Worte. Es ist immerhin ein schönes Ehrendenkmal, welches die treffliche Frau dem verewigten Gatten gesetzt hat16Die Authentie der auf der Züricher Stadtbibliothek befindlichen Schrift ist über allen Zweifel erhoben. Der Stil stimmt in auffallender Weise mit den übrigen Schriften Katharinas überein. Die interessanten Mitteilungen über Zell sind in dieser Rede, die Röhrich nicht kannte, enthalten und hier in dieser Lebensskizze, zum ersten Male, verwertet worden..

Am allerschmerzlichsten war der Verlust Zells, nächst der Witwe, von den Armen empfunden, deren „guter Patron“ er gewesen, und von den Amtsbrüdern, die seine geistige Familie waren. Bucer sagt von ihm: „Der Herr hat unseren greisen Vater Matthäus Zell zu sich gerufen, welcher der Gemeinde, die er immer so zahlreich in der Hauptkirche um sich versammelte, in das dreißigste Jahr, mit der größten Treue und ungemeiner Gunst und Popularität bei der Bürgerschaft gedient hat. So wie bei uns selbsten, so haben wir zwar auch Manches bei ihm hin und wieder vermisst. Die Rechtfertigung aber durch Christum und die wahren Christenpflichten hat er über alle Maßen treu und eifrig getrieben.“

Zells Abscheiden rief mehrere Trauer- und Lobgedichte auf ihn hervor, deutsche, lateinische und sogar griechische, von Toxites, Sapidus, Gerbel und Abraham Löscher. In dem Gedicht dieses Lekteren wird in etwas überschwänglich poetischer Weise die Trauer Straßburgs mit der Trauer des Landes Sachsen um Luther verglichen. „Gott will, heißt es auch darin, das Volk ernstlich damit strafen, darum nimmt er solche Männer weg, wie Zell17Die Aufschrift dieses merkwürdigen Gedichts, das von größter literarischer Seltenheit ist, weil der Magistrat dasselbe gleich nach seinem Erscheinen, wegen politischen Ausfällen, konfiszieren ließ, lautet: Epicedion et narratio funebris in mortem venerabilis viri Dr. Mathei Zeellii (sic) apud Argentoratenses in summo templo Parochi, elegiaco carmine scripta. Authore Abrahamo Löschero. Das Schriftchen besteht aus 802 Versen und enthält über Zell mehrere Notizen, die wir sonst nirgends finden..“ Unter dem schon erwähnten Bildnisse stehen folgende Verse:

Das göttlich wort gepredigt hatt, \\
Zu Straßburg inn der freyen Statt,\\
Zum aller erst Mattheus Zell, \\
Bey sex und zwenzig Jaren hell. \\
Des Bapsts und böser pfaffen Feind, \\
Der gleissner und was buben seind. \\
Er nam sich vil der Armen an, \\
Des hat in lieb vast iedermann, \\
Und wie der lehr, sein leben glich, \\
So auch sein Todt der sanfft herschlich, \\
Und halff im bald seins leydens ab, \\
Domit er freud bey Christo hab.

Lud. Rabus musste von dem Vorhaben abstehen, eine Lebensbeschreibung Zells in seine „Historie der Märtyrer“ aufzunehmen, weil die Witwe ihm die nötigen Nachrichten und Urkunden verweigerte; die „Verantwortung“ druckte er aber in seinem Werke ab. Einige Jahre später wurden unserm Zell in Pantaleons „Buch der Helden deutscher Nation“ und in Melchior Adams Biographien rühmende Notizen gewidmet. Unter den hervorragenden Zeitgenossen, welche das Gedächtnis des Reformators in Ehren hielten, nennen wir noch den Rektor des Straßburger Gymnasiums, Johannes Sturm.

Andere hingegen wollten bald nichts mehr von Zell wissen und suchten sowohl sein Andenken als die Spuren seines Wirkens zu verwischen.

Die Einführung des Interims hatte zur Folge dass Bucer Straßburg verlassen musste; mit blutendem Herzen begab er sich nach England. Hedio verzichtete lieber auf seine Dompredigerstelle als dass er das Chorhemd auf der Kanzel angezogen hätte. So verschwanden die alten Lehrer der eine nach dem andern, und mit ihnen das freisinnige praktische Christentum, aus unserer Stadt. Als es sich darum handelte dem Münsterpfarrer einen Nachfolger zu geben, dachte man zuerst, keiner sei würdiger als der Reformator Württembergs, Johannes Brenz; Letzterer nahm aber nicht an und zur großen Unzufriedenheit der Prediger wurde der schon genannte Rabus gewählt. Dieser begabte Jüngling, welcher seit 5 Jahren Zells Gehilfe war und durch seine Predigtweise die Zuneigung des Volks gewonnen hatte, zeigte sich anfangs seines Vorgängers nicht ganz unwürdig durch die Energie, mit welcher er der Einführung des katholischen Kultus in seiner Kirche entgegentrat. Statt sich zu fügen, wanderte er im Jahr 1550 mit seinen Pfarrkindern aus dem Münster in die leerstehende Predigerkirche aus, welche zuerst vorübergehend und von 1681 an definitiv, als die Neue Kirche, die Heimat der Münstergemeinde wurde. Rabus war aber auch ein „aufgeblasener“ Theolog, einer der vornehmsten jener Leute, die „wenig Gelehrtheit, aber großen Eifer haben, laut schreien, aber wenig erbauen“, deren Geschlecht nicht ausgestorben ist und denen es bis auf den heutigen Tag nur darauf ankommt ihre eigenen Ansichten, ohne Achtung vor denjenigen der Andern, zur Alleinherrschaft zu bringen. Er scheute sich nicht gegen seinen väterlichen Freund und Vorgänger auf der Kanzel zu „schreien „, verachtete öffentlich seine „Lehre und Geist“, so wie seine Milde gegen die Sektierer, so dass Frau Katharina sich bewogen fühlte das Gedächtnis ihres Mannes in einem an die Straßburger Bürgerschaft gerichteten Brief in Schutz zu nehmen und ihrem ehemaligen Hausgenossen einige derbe Wahrheiten zu sagen.

Dass Zells Andenken während mehr als zwei Jahrhunderten wie erloschen war, befremdet uns nicht. Jenes junge Predigergeschlecht, welches nicht in Straßburg und im Elsass geboren noch erzogen worden war, und welches die Zellin also anredet : „Ihr seid viel aus der alten Fußstapfen, Lehr und Leben getreten,… o die Alten haben einen höheren Geist denn Ihr gehabt… Ach, du frommer Wolf Capito und frommer Matthäus Zell, wie ist eure Einfalt mit euch begraben… ich glaub aber, lebtet ihr jetzt noch bei uns, man schwünge euch mit Ruten, ihr müsstet schweigende Kinder werden und bei denen, die ihr geboren habt, wiederum in die Schule gehen und krummes für schlechtes (gerades) halten…“ – jenes junge Predigergeschlecht brachte es in der zweiten Hälfte des 16ten Jahrhunderts zu einem totalen Umschwung in Lehre und Kultus. War bis dahin die Straßburger Kirche wesentlich unter reformirtem Einfluss gestanden, so gelang es den Zeloten Marbach und Pappus dieselbe in eine lutherische umzuwandeln, eine Usurpation, welche Katharina Zell mit folgenden Worten gebrandmarkt hat: „Also geht es wenn ein Gauch (Kukuk) der Grasmuck ins Nest kommt und brutet ihr die Eyer aus.“

Erst in unserm Jahrhundert ist Zells Namen und Wirken aus dem Schutt der Vergangenheit hervorgeholt worden. Der erwachende Sinn für die Geschichte, namentlich auch für die Kirchengeschichte unseres engeren Vaterlands, ein richtiges Verständnis der Grundzüge des Zellschen Wesens und der Umstand, dass dieser Mann einem Zeitalter nicht mehr unbequem ist, das den Schranken der Dogmatik immer mehr entwächst, haben die Wiederlebung dieses Reformators veranlasst. Seine Verdienste wurden in verschiedenen Schriften gepriesen. Bei Gelegenheit seines 400jährigen Geburtstages, am 21. September 1877, sind in zahlreichen Kirchen von Stadt und Land Gedächtnisreden auf Zell gehalten, in elsässischen religiösen Blättern Lebensskizzen dieses Mannes veröffentlicht und eine Gedenktafel ist im evangelischen Betsaal seines Geburtsortes Kaisersberg angebracht worden.

Doch der Sache der evangelischen Wahrheit und Freiheit wird wenig gedient sein, wenn wir es bei den bloß äußerlichen Manifestationen bewenden lassen.

Zell, der ebenso freisinnig als fromm war, der mit der größten Entschiedenheit die größte Weitherzigkeit, und mit einem innig religiösen Gemüt eine staunenswerte Tätigkeit verband, dieser Mann sei uns ein „Vorbild im Wort, im Wandel, in der Liebe, im Geist, im Glauben“ (1 Tim. 4, 12).

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