Den Übergang von diesen Verirrungen zu den besseren Erscheinungen des Pietismus bildet Johanna Eleonore von Merlau, Gemahlin des Lüneburger Generalsuperintendenten Joh. Wilhelm Petersen. Dieselbe ist geboren 1644 als die Tochter eines in der Nähe von Frankfurt am Main begüterten Edelmannes. In ihrem neunten Jahre verlor sie ihre vortreffliche Mutter und von jetzt an hatte sie eine Reihe von Leiden zu ertragen, welche nicht ohne Einfluss auf die Bildung des Charakters bleiben konnten. Ihr Vater lebte meistens an einem benachbarten Fürstenhofe und ließ seine Tochter unter der Aufsicht einer Haushälterin auf seinem Landgute zurück. Diese Person behandelte Eleonoren mit fast unmenschlicher Härte, so dass sich diese glücklich fühlte, als sie in ihrem zwölften Jahre bei der Gemahlin des Grafen von Solms-Rödelheim eine Stelle erhielt. Aber sie war aus dem Regen in die Traufe gekommen. Die Gräfin, bisweilen geistesverwirrt, drohte mehrmals, das junge Mädchen zu ermorden; dasselbe schwebte in steter Todesgefahr. Drei Jahre später kam Eleonore in den Dienst der Herzogin von Holstein, einer geborenen Landgräfin von Hessen. Hier erwarb sie sich eine große Geschicklichkeit in weiblichen Handarbeiten und gewöhnte sich einigermaßen an das Hofleben. Doch stellte sie sich dem übrigen Hofgesinde keineswegs in jeder Beziehung gleich. Sie las gern in der Bibel und sonstigen Andachtsbüchern und besuchte fleißig die Kirche; sie klagte sich selber an, dass sie immer mehr in das weltliche Treiben verstrickt und von der Nachfolge Christi abgehalten werde. Ein junger Edelmann, von Bressewitz, schenkte ihr seine Liebe und verlobte sich mit ihr. Nach dem Willen seines Vaters musste derselbe noch eine Zeit lang in der Armee dienen. Nach seiner Rückkehr zeigte er sich kalt gegen seine Braut, und das Verhältnis löste sich ohne Schwierigkeit wieder auf. Nicht lange nachher kam Eleonore auf dem Marktschiff zwischen Frankfurt und Mainz mit Spener zusammen, ohne denselben zu kennen. Sie wurde durch die Unterhaltung auf das Tiefste ergriffen und noch ernster gestimmt als bisher. Öfters dachte sie: „Ach, wäre ich doch eines Hirten Tochter; Niemand würde mich hindern, nach der einfachen Lehre Jesu zu leben.“ Sie bat um ihre Entlassung und verhehlte nicht den Grund ihrer Bitte. Die Herzogin erwiderte: „Ihr lebt ja als gottselige Jungfrau. Es ist nicht verboten, sich des Lebens zu freuen, wenn man sein Herz nicht daran hängt.“ Alles Zureden fruchtete wenig. Eleonore blieb zwar vorerst in ihrer Stellung; aber sie zog sich vom Hofleben, so weit als möglich, zurück. Doch war ihr Einfluss nicht unbedeutend. Alle Leute scheuten sich, in ihrer Nähe etwas Unrechtes zu reden oder zu tun; selbst ausgelassene junge Leute hielten sich ehrbar, sobald sie sich zeigte.
Nach einiger Zeit forderte sie der Vater nach Hause, da die Stiefmutter bei der Geburt eines Kindes gestorben war. Es hielt aber schwer, bis sie die Entlassung bekam; sie musste versprechen, zurückzukehren, wenn sie wieder eine Stelle einnehmen könne. Als sie nach Hause kam, war das Kind gestorben und der Vater wurde Hofmeister beim Fürsten von Philippseck. Eleonore begab sich bei einer frommen Witwe zu Frankfurt in Kost und Logis und blieb sechs Jahre bei derselben.
Während dieser Zeit lernte sie Petersen kennen; er hielt um ihre Hand an. Der Vater erklärte: Wiewohl er die Tochter nicht gern von sich ab und außer Standes verheirate, so wüsste er doch nicht, wie er dem Willen Gottes widerstehen solle. Er war selbst in seiner neuen Stellung für den Pietismus gewonnen worden. Die Trauung erfolgte am 7. September 1680.
Petersen war damals Hofprediger des Herzogs von Holstein zu Eutin; er predigte mit Unerschrockenheit Buße und Bekehrung. Doch verfiel er immer mehr in apokalyptische Träumereien. Er studierte die Offenbarung Johannis, und seine Frau ohne Vorbereitung und unabhängig von ihm ebenfalls. Sie glaubten, dieselbe Deutung durch die Eingebung des heiligen Geistes gefunden zu haben. Und so noch öfters; sie lasen in dem prophetischen Buch, jedes für sich, und teilten einander ihre gefundene Deutung mit, die jedesmal übereinstimmend war, so dass sie in ihrer Überzeugung, dieses Resultat einer göttlichen Inspiration zuschreiben zu müssen, bestärkt wurden.
Längere Zeit behielten sie ihren Fund für sich, bis sie mit Rosamunde Juliane von Asseburg bekannt wurden, einem adeligen Fräulein aus einer in Thüringen begüterten Familie, geb. 1672. Auch diese behauptete schon frühe, Visionen und Offenbarungen zu haben. Ihr Ruf verbreitete sich, so dass auch Petersen davon Kunde erhielt. Es entstand ein Briefwechsel zwischen beiden, der bald zu persönlicher Bekanntschaft führte. Petersen und seine Gemahlin wurden dadurch in ihren scholastischen Ansichten bestärkt. Sie gaben eine Schrift heraus, in welcher sie lehrten, das tausendjährige Reich werde in nicht ferner Zeit mit der Wiederkunft Christi beginnen. Es würde dann in tausendjährigen Phasen das Menschengeschlecht zur Seligfeit kommen; die Lutheraner und Reformirten würden vereinigt. Auch der Teufel würde nach 30.000 Jahren in einen Engel verwandelt werden. Von da an sollte allenthalben Freude, Liebe und Herzensgüte sein.
1688 wurde Petersen Generalsuperintendent in Lüneburg. Hier trat er immer offener mit seinen apokalyptischen Ansichten hervor. Deshalb wurde er von seinen Gegnern denunziert und 1692 seines Amtes entsetzt. Von jetzt an war das Leben beider Ehegatten ein steter Kampf mit den Orthodoxen. Sie fanden Anhänger selbst an Fürstenhöfen, in den Schlössern der Adeligen und bei Stadtbehörden. Zuletzt lebten sie auf einem Gute in der Nähe von Zerbst. Eleonore starb 1724; Petersen 1729.
Zinzendorf verfasste ein Gedicht auf die Erstere:
Von ihren Meinungen, die sonderlich gewesen,
Hab‘ ich bis diesen Tag noch keinen Satz gelesen;
Was aber bauet ihr ein Denkmal bei uns auf?
Ihr eingekehrter Mensch mit sanftem stillen Geiste,
Damit sie unverrückt die Jesuliebe preiste,
Ihr vor der ganzen Welt untadelhafter Lauf.
Überhaupt urteilten die Genossen jener Zeit ganz anders wie wir über dergleichen apokalyptische Schwärmereien und Inspirationen. Spener konnte sich nicht dazu verstehen, solche absolut als ungöttlich zu verwerfen; wenn er sie auch nicht ohne Weiteres als göttlich und übernatürlich annehmen wollte. Am wenigsten wollte er sie als betrüglich und satanisch bezeichnen. Selbst Leibniz nahm Petersen in Schutz und verteidigte den sittlichen Charakter der Affeburg; er verglich ihre Visionen mit denen der Brigitta und Hildegard, von denen wir im ersten Teil geredet haben.