Anna Zwingli.

Als würdig, der deutschen Reformatorenfrau an die Seite gestellt zu werden, erscheint die Gattin Ulrich Zwinglis, Anna, die Tochter von Oswald Reinhart, Gastwirt zum Rösli in Zürich und der Elisabetha Wynzürn, geboren 1487. Sie zog schon frühe durch ihre leibliche Schönheit, die Lebhaftigkeit ihres Geistes, sowie ihr feinfühlendes, kindlich-frommes Gemüt, die Blicke ihrer Umgebung auf sich, und erwarb sich den Namen der apostolischen Rehe (Apostelgesch. 9,30). Auch Johannes, der einzige Sohn des angesehenen altadeligen Züricher Ratsherrn, Gerold Meyer von Knonau, wurde von Liebe zu der schönen Anna ergriffen und fand Erwiderung. Aber der Vater verweigerte seine Einwilligung, indem er den Plan gefasst hatte, seinen Sohn mit einer adeligen Familie aus dem Thurgau zu verbinden. Da erlaubte sich der junge Johannes einen Schritt, den wir nicht billigen können und der auch nicht ohne nachteilige Folgen für ihn geblieben ist. Er ließ sich 1504 heimlich in einer Dorfkirche mit der geliebten Anna einsegnen. Der alte Ratsherr verstieß seinen ungehorsamen Sohn, verkaufte einige Güter um einen Spottpreis und ging eine zweite Heirat ein, die darauf berechnet war, dem Sohne alles Vermögen zu entziehen. Es würde dem jungen Paare übel ergangen sein, wenn andere Leute nicht bereitwilliger gewesen wären, demselben beizustehen. Der junge Patrizier wurde in den großen Rat aufgenommen und auch von anderer Seite unterstützt, z. B. von dem Bischof von Konstanz, einem Verwandten der Meyerschen Familie. Am 26. November 1516 versetzte der Tod des Gatten die hart geprüfte und doch zufriedene Frau in frühen Witwenstand. Von nun an zog sich dieselbe noch mehr von der Welt zurück, als sie es bisher schon getan hatte. Auch jetzt kam keine Versöhnung mit dem erzürnten Schwiegervater zu Stande; nur der Enkel Gerold gewann das Herz des alten Mannes. Dieser bemerkte einstens einen spielenden Knaben auf der Straße; er fand Wohlgefallen an demselben, ohne zu wissen, wer er sei. Auf nähere Erkundigungen erfuhr er, dass es sein Enkel sei, und so wurde er veranlasst, denselben zu sich zu nehmen; doch erlaubte er dem Knaben, bisweilen. seine Mutter zu besuchen.

Unter denen, welche mit Wohlgefallen das gottselige Leben der christlichen Witwe beobachteten, war auch der Leutpriester an der Münsterkirche, Ulrich Zwingli. Besonders war der älteste Sohn Annas der Gegenstand seiner Liebe. Er unterrichtete ihn in eigener Person und sorgte dafür, dass er auch durch fleißigen Schulbesuch seine Kenntnisse erweiterte. Als der Rat den Wunsch aussprach, die Geistlichen möchten alle in die Ehe treten, folgte Zwingli dem von einigen Amtsbrüdern gegebenen Beispiele; er erwählte die Mutter seines Lieblings zu seiner Lebensgefährtin. Die Annahme seiner Feinde, dass er diese Wahl um des Vermögens willen getan habe, bedarf kaum der Widerlegung. Anna brachte ihm 400 Gulden mit; außerdem war ihr ein Leibgeding von 30 Gulden zugesichert; doch sollte dieses zum Besten der Kinder verwendet werden. Zwingli selbst äußerte: Seine Frau sei zwar mit Kleidern, Ringen und allerlei Geschmeide versehen, aber von dem Tage ihrer Verehelichung an habe sie den Plunder nicht angerührt; sie habe sich gekleidet wie die anderen Bürgerweiber, schlecht und recht, dass man ihr den vorigen Stand nicht angemerkt habe. Er selbst betrachte all‘ ihr Vermögen als ein fremdes, anvertrautes Gut.

Dagegen fand Zwingli, was er gesucht hatte, eine treue Gehilfin bei seinen vielen Berufs- und anderen Arbeiten. Wenn er verstimmt war, erheiterte sie ihn durch ihr munteres Wesen und ihre traute Unterhaltung. Er legte nicht geringes Gewicht auf ihr natürliches, unbefangenes Urteil. Auch verstand sie es gar wohl, mit Personen aus verschiedenen Ständen, selbst mit Hochgebildeten und Gelehrten, eine inhaltsvolle Unterredung zu führen. Gar oft traf es sich, dass ihr Gatte, von Geschäften überladen, den Leuten, die ihn aufsuchten, keine Zeit widmen konnte; da empfing die Hausfrau die Ankommenden; sie erteilte ihnen Rat, gab Auskunft, so viel sie vermochte, und tröstete insbesondere die Trostbedürftigen. Die angesehensten Männer in Zürich verweilten gern in ihrer Gesellschaft und waren nicht unwillig, wenn ihr Gatte anderweitig beschäftigt war.

Sie las die Flugschriften und Broschüren, welche die Ereignisse der Zeit behandelten, mit dem größten Eifer, und Zwingli versäumte nicht leicht, ihr die neu erschienenen zur Lektüre zu übergeben, um sich dann später mit ihr über den Inhalt zu besprechen.

Mehrmals bot sie die Hand, um den Nonnen, welche das Kloster verlassen hatten, Gelegenheit zur Verheiratung zu verschaffen. Sie meinte: Priester und Nonnen passten wohl am besten zusammen; beide schmachteten nach Erlösung aus ihrem bisherigen Zustande; auch wären sie nicht verzärtelt und gewissermaßen der Welt abgestorben. Besonders eifrig las sie in der Bibel; es verging kein Tag, an dem sie nicht Stärkung des Glaubens in derselben gesucht und gefunden hatte. Jeder neue Bogen der von Lev Judä in Verbindung mit ihrem Manne bearbeiteten Züricher Bibelübersetzung wurde von ihr begierig in die Hand genommen, wenn Zwingli verhindert war, solchen vorzulesen.

Mit besonderem Eifer und besonderer Liebe nahm sie sich der Armen und Kranken, namentlich der Waisen, an. Sie besuchte dieselben und brachte ihnen Speise und Trank, Arznei und Kleidung; von dem Ihren gab sie reichlich und forderte Andere zur Mildtätigkeit auf. Fremde, besonders solche, die um des Evangeliums willen verfolgt waren, fanden in ihrem Hause gastliche Aufnahme. Selten war dieses ganz von Gästen leer; nicht Wenige blieben, bis ihnen sonst ein Unterkommen verschafft war.

Häufig kamen des Sonntags Nachmittags mehrere Predigerfrauen bei ihr zusammen, um sich über religiöse Dinge zu besprechen; bisweilen gesellten sich Männer dazu; es wurden alsdann geistliche Lieder gesungen, die Zwingli großenteils gedichtet hatte.

An Sorgen und Bekümmernissen fehlte es ihr nicht. Ihr Gatte hatte der Feinde eine ziemliche Anzahl. Selbst auf der Tagsatzung((Die Tagsatzung war in der Schweiz bis 1848 die Versammlung der Abgesandten der Orte (Kantone) der Alten Eidgenossenschaft. Sie besaß sowohl exekutive als auch legislative Kompetenzen.)) stieß man Drohungen gegen ihn aus. Es wurden Äußerungen vernommen: Man solle es ihm machen, wie es der Bischof von Konstanz dem Johann Huglin((Johann Hüglin, auch Johannes Hüglin, Hans Hüglin, Johannes Heuglin, Johann Heuglin, Hanns Heuglin, Johannes Hügelin, Johannes Hügli, Johann Hügli, Johann Heuglein oder Johann Heugelin, im Englischen mitunter John Heuglin, im Französischen entsprechend Jean Heuglin, im Niederländischen Jan Heuglin geschrieben (* vor 1490 in Lindau (Bodensee); † 10. Mai 1527 in Meersburg), war Frühmessner (Pfarrer) in dem am Bodensee gelegenen Pfarrdorf Sernatingen (heute Bodman-Ludwigshafen, damals zur Reichsstadt Überlingen gehörig). Er gilt als evangelischer Märtyrer.)) von Meersburg gemacht habe; man solle ihn verbrennen. In Luzern übergab man seine Bücher dem Feuer und machte bekannt: Wer ihn finde, solle ihn gefänglich einliefern. Auch kamen tatsächliche Feindseligkeiten gegen ihn vor. 1525 warfen zwei Bürger mit großen Steinen die Fenster im Zwinglischen Hause ein, so dass die Stücke umherflogen und die Anwesenden in Angst und Unruhe versetzt wurden. Zwingli beruhigte dieselben und verscheuchte durch sein bloßes Erscheinen am Fenster die Übeltäter.

Ein anderes Mal begehrte ein Mann am späten Abend mit Zwingli zu sprechen. Die anwesenden Diakonen hielten denselben ab, vor die Türe zu gehen. Einer von ihnen trat heraus; er wurde alsbald ergriffen und fortgeschleppt; doch ließ man ihn wieder frei, sobald man den Irrtum gewahrte. Über das Alles war Anna betrübt; doch sie verzagte nicht, fest im Vertrauen auf den Schutz des Allmächtigen. Auch der Abendmahlsstreit beunruhigte sie nicht wenig; ganz besonders war sie voll Sorgen und Kummer, als Zwingli 1529 zum Religionsgespräch nach Marburg reiste und schon auf dem Schweizer Boden in Lebensgefahr geriet. Er kehrte indes wohlbehalten im Oktober zurück. Aber die Zeiten wurden schlimmer und schlimmer. Am 11. Oktober 1531 kam es zwischen den evangelischen und katholischen Kantonen zur unheilvollen Schlacht bei Kappel. Zwingli begleitete die Züricher Miliz, selbst mit einem Schwerte bewaffnet. Wie bekannt, fiel er in dieser Schlacht.

Welche Schreckensbotschaft für das liebende Weib, als sie erfuhr, dass sie zur Witwe geworden sei! Aber diese Trauerbotschaft blieb nicht vereinzelt. Auch ihr Sohn, Gerold Meyer von Knonau, war unter den Getöteten, sowie ihr Bruder Bernhard Reinhard, ihr Tochtermann Anton Wirz, und der Gatte ihrer Schwester, Hans Lütsch. Nur ihr zweiter Tochtermann, Balthasar Keller, den man ebenfalls für tot gehalten hatte und der auf dem Schlachtfelde geblieben war, hatte sich wieder aufgemacht und gerettet. Außer ihren zwei Töchtern erster Ehe waren ihr noch drei Kinder zweiter Ehe, zwei Söhne und eine Tochter geblieben.

Sie fasste sich zuerst trotz ihres namenlosen Schmerzes und trotz des Jammerns ihrer Kinder. Auch fehlte es ihr nicht an Trost und Teilnahme. Sie selbst dichtete ein Trauerlied((Dieses Trauerlied ist nicht von ihr, sondern von Johann Martin Usteri „Der armen Frouw Zwinglin Klag“, zu finden https://glaubensstimme.de/doku.php?id=autoren:u:usteri:usteri-der_armen_frau_zwingli_klag)), in dessen letzten Versen sie die Bibel anredet:

Komm, du Buch! Du warst sein Hort,
Sein Trost in allem Übel;
Ward er verfolgt durch Tat und Wort,
So griff er nach der Bibel,
Fand Hülf‘ bei ihr, – Herr! zeig‘ auch mir
Die Hülf‘ in Jesu Namen!
Gib Mut und Stärk‘ Zum schweren Werk
Dem schwachen Weibe; Amen!

Anna lebte jetzt noch mehr zurückgezogen als früher. Ihre ganze Sorgfalt war der Erziehung ihrer Kinder gewidmet. Sie fand auch einen Freund in der Not. Der Nachfolger ihres Mannes, Heinrich Bullinger, wurde ihr Fürsprecher beim Rate und nahm sie selbst in sein Haus und an seinen Tisch; ihre Kinder behandelte er wie seine eigenen; zwei Söhne und eine Tochter starben früh; den jungen Ulrich ließ er auf seine Kosten studieren.

Die weiteren Nachrichten über die Witwe sind spärlich, doch mehr als hinreichend, um zu beweisen, dass sie bis zum Tode von ihrer Frömmigkeit nicht gewichen ist. Am 6. Dezember 1538 beschloss sie ihr vielbewegtes und vielgeprüftes Leben. Bullinger schrieb an einen Gesinnungsgenossen: „Ich weiß mir kein seligeres Ende zu wünschen; sie verlosch sanft, wie ein mildes Licht, und schwebte anbetend und uns Alle Gott befehlend heim zu dem Herrn.“