Valerius Herberger

Daß unsere evangelische Kirche nach langem Siechthum zu neuem Leben erwachte, erhellt schon aus der regen Theilnahme, mit der sie sich ihrer längst vom Schauplatz abgetretenen Väter, Vorkämpfer und Fahnenträger wieder erinnert. Männer Gottes, die für immer dem Grabe der Vergessenheit anheimgefallen zu sein schienen, feiern den Tag ihrer geistigen Auferstehung, und treten in Biographien oder in neuen Ausgaben ihrer Schriften freudigst willkommen geheißen, zeugend und tröstend unter die Lebendigen zurück. Zu diesen vom Rufe liebender Verehrer aus grauer Vergangenheit neu Heraufbeschworenen gehört in erster Reihe nächst den Reformatoren auch der gesalbte Pastor des Fraustädter „Krippleins Christi“, Valerius Herberger, der Mann, dessen in reicher Zahl hinterlassenen Werken allen der Titel, den eins derselben trägt: „die evangelische Herzpostille“, als Gesammttitel eignen würde, indem nicht viele Prediger so mächtig zum Herzen ihrer Zuhörer zu reden, und so tief und gewaltig die Gemüther zu ergreifen gewußt haben mögen, wie jener.

Die Zeit des Valerius war nicht mehr diejenige, von welcher Luther singen durfte:

Der Sommer ist hart vor der Thür,
Der Winter ist vergangen.
Die zarten Blümlein gehn herfür.

Ueber das Blumenfeld, welches Luther so lieblich und verheißungsreich sprießen sah, tobte verheerend der Gluthwind des confessionellen Haders und jener „Theologenwuth“, von der der treffliche Melanchthon sagte, daß schon die Aussicht auf Erlösung von ihr nicht wenig dazu beitrage, ihm den Gedanken an den Tod zu versüßen. Eine unerquickliche trübe Zeit war’s, welche nur dem Widerpart des Evangeliums zur Rechten und zur Linken zur Ergötzung gereichte und heimlichen Triumph bereitete; den „Stillen im Lande“, den Herzensfrommen dagegen gar manchen tief ausgeholten Seufzer entpreßte. Hin und wieder jedoch ließ sich auch damals, den wenigen gesund gebliebenen unter den Christen zur Aufrichtung und zum Troste, unter allem scholastischen Gebelfer und Rabengekrächz eine liebe und ersehnte Nachtigall vernehmen. Von den Gelehrten nenne ich als solche nur neben dem weltbekannten Johann Gerhard, den Johannes Matthäus Mevfart, den Verfasser des herzerhebenden Liedes: „Jerusalem, du hochgebaute Stadt“; und von den Pastoren neben dem unvergleichlichen, aber schmählich verkannten und hart verfolgten Johann Arndt den Valentin Andreä. Eine Nachtigall von sonderlich süßem und herzigem Schlage war aber auch der Mann, der uns das allbekannte tapfere Glaubenslied gesungen:

Valet will ich dir geben
Du arge falsche Welt!

und mit ihm gedenken wir uns jetzt etwas näher zu befreunden.

In dem damals polnischen, jetzt preußischen Städtchen Fraustadt erblickte jener theuerwerthe Zeuge am Dienstag nach Jubilate 1562, ein Jahrzehend nach dem Uebertritt des Orts zur Reformation, in bescheidener Handwerkerhütte das Licht der Welt. Sein Vater, Martin Herberger, seines Gewerbes ein Kürschner, und nebenher, wie sein Sohn uns meldet, „gefreiter (d. i. zum Meister gesprochener) Fechter, Sänger und deutscher Poet,“ der Meistersänger-Zunft angehörig, war, was mehr als jenes Alles bedeuten will, ein von Herzen frommer gottesfürchtiger Mann, der, bevor noch die Fraustädter zur Fahne des Augsburgischen Bekenntnisses geschworen hatten, oftmals mit einigen gleichgesinnten Freunden heimlich über Land zog, um da und dort einen Prediger des neuen von den römischen Satzungen gereinigten Evangeliums zu hören. Die Mutter, Anna geborene Hoffmann, eine treue, rührige Hausfrau, theilte ganz ihres Eheherrn christliche Gesinnung, und lehrte später ihren kleinen Valerius, wie das Söhnlein nach dem Namen des Pastors, der es getauft, genannt worden war, seine ersten Gebetlein stammeln. Als der Vater wiederholt bemerkt hatte, daß der Säugling in seiner Wiege beim Aufwindeln drei Fingerlein seiner rechten Hand in die Höhe zu recken pflegte, glaubte er darin mit großer Freude und Zuversicht eine gute Vorbedeutung zu erblicken, und sprach: „Ihr werdet sehn, der wird einmal ein Prediger werden, und wie weiland Johannes der Täufer mit Fingern auf den Herrn Jesum weisen!“ Und daß dies wahr werde, dazu that der Vater schon frühe Alles, was in seinen Kräften stand, indem er dem heranwachsenden Knäblein nicht allein von Gott und dem Herrn Jesu sagte und es zum Gebete anhielt, sondern es auch lesen und schreiben, ja sogar, soweit er selbst dessen kundig war, lateinisch dekliniren und conjugiren lehrte. Als aber der kleine Valerius in sein fünftes Lebensjahr eingetreten war, übergab er ihn der städtischen Schule. Das war ein feierlicher Tag für das Herbergersche Haus. Zuerst führte der Vater ihn in die Kirche, wo er in seinem Kirchstuhl ihn auf den Knieen der Gnade und Obhut seines Gottes befahl, und den Herrn anrief, daß Er den Knaben doch zu einem Gefäße der Barmherzigkeit und zu einem Segenswerkzeug für seine Kirche machen wolle. Dann geleitete er ihn zu seinen künftigen Lehrern, band ihn denselben dringendst auf’s Herz, und hatte fortan keine größere Freude, als wenn er letztere bezeugen hörte, daß sie den Valerius zu ihren gehorsamsten, hoffnungsvollsten und liebsten Schülern zählten.

Neun Jahre war der Knabe alt, als sein Vater im Frieden Gottes entschlief, und mit ihm dem Anscheine nach zugleich sein süßer Lebenstraum von des Söhnleins zukünftigem Berufe zu Grabe ging. Bestand doch seine ganze Nachlassenschaft für die Seinen kaum in etwas mehr, als in einer Anweisung an die Barmherzigkeit Gottes, und die Mutter hatte fortan ihre Mühe, sich und ihre Kinder nothdürftig mit der Grützmühle zu ernähren. Nichtsdestoweniger wurde der väterliche Creditbrief im Himmel anerkannt, was sich zunächst darin kundgab, daß der Mutter Schwester, die Ehefrau eines ehrsamen Fleischhauermeisters, sich bewogen fand, mit völliger Zustimmung ihres Mannes den Valerius zu sich zu nehmen, und ihn in Allem ihren leiblichen Kindern gleich zu halten. So konnte er denn die Schule fort besuchen, bis er in seinem siebenzehnten Lebensjahre als erster der obersten Klasse mit den besten Zeugnissen entlassen wurde. Seine Mutter war mittlerweile eine neue Ehe mit einem Schuhmachermeister eingegangen, welcher den Stiefsohn für sein Handwerk bestimmte. Valerius widersprach nicht, und der Tag seiner Aufnahme in die Werkstatt war bereits festgesetzt. Als aber des Valerius Pathe, der Fraustädter Pastor Arnold, dies vernahm, beschied er den Jüngling zu sich, und sprach zu ihm: „Höre, mein Pathsohn, Du willst ein Handwerk lernen; aber wisse, daß dort oben ein Anderes über Dich beschlossen ist. Dein Vater pflegte von Dir zu sagen: „“der Knabe muß mir studiren und wenn ich’s erbetteln sollte. Er wird auf den Herrn Jesum mit Fingern weisen, wie einst Johannes Hat!““ Nun hat Dein Vater auf seinem Todesbette mich gebeten, daß ich dazu thun sollte, was ich vermöchte. Weil er im Propheten Daniel gelesen, die Lehrer würden leuchten wie des Himmels Glanz, so werde er sich am jüngsten Tage alsobald umsehn, wo er denn seinen Sohn als solch‘ ein glänzend Licht erschaue. Da wirst Du denn, ich weiß nicht, in welchem dunkeln Winkel stecken, und des Vaters Hoffnung wird zerronnen sein. Also, mein lieber Pathe, bedenke Dich!“ Als hierauf Valerius heim zu seiner lieben Mutter kommt, spricht er mit einem frommen Unmuth: „Nun lerne ein Handwerk dieser und jener; ich aber nun und nimmermehr. Mein Vater will mich einmal anders vor sich stehen sehn.“ So ward Valerius beim Studium erhalten. Nachdem er, von seinen Pflegeeltern und dem Pastor Arnold unterstützt, noch drei Jahre zur Vollendung seiner Vorbildung in der höheren Lehranstalt zu Freistadt in Schlesien zugebracht, bezog er zuerst zu Frankfurt a. O. und dann zu Leipzig die Hochschule. Durch Ertheilung von Privatunterricht und vermittelst einiger kleinen Stipendien schlug er sich an beiden Orten tapfer durch und lag mit großem Fleiße seinen Studien ob. Er hatte aber das akademische Triennium noch nicht vollendet, als der Magistrat seiner Vaterstadt ihn in eine Lehrerstelle an einer der unteren Klassen der dortigen Schule berief. Valerius, wissenschaftlich wohl ausgerüstet, erkannte in diesem Rufe einen Befehl seines Gottes und verwaltete sein Schulamt sechs Jahre hindurch mit Ruhm und den glücklichsten Erfolgen. Im Jahre 1590 aber wurde ihm nach wohlbestandener theologischer Prüfung das eben erledigte Amt eines Diakonus oder zweiten Predigers an der Pfarrkirche seiner Vaterstadt übertragen, und nun erst war ihm Raum geschafft, die ganze Fülle der ihm verliehenen göttlichen Gnadengaben in gesegnetster Weise zu entfalten. Schon seine Antrittspredigt über Lukas 4,16-22 ließ die zu freudigster Begeisterung hingerissene Gemeine nicht mehr darüber in Zweifel, wie Großes sie von diesem Manne zu erwarten habe. So wahr, warm, innig und gedankenreich glaubte sie nie noch das lautere Evangelium verkündigen gehört zu haben, wie es als der reine volle Ausdruck einer tiefgewurzelten lebendigen Ueberzeugung von seinen gesalbten Lippen floß, und Manche gingen in ihrer lobenden Anerkennung des jugendlichen Evangelisten so weit, daß sie ihn mit dem Namen eines zweiten „Martin Luther“ beehrten. In jeder Woche hatte er alternirend mit seinem Amtsgenossen, dem Oberprediger Bernadus, fünf Predigten zu halten, fand aber, so oft er auftrat, die geräumige Marienkirche bis in den äußersten Winkel hinein von einer andächtig horchenden Versammlung angefüllt. Mit seinem Predigteifer hielt seine Seelsorgerthätigkeit gleichen Schritt. Es war bald kein Glied der Gemeine mehr, das er nicht persönlich kannte und auf fürbittendem Herzen trug. Wie hätte diese Pastorale Wirksamkeit, die sich Jedem auf den ersten Blick nur als die Manifestation und natürliche Lebensbethätigung einer ganz vom Evangelium durchdrungenen und erfüllten Persönlichkeit zu erkennen gab, ohne Frucht bleiben können, zumal, da sie das glänzendste Siegel durch das private und häusliche Leben erhielt, das er mit seiner ihm völlig gleichgesinnten Gattin, der Anna, einer gebornen Rüdiger, führte, dieser „gottseligen Hanna, allezeit reinlichen und fleißigen Susanna, demüthigen Rahel, gutthätigen Thabita und im Kreuz beständigen Maria“, wie sie auf ihrem Grabstein genannt wird? Binnen kurzem sah er sich von einer großen Schaar gründlich bekehrter Seelen umgeben, von deren heilsbegieriger Andacht und stillen Gebeten er, so oft er die Kanzel betrat, sich wunderbar gehoben und getragen fühlte.

Der Segen in der Gemeine wuchs, als ihm 1595 an Stelle des nach Freistadt abberufenen Oberpredigers Bernadus der bisherige Superintendent zu Liegnitz, Pastor Kreutzheim, als College zugesellt wurde. Dieser treffliche Mann war bei Gelegenheit einer Kirchenvisitation, an der neben Andern auch der sächsische Theologe Hunnius Theil nahm, als „Philippist“ d. i. als ein Freund und Anhänger Melanchthons erfunden, und, da er sich weigerte, die Concordienformel als den adäquaten Ausdruck der Schriftlehre anzuerkennen, seines Amtes entsetzt worden. Unser Valerius war, nicht etwa aus blinder Unterthänigkeit unter die Satzungen seiner Kirche, deren manche, z. B. den Exorcismus, er entschieden verwarf, sondern aus innigster im Wege freier biblischer Forschung erlangter Ueberzeugung, von Herzen Lutheraner, weßhalb er auch an der Kirchenversammlung zu Thorn, welche die Befestigung des im Jahre 1570 zu Sendomir zwischen lutherischen, schweizerischen und böhmischen Brüdern zu Stande gebrachten confessionellen Vergleichs bezweckte, sich persönlich nicht zu betheiligen vermochte. Zuerst aber und vor allem Andern war er Jünger Jesu und evangelischer Christ, und weil dies sein neuer Amtsgenosse gleichfalls war, hieß er denselben nicht allein mit unbefangenster Herzlichkeit willkommen, sondern trat auch bald in ein so inniges Verhältniß zu ihm ein, daß dieser als der viel ältere Mann ihn zärtlich seinen „lieben Sohn“ und er jenen mit eben so aufrichtiger Liebe seinen „Vater“ zu nennen pflegte. Beide trieben nun das Werk des Herrn an der Gemeine mit gleichem Eifer und in einem Geiste, und die Ueberlegenheit des Diakonus an amtlicher Begabung vermochte so wenig den Neid des Collegen zu erregen, daß dieser vielmehr nicht ruhte, bis er dem Magistrate die Versicherung abgedrungen, Valerius solle einst nach seinem Tode als Oberprediger sein Nachfolger werden, was denn allerdings schon nach Verlauf von dreien Jahren sich verwirklichte.

Was den Predigten Herbergers die ungewöhnliche Macht und Gewalt über die Gemüther verlieh, war neben der Einfalt und Klarheit, die überströmende Innigkeit, Salbung und Begeistrung, womit er zu reden pflegte. Jesus der Sünderfreund erfüllte seine ganze Seele, und mit Recht hieß man ihn schon früh mit Nachdruck den „Jesusprediger.“ Ueberall in Schrift und Geschichte entdeckte er seinen Heiland. „Besser“, dachte er, „Jesum auch da zu finden glauben, wo Er nicht ist, als Ihn einmal übersehen, wo Er sich wirklich befindet!“ So hören wir ihn z. B. einmal predigen: „Wie schlecht und albern klingt’s, wenn wir 1 Könige 17,10 lesen, daß die arme Witwe von Zarpath ein Holz oder zwei aufgelesen, um für sich und ihr Söhnlein zu guter Letzt noch vor ihrem Ende ein niedliches Bißlein zuzurichten. Hält man aber stille und denkt bei diesen zweien Hölzlein oder Spähnen an die zwei Querhölzer des Kreuzes Jesu Christi, und an das, was unser Seligmacher daran erworben hat, so kommt Trost und Freude die Fülle in das Herz.“ Ein andres Mal spricht er: „Wenn wir lesen von dem Messen des Propheten Eliä, über dem Söhnlein der Witwe, oder von den seltsamen Gebehrden des Propheten Elisa bei der Erweckung des Söhnleins der reichen Sunamitin 2 Kön. 4, 34. 35., so scheint’s wohl schlecht Ding zu sein; nehmen wir aber in Acht, daß sie beide mit ausgestreckten Armen, eben wie der Herr Christus am Kreuze that, beten und flehen, so finden sich bald die holdseligen Gedanken, daß wir im Namen des gekreuzigten Herrn Jesu beten müssen, wofern wir dem ewigen Tode entlaufen wollen.“ Allegorische Deutungen dieser Art begegnen uns zahlreich fast in allen seinen Vorträgen. Dies berechtigt aber keinesweges zu dem Schlusse, daß er nicht auch auf dem Gebiete des alten sowohl wie des neuen Testamentes ein gründlicher, sprachkundiger und gelehrter Exeget gewesen sei. Er war ein solcher sogar in ungewöhnlichem Grade. Zugleich gebot er vermöge seiner ausgedehnten Bekanntschaft mit der Weltgeschichte über eine unerschöpfliche Fundgrube von Thatsachen und Exempeln zur Veranschaulichung und Besiegelung der Wahrheiten, die er vortrug. Und flossen auch seine Reden „meist süßer denn Honig und Honigseim“ von seinen Lippen, so verstand er’s doch auch, wo es galt, wie Wenige, seine Stimme zu erheben wie eine Posaune. Seine Bußpredigten brauseten über die Gemeine dahin wie ein Sturm, vor dem Alles sich beugen oder brechen mußte, und nicht selten geschah es, daß unter dem Donner seines mächtigen vom göttlichen Feuergeist getragenen Wortes die ganze Versammlung in ein lautes Weinen und Schluchzen ausbrach.

Solch‘ ein gewaltiger Prediger war Valerius, weil er ein Mann des Gebetes war. Wenige mögen das apostolische „Betet ohne Unterlaß“ so durchhaltend und treu geübt haben, wie er, dessen Wandel wahrhaft „im Himmel war“, und der z. B. in sein Tagebuch nichts, auch nicht das Unbedeutendste, verzeichnete, ohne irgend einen Seufzer zu seinem Herrn hinzuzufügen. Seine kirchlichen Gebete waren das Rührendste, Ergreifendste und Herzerhebendste, was man hören konnte, und oft hat die Gemeine dieselben mit der wunderbarsten, unzweideutigsten Erhörung gekrönt gesehn. Im Jahre 1621 schrieb man allgemein den bei Choczin wider alles Erwarten von den Polen über die Türken und Tartaren erfochtenen glänzenden Sieg dem inbrunstvollen und zuversichtlichen Gebete zu, mit welchem Valerius kurz vorher vor versammelter Gemeine den Himmel bestürmt hatte. Jedem war dabei sogleich der Eindruck geworden, dieses Gebet dringe durch die Wolken, und ehe man sich’s versah, erfand sich’s, daß man sich darin nicht geirrt habe. Kein Wunder, daß Valerius in Folge solcher Erfahrungen allmälig ein fast prophetisches Ansehn gewann, und wirklich scheint ihm eine starke divinatorische Gabe eigen gewesen zu sein. So geschah es einmal, daß er, als er in einer erschütternden Predigt über die letzten Dinge der am Fraustädter Rathhausthurme hangenden Sturm- und Feuerglocke als eines Bildes sich bediente, urplötzlich, und, wie er später selbst bekannte, ganz unwillkührlich, in den dreimaligen Ruf: „Feuer, Feuer, Feuer!“ ausbrach und darauf die Worte folgen ließ: „Ihr Fraustädter, wo ist’s Feuer? Wann wird es kommen? – Um Mitternacht! – Wer hat’s gesagt? – Der Herr Jesus sagt’s Matth. 25, 6.: Zu Mitternacht kommt der Bräutigam!“ – Die Gemeine gerieth über diesen wunderbaren Worten in eine nicht geringe Bestürzung. Wie sollte sie sich diese auffallende Rede ihres Pastors deuten? Nun, die Deutung fand sich binnen Kurzem. Schon in der nächstfolgenden Nacht, und zwar grade um die Mittemachtstunde, schlug plötzlich jene Glocke am Rathhausthurme an. Ein furchtbares Feuer war ausgebrochen, das in kurzer Zeit nicht weniger als drei ganze Viertel in Asche legte. Als während des Brandes Valerius selbst betend und helfend unter den Löschenden erschien, wurde er von Vielen mit der Frage bestürmt, wer ihm doch dieses Unglück zuvor geoffenbart habe, worauf er antwortete: „Kinder, es hat Gott der Herr meinen Mund gezwungen, so seltsam zu reden, wie ich in der Kirche geredet habe. Nimmer, nimmermehr lasse Er mich einen Propheten sein, der euch Unglück verkünde. Nur Gottes Gnade und seinen Segen wünsche ich euch von ganzem Herzen. Aber ihr – o thuet Buße, daß euch nicht einst das ewige höllische Feuer ergreife!“ –

Noch nicht gar lange hatte sich die Stadt aus ihren Trümmern wieder erhoben, als sie von einer neuen Heimsuchung und zwar von einer noch empfindlicheren und schwereren betroffen wurde. Die Pest brach in Fraustadt aus, und zwar in so verheerender Weise, daß in kurzer Frist nicht weniger als 2000 Menschen hingerafft wurden. Da feierte denn die Hirtentreue des Valerius den Tag ihrer höchsten und schönsten Verklärung. Während Alle, denen irgend Mittel dazu zu Gebote standen, eilends entflohen, hielt er nicht allein fest und unerschütterlich bei seiner Heerde Stand, sondern war auch Tag und Nacht in Bewegung, um den Kranken und Sterbenden in ihren verpesteten Räumen den Trost des Evangeliums und das Labsal des Sakramentes zuzutragen. Furcht kannte er nicht. Sein Glaube war der Sieg, der, wie den Tod, so Alles, was Apprehension, Ekel und natürliches Grauen heißt, weit überwunden hatte. Oft sah man ihn auf den menschenleeren Straßen der Stadt ganz allein, ein Sterbelied singend, vor dem Karren hergehn, auf welchem der Todtengräber wieder eine oder mehre Leichen zum Friedhof führte. Wer dann ihm etwa begegnete, wich erschrocken aus, aber nicht, ohne den Muth des Mannes zu bewundern, der „auch sein Leben nicht theuer achtete, auf daß er das Amt vollendete, das er von dem Herrn empfangen hatte.“ In welchem Maaße dies sein pastorales Verhalten die Liebe und das Vertrauen seiner Pfarrkinder zu ihm steigern mußte, ist leicht zu ermessen. Wie ein Enkel Gottes wurde er, wo er erschien, willkommen geheißen, und sonderlich waren es die Kinder, die dem freundlichen Pastor, wo sie ihn erblickten, wie einem Vater fröhlich entgegensprangen, und ihm traulich ihre Händchen reichten.

Freilich konnte es einem Manne der Wahrheit, wie er war, auch an erbitterten Widersachern nicht fehlen. Den Gottlosen in der Gemeine mußte er schon als deren anderes Gewissen und als ernster und freimüthiger Wächter über das sittliche Leben seiner Pfarrkinder ein Dorn im Auge sein. Zu mehren Malen ist ihm sogar von Libertinern, die sein strafendes Wort getroffen hatte, nach dem Leben getrachtet worden, und es wäre den Bösewichtern ihr schlau eingefädelter Mordplan gelungen, hätte nicht Gott der Herr in wunderbarster Weise seine schirmende Hand über dem Haupte seines treuen Knechts gehalten. Viel tiefer jedoch, als die Wuth seiner Gegner, betrübten ihn so manche Rückfälle scheinbar Bekehrter in ihr früheres Welt- und Sündenleben, so wie das Offenbarwerden Anderer als solcher, die ihr ganzes Christenthum nur erheuchelt hatten. Außerdem erwuchsen ihm aus den damals noch häufig vorkommenden Hexenprozessen, zu denen er als geistlicher Richter hinzugezogen wurde, nicht geringe Sorgen und Kümmernisse. Kaum aber hatte ihm etwas einen größeren Schmerz verursacht, als der urplötzlich schon im Jahre 1604 vom Polenkönige Sigismund III. erlassene Befehl, laut welchem die schöne geräumige Marienkirche, die Pfarrkirche der Stadt, an das winzige Häuflein theils übriggebliebener, theils erst seit Kurzem neu angesiedelter Katholiken wieder abgetreten werden sollte. Alles Bitten und Flehen der Evangelischen um Zurücknahme dieser ebenso harten als ungerechten Forderung blieb fruchtlos, und so wurde denn das der Gemeine so theuer gewordene Gotteshaus unter vielen Thränen geräumt, und zunächst mit einer Nothkirche vertauscht, zu der man zwei aneinanderstoßende Bürgerwohnungen nach Durchbrechung ihrer Zwischenwände herzurichten wußte. Doch gelang es dem rastlosen Eifer Herbergers, durch Anfeuerung der Gemeine zu fröhlicher Opferwilligkeit, und durch veranstaltete Collekten in der Nähe und Ferne den dürftigen Raum allmählich zu einer recht freundlichen Kirche umzugestalten, die er unter begeisterter Zustimmung der ganzen Gemeine mit dem lieblichen und sinnigen Namen des „Krippleins Christi“ schmückte.

Herbergers letzte Lebensjahre fielen in das erste Drittel des unheilvollen dreißigjährigen Krieges, von dessen vielgestaltigen Schrecken auch seine Gemeine keinesweges unberührt blieb. Er begann recht innig nach der himmlischen Ruhe sich zu sehnen, und zu nicht geringem Troste gereichte es ihm, seinen geliebten ihm völlig gleichgesinnten Sohn Zacharias, der ihm schon im Jahre 1614 als Diakonus zugesellt worden war, als einen treuen Gehülfen zu seiner Seite zu erblicken. Uebrigens aber blieb nach wie vor das „Wirket so lange es Tag ist!“ sein Wahlspruch, den er so lange ein Odem in ihm war unausgesetzt mit der That besiegelte. Die Gemeine, die sich mit ihren geistlichen Bedürfnissen an ihn und seinen beichtväterlichen Rath und Zuspruch gewiesen fühlte, erstreckte sich schon frühe nach allen Seiten hin über die Grenzen derjenigen, die seiner Seelsorgerpflege zunächst und amtlich anvertraut war, weit hinaus. Das Verlangen nach erbaulichen Schriften aus seiner Feder steigerte sich von Jahr zu Jahr. Seine „Herzpostillen“, enthaltend Predigten über sämmtliche Perikopen des Kirchenjahrs, seine „Blaßnalin Dei“, seine geistlichen „Trauerbinden“, eine Sammlung von Grabreden und Leichenpredigten, seine 95 Predigten über den Jesus Sirach, sowie sein „Passionsanzeiger“, und eine große Menge anderer Traktate geringeren Umfangs, wie der vom „himmlischen Jerusalem“, boten, immer wieder neu aufgelegt, Tausenden eine reiche Herzensweide. Wurden mehrere dieser Schriften in neuester Zeit aus der Vergessenheit wieder an das Licht gezogen, so waren sie dessen vollkommen würdig. Sie werden auch heute noch allen denen zur wahren Erbauung gereichen, welche an manchen freilich allzu kühnen und mitunter fast spielenden Allegorien sich nicht stoßen, sondern auch aus ihnen die kindliche Glaubenseinfalt und die innige Jesusliebe herauszuschmecken vermögen, wovon sie beseelt und durchdrungen sind. –

Nach einer 37jährigen überaus gesegneten Wirksamkeit, während welcher er mehr als einen ehrenvollen Beruf in andre Kirchsprengel aus zärtlicher Anhänglichkeit an sein liebes Fraustadt abgelehnt hatte, starb der Mann, der in der evangelischen Kirche seiner Zeit als eine der allertröstlichsten und wohlthuendsten Erscheinungen uns begegnet, und welcher für alle Zeiten ein Predigerspiegel und ein pastorales Musterbild bleiben wird. Es war am 18. Mai des Jahres 1627, als er mit dem Namen „Jesus“ auf der erblassenden Lippe in die Wolke jener Zeugen aufgenommen wurde, deren die Welt nicht werth war. Mit ganz besonderem Nachdruck darf auch auf ihn bezogen werden, was von dem frommen Abel geschrieben steht: „Er redet noch, wiewohl er gestorben ist.“ Eine Ehrenstelle, und eine hervorragende, gebührt ihm vollkommen. Sein Angedenken bleibe in der Kirche Jesu Christi im Segen! –

Fr. W. Krummacher in Potsdam f.