Es gehört zu den schmerzlichsten Räthseln der vom Geiste Gottes erleuchteten Weltbetrachtung, welche das Geheimniß der Geschichte nicht in dem trostlosen Einerlei einer ziellosen Kreisbewegung, sondern in dem Vorwärts einer wenn auch langsamen Menschheitsentwickelung erblickt, daß mitunter ganze Völker nach Perioden eines reichbewegten geistigen Lebens plötzlich zurückgeworfen werden auf die Kindheitsstufe der Kultur und Bildung. Der erschütternde Eindruck dieser Katastrophen steigt bei Nationen, welche, groß und herrlich in der Geschichte des Reiches Gottes, einen Fall thun wie Babel, da eine Pracht vom Himmel zur Hölle niedergeworfen ward, wie Bethaida oder Kapernaum, da ihnen der Herr das Gericht drohte entsetzlicher als Sodom. Wie ein lieblicher Garten Gottes, duftend im Heilsschmuck christlicher Erkenntniß, Gesittung, Liebe, lagen die Diöcesen einst um das Mittelmeer. Aber was sind sie jetzt, diese Perlengürtel des Mittelmeers, diese Wiegenfitze des Christenthums und des glänzendsten kirchlichen Lebens? Wo sonst sich Gemeinde an Gemeinde reihte, nichts als versprengte Christenhäuflein im Wüstenmeer einer mit gleißnender Civilisation übertünchten Barbarei, die strahlenden Bischofssitze elende Dörfer oder verwitterte Ruinen, oft spurlos verweht bis auf die Namen, die herrliche Natur verwildert durch die Trägheit der Menschen, die Bevölkerung abgestumpft durch die Herrschaft des Halbmondes, dessen Geistesbann überall zuletzt auch den Zusammensturz der bürgerlichen Ordnung nach sich zieht, hie und da schwellende Knospen, die einen nahenden Frühling ankündigen, aber, zurückgehalten durch die allgemeine Erstarrung, es zu keiner Ausreifung bringen. Das sind die Gerichte der strafenden Liebe Gottes, welche ihre himmlischen Segnungen unverkürzt und mit zuwartender Geduld darreicht Jedermann, aber ihre Verachtung zuletzt rächt mit Entziehung selbst dessen, was der Mensch in gewissem Sinn sein eigen nennt. Kleinasien, Palästina, Alexandrien, wie waren sie einst so hoch erhoben! Aber weil sie die erste Liebe verließen, um in Weltsinn und Wohlleben das Kleinod der Einen Perle zu vergessen, weil sie im Ergötzen an spitzfindigem Grübeln und Streiten über die Mysterien des Dogma die Hauptsache im Christenthum, Glauben und Liebe, aus den Augen verloren, und ihre treuesten Lehrer, anstatt in Ehren zu halten und zu segnen, mit Geringschätzung und Bannflüchen verfolgten, mußte ihr Leuchter hinweggestoßen werden. Sie wurden eine Beute des Erbfeindes der Kirche, nachdem sie innerlich sich vom Menschensohn losgesagt hatten. Länger denn zwei Jahrhunderte hatte die sogenannte Katechetenschule in Alexandrien geblüht, als Pflanzstätte einer im gläubigen Gemüth gepflegten Philosophie des geoffenbarten Christenthums. Eine Fülle geistigen Lebens strömte von ihr über die Kirche aus. Wenn sie im engeren Kreise heilsverlangender Gebildeten aus den Heiden als Helferin zum Glauben, jungen Christen von Talent als Vorschule für den Kirchendienst diente, so wirkte sie ins Allgemeine auf geistigere Schriftauslegung, auf wissenschaftliches Verständniß des nach einem letzten Gründen erforschten, als Ganzes lebensvoll zusammengefaßten Christenthums, auf Zubereitung der Bildungsschätze der alten Welt für die Zwecke des Evangeliums, überhaupt auf eine höhere und feinere Weltansicht, wobei das Wissen überall mit dem Leben sich in harmonischer Einheit darstellen sollte. Das Absterben ihrer Blüthe seit Ausgang des vierten Jahrhunderts war eines der Vor- und Wahrzeichen des allgemeinen Verfalles, welcher die vom Mönchsgeist eingeschnürte, im Formel- und Formenwesen erstarrende, in sich getheilte Kirche des Orients zunächst in selbstbereitete geistige Knechtschaft, alsdann und in Folge hievon auch in die äußere des Islam stürzte. Ungesucht erinnert daher das Leben und Wirken des Didymus, des letzten ihrer bedeutendern Lehrer, an jenen Verfall und die mit ihm in Verbindung stehenden dauernden Folgen. Es liegt in dem besonderen Walten der Vorsehung beim Entwickelungsgange der Kirche, daß sich das äußere Leben gerade der hervorragendern Kirchenlehrer in fast völliges Dunkel verliert. Auch über Didymus wissen wir wenig, was bei ihm auch wohl damit zusammenhängt, daß sein Leben ohne eigenthümliche Wechsel im stillen Gleichmaß des Lernens und Lehrens sich abspann. Seine Geburt fiel nach einer höchst wahrscheinlichen Berechnung in die schwere Zeit, wo die Kirche den letzten Entscheidungskampf gegen die ganze Reichsmacht des römischen Heidenthums kämpfte (ins J. 309). So erhielt er gleichsam mit der Geburt die Bluttaufe für ein Leben der Aufopferung im Dienste des Herrn. Das Alterthum kennt ihn unter dem Namen des Blinden, weil er in früher Jugend, noch bevor er die Anfangsgründe des Unterrichts erlernt, im vierten oder fünften Lebensjahr das Augenlicht verlor. Aber wie viele andere große Väter, einen Justinus, einen Augustinus, beseelte ihn von Kindheit auf ein mächtiger Trieb nach Erkenntniß. Man traf ihn oft im Gebet, daß Gott ihm das Licht nicht der Augen, sondern die Erleuchtung des Herzens verleihen wolle. Und wie es in der Regel geschieht, daß, wo ein Sinn erlischt, die Leuchte der andern um so herrlicher aufgeht, so entwickelte sich bei ihm das von Natur reiche Geistesleben so rasch und glücklich, daß er an Leichtigkeit der Auffassung, an Treue des Gedächtnisses, an Sicherheit des Verständnisses nicht bloß alle Altersgenossen überflügelte, sondern im Besitz einer ungeheuren Fülle göttlichen und menschlichen Wissens bald ein auf allen Gebieten damaliger Gelehrsamkeit, selbst denen, welche am meisten der sinnlichen Anschauung bedürfen, gefeierter Meister wurde. Das Gehör ersetzte ihm das Gesicht. Oder wie Zeitgenossen es ausdrückten, Gott gab ihm anstatt der Augen des Leibes die Augen des Geistes. Die Buchstaben und Namen, überhaupt Alles, was mit dem Tastgefühl sich erkennen läßt, erlernte er durch Hilfe von Tafeln, in welche die Formen eingeschnitten waren. In den Schulen wahrscheinlich Alexandriens erwarb er die Kenntniß der Regeln der Grammatik und Rhetorik. Von da zum Studium der Philosophie gewandt, bemächtigte er sich mit gleicher Schnelligkeit der Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik, so daß er die schwierigsten Probleme der Mathematik mit Glück löste und in Disputationen. Keinem an Gewandtheit oder Geistesgegenwart nachstand. Ganze Tage bis tief in die Nacht saß er im Sinnen über göttliche Dinge. Sobald die Schulen sich schlossen, ließ er sich vorlesen. Und wenn die Vorleser ermüdet einschliefen, durchdachte er das Gehörte im Geist oder wiederholte es für das Gedächtniß, so daß er das Vorgetragene nicht sowohl gehört, als auf die Blätter einer Seele niedergeschrieben zu haben schien. Am lebhaftesten beschäftigte ihn, entsprechend der Grundrichtung der alexandrinischen Schule, das Studium der heiligen Schrift. Sie wurde ein tägliches Brod, von welchem er lebte, die Geistesheimath, in welcher Herz und Gedanke ausruhte. Ganze Bücher, unzählige Stellen im Einzelnen wußte er wörtlich auswendig. Nicht bloß ihr Inhalt und Wortlaut war ihm jederzeit gegenwärtig, sondern selbst über abweichende Lesarten oder Verschiedenheiten der Uebersetzer des Alten Testamentes wußte er Rechenschaft zu geben. So ein Wunder Allen, war ihm durch Gottes Gnade beschieden, daß er der geistige Führer für Tausende wurde. Es hat alle Wahrscheinlichkeit, daß ihm bereits im Jünglingsalter von 26 Jahren (im J. 335) der Patriarch Athanasius mit dem einflußreichen Katechetenamt in Alexandrien betraute. Ueber ein halbes Jahrhundert hat Didymus es mit Segen geführt, bis zu seinem Tode (395) mit ungebrochener Kraft thätig, bald im mündlichen Unterricht vor Schaaren begeisterter Schüler, bald in einsamer Stille Notarien diktierend. Das Lernen und Wirken für Andere war sein Lebensodem. Alle, die zu ihm strömten, um den seltenen Mann zu sehen, zu hören – und es waren ihrer Viele, Egypter, Griechen, Lateiner – nahm er mit immer gleicher Liebe auf. Keine der ihm vorgelegten Fragen ließ er ohne Antwort. Manche seiner Schriften verfaßte er auf ihre Bitte. Wer ihn gehört hatte, fühlte sich stolz, ihn einen Meister nennen zu dürfen. Von bekannteren Kirchenlehrern saßen zu seinen Füßen Palladius, Evagrius, Isidorus, Rufinus, Hieronymus. Es war wohl das Erbauliche einer ungeachtet der leiblichen Blindheit so vielseitig gebildeten Persönlichkeit, was diesen Zauber übte; daneben das Anregende des mündlichen Wortes, das, ohne blendende Gedanken und Sprache, aber immer eine That des innersten Lebens, und anziehend durch finnige Einfachheit, tiefe Schriftkenntniß, durch in Beweisführung wie Widerlegung wohlgeübte Dialektik, zündend in die Herzen schlug. Schon Zeitgenossen fühlten, daß seine Schriften diese Gewalt der Rede nur sehr unvollkommen abschatteten. Rufin erzählt, daß zwar eine schriftlichen Ergüsse in allgemeiner Achtung fänden, daß aber aus einer mündlichen Rede eine weit größere Anmuth, ja etwas Göttliches spreche. So gehörte Didymus wohl zu den Naturen, die, was sie sind, durch ihre Persönlichkeit sind. Jedenfalls war er kein schöpferischer Geist. In dem großen Origenes verehrte er die Sonne, von welcher seine Theologie Licht und Farbe empfing. Es ist ein treffendes Wort, wenn man ihn den letzten treuen Nachfolger des Origenes genannt hat. Denn ausgehend von den Grundgedanken des Origenismus, will er dieselben, umgeprägt in das Bild der Rechtgläubigkeit eines Zeitalters, für das Interesse der Kirche verwerthen, und der fromme Sinn des geliebten Todten verklärt sich ihm so gänzlich zum Wiederschein dieser Form rechtgläubigen Denkens, daß er sich das gegen Origenes bestehende Mißtrauen. Vieler nur aus ihrer Unfähigkeit, seine Ideen zu verstehn, zu erklären weiß. Eben in diesem Bezug bildet er ein „wichtiges Mittelglied für die Entwickelung des spätern alexandrinischen Lehrbegriffs und der mystischen Theologie, wie dieselbe sich in den Schriften des falschen Dionysius ansetzt.“ Da aber ein Denken bei alledem doch wesentlich im Gemeingefühl und Leben der Kirche wurzelt, diente ihrem Dogma überall seine Polemik. Arianer und Manichäer, die damaligen Hauptfeinde der Kirche, von denen jene im mißverstandenen Eifer für die Einheit des göttlichen Wesens den fleischgewordenen Gottessohn, in welchem doch die Fülle der Gottheit leibhaftig wohnte, auf die Zwittermatur eines heidnischen Gottgeschöpfes herabdrückten, diese mit ihrer Lehre von der Naturnothwendigkeit des Bösen die Wahrheit des sittlichen Lebens zerstörten, bekämpfte er nicht bloß in besondern Schriften, sondern ließ gelegentlich, so oft sich Veranlassung bot, auf die scharfe Schlagschatten fallen. Die göttliche Trinität hatte für ihn die höchste religiöse Bedeutung. Von ihr „kommt alles Heil. Der Vater beruft uns zur Kindschaft, der eingeborene Sohn hat uns als Brüder begrüßt und gewährt, daß wir Gott unsern Vater nennen dürfen, der heilige Geist in den Wiedergeborenen wohnend erlöst sie von Tod und Sünde.“ Wenn daher auch die äußerte der Sünden, die keine Vergebung findet, die Blasphemie gegen den heiligen Geist ist, die Läugnung, daß der Geist gleichwesentlich mit Vater und Sohn, Gott von Gott ist, weil in der Wiedergeburt, welche er wirkt, das höchste Gut des Christenthums besteht, so läßt dieselbe Blasphemie sich doch auch gegen Vater und Sohn begehn, und es geziemt die größeste Vorsicht, daß die Untersuchung über die nicht fehlgreift. Den Arianern wurde Didymus der gefährlichste Gegner dadurch, daß er, aristotelische Schlußformeln mit platonischer Weisheit verbindend, die von ihnen gehandhabten Waffen mit Erfolg wider die selbst wandte. Diese Rechtgläubigkeit im Artikel von der Dreieinigkeit rechneten ihm auch noch spätere Verketzerer zu besonderm Ruhm. Wie es aber in der Hitze des Kampfes trifft, daß Wort und Gedanke weit über das eigentliche Ziel hinausschießt, also geschah’s auch dem sonst wohlbedachten Didymus. Wenn die Manichäer wie alle gnostischen Sekten die Offenbarung Gottes im Alten Bunde phantastisch von der im Neuen Testamente losreißend die erstere als Werk des bösen Weltprincips verwarfen, so will Didymus selbst die Decke, die auch vor Mosis und der Propheten Antlitz hing, nicht als Grund gelten lassen, daß ihnen die Gläubigen des neuen Bundes als Reichsgenossen Christi voranstehen. „Wie sollte Abraham kleiner sein, der doch Gott schaute und in dessen Schoß alle nach Christus Entschlafenen ruhen? Wie könnten Moses und Elias kleiner sein, die dem Herrn im Glanz der Verklärung erschienen, nachdem sie auch den aus der Jungfrau Geborenen nicht mit sinnlichem Auge sahen.“ Oder es widerfährt ihm, daß aus der bekämpften Anschauungsweise sich ein oder der andere Splitter in sein eigenes Denken hineinschiebt. So zweifelt er zwar nicht, daß die unter der Heilsökonomie des Alten Testamentes nicht makelfreie Ehe dies unter dem Evangelium sei, weil alle Sünde mit der Menschwerdung des Herrn abgethan ist. Doch aber läßt sich im Vergleich zur Jungfräulichkeit, die etwas Göttliches hat, auch jetzt noch die Ehe Sünde nennen, wenn schon sie an sich es nicht ist. Sie erscheint als Sünde im Verhältniß zu dem Bessern, was die Jungfräulichkeit ist. Den glänzendsten Ruf genoß Didymus bei den Zeitgenossen als Schrifterklärer. Ueber fast alle Bücher der heiligen Schrift verfaßte er Auslegungen, die indes bis auf größere Fragmente besonders über die Palmen, Sprüchwörter, Johannes und die katholischen Briefe sämmtlich untergegangen sind. So hoch er auch die weltliche Bildung schätzte, deren Gebrauch er rechtfertigt mit dem Beispiel des Moses, als welcher in aller Weisheit der Egypter groß gezogen sei, oder des Daniel, der in der Philosophie der Chaldäer hervorgeleuchtet habe, und so trefflich er selbst sich auf metaphysische Forschung und die Kunst des Schulgerechten Schlusses verstand, so bleibt ihm Grund wie Quell aller Theologie die Bibel. Seine Schriften besonders über die Trinität und den heiligen Geist enthalten ein kunstreich verschlungenes Gewebe unzähliger Schriftstellen, aus denen er die Wahrheit des Dogma bis in sein feinstes Gefüge erweist, erbauend nicht sowohl durch das irgendwie sichtbare Interesse für fromme Erregungen, sondern durch den Hauch der innigsten Liebe zum Herrn, der wie ein Gruß aus der höhern Welt sich über das Ganze ausbreitet und die dürrsten Untersuchungen wohlthuend erquickt. Dem Strom der alexandrinischen Geistesrichtung folgte er auch darin, daß er, ohne gleichgültig zu sein gegen das aus dem Wortlaut und den geschichtlichen Textbeziehungen sich zunächst ergebende Verständniß, doch die Ausmittlung des geheimen Untersinnes sich zur Hauptaufgabe stellte. Aus jedem Psalmwort spricht ihn das Angesicht des prophetisch verhüllten Christus an. Der Baum an den Wasserbächen (Psalm 1,3) ist ihm die Erkenntniß Gottes, seine Frucht der mystische oder pneumatische Schriftsinn. Die Blätter, welche die Frucht decken, bedeuten die Jedem zugänglichen Ausdrücke, die außerdem, daß sie ihre Bestimmung im Decken der Frucht haben, zugleich dem Einfältigen als Geistesnahrung dienen. Die Schrift überall nach dem Wortsinn zu verstehen erscheint ihm widersinnig, schon wenn man z. B. Psalm 35,10 vergleicht. Die Gebeine, welche dort Gott loben und bezeugen sollen, daß ihm keine Kreatur gleich sei, sind nicht die Gebeine des äußern Menschen, sondern die der Seele, ihre Geisteskräfte und die rechtgläubigen Dogmen. Auch wo die Schrift Glaubensartikel treibt, ist offenbar, daß sie oft einen Doppelsinn will. So wenn der Heiland bekennt, daß der Vater größer sei als er. Das zeigt die Gleichheit seiner göttlichen Natur mit dem Wesen des Vaters und seine Unterordnung nach der Menschheit. Auf den Wortsinn besteht Didymus am gewöhnlichsten bei Auslegung des Neuen Testamentes und wo er die Gegner aus Schriftzeugnissen widerlegt, auf welche sie selbst sich stützten. Wie aber ein oft mit Adlerschärfe blickender Tiefsinn selbst zwischen dem Entlegensten Aehnlichkeiten entdeckt und an den alttestamentlichen Schrifttexten umherschürft, bis er auf die vorausgesetzten Goldadern messianischer Weissagung stößt, so werden ihm zugleich die einfachsten Buchstaben zu Hieroglyphen, denen er mit der Wünschelruthe rabbinischer Scheidekunst die mannigfachsten Geheimnisse oder Ideen entlockt. Wenn er z. B. die sittliche Unbescholtenheit und Güte des Judas vor einer Berufung als Apostel schon daraus erschließt, daß Jesus die Zwölfe gesandt habe, wie Schafe unter die Wölfe, so erregt bei Auslegung von Psalm 89,49 das Fragwort wer? seine Aufmerksamkeit. Dies gibt ihm Anlaß zu folgenden Unterscheidungen: „Das Wort wer? steht in der Schrift bald forschend, wie in dem Spruch: wer wird hinankommen zu dem Berge des Herrn? bald bedeutet es das Seltene, wie wenn es heißt: wer also ist der treue und verständige Knecht? oder das Unmögliche, wie in dem Satz: wer hat des Herrn Sinn erkannt? bald bezeichnet es das Geringangesehene, wie: wenn Gott für uns ist, wer will gegen uns sein?“ Wortspiele und Wortkünsteleien der Art waren im Geschmack der Zeit. Wenn sie natürlich oft dazu führten, die Menschenfündlein klügelnder Willkür in das Wort Gottes hineinzudeuteln oder den Unterschied zwischen dem Schattenbilde der alttestamentlichen Vorbereitungsstufe und dem Vollalter der neutestamentlichen Heilserfüllung zu verdunkeln, so beruhten sie andererseits nicht minder oft auf tiefen Blicken in den Ideenreichthum des göttlichen Wortes und die Einheit der beiden Testamente. Ein gutes Theil der Anerkennung, welche die Zeit dem Auslegungstalent des Didymus zollte, galt einem Geschick in Handhabung der Allegorie, zumal er sie möglichst in den Bahnen des Kirchenglaubens hielt. Von beiden hatte Didymus ein lebhaftes Selbstgefühl. „Viele, sagt er, unterfangen sich die Schrift auszulegen, aber nicht Alle reden gut. Denn sie sind selten, die von Gott die Gabe dazu haben, bei Vielen findet sich Geschwätz und Tand. Das Wort kann nicht kräftig und heilbringend sein in der Seele des Heterodoxen.“
Nach Andeutungen in der Schrift über die Trinität scheint es, daß Didymus im Ehestand lebte und Familie hatte. Aber eine Grundsätze befreundeten ihn der Philosophie des asketischen Lebens, welchem er sich später völlig ergab, ohne daß er gerade die Verpflichtungen des Mönchthums übernahm. Diese Lebensstrenge, der natürliche Ausdruck eines in Gott seligen Gemüthes, erwarb ihm die besondere Verehrung des egyptischen Mönchthums und wurde Ursache, daß die Bewunderung der Zeit selbst die Wunderglorie um ein Hauptflocht. Als der gefeierte Antonius, der Vater des Mönchthums, wie eine Erscheinung vom Himmel in Alexandrien auftrat, um dem mit Macht um sich greifenden Arianismus entgegenzuwirken, würdigte er ihn dreimal seines Besuchs und soll ihn angeredet haben mit den Worten: laß dich’s nicht anfechten, Didymus, daß du der Augen des Leibes beraubt bist; du entbehrt der Augen, die auch Fliegen, Mücken und anderes verächtliche Gewürm haben; aber freue dich, daß du Augen wie die Engel hast, mit denen man Gott sieht und ein Licht aufnimmt. Während Julianus die Kirche mit neuen Verfolgungen bedrohte, saß Didymus einst, das Herz voll Sorge und außer Stande Speise zu nehmen bis tief in die Nacht auf einem Stuhl. Unter Gebeten schlummerte er ein: da sah er in der Vision des Traumes plötzlich Reiter auf weißen Rossen durch die Luft heranfliegen, mit der Nachricht, heute um die siebente Stunde ist Julianus gestorben; verkündige es dem Bischof Athanasius! Er merkte sich Tag und Stunde. Und also geschah es. So lange Didymus lebte, kam Niemandem ein Verdacht gegen seine Rechtgläubigkeit, und so wenig er aus seinem Verhältniß zu Origenes ein Hehl machte, that dies einem kirchlichen Ruf keinen Abbruch. Der Kirchenvater Hieronymus war der Erste, der nach einer Weise auf das noch frische Grab den Makel der Häresie heftete. Er hatte einst im Vorübergehen dreißig Tage die Vorträge des Didymus gehört. Das allgemeine Lob des Mannes, die Fülle seines Wissens, ein milder, klarer, auf das Höchste gerichteter und doch für alles Menschliche fein empfindender Sinn ergriff auch ihn. Kaum konnte er Worte genug finden, um fortan den Ruhm des Wundergreises auszutönen. Er preist ihn nicht bloß als den gebildetsten Mann seiner Zeit, als einen apostolischen Mann nach Gedanken wie Einfalt der Rede, sondern will ihn wegen der Tiefe seiner Schriftauslegung mit den Sehern des alten Bundes verglichen wissen. Didymus, sagt er, hat mit dem Auge der Braut aus dem hohen Lied, mit den Augen, welche Jesus aufgehoben haben will auf die zur Erndte reifen Saaten, die alte Weise der Propheten erneuert, daß man ihn den Seher nennen mag. Auch andere Gebildete einer Zunge sollten Theil nehmen an den Erkenntnißschätzen des beredten Alexandriners. Deshalb übersetzte er die Schrift über den heiligen Geist ins Lateinische. Aber Hieronymus hatte einen Abgott, dem er unbedenklich die heiligsten Gefühle und Verpflichtungen zum Opfer brachte.
Es war der Ruf unbefleckter Rechtgläubigkeit, der Ehrgeiz, überall in vorderster Reihe mit denen zu stehn, welche festhielten und vertheidigten, was dem Zeitalter heilig galt. Sobald daher in den Streitigkeiten über die Rechtgläubigkeit des Origenes auch ein Verhältniß zu dem Origenisten Didymus in Anregung kam, hielt ihn keine Rücksicht der Pietät ab, daß er nicht, veränderlich und ohne Tiefe des Charakters wie er war, über den sonst fast bis zum Himmel Erhobenen den Stab brach. Zwar daß Didymus ein Gelehrter von seltenem Wissen und im Artikel von der Trinität orthodox sei, wollte er auch jetzt nicht bergen. Aber was alle Kirchen verwürfen, mochte er auch nicht durch einen solchen Lehrer als fromm und katholisch vertheidigt hören. Offenkundigster Verfechter des Origenes: das war der Absagetitel. An diesem Vorwurf ist das wahr, daß Didymus neben der Begeisterung für freie, wissenschaftliche Untersuchung und den Erkenntnißprincipien des Origenes auch einige seiner schriftwidrigen Lieblingsmeinungen mit aufnahm. Das Philosophem von dem vorirdischen Dasein der Seelen, denen die Erde als bloßes Fremdhaus, der Leib als Gefängniß zugewiesen wurde, so daß Kinder früh sterben, weil sie nicht viel gesündigt haben und deshalb den Kerker des Leibes nur zu berühren brauchten; die Lehre, daß Christus als Heiland Himmels und der Erde nicht bloß für die sündigen Menschen, sondern für alle vernünftigen Geister gestorben sei; die allgemeine Wiederbringung alles Verlorenen, wonach auch dem Teufel die dereinstige Wiederkehr zum Urquell alles Lichts und Lebens und die Seligkeit in ihm in Ausficht steht: stellen uns mitten in das Centrum des origenistischen Freiheitsbegriffs und Heilsuniversalismus. Aber auch darin schloß sich Didymus an das Vorbild eines großen Lehrers an, daß er diese Irrthümer in einen Schriften, vielleicht ebenso in den freien Vorträgen vor der Menge nur in leisen Tönen anklingen ließ. Ueber ein Jahrhundert widerstand der Glanz eines Namens allen Verdächtigungen. Niemand wollte dem im Frieden der Kirche Entschlafenen die Ruhe des Grabes stören. Es blieb dem blinden Eifer des Kaisers Justinian I., der die Rechtgläubigkeitsfrage als eine Staatsache betrieb, vorbehalten, in das über Origenes gesprochene Verdammungsurtheil auch Didymus hineinzuziehen. Den desfallsigen Spruch der Bezirkssynode von Constantinopel (544) erneuerte der römische Bischof Martin I. (649), nach ihm die ökumenischen Synoden der griechischen Kirche. –
So stand der Liebling seiner Zeit im Ketzerverzeichnisse der Nachwelt. Es konnte nicht fehlen, daß dieser Kirchenfluch den Mann und eine Verdienste allmählich in Vergessenheit brachte. Die von allen Strenggesinnten verabscheuten oder beargwöhnten Schriften, die Niemand las oder abschrieb, mußten verschwinden, und es mag Gegenstand dankbarer Verwunderung sein, daß noch so viele vollständig oder in Bruchstücken sich erhalten haben. Aber der Kirchenhimmel eines Hieronymus und Justinian ist nicht das Himmelreich des selbst das glimmende Docht nicht verlöschenden Welterlösers. Der gläubige, durchweg auf das göttliche Wort in der Schrift sich gründende Sinn und die wissenschaftliche Bedeutung des Didymus sind groß genug, um eine Irrungen in der Lehre in Schatten zu stellen. Die Zeiten der Kirchen waren niemals die blühendsten, wo eine engherzige, wenn schon treumeinende Frömmigkeit den Werth eines Christenlebens bloß nach dem Richtscheit der anerkannten Glaubensformel bemaß und den Himmel aufschloß und zuschloß, je nach dem Verhältniß zu ihren Satzungen, unbekümmert um das persönlich individuelle Gemeinschaftsleben mit dem Herrn und alle Gediegenheit des aus dem Glauben wiedergeborenen Lebens. So lange die evangelische Kirche neben schriftmäßigem Glauben und Leben an der gläubigen Wissenschaft als ihren Augensternen hält, wird die Ursache haben, dem Didymus seine Stelle unter ihren Wahrheitszeugen und Vorbildern zu erhalten. K. Semisch in Breslau, jetzt in Berlin.