Die römische Kirche war unter herrschsüchtigen und streitsüchtigen Päpsten in immer tieferen Verfall gerathen, und in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts konnte kein Zweifel mehr darüber sein, daß sie einer Reformation an Haupt und Gliedern bedürfe. An vielen Orten erwachten Zeugen evangelischer Wahrheit, eiferten gegen das herrschende Sittenverderben und suchten die apostolische Einfachheit des Glaubens und Lebens wiederherzustellen. Insbesondere in Böhmen hatten seit 1350 mehrere edle Männer aus geistlichem und weltlichem Stande auf Verbesserung der Kirche gedrungen und eine segensreiche Saat christlicher Erneuerung ausgestreut. Thomas von Stitny, Johann Milic, Konrad von Waldhausen und Matthias von Janow waren Vorläufer des Johannes Hus, des treuen Zeugen für evangelische Wahrheit, und seines Freundes und Kampfgenossen Hieronymus von Prag, dem wir hier ein Blatt der Erinnerung widmen. Reicht er auch an die christliche Heldengröße von Johannes Hus nicht hinan, hat er auch in entscheidender Stunde einmal gewankt: gleichwohl verdient er unter den Bekennern der evangelischen Wahrheit eine ehrende Erwähnung.
Hieronymus von Prag stammt aus einem adeligen Geschlechte der Stadt Prag, wo er nach der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts geboren wurde. Von seiner Erziehung und seiner frühern Jugend haben wir keine Nachrichten. Er erhielt eine sorgfältige wissenschaftliche Ausbildung, besuchte die Universitäten Heidelberg, Köln und Prag und saß an der letzteren Hochschule zu den Füßen des Magister Hus, der zuerst in ihm das Bedürfniß nach einer Kirchenverbesserung weckte. Sein reger Wissensdurst und der Ruf Wiclifs hatte ihn auch ins Ausland geführt. Er hatte sich nach der berühmten Universität Paris und namentlich nach Oxford begeben, wo er die reformatorischen Schriften Joh. Wiclifs kennen lernte und in deren Besitz gelangte. Insbesondere machte Wiclifs Hauptwerk, der „Trialogus“, einen tiefen Eindruck auf ihn; der Widerspruch zwischen Kirchen- und Schriftlehre wurde ihm aus diesem Werke klar, und als er von seiner Reise nach England in seine Vaterstadt zurückkehrte, begleitete ihn eine Abschrift der wichtigsten Schriften Wiclifs dahin.
Uebrigens hatte er, obwohl in der Theologie gründlich unterrichtet, nicht die Absicht, in den geistlichen Stand einzutreten. Schon im Jahre 1398 hatte er die Würde eines Bacealaureus, 1407 die eines Magisters der freien Künste erlangt. Nach seiner Rückkehr von England treffen wir ihn zunächst am Hofe des Königs Wenzel, der an seinem ritterlichen Wesen Gefallen fand. Allein besser als das lustige Hofleben gefielen ihm Hussens ernste Predigten in der Bethlehemskapelle. Er machte Hus mit den Schriften Wiclifs bekannt, und, um für die Ausbreitung der darin vorgetragenen Wahrheiten offener wirken zu können, nahm er beim Hofe Abschied und bestieg einen Lehrstuhl an der Universität zu Prag. Bald mehrten sich die Freunde der Reform; besonders Jakob von Mies, Prediger an der St. Michaelskirche in der Altstadt, der sich später so mannhaft für den Kelchgenuß im heil. Abendmahl wehrte, schloß sich an ihn an.
Aber eben seine Verehrung für Wiclif verwickelte ihn bald in ernstliche Gefahren. Zwei studierende Engländer hatten im Jahre 1404 zu Prag wiclifitische Ansichten zu verbreiten gesucht; zwei von ihnen im Saal ihres Hauswirths ausgestellte Gemälde, auf welchen Christi demüthiger Einzug in Jerusalem und des Papstes pomphafter Einritt in Rom zu sehen war, regten die Leidenschaften der Reformgegner zu hellen Flammen auf; die Engländer mußten entfliehen, es kam zu schweren Thätlichkeiten. Die Gegner der Reform errangen den Sieg; in einer Ständeversammlung der böhmischen Nation (17. Juni 1408) wurden die Schriften Wiclifs verboten; wer in ihrem Besitze war, sollte sie dem Erzbischof Sbynek einliefern; sie sollten mit Feuer verbrannt werden. Hieronymus fühlte sich durch diesen Beschluß nicht nur in seinen tiefsten Ueberzeugungen, sondern auch in seinen innersten Neigungen verletzt; Wiclifs Schriften verdankte er seine Herzensstellung zur Reform; von ihnen zog seine akademische Thätigkeit ihre Nahrung, sein inneres Leben Licht und Kraft.
Nur ein kühner Entschluß konnte die Reformpartei retten. Die Schritte gegen Wiclif waren von den deutschen Mitgliedern der Universität ausgegangen; sie hatten in einem Convente am 18. Mai 1408 die Anregung zu dem Verbote der wiclifitischen Schriften gegeben. Gegen sie mußte ein Gegenschlag geführt werden. Die Deutschen hatten bis dahin von 4 Stimmen an der Universität 3, die Böhmen nur eine geführt; durch Königliches Decret vom 27. September 1409 ward für die Zukunft das Verhältniß der Stimmen dahin abgeändert, daß die Böhmen 3, die Deutschen nur eine Stimme erhielten. Dieser Sieg der Reformpartei war aber nur vorübergehend; Husens gewaltige Predigten entflammten seine Gegner zu wachsendem Hasse; sie erwirkten von dem Papste Alexander V. eine Bulle, durch welche das Predigen in den Kapellen verboten und Hus in seiner Predigerwirksamkeit persönlich bettoffen wurde; am 16. Juli 1410 ließ der Erzbischof die Schriften Wiclifs öffentlich unter Lobgesängen und Glockengeläute verbrennen. Auch Schriften anderer reformgesinnter Männer, insbesondere Husens und des Hieronymus, loderten in den Flammen, und deuteten das Schicksal an, welches ihrer Verfasser wartete. Der ritterliche Sinn des Hieronymus ward aufs Tiefste durch solche rohe Gewaltthaten empört; er selbst mußte sich einmal zu jener Zeit gegen den tückischen Angriff von Karmeliter-Mönchen mit dem Degen wehren, ein Act der Nothwehr, der ihm später während seines peinlichen Processes von seinen Gegnern als Verbrechen angerechnet wurde.
Die Wirren waren in Prag aufs Höchste gestiegen, als König Wladislaw II. ihn nach Polen zur Einrichtung der neu gestifteten Universität Krakau, und König Sigismund ihn nach Ungarn als Reiseprediger berief. Seine kühnen, auf Verbesserung des geistlichen Standes gerichteten Vorträge brachten ihn am Hofe und bei der Geistlichkeit in Ungarn bald in den Geruch der Ketzerei. Er entfloh nach Wien, wurde auf die Anklage ungarischer Geistlicher und nach dem Antrag gegenreformatorisch gesinnter Mitglieder der Wiener Universität gefangen gesetzt und sollte als „Anstifter und Verbreiter von Ketzereien“ gerichtet werden. Nur die ernstliche Verwendung der Universität Prag konnte ihn retten; seiner Haft entlassen, floh er nach Mähren. Der bischöfliche Offizial, Andreas Grillenperk, erbost, daß ihm seine Beute entgangen war, sprach den Bann über ihn aus, und der Erzbischof Sbynek von Prag wie der Bischof von Krakau verkündigten diesen Bann, zunächst ohne nachtheilige Folgen für Hieronymus, in ihren Sprengeln.
In Prag war die Aufregung immer höher gestiegen und Hus der Mittelpunkt der Reformbewegung geworden, als Hieronymus wahrscheinlich noch vor Ende des Jahres 1411 ankam. Im Mai 1412 erschien in Prag ein Legat des Papstes Johann XXIII. mit einer Bulle, in welcher eine Kreuzpredigt wider den König Ladislaus von Neapel anbefohlen wurde. Jedem, der das Schwert wider Ladislaus, den Beschützer des zu Pisa abgesetzten Papstes Gregor XII., ergriff, war vollkommener Ablaß zugesichert. Jetzt schloß sich Hieronymus noch enger als bisher an Hus an. Während Hus in seinen Predigten, die er trotz des Verbotes nicht eingestellt hatte, das Volk bearbeitete, redete Hieronymus mit feurigen Worten zu den Studenten und zeigte, daß die Bulle der Lehre des Evangeliums widerspreche. Im Triumphe begleiteten ihn die Studenten aus dem Hörsaale bis zu seiner Wohnung. Als der Rektor der Universität Hus und Hieronymus vor sich beschied, um beide Männer zur Ruhe zu ermahnen, erklärte der letztere: es sei schwer die Wahrheit zu verschweigen. Besänftigende Einwirkungen fruchteten auch nicht mehr. Stürmische Auftritte erfolgten, dann Blutgerichte gegen die Urheber. Daß die Kreuzbulle nebst anderen päpstlichen Erlassen unzüchtigen Weibern um den Hals gehängt, der öffentlichen Verhöhnung preisgegeben, endlich am Pranger verbrannt wurde, ist nicht zu loben; wie weit Hieronymus hierbei betheiligt war, läßt sich nicht mehr ermitteln. Sein feuriger, gegen jedes Unrecht Flammen sprühender Eifer hatte ihn jedenfalls weiter fortgerissen als gebilligt werden kann. Die Schmähung der päpstlichen Autorität wurde jetzt mit dem Tode bedroht; mehrere junge Handwerker, die am 10. Juni einen Geistlichen beim Verlesen der Kreuzbulle „Lügner“ gescholten, wurden hingerichtet, von Hieronymus als „Märtyrer“ verherrlicht.
Nach diesen Aufläufen und Blutgerichten war für Hus und Hieronymus in Böhmen kein Verbleiben mehr. Hieronymus zog sich nach Krakau zurück und besuchte von dort im Gefolge des Großfürsten Witold Litthauen und Rußland. Erst in dem Augenblicke, als Hus zu seiner Verantwortung nach Kostnitz reiste, sehen wir die beiden Freunde wieder in Gemeinschaft. Hieronymus begleitete Hus bis nach Krakowitz, wo er (15. Oct. 1414) mit den Worten von ihm Abschied nahm: „Bei dem, was Ihr aus heiliger Schrift wider die Sünden der Geistlichkeit gelehrt oder geschrieben, beharret fest.“ Er gelobte noch, ihm in allen Fährnissen zu Hülfe eilen und zur Seite stehen zu wollen.
Unterdessen hatte sich in Kostnitz die Lage Husens bald verschlimmert. Am 28. November 1414 wurde er gefänglich eingezogen; nach einigen Tagen warf man ihn in einen feuchten Kerker, in dem er erkrankte. Hieronymus gedachte des beim Abschiede dem Freunde gegebenen Versprechens. Umsonst ließ ihn Hus im März 1415 durch Briefe abmahnen, nach Kostnitz zu kommen, wo allen Verfechtern seiner Sache gleiche Gefahr drohe. Er empfahl seine Güter der Obhut des Magistrats der Prager Altstadt, seine Seele dem Herrn und traf am 4. April 1415 in Kostnitz ein. Von seinen Freunden, den Herren von Chlum und von Duba, erkannt, wurde er aufs Dringendste gebeten, der ihm drohenden Gefahr durch schleunige Flucht sich zu entziehen. Nachdem er ohne Erfolg um freies Geleit bei dem Könige und dem Concil nachgesucht, reiste er auch wirklich nach einigen Tagen wieder nach Ueberlingen. Von hier aus erbot er sich zur Verantwortung unter der Zusicherung freien Geleites in einem am 7. April in Kostnitz veröffentlichten Anschlage. Das Concil bezeichnete ihn in seiner Antwort als einen Fuchs, der gekommen sei, des Herrn Zebaoth Weinberg zu zerstören und lud ihn binnen 15 Tagen vor; freies Geleit wurde ihm so weit zugesichert, „als es die Rechtgläubigkeit erfordere“. Hieronymus erkannte, daß in Kostnitz für ihn nichts zu hoffen, Alles zu fürchten sei und begab sich auf die Rückreise nach Böhmen, ehe die Vorladung des Concils bei ihm eintraf.
Allein die Späher des Concils waren ihm bald auf dem Fuße. In Hirschau, einer oberpfälzischen Stadt, erkannt und verhaftet, wurde er, auf Befehl des Concils wie ein gemeiner Verbrecher auf einem Karren in Fesseln nach Kostnitz geschleppt, wo er am 23. Mai anlangte. Im Refektorium des Barfüßerklosters war bereits eine Untersuchungskommission versammelt. Auf die Frage nach den Ursachen seiner Flucht erwiederte er, daß er geflohen sei, weil er sich nicht leichtsinnig den Händen seiner Feinde habe ausliefern wollen; hätte er die Citation erhalten, so würde er jedoch, trotz der Feinde, hier erschienen sein. Lautes Murren der Versammelten folgte auf diese Antwort; wildes Geschrei erhob sich nachher. Als die Ruhe wieder hergestellt war, machte der berühmte Kanzler Gerson von Paris Hieronymus die bittersten Vorwürfe wegen der von ihm an der Universität zu Paris verbreiteten Irrthümer; ein Kölner Magister schrie, auch diese Universität sei von ihm mit Irrthümern angesteckt worden; ein Anderer rief dazwischen, in Heidelberg habe er Irrlehren über die heilige Dreieinigkeit vorgetragen, den Vater mit dem Wasser, den Sohn mit dem Schnee, den heiligen Geist mit dem Eis verglichen. Als Hieronymus statt grundloser Anklagen Beweise forderte, riefen Einige erbost: „Zum Feuer mit ihm, zum Feuer!“ Es wäre vielleicht schon jetzt das Todesurtheil gegen den „Ketzer“ gefällt worden, wenn der Erzbischof von Salisbury nicht zur Mäßigung ermahnt und an die Schriftworte erinnert hätte: „Ich will nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe.“ Die weitere Verhandlung wurde jetzt ausgesetzt, und Hieronymus dem Erzbischof, Johann von Wallenrod aus Riga, in sichere Verwahrung übergeben.
Dieser behandelte den Hieronymus sehr übel. Weil einige Freunde, wie der Notarius Peter von Mladenowicz, ihn durch die Fenstergitter des Gefängnisses zu sprechen versucht hatten, ließ er ihn in einen finstern Thurm des St. Paulsklosters bringen, an Händen und Füßen fesseln, ihm nur spärliche Nahrung verabreichen und so elf Tage lang ihn beinahe verschmachten. Auf ernstliche Vorstellungen der in Kostnitz anwesenden Böhmen wurde ihm bessere Nahrung gereicht, aber die Fesseln wurden nicht abgenommen. Als er in Folge der Mißhandlung schwer erkrankte, versagte ihm das Concil sogar den Trost eines Beichtvaters. Nicht einmal ein ordentliches Verhör wurde mit ihm mehr vorgenommen. Man wollte erst das Ende des gegen Hus geführten Prozesses abwarten.
Erst am 8. Juni 1415 hatte Hus eigentlich erfahren, wessen man ihn anklagte. Seine entschiedene Weigerung, sich auf einen Widerruf einzulassen, hatte seine Lage aufs Aeußerste verschlimmert. Am 24. Juni wurde die Verbrennung seiner Schriften beschlossen, am 6. Juli er selbst zum Feuertode verurtheilt. Bis in seine letzten Stunden hatte er in herzlicher Liebe des Freundes und Leidensgenossen Hieronymus gedacht. Nach seinem Tode wurde nun auch das Verfahren gegen Hieronymus wieder aufgenommen. Am 19. Juli wurde in der St. Paulskirche ein Vorverhör mit ihm abgehalten. Die Angelegenheit ruhte wieder mehrere Wochen. Unterdessen hatte die Nachricht von der freventlichen Verurtheilung Husens, trotz des feierlich zugesagten freien Geleites, in Böhmen die größte Aufregung verursacht. Die böhmischen und mährischen Stände erließen ein drohendes Schreiben an die Kirchenversammlung, in welchem Hus gerechtfertigt und wegen der Behandlung, welche Hieronymus zu erleiden hatte, ernstliche Klage geführt war. Dieses Schreiben, am 8. September in einer Sitzung des Concils verlesen, erbitterte die Väter des Concils eben so sehr, als es sie erschreckte. Der Haß gegen Hieronymus war groß, aber aus Furcht vor der drohenden Sprache der böhmischen Stände wünschte man ihn zu schonen. Deshalb ward das Verfahren gegen ihn mit einem Male geändert. Man hoffte jetzt einen Widerruf von ihm zu erlangen. Für diesen Fall sollte er die Freiheit erhalten.
Sein Körper war durch die Qualen einer lange andauernden harten Gefangenschaft erschöpft; Krankheit drückte ihn nieder; der feurige thatkräftige Mann, im einsamen finsteren Kerker, von allem Verkehr mit Menschen abgeschnitten, war dem Verschmachten nahe. Diesen Zustand benutzten die verschmitzten Feinde, um ihn zum Widerrufe zu bewegen. Sie drohten, mahnten, schmeichelten, baten. Er war schwach, und er hat für seine Schwachheit gebüßt; er erklärte sich am 10. September zur Abschwörung seiner Irrthümer bereit. Als die erste von ihm entworfene Abschwörungsformel dem Concil nicht genügte, bequemte er sich zu einer zweiten, die er, in einer öffentlichen Sitzung, am 23. September, selbst den versammelten Vätern vorlas. Er verglich darin seinen Schritt einem demüthigen Hebeopfer, im Tempel des Herrn dargebracht, wogegen die Weisheit und Tugend der versammelten Väter wie ein Opfer von Gold, Silber und Scharlach erscheine. In der Formel verwarf er die Irrthümer Wiclifs und J. Husens als ketzerische und erklärte sich mit dem katholischen Glauben in voller Uebereinstimmung. Auch von seinen „Irrthümern“ in Betreff der Dreieinigkeitslehre suchte er sich zu reinigen. In Allem unterwarf er sich unbedingt dem Urtheile der Kirchenversammlung. Die Abschwörungsformel wurde eigenhändig von ihm unterschrieben.
Das Concil hatte seinen Zweck erreicht; es war nun keine Veranlassung mehr vorhanden, Hieronymus noch länger in Haft zu behalten. Allein der Widerruf scheint auf die versammelten Väter den Eindruck gemacht zu haben, daß nur seine Lippen, nicht aber sein Herz abgeschworen habe. Er wurde in den Kerker zurückgebracht und nicht einmal von den Fesseln gänzlich befreit. Namentlich suchten Karmelitermönche aus Prag seine Freilassung zu hintertreiben, obwohl der Cardinal Peter d‘ Nilly und andere hochgestellte Prälaten sie befürworteten. Auffallender Weise erklärte sich der Kanzler Gerson dagegen. Am 29. October veröffentlichte Gerson einen Traktat, in welchem er auszuführen suchte, daß ein der Ketzerei Angeklagter auch nach öffentlichem Widerrufe unter Umständen immer noch im Verdachte der Ketzerei stehe. Jene Karmelitermönche, deren Ordensgenossen er beleidigt, forderten unter dem Vorgeben, sie hätten neue Thatsachen zur Begründung der Anklage gegen Hieronymus vorzubringen, die Wiederaufnahme des Ketzerprocesses gegen ihn. Das war selbst den bisherigen Commissarien in der Proceßsache des Hieronymus zu stark. Sie verweigerten eine erneuerte Aufnahme der Untersuchung und legten, als sie kein Gehör fanden, ja, sogar der Bestechung beschuldigt wurden, ihr Commissarium nieder. Neue Commissarien, der Titularpatriarch Johann von Konstantinopel und der Doktor Nicolaus von Dinkelspühl, wurden am 24. Februar 1416 ernannt; die Wahl derselben ließ für Hieronymus das Schlimmste befürchten; sie gehörten zu den Mitgliedern des Concils, die nicht geruht, bis sie Hus auf den Scheiterhaufen gebracht.
Weder der Ausbruch der Unruhen in Böhmen, noch ein neues, noch drohenderes Schreiben des böhmischen Adels schreckte die Feinde der Reform länger vom Aeußersten zurück. Am 20. Februar 1416 wurden alle Unterzeichner jenes Schreibens in lächerlichem Uebermuthe zur Verantwortung über Glauben und Leben vor die Schranken der Kirchenversammlung geladen.
Unterdessen hatte Hieronymus trotz des Widerrufes im Kerker geschmachtet. Aber nicht die Fesseln, die Einsamkeit, der Hunger war es, was ihn am meisten quälte. Er war in ernster innerer Sammlung zur Erkenntnis; seiner Schwäche, seiner Verschuldung gegen Gott und die Wahrheit, die er früher mannhaft bekannt, gekommen. Die Schmerzen der Reue nagten an seiner Seele; aber es war keine Reue zum Tode, sondern zum Leben. Er erklärte jetzt den neuen Commissarien, daß er seinen Widerruf tief bereue und eine schwere Verschuldung darin erkenne. Am 27. April 1416 fand in einer Privatsitzung des Concils eine vorläufige Verhandlung statt. Man hatte 45 Anklagepunkte gegen Hieronymus aufgestellt, welchen der Prokurator des Concils noch 105 weitere beifügte. Es waren theils die bekannten, daß er, wiclifitischer Ketzerei schuldig, die Schlüsselgewalt der Kirche verachte, den Papst und katholische Fürsten geschmäht, ein Anhänger des J. Hus gewesen, den böhmischen Adel aufgeregt, zu Paris, Köln und Heidelberg ketzerische Lehren vorgetragen. Außerdem wurde ihm vorgeworfen, daß er gottesdienstliche Gegenstände entheiligt und sich gewaltthätiger Handlungen gegen geistliche Personen schuldig gemacht habe. Die Anklageschrift war ein tückisches Gewebe von Halbwahrem und Ganzfalschem. Wurde doch als Anklagepunkt sogar der Umstand erwähnt, daß Wiclifs Bildniß zu Prag das Zimmer des Hieronymus geschmückt und mit einem Glorienschein gemalt gewesen sei. Sollte er doch auch die „freventliche“ Behauptung ausgestoßen haben, daß der Schleier der Jungfrau Maria nicht größere Verehrung verdiene als die Haut des Esels, auf welcher Jesus geritten. Die frechste Anschuldigung war ohne Zweifel die, in welcher der Prokurator des Concils erklärte, Hieronymus habe sich während seiner Gefangenschaft der Schwelgerei und dem Trunke ergeben, obgleich es ihm in seinem Kerker offenkundig an den unentbehrlichsten Lebensbedürfnissen gemangelt hatte. Der Schlußantrag gieng dahin, es möchte Hieronymus über alle diese Anschuldigungen öffentlich verhört, nöthigenfalls peinlich inquirirt, und, wenn er läugne oder bei seinen Irrthümern beharre, nach den Satzungen der Kirche gerichtet werden.
Das erste öffentliche Verhör wurde am 23. Mai 1416 in der Domkirche veranstaltet. Er hatte eine schriftliche Verantwortung vorausgehen lassen, in welcher er eine Menge von Unwahrheiten und Unrichtigkeiten widerlegte. Daß er je Gewalt gebraucht, um seinen Ueberzeugungen Eingang zu verschaffen, bestritt er auch mündlich ernstlich und feierlich. Auch erklärte er mit treuem Zeugenmuthe, den ihm Gott in Folge seiner aufrichtigen Reue wieder geschenkt hatte, daß er den Ablaßhandel für einen empörenden Mißbrauch der Kirche halte. Am 26. Mai wurde das öffentliche Verhör fortgesetzt. Seine Richter hatten einen neuen Widerruf erwartet; aber sie täuschten sich. Gott hatte das früher schwache Werkzeug seines Wortes und Geistes wunderbar gestärkt. Der von Qualen und Sorgen aller Art erschöpfte Leib war ein geheiligtes Gefäß des Geistes von oben geworden; weder Schmeicheleien noch Drohungen übten auf ihn einen Einfluß. Hieronymus machte von der ihm zugestandenen Befugniß noch einmal eingehend zu der Versammlung zu reden, Gebrauch. Er begann mit einem salbungsvollen Gebete, und erinnerte dann an die Wahrheitszeugen der alten Zeit, an Sokrates, Seneka, Elias, Stephanus. Der Haß sei. die Triebfeder seiner Verfolgung, ihm falle er als Opfer. Mit Inbrunst gedachte er jetzt seiner Freundschaft für Hus, dessen Seelenreinheit und Heldenkraft er preisend anerkannte. Seinen Widerruf beklagte er demüthig und reuig; fleischliche Schwäche, die Furcht vor dem Flammentode sei die Veranlassung dazu gewesen. Bis zum letzten Hauche werde er sich zu der reinen und heiligen Lehre Wiclifs und Husens bekennen; nur im Artikel vom Abendmahl weiche er von ihnen ab, da er hierin der Lehre der alten Väter beistimme. Alles Ernstes verwarf er insbesondere das unchristliche Leben vieler Geistlichen.
Die Versammlung hatte, zumal Hieronymus auch die Waffe des Humors gebrauchte, anfänglich gelacht, am Schlusse der sechs Stunden langen Rede war sie tief erschüttert; wie Nägel und Spieße waren seine Worte in die Herzen gedrungen. Vor diesem standhaften Zeugenmuthe mußte sie sich entweder beugen – und das war unmöglich – oder sie mußte ihn brechen. Am 30. Mai wurde die Schlußsitzung gehalten; es war wohl nicht lediglich Zufall, daß Kaiser Sigismund und Kurfürst Ludwig von Bauern sich von Kostnitz entfernt hatten. Zum letzten Male wurde Hieronymus, insbesondere vom Cardinal Zabarella von Florenz, der ihn gern gerettet hätte, zum Widerrufe aufgefordert. Aber mit unerschütterlicher Festigkeit erwiederte er: „Ich glaube und halte alle Artikel des christlichen Glaubens, wie sie die heilige katholische Kirche glaubt und hält. Die Ursache meiner Verurtheilung liegt lediglich darin, daß ich Euch in der Verdammung des Wiclif und Hus, der heiligen Männer, nicht beistimmen will, welche von Euch ungerecht verurtheilt worden sind, weil sie Euer schändliches Leben angegriffen haben.“ Er sprach so hinreißend und ergreifend, daß selbst seine Todfeinde ihm ihre Bewunderung nicht versagen konnten. Der Bischof von Lodi suchte den Eindruck seiner Worte dadurch zu schwächen, daß er das milde Verfahren des Concils gegen ihn pries, um seine ketzerische Hartnäckigkeit in ein so grelleres Licht zu stellen. Arius, Sabellius, Faustus und Nestorius seien keine ärgeren Ketzer gewesen. Sein ärgstes Verbrechen sei aber die Zurücknahme des früher geleisteten Widerrufes. Hieronymus war über diese harte und unwahre Rede sehr entrüstet, und wies den Vorwurf der „Ketzerei“ mit Indignation von sich. Er schloß: „Ich sehe wohl, daß Ihr bereit seid, mich zu verdammen, ohne daß Ihr eine Ursache an mir gefunden habt. Ich bin auf Alles gefaßt; aber Ihr müßt wissen, daß ich in Euren Gewissen einen Stachel Zurücklasse, der nicht aufhören wird, Eure Seele zu peinigen. Dabei berufe ich mich auf den höchsten und untrüglichsten Richter, den allmächtigen Gott, vor dem Ihr Rechenschaft werdet ablegen müssen über Euer ungerechtes Thun.“ Von Einigen wird berichtet, Hieronymus habe gesagt, diese Rechenschaft werde nach hundert Jahren abgefordert werden; gerade hundert Jahre später erweckte Gott den Luther. Er sprach das Alles mit einer Würde und Kraft, welcher auch die stumpfsten Herzen nicht widerstanden, „unerschrocken, mit Todesverachtung, ein zweiter Cato,“ bemerkt ein ihm feindlich gesinnter Ohrenzeuge. –
Das Todesurtheil wurde jetzt gesprochen. „Wie eine verdorrte Rebe sollte er,“ nach der fanatischen Sprache desselben, „weggeworfen werden, nachdem er wie ein Hund durch seinen Widerruf zu dem Gespieenen zurückgekehrt; als rückfälliger Ketzer sollte er aus der Kirchengemeinde ausgestoßen und verdammt sein.“ Die Scharfrichter übernahmen ihn aus den Händen der „Mutterkirche.“ Die mit Teufelsfratzen bemalte Mütze setzte er sich selbst auf. Den Blick zum Himmel gerichtet fang er auf dem Wege zur Nichtstätte tröstliche geistliche Lieder. Der Holzstoß war an demselben Ort aufgerichtet, wo Hus seine Seele ausgehaucht hatte. Vor dem Marterpfahle warf er sich auf die Kniee und betete inbrünstig. Während ihn die Henker mit Ketten und Stricken an dem mit Holz und Stroh umlegten Pfahl befestigten, sang er ein Osterlied laut und fröhlich, sprach die drei Artikel des christlichen Glaubens mit weithin vernehmlicher Stimme und redete zum Volke: „Wie ich jetzt singe, so glaube ich. Ich sterbe, weil ich die Verdammung des Hus nicht gerecht und gut heißen will.“ Schon loderte der mit Fackeln entzündete Holzstoß. Er sprach: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Die Gluthen umwirbelten ihn mit Rauch und Dampf; sein letzter hörbarer Seufzer war: „Vater, allmächtiger Gott, erbarme dich meiner, vergieb mir meine Sünden, du weißt: ich habe deine Wahrheit aufrichtig geliebt.“
So starb am 30. Mai 1416 nach einjähriger scheußlicher Kerkerhaft Hieronymus von Prag um seines evangelischen Zeugnisses willen. Seine Asche wurde, um jede Spur seines Daseins zu vernichten, in den Rhein geworfen. Aber sein Geist lebt in allen Denen fort, welche die Erscheinung Christi lieb haben. Den Leib können sie tödten; aber die Wahrheit ist untödtlich.
Schenkel in Heidelberg.
Evangelisches Jahrbuch für 1856 Herausgegeben von Ferdinand Piper Siebenter Jahrgang Berlin, Verlag von Wiegandt und Grieben 1862