Bodenstein von Karlstadt, Andreas Rudolf
Bodenstein: Andreas Rudolf (auch Rudolphi) Bodenstein oder Karlstadt, gebürtig aus dem fränkischen Orte Karlstadt (dessen Namen er zu seinem Familiennamen hinzufügte), † 24. Dec. 1541, begab sich, nachdem er den eigentlichen Schulunterricht in seiner Heimath empfangen, nach Rom, wo er scholastische Theologie und canonisches Recht studirte, und ließ sich sodann, mit der Würde eines Baccalaureus biblicus ausgestattet, gegen das Ende des J. 1504 auf der neuerrichteten Universität zu Wittenberg nieder. Nachdem er hier die verschiedenen akademischen Grade, schließlich (im J. 1510) auch die theologische Doctorwürde erlangt hatte, wurde ihm im J. 1513 bei eintretender Erledigung eine ordentliche Professur in der theologischen Facultät und zugleich die Stelle des Archidiaconus in der Stiftskirche übertragen. In dieser Stellung entfaltete B.-K. von Anfang an die eifrigste Thätigkeit, und der Reichthum seines Wissens wie die Regsamkeit und Energie seines Strebens gewannen ihm bald vielseitige Anerkennung. Dabei gab sich an ihm aber auch schon frühe ein Mangel an Wahrheit und Gradheit seines innern Lebens zu erkennen, der ihn, wo die Eitelkeit oder sonstige Interessen ihn erregten, zu allerlei Verkehrtheiten führte. Er galt als Thomist und wollte auch als solcher gelten; allein um einen Kreis von Zuhörern an sich zu fesseln, lehrte er auch Scotistik und zur Zeit, wo er (im J. 1515) nach Rom ging und hier weit über die Dauer des ihm gewährten Urlaubs verblieb, erklärten seine Amtsbrüder an der Stiftskirche, daß niemand mit ihm gern zu thun haben wolle, seines Gezänkes halber. Inzwischen hatte Luther (seit 1512 Doctor der Theologie) die studirende Jugend zu Wittenberg zu der Gedankenwelt Augustins und der deutschen Mystiker hinzuführen begonnen, und als daher B.-K. nach Wittenberg zurückgekehrt war, sah derselbe staunend, daß auf der Universität unter Luther’s Einfluß ein ganz neues theologisches Leben erwacht war, welches der dürren Scholastik den Rücken gekehrt hatte. Dieser unerhörten Neuerung, in welcher B.-K. einen Bruch mit allem sah, was ihm damals als Wissenschaft galt, trat derselbe sofort schroff und leidenschaftlich entgegen – und zwar zunächst anläßlich eines Streites, der sich über die fragliche Echtheit des unter Augustins Namen bekannten Buches De vera et falsa poenitentia erhoben hatte. Aber gerade in diesem Streite drängte sich ihm die Ueberzeugung auf, daß die von Luther angeregte Bewegung fast alle akademischen Kreise ergriffen hatte und nicht mehr niederzudrücken war, und – sofort brach daher auch B.-K. mit der Scholastik, wandte sich dem Studium Augustins, der deutschen Mystiker und des Neuen Testamentes zu und versuchte es, bei Gelegenheit der feierlichen Enthüllung der heiligen Reliquien in der Stiftskirche durch 152 Thesen de natura, de lege et de gratia contra scholasticos, die er 26. April 1517 öffentlich anschlagen ließ, die Führerschaft der sich immer mächtiger erhebenden Bewegung in seine Hand zu bringen. Dieses konnte nun freilich nur so geschehen, daß B.-K. sich für Luther’s Sache erklärte und sich somit unter den Einfluß desselben stellte, weshalb er sich jetzt mehr und mehr in das Studium der deutschen Mystik, auf welches dieser ihn hinwies, vertiefte und in dieser allmählich einen ganz neuen wissenschaftlichen und religiösen Standpunkt gewann, den er schon im J. 1517 in einer Reihe kleiner Schriften vertrat und zwei Jahre später, am 27. Juni 1519, in der weltbekannten Leipziger Disputation gegen den scholastischen Rabbulisten Dr. Eck mit großem Eifer verfocht. In dieser Disputation war es nämlich die Frage nach dem Verhältniß der menschlichen Freiheit zur Gnade Gottes, welche zwischen B.-K. und Eck zur Verhandlung kam, während Luther mit Eck über den Primat des Papstes disputirte. B.-K. redete im Sinne der mystischen Lehre von der nothwendigen Gelassenheit der menschlichen Seele in ihrem Verhältnisse zu Gott, dem Gedanken der wesentlichen Unfreiheit und Passivität des menschlichen Willens gegenüber der Gnade das Wort. Aber die Sieghaftigkeit der gewaltigen Rede Luther’s fehlte dem, wennschon wohlstudirten und wohlerwogenen Worte Bodenstein-Karlstadt’s – was mit dem der Disputation zahlreich beiwohnenden Publicum B.-K. selbst zu seinem größten Verdrusse wahrnahm. Die unmittelbare Wirkung und Folge dieser Wahrnehmung war eine Verstimmung Karlstadt’s über Luther’s gewaltige Geistesmacht und eine innere Abwendung desselben von der Person Luther’s selbst, welche noch dadurch genährt und gesteigert werden mochte, daß K. namentlich seit der Leipziger Disputation sich des Gegensatzes seiner eigenen religiösen Anschauungsweise und des in Luther sich kundgebenden Geistes mehr und mehr bewußt ward. Andererseits aber trug auch die litterarische Polemik, in welche K. durch die Leipziger Disputation verwickelt ward, dazu bei, daß sich derselbe in die ihm mit Luther gemeinsamen Ideen mehr und mehr einlebte und die Vertretung der Sache Luther’s als seine eigene Sache ansah. Das Herz Karlstadt’s war bereits entschieden der evangelischen Erregung zugethan, und Luther freute sich der Energie, mit welcher derselbe damals gegen den Barfüßermönch Franciscus Seyler die Schriftwidrigkeit und Verderblichkeit des Ablasses erwies, die ausschließliche Autorität der heiligen Schrift vertheidigte und das Thörichte des Vertrauens auf geweihtes Wasser und Salz darthat. Aber gerade bezüglich des Hauptpunktes dieser Controversen, nämlich der Autorität der heil. Schrift, war es K. allmählich immer klarer geworden, daß hier zwischen ihm und Luther eine Differenz vorliege, um derentwillen er sich zur Vertretung der Sache des Evangeliums im Gegensatze zu Luther verpflichtet und berufen erachtete. Von dem mystischen Begriffe der „Gelassenheit“ des Menschen in seinem Verhältnisse zu Gott ausgehend, sah K. zwischen dem Göttlichen und Menschlichen in der Weise absolute Gegensätze, daß er von einem Eingehen des göttlichen Geistes auf menschliche Entwicklung und auf menschliche Entwicklungsstufen, von einer Abstufung göttlicher Selbstmittheilung an die Welt, von einer Geschichte der göttlichen Offenbarung, von einer Verschiedenheit göttlicher Heilsökonomien nichts wußte, vielmehr in der Beziehung Gottes zur Welt sich nur eine solche Absolutheit des göttlichen Wirkens denken konnte, daß der Mensch lediglich als aufnehmendes Object und Organ derselben erschien. Von dieser Grundanschauung aus ergab sich ihm eine Auffassung der Bibel als göttlicher Offenbarungsurkunde, wonach dieselbe als ausschließliches Werk des heil. Geistes und in allen ihren Theilen als inspirirte, absolute Autorität erschien und wonach die Annahme von Graden der Inspiration und von Stufen der Autorität schlechthin ausgeschlossen war. Diese Gedanken öffentlich zu vertreten – und zwar gegen Luther zu vertreten – sah sich K. im Anfange des J. 1520 veranlaßt, als er über den Jacobusbrief Vorlesungen halten wollte, und Luther in einer anläßlich der Leipziger Disputation veröffentlichten Schrift die Autorität desselben bestritten hatte. In Luther’s dogmatischer Kritik des Inhaltes dieses Briefes sah K. die verwegenste und verderblichste Willkür, der er ohne Rücksichtnahme auf die gerade damals so sehr gefährdete gemeinschaftliche Sache entgegenzutreten beschloß. Er that dieses in seiner vielgenannten Schrift: „De canonicis scripturis libellus“. Witeb. 1520. (Abgedruckt in Credner’s Geschichte des Canons S. 291 ff.) K., welcher den Canon des Hieronymus im Gegensatz zu dem des Augustin vertritt, versucht hier das Ganze der Bibel als unantastbare Lehrautorität zu rechtfertigen. Luther ließ diese Polemik unbeachtet; der Ernst der Zeit richtete seinen Blick auf andere Dinge, indem eben damals die päpstliche Bannbulle ihn und sein Werk mit Vernichtung bedrohte.
Offenbar ist damals in Karlstadt’s innerem Leben ein Umschwung eingetreten, aus dem die lichtvollste und erhebendste Periode seines ganzen Lebenslaufes zu erklären ist. Es mag sein, daß ihn die Anschauung der Heldenhaftigkeit, in der sich Luther’s Person gerade damals vor aller Welt erwies, innerlich überwältigte: soviel steht fest, daß K. gerade jetzt mit einer an ihm kaum begreiflichen, opferfreudigen Festigkeit sich als Vertreter Luther’s bekannte und daß er der gewonnenen Ueberzeugung auch in schwerem Kampfe mit den innersten Regungen seines Herzens treu blieb. Eine kurze Schrift „Von päpstlicher Heiligkeit“, welche er im October 1520 veröffentlichte und worin er zugleich die Idee des allgemeinen Priesterthums aller Gläubigen berührte, sollte der Anfang einer Reihe litterarischer Kundgebungen gegen das falsche Kirchenthum Roms sein. Indessen schien sich ihm gerade damals ein Feld reformatorischer Wirksamkeit in Dänemark aufzuthun, wohin er einem Ruf folgte. In seinen Erwartungen sich getäuscht sehend, begab sich jedoch K. schon bald wieder nach Wittenberg zurück, wo er jetzt, während Luther auf der Wartburg lebte, der Mittelpunkt aller reformatorischen Bestrebungen war. Seine litterarischen Angriffe richteten sich zunächst (seit dem Juni 1521) gegen das hierarchische Priesterthum und Mönchthum der Kirche, gegen den Heiligendienst und gegen das todte Formelwesen des kirchlichen Cultus. Ueber die Verkehrtheit der römischen Lehre von den Gelübden sprach sich K. zunächst in einer Disputation am 21. Juni 1521 aus, worauf er über dieselbe eine deutsch verfaßte Schrift und außerdem noch Erläuterungen zu seinen sieben Disputationssätzen folgen ließ. Leider litten jedoch fast alle diese Schriften an einem gemeinsamen Gebrechen, nämlich an einer sehr einseitigen und vielfach ganz verfehlten Schriftauslegung. Auf dem betretenen Wege und in der bisherigen Weise gedachte nun K. die reformatorische Bewegung weiter zu führen, als er urplötzlich wahrnahm, daß dieselbe sich seiner Leitung zu entziehen und sich mit ihrer eigenen Kraft in stürmischer Weise Bahn zu brechen anfing. Entzündet von dem Gedanken, daß der Cultus der Kirche verderbt sei und der Herstellung nach dem Worte Gottes bedürfe, traten nämlich die Augustinermönche zu Wittenberg mit der Forderung einer Herstellung der Abendmahlsfeier genau nach dem Wortlaut des evangelischen Berichtes auf. Auf kurfürstlichen Befehl suchte die Universität sich mit den Augustinern zu verständigen. Jedoch die gemäßigten Vorschläge, welche die Universität machte, fanden bei dem Kurfürsten keine Anerkennung, was K. veranlaßte, in zwei von ihm veröffentlichten Schriften „Von Anbetung und Ehrerbietung der Zeichen des N. Testaments“ und „Von beiden Gestalten der heil. Messe etc.“ die Idee der Cultusreform in weit radicalerer Weise auszusprechen als vorher. Schon damals war Wittenberg der Schauplatz wilder, tumultuarischer Auftritte. Als aber die Stiftsherren wegen der fortgesetzten Predigten Karlstadt’s gegen die Messe bei dem Kurfürsten Klage erhoben und dieser infolge dessen einen, jede Aenderung der Gottesdienste streng untersagenden Befehl erließ, stand es für K., der sich seiner augenblicklichen Gewalt über die Gemüther bewußt war, fest, daß es jetzt endlich hohe Zeit sei, ohne alle Rücksichtnahme zu thun, was das Wort Gottes gebiete. Am Weihnachtsfeste, so verkündete K. von der Kanzel herab, sollte der entscheidende Schritt in der Stiftskirche erfolgen. Das Weihnachtsfest kam, K. predigte in der Stiftskirche, trat dann vor den Altar, verrichtete die Liturgie mit gänzlicher Hinweglassung des Meßcanons, und theilte ohne vorgängige Beichte das heil. Abendmahl mit den Worten Christi an Jedermann aus, der es begehrte. Zwei Tage später verkündete er vor einer zahlreichen Versammlung seine Verlobung mit der Tochter eines sächsischen Edelmannes (Anna v. Mochau), traute einen Pfarrer mit seiner Köchin und ließ sich am 20. Jan. 1522 selbst öffentlich trauen. Ganz Wittenberg war über die seltsamen Dinge, die es urplötzlich in seinen Mauern geschehen sah, in Aufregung, als die „Zwickauer Propheten“ erschienen und die Gemüther aufs neue entzündeten. Indessen hatte die Bewegung in Wittenberg bereits einen so bestimmten und raschen Verlauf genommen, daß die Zwickauer auf Karlstadt’s Treiben kaum Einfluß gewinnen konnten. K. war mit der Masse der Bürgerschaft Ein Herz und Eine Seele, und jener setzte es daher durch, daß trotz der Abmahnung des Kurfürsten die Universität und der Rath am 24. Juni eine von K. entworfene Gemeindeordnung genehmigten, welche im Sinne der damals zu Wittenberg herrschenden reformatorischen Principien nicht nur die Reform des Cultus, sondern auch mit Abschaffung des Klosterwesens eine Gemeindeorganisation anordnete, welche insbesondere auf eine evangelische Armenpflege gerichtet war. (Vergl. Richter, Evangel. Kirchenordnung II. S. 484.)
In dem Geiste Karlstadt’s hatte sich einerseits von gewissen Ideen der Mystik aus, andererseits aber in Gemäßheit seiner Auffassung der Bibel, nach welcher das alte Testament (und in diesem namentlich auch das Bilderverbot des Dekalogs) für das christliche Leben dieselbe Bedeutung haben sollte wie das neue, allmählich das Ideal eines Gottesstaates, einer Gottesgemeinde gebildet, in welcher es keinen Heiligen- und keinen Bildercultus, keine Arme und Bettler und kein anderes Recht als das Gottesrecht Moses’ gebe, in welcher volle Gleichheit und Brüderlichkeit herrsche, wo die geistige Bildung keinen Vorzug, die immer nur Einzelnen zugängliche Wissenschaft keine Werthschätzung finde, und wo Clerisei und Mönchthum, römisches Recht und alles, was dem Worte Gottes fremd sei, ein für allemal ausgeschlossen sein müsse. Auf die Verwirklichung dieses Ideals ging jetzt K. mit stürmischem Eifer los, indem er zunächst das was im Cultus das Greifbarste war, nämlich die Bilder, ins Auge faßte. Unter dem 27. Jan. 1521 veröffentlichte er seine Schrift: „Von Abthuung der Bilder und daß kein Bettler unter den Christen sein soll“. Melanchthon und Bugenhagen erschraken über die Gefahr, die K. für die Stadt und Universität und für die Sache der Kirchenreform heraufbeschwor, indem er die durch sein Treiben längst entfesselten Mächte der wildesten Leidenschaft zur Durchführung seiner Projecte aufbot. Die Universität suchte daher noch immer zu vermitteln, nur die Stiftsherren und der Kurfürst erklärten sich gegen jede auf Cultusveränderung gerichtete Bestrebung. Verhandlungen, welche zwischen Abgeordneten des Kurfürsten, der Universität und des Capitels am 13. Februar zu Eilenburg stattfanden, blieben ohne Ergebniß, der Bildersturm brach daher los und drohte der Anfang eines Umsturzes aller kirchlichen, vielleicht auch aller gesellschaftlichen Ordnung werden zu wollen. Inzwischen weilte Luther noch immer auf der fernen Wartburg, nicht ohne Sorge von den Dingen hörend, die in Wittenberg vor sich gingen. Allerdings erklärte er sich mit Vielem, insbesondere mit der Entfernung der Bilder, wenn dieselbe mit Ruhe erfolge, und mit Karlstadt’s Verehelichung einverstanden. Als er aber wahrnahm, wie jetzt die rohe, blinde Gewalt der Volksmassen sich erhoben hatte, um in ihrer Weise einen Kampf des Evangeliums gegen das Papstthum zu übernehmen, welcher nothwendig der Sache des Evangeliums ein Ende mit Schrecken bereiten müsse – da ließ es ihn nicht länger in seiner Verborgenheit. Kühnen Muthes machte er sich auf, kam am 7. März nach Wittenberg, predigte hier vom Sonntag Reminiscere bis zum Sonntag Invocavit Tag für Tag von den Pflichten der Liebe, der Zucht und der Ordnung – und vor der mächtigen Rede des Glaubensmannes verstummten alsbald die Stürme, die Wogen legten sich und es ward stille in der Stadt. Ohne Mühe setzte Luther die Aufhebung einer Anzahl radicaler Einrichtungen, obschon sie fast sämmtlich mit Zustimmung des größten Theils der Bürgerschaft ins Leben gerufen waren, durch. K. aber, der sich mit Luther’s Erscheinen in Wittenberg plötzlich all seines Ansehens und Einflusses beraubt sah, vermied es, in zunehmender Erbitterung über den ihm ganz widerwärtig gewordenen Nebenbuhler öffentlich aufzutreten, setzte sich mit dem eben damals nach Wittenberg gekommenen Thomas Münzer in den vertraulichsten Verkehr, erklärte bei einer am 3. Februar 1523 stattfindenden theologischen Promotion die Ertheilung und Annahme akademischer Grade für unchristlich und kaufte sich, da es ihm in Wittenberg unheimlich wurde, ein Landgütchen, wohin er sich ganz zurückzog und wo er, seinen Doctorat niederlegend, (als neuer Laie und „Nachbar Andres“) als Bauer lebte und mit den Bauern verkehrte.
Indeß dieser Bruch mit der ganzen eigenen Vergangenheit war doch nur ein Gebahren des Trotzes, das keinen Bestand haben konnte. Ruhe fand K. so wenig im Bauernleben wie er sie im akademischen Leben gefunden hatte. Daher begann derselbe seit dem März 1523 urplötzlich mit einem ganz auffallenden Eifer wieder als Schriftsteller aufzutreten, indem er von da an bis zum Ende des Jahres eine ganze Reihe litterarischer Arbeiten publicirte. Gleichzeitig war K. aber auch bemüht, durch Erwerbung der Pfarrei zu Orlamünde für erneute praktische Wirksamkeit Boden zu gewinnen. Diese Pfarrei stand nämlich in Lehensabhängigkeit von dem Stifte zu Wittenberg, dessen Archidiaconus der eigentliche Inhaber derselben war, auch gewisse Einkünfte aus ihr bezog, aber den Pfarrdienst durch einen Vicar (conventor) versehen ließ. K. war daher der Gemeinde zu Orlamünde ziemlich bekannt, und da der bisherige Vicar sich wegen der Zehententrichtung mit derselben überworfen hatte, so kam er auf den Gedanken, sich selbst die Pfarrei, deren nomineller Inhaber er ja schon war, zu verschaffen. Auch erreichte er es endlich, daß die Gemeinde zu Orlamünde ihn (ganz unbefugt), gegen Ende des J. 1523, als ihren Pfarrer berief. Es ist charakteristisch und bedeutsam, daß K., sobald er von der Pfarrei Besitz ergriffen hatte, zunächst in einer Schrift: „Von dem Priesterthum und Opfer Christi“, Jena 1523 (29. Dez.), eine gegen Luther gerichtete Streitschrift veröffentlichte (freilich ohne dabei Luther’s Namen zu nennen) und die Gemeinde zur Gutheißung einer Cultusreform veranlaßte, in welcher die Bilder, der Altar, die lateinische Sprache und der Priesterornat gänzlich entfernt, die Kindertaufe und Messe abgeschafft wurden.
Hiermit hatte sich ein Wendepunkt im inneren Leben Karlstadt’s gekennzeichnet: er war Fanatiker geworden, was sich einerseits in seinem Zusammenhange mit den Tendenzen Thomas Münzer’s und mit den, aller Orten damals hervortretenden, bilderstürmerischen Reformen und in seiner Polemik gegen Luther kundgab. Luther hatte seit seiner Rückkehr von der Wartburg mit der ganzen Energie seines Charakters den Gedanken vertreten, daß die evangelische Herstellung des Kirchenwesens nicht länger aufgehalten werden dürfe, daß sie aber nothwendig durch die christliche Obrigkeit, und zwar mit weiser und liebevoller Schonung der Schwachen, allmählich geschehen müsse. In diesen Gedanken sah aber K. den Tod der ganzen Kirchenreform, weshalb er zur Bekämpfung derselben im J. 1524 die Schrift veröffentlichte: „Ob man gemach fahren und die Aergernisse der Schwachen verschonen soll in Sachen, so Gottes Willen angehen“ (abgedruckt in Füßlin’s Beitragen zur Historie etc., Zürich 1741. I. S. 51). Der leitende Gedanke dieser Schrift ist: „Wo Christen herrschen, da sollen sie keine Obrigkeit ansehen, sondern frei von sich umhauen und niederwerfen, das wider Gott ist, auch ohne Predigen.“ Daher das erste Grundrecht evangelischer Gemeinden, welches K. verkündet, „daß eine jegliche Gemeinde, sie sei klein oder groß, für sich sehen soll, daß sie recht und wohl thue und auf niemand warte“. Die Folge dieses Treibens war, daß K., obschon derselbe sich eigentlich aufrührerischer Bestrebungen nie schuldig gemacht hatte, im J. 1524 Orlamünde räumen mußte und selbst auch sein Archidiaconat in Wittenberg verlor. Er ergriff nun den Wanderstab, um dahin zu gehen, wo er ohne Gefahr seine Polemik gegen Luther fortsetzen konnte, nämlich nach Oberdeutschland oder in die Schweiz. Jedoch die Erfahrungen, welche er auf seiner Wanderung machte, waren für ihn nicht sehr erhebend. Der ruhelose, eitle, unpraktische Schwärmer, der mit niemand auf die Dauer fertig werden konnte, war längst bekannt geworden. In Straßburg bewirkte es Bucer, daß ihn der Magistrat nach kaum dreiwöchentlichem Aufenthalte aus der Stadt verwies. In Basel, wo K. mehrere leidenschaftliche Schriften über das Abendmahl veröffentlichte, wurden die Drucker bestraft und er selbst mußte auch von hier abziehen. In diesen Schriften hatte K., von seiner früheren Abendmahlslehre sich lossagend, seine Polemik gegen Luther auch auf dessen Lehre vom Abendmahl ausgedehnt. Ursprünglich hatte nämlich K. in völliger Uebereinstimmung mit Luther und den andern Wittenberger Theologen gelehrt, daß im Abendmahl Christi Leib im Brode und Christi Blut im Weine als Unterpfand, Zeichen und Siegel der in den Worten der Abendmahlsspendung enthaltenen Zusicherung der Sündenvergebung gespendet werden. Allmählich sah er jedoch ein, daß ein Unsichtbares, nämlich Christi Leib und Blut, doch kein Zeichen und Unterpfand für ein anderes Unsichtbares, nämlich die Verheißung der Sündenvergebung, sein könne; und da nun auch nach Luther’s Lehre der Inhalt und Zweck der Abendmahlsspendung eben in den Worten derselben lag, so kam K. auf den Gedanken, daß Christus von seinem Leibe und Blute nothwendig in einem anderen Sinne, als Luther annahm, geredet haben müsse. Von diesem Gedanken ausgehend, veröffentlichte K. eine Reihe von Streitschriften, in denen er seine neue Lehre immer schärfer und positiver darstellte. – Seine Meinung war schließlich, daß Christus mit den Worten „das ist mein Leib“ auf seinen wirklichen, damals vor den Jüngern sitzenden Leib hingewiesen habe, und daß die Abendmahlsfeier, in welcher Christi Leib und Blut gar nicht gegenwärtig wären, zum Zwecke eines „inbrünstigen Gedächtnisses an den dahingegebenen Leib Christi“ gestiftet sei. Luther sah in diesen Schriften die Bekämpfung der von ihm als die einzig wahre anerkannte Lehre vom Abendmahl im Zusammenhange mit einer Reformbestrebung hervortreten, welche allen Unterschied alt- und neutestamentlichen Wesens, welche also auch den allereigensten Charakter christlicher Lebensordnung und alle Bedingung christlichen Gemeinschaftslebens zerstörte, weshalb er in seiner damals edirten Schrift „Wider die himmlischen Propheten“ mit der ganzen überwältigenden Wucht seines Geistes über K. herfiel und demselben insbesondere den Gegenstand der wahren evangelischen Freiheit zu der falschen Freiheit, die K. verkündete, zürnend, mahnend und drohend vorhielt.
Inzwischen war die wilde Erhebung der Bauern erfolgt, von der auch das südwestliche Deutschland ergriffen wurde, wo K. damals in Rothenburg an der Tauber eine Zuflucht gesucht hatte. Nun wollten die süddeutschen Bauern an dem Evangelium als der Grundlage ihrer Forderungen festhalten, weshalb es sich erklärt, daß K. ganz im Sinne derselben am Ostermontag 1525 auf dem Markte zu Rothenburg predigte und zum Bildersturm aufforderte, und sogar, trotz inzwischen erlittener mannigfacher Mißhandlungen, am 1. Juni 1525 an einem Landtage der Bauern zu Schweinfurt Theil nahm, wo er zu vermitteln suchte. Der Vermittlungsversuch mißlang jedoch vollständig und K. kam in die größte Lebensgefahr, der er mit genauer Noth entrann. Hiermit war in dem Leben des unbeständigen und haltlosen Mannes abermals ein Wendepunkt eingetreten. Auf die Erhebung der Bauern in Schwaben und Franken hatte er sein ganzes Vertrauen gesetzt, indem er gehofft, daß durch sie seine reformatorischen Ideale zur Verwirklichung kommen sollten. Aber er sah sich schmerzlich enttäuscht; es war ein Traum, ein Wahn gewesen, dem er sich hingegeben – und jetzt begann er zu ahnen, warum er Luthers Zorn gegen sich erregte, und daß er allein im Anschluß an Luther wieder Boden und Halt gewinnen könne. Tief gebeugt entschloß er sich daher, die Hülfe und Vermittlung Luther’s anzurufen, der ihm die Rückkehr in die Heimath und in die Ruhe des Lebens ermöglichen sollte. Luther ergriff bereitwilligst die ihm gebotene Hand, und im September 1525 hatte es derselbe bei dem Kurfürsten erreicht, daß K. nach Sachsen zurückkehren durfte. Indessen wurde ihm doch nur gestattet, in der Nähe Wittenbergs zu wohnen. Auch sollte er sich des Schreibens gänzlich enthalten. Er ließ sich daher zunächst in dem Dorfe Segvena, hernach in dem Städtchen Kemberg nieder, wo er mit der drückendsten Noth zu kämpfen hatte. Um sich nur das Allernothwendigste erwerben zu können, richtete er einen Handel mit Bier und Branntwein, Pfefferkuchen und andern Lebensmitteln ein. Inzwischen war der Streit Luther’s mit Zwingli über die Abendmahlslehre ausgebrochen. K. hatte hiervon kaum gehört, als in seiner Seele der Gedanke auftauchte, daß im Grunde ja Zwingli eben die Lehre vom Abendmahle vertrete, um deren willen er so Vieles von Luther habe leiden müssen. Bei dieser für ihn so höchst erfreulichen Controverse mußte nothwendig auch er mitreden und mitstreiten, weshalb er mit Genehmigung des Kurfürsten in einem an den Kanzler Brück gerichteten Schreiben seine Lehre nochmals entwickelte. Luther erwiderte dieses Schreiben mit einem Briefe, den er zugleich veröffentlichte. Infolge dessen sah nun K. wiederum in Luther seinen unversöhnlichen Feind, weshalb er sich von demselben abermals gänzlich abwendete und mit den beiden Schlesiern Kaspar Schwenkfeldt und Valentin Krautwalt in heimlichen Briefwechsel trat. Diese Correspondenz ward aber entdeckt und K. verschwand plötzlich aus Sachsen. Bald erfuhr man, daß er sich in Holstein aufhalte, und nicht lange nachher wurde erzählt, daß er sich aus dem Holsteiner Land nach Ostfriesland begeben habe, wohin damals Wiedertäufer und andere Sektirer von allen Seiten her zusammenkamen. In diesen, aus aller kirchlichen Ordnung herausgekommenen, theilweise fanatisch erregten Kreisen ragte K. bald als Autorität und Haupt hervor. Indessen gerade sein Einfluß drohte allmählich im Lande nicht nur alle kirchliche, sondern auch alle bürgerliche Ordnung zu zersetzen. Man hörte schon auf, die Sonn- und Feiertage zu feiern, die Kinder blieben vielfach ungetauft, Ehen wurden ohne kirchliche Einsegnung geschlossen etc. Dem zunehmenden Unfug trat daher endlich (im December 1529) der Graf Enno mit einer Kirchenordnung entgegen, in welcher die Wiedertäuferei mit Landesverweisung bedroht wurde. Der Publication der Kirchenordnung folgten sofort zur Durchführung derselben die strengsten Maßnahmen der Landesregierung nach. Von denselben wurde vor Allen K. betroffen, der, als er nicht gutwillig gehen wollte, durch Bewaffnete fortgetrieben ward. K. ergriff also abermals den Wanderstab und begab sich zunächst nach Straßburg, wo sich Bucer des Flüchtlings treulichst annahm. Auch Oekolampad interessirte sich für den von Luther verstoßenen Mann, der keine Heimath hatte. Von beiden empfohlen, zog daher K. über Basel nach Zürich und erhielt daselbst durch Zwingli’s Einfluß die Stelle eines Diaconus am Spital und später die Pfarrei Altstätten im Rheinthal übertragen. Da kam der Krieg zwischen Zürich und den katholischen Cantonen. Der Sieg der letzteren machte der Stellung Karlstadt’s in Altstätten ein rasches Ende. Er kehrte daher nach Zürich zurück, wo er wieder als Prediger angestellt ward und bald auch Einfluß auszuüben begann, indem er in allen reformirten Cantonen als eine der ersten theologischen Autoritäten angesehen und geachtet wurde. Dies zeigte sich insbesondere, als es sich in Basel darum handelte, zur Hebung der theologischen Facultät eine neue tüchtige Kraft zu gewinnen. Da andere Berufungen fehlgeschlagen waren, wußte der Antistes Oswald Myconius zu Basel niemanden so dringend zu empfehlen als K., der infolge dessen den ehrenvollsten Ruf nach Basel erhielt. Im Anfange des Jahres 1534 zog daher K. als ordentlicher Professor der Theologie und als Pfarrer der St. Peterskirche in Basel ein. Er fühlte sich hier trefflich gebettet, aber der Grundzug seines Wesens, seine mit Leidenschaftlichkeit gepaarte Unbeständigkeit, mußte sich auch hier sofort verrathen und Händel hervorrufen. Bei der ersten Disputation nämlich, die ihm in seiner neuen Amtsführung vorkam, sprach sich K., der einst die Annahme akademischer Grade als Irreligiosität gebrandmarkt hatte, auf das heftigste dafür aus, daß nicht nur jeder Angehörige der Universität, sondern auch jeder Geistliche sich graduiren zu lassen habe, und trat hierbei seinem Collegen Myconius, dem er hauptsächlich seine Berufung nach Basel zu danken hatte, der aber aus Bescheidenheit die Annahme eines akademischen Grades ablehnte, in feindseligster Weise entgegen. In dieser Disputation war aber nur einer der vielen Differenzpunkte hervorgetreten, in denen sich der, damals ganz Basel erregende, Gegensatz einer humanistischen und einer kirchlichen Richtung kundgab. Jene wollte die Kirche der Universität unterordnen, diese wollte den Ansprüchen der Universität gegenüber die Kirche als ein selbständiges Lebensgebiet sicher stellen, das in der Universität sein edelstes Kleinod besitze. – K. ergriff nun für die humanistische Richtung entschieden Partei und freute sich in Basel als der heftigste Gegner des Antistes Myconius zu gelten. Und dennoch gelang es ihm, einerseits durch tüchtige Abwartung seiner Aemter, andererseits aber auch durch Anwendung von Mitteln der Parteileidenschaft, sich in Basel Ansehen und Einfluß zu verschaffen. Man pflegte ihn in der öffentlichen Achtung mit Bucer, Oekolampad und mit andern Häuptern der oberländischen und schweizerischen Reformation zusammen zu stellen. – In vielen Häusern Basels war daher tiefe Trauer, als man zu Weihnachten 1541 erfuhr, daß K. an der damals daselbst grassirenden Pest soeben entschlafen sei. – Unter allen Männern der Reformation ist K. vielleicht der einzige, von dem man zu sagen hat, daß er bei vielseitiger Begabung des Geistes und unverkennbarer Kraft des Charakters infolge seiner Eitelkeit und Hoffart nie zur Einigkeit mit sich selbst gekommen ist.
Jäger, Andreas Bodenstein von Karlstadt, 1856; Jäger, Beiträge zur Geschichte des A. Bodenstein, in der deutschen Zeitschrift von 1856, Nr. 30 u. 31; Riederer, Abhandlungen aus der Kirchen-, Bücher- und Gelehrtengeschichte, S. 473.
Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 3 (1876)
und andere Bände