Lucas Osiander, ein Sohn des älteren Andreas Osiander, wurde 1534 zu Nürnberg geboren. Schon früh trieb er mit Eifer klassische und hebräische Studien. Er besuchte die Universität zu Königsberg und werde bereits im 21. Jahre zum Diaconus in Göppingen berufen. Hier war er Jacob Andreä’s Amtsbruder und vertrauter Freund. Wahrscheinlich erfolgte auch schon in Göppingen seine Verheirathung mit der Wittwe Caspar Leyser’s, welche ihm in Polykarpus Leyser einen Stiefsohn zubrachte, den er wie seinen eigenen Sohn auferzog. 1557 wurde er Superintendent und Prediger zu Blaubeuern, und drei Jahre darauf ging er zu gleichen Würden nach Stuttgart. 1567 ward er Consistorialassessor daselbst, und 1596 Abt zu Adelsberg und Generalsuperintendent. In der dem Kloster zugehörigen Pfarrei Hundsholz hielt er seine berühmten Bauernpredigten. Als er sich der Aufnahme der Juden in das Herzogthum widersetzte, fiel er bei seinem Fürsten in Ungnade und nahm in Folge derselben einen Ruf zum Pastor primarius nach Esslingen an (1598). Nach einigen Jahren reichgesegneter Wirksamkeit zwang ihn die abnehmende Kraft, in den Ruhestand zu treten. Der Rath bewilligte ihm einen anständigen Ehrengehalt und übernahm die Kosten des von ihm gewünschten Umzuges nach Stuttgart. Nach wenigen Tagen rührte ihn hier der Schlag (1604). Bei grossen Körperschmerzen blieb sein Geist klar und still. Drei Mal communicirte er auf dem Krankenbett, und seine letzten Worte waren: Der Herr wird das gute Werk, so er in mir angefangen, vollführen bis auf den Tag Jesu Christi.
Osiander war bei verschiedenen Religionsgesprächen zugegen und thätig, namentlich 1576 zu Maulbronn, wo die von ihm und Biedernbach aus der schwäbisch-sächsischen Concordie zusammengezogene Formel vorgelegt und genehmigt wurde, 1586 zu Mömpelgart, wo er mit Jacob Andreä gegen Beza den lutherschen Glauben vertheidigte und 1594 zu Regensburg, wo er mit Samuel Huber, der statt der allgemeinen Berufung die allgemeine Erwählung geltend gemacht hatte, disputirte und dafür von ihm den unverdienten Vorwurf des Calvinismus hinnehmen musste. Auch verfasste er die erste lateinische Übersetzung der Concordienformel. Seine Arbeitsamkeit war so gross, dass er noch in seiner letzten Krankheit seiner (zweiten) Gattinn und einem Amanuensis in die Feder dictirte.
Seine von ihm, vorzüglich in der Bauernpostille, befolgten homiletischen Grundsätze beschreibt er selbst in der Vorrede zu jener, und wir theilen sie, wegen ihres allgemeineren Interesses, in Folgendem auszugsweise mit: „Ich habe diese meine Predigten eine Bauernpostill genennet darum, dass ich mich in denselbigen allerdings nach den einfältigen Bauersleutlein gerichtet, damit sie ja dieselbigen wohl verstehen und behalten könnten. Denn ob man wohl den Bauern eben die christliche Lehre fürtragen soll, die man den Bürgern, Canzleiverwandten, Adelspersonen und grossen Herzen predigt; jedoch, wenn man gar einfältige Leute lehren will, muss man etlicher Maassen eine andere Weise und Form fürnehmen, denn wenn man den Leuten predigt, welche studirt haben oder sonst mit mehr Verstand, denn der gemeine Mann, begabt sind. Denn erstlich will es sich bei dem armen Bauersvölklein nicht schicken, wenn man den ganzen fürgelesenen Text und alle desselben Stücklein wollte in einer einigen Predigt erklären und handeln, wie man sonst zu thun pflegt, wo ein Prediger einen biblischen Text ordentlich nach einander auslegt. Denn daselbst steht es zu ihm, dass er wenig oder viel Text nehme und in demselbigen Alles mit einander erkläre und Nichts darinnen übergehe. Wenn man diese Weise mit Erklärung der sonntäglichen Evangelien und Episteln wollte fürnehmen, bei dem armen einfältigen Völklein, so würden die Predigten viel zu lang, und werden die Zuhörer verdrossen. Es ist auch Solches Denen beschwerlich, die aus den Weilern über Feld müssen die Predigten in der Pfarrkirche besuchen und nach derselben wiederum über Feld heimziehen, sonderlich zu kalter Winterszeit. Und weil dergleichen Leutlein gemeiniglich übel bekleidet und über Feld, auch in der Kirche Frost leiden, merken sie endlich nicht mehr fleissig auf die Predigt, wenn dieselbe lang ist und sie vor Kälte nicht wohl in der Kirche bleiben können, da denn billig ein getreuer Hirt seiner Schäflein hierinnen verschonen soll. Es ist auch keine Nothdurft und nicht rathsam, dass ein Prediger in einem Dorf vielerlei locos communes oder Lehren (welche zwar alle können aus einem Text genommen werden) in einer Predigt zu handeln fürnehme, wie man sonst in fürnehmen Städten oder auch zu Hofe (an welchen Orten mancherlei und sehr ungleiche Zuhörer sind) thun kann und mag. Denn an solchen fürnehmen Orten muss man mancherlei Speisen des göttlichen Worts auf ein Mal fürtragen, damit ein Jeder (nach Beschaffenheit und Gelegenheit seiner Person) Etwas höre, dadurch seine Seele gespeiset werde, wenn gleich der Prediger kurz, doch gründlich und satt, von mancherlei Sachen redet. Aber bei dem gemeinen Bauersmann will es nicht sein; sondern man muss ihnen in einer Predigt nur zwei oder drei Lehren (oder locos communes) fürhalten und dieselbigen ausführlich (so Viel die Zeit leiden mag) und verständlich erklären und einbilden, welches nicht geschehen kann, wenn man vielerlei Lehren oder locos communes auf ein Mal bei einfältigen Leuten handeln will. Denn ob man gleich Zeit genug (als im Sommer9 dazu nehmen wollte, so können doch einfältige Leutlein so vielerlei Lehren auf ein Mal nicht fassen und behalten, sondern wenn sie das Letzte hören, so wissen sie nicht mehr, was das Erste gewesen sei, gleich als wenn man einem Schüler in einer Lection allzuviel fürgiebt, so kann er’s nicht behalten. Wenn man ihnen aber zwei oder drei heilsame, nothwendige Lehren (in Gottes Wort wohl gegründet) fürträgt, so sind ihre Seelen gespeiset und haben damit genug zu thun, dass sie solche Lehren die Woche umhin betrachten und ihnen zum Trost und Besserung ihres Lebens nutz machen, und können die anderen übrigen Lehren, etwa auf eine andere Zeit, ja auch wohl über ein Jahr, eben aus demselbigen Text füglich gehandelt werden. – Wenn denn gleich die religionsstrittigen Sachen bei dem Bauernvolk müssen unterweilen auf die Kanzel gebracht werden, so soll Solches nicht gar oft, auch nicht mit spitzigen disputationibus und mit Erzählung vieler Argumente geschehen. Denn solche scharfe disputationibus verstehen die armen Bäuerlein nicht, und wenn sie viele argumenta der Widersacher erzählen hören, kann es wohl geschehen, dass sie mehr dadurch geärgert und verwirret, denn gebessert werden. Darum ist’s genug, wenn ein Prediger in einem Dorf an einen streitigen Artikel kommt, dass er unserer Widersacher irrige Meinung kurz erzähle und derselbigen etliche klare Sprüche der heiligen Schrift entgegensetze, damit ein einfältiger Christ so Viel verstehe und merke, dass der Widersacher (als der Papisten, Zwinglianer, Wiedertäufer, Schwenkfeldianer und dergleichen) Lehre falsch und verführerisch sei; so wird sich ein gutherziger Christ, welcher die Wahrheit lieb hat, wohl wissen vor Irrthum zu hüten. – Es ist auch nicht erbaulich, wenn man solchen einfältigen Zuhörern viele Historien aus den heidnischen Scribenten (darauf man sich nicht gründen kann) fürhält und die Zeit damit verleuert; sondern das Beste ist, wenn der Prediger bei der heiligen Schrift bleibt und seine Lehre mit klaren und (so viel möglich) dem gemeinen Mann bekannten Zeugnissen und Exempeln aus der Bibel beweiset und auf dieselbige gründet. Darauf kann ein Christ sicher fussen und darauf leben und sterben. – Welcher Prediger auch die einfältigen Bauern nützlich lehren will, Der muss nicht sich befleissigen zierlich zu reden, als wenn ein Canzler vor einem Fürsten oder anderen fürnehmen Leuten auf Canzleiisch redet, sondern er soll wohlbekannte Worte und dem gemeinen Mann verständliche Phrases oder Weise und Art zu reden gebrauchen, welche ein jeder einfältiger Mensch wohl verstehen könne. Dazu gehört auch, dass ein Prediger nicht lange periodos mache und nicht viel Reden aneinander knüpfe und dann allererst mit einem Wort endlich beschliesse. Denn ehe ein einfältiger Zuhörer das letzte Wort am periodo hört, so weiss er nicht mehr, was das erste gewesen ist, derwegen er aus solchen Predigten wenig Nutzen empfähet, als deren er einen grossen Theil nicht verstanden hat. – Ein Prediger muss auch die Rede und Stimme also wenden und richten, dass ein jeder einfältiger Zuhörer nicht anders gedenke, denn als wenn der Pfarrer mit ihm allein redet und ihn unterweisen wollte. Wenn Dies geschieht, so merken die Pfarrkinder mit Lust und mit grossem Fleiss auf die Predigten, wird ihnen die Zeit kurz und behalten leichtlich, was sie in einer solchen Predigt gehört haben. – In einer Summe aber und beschliesslich hievon zu reden, so muss sich ein getreuer Prediger zum Höchsten befleissigen, dass ihn auch die allereinfältigsten Leutlein wohl und klar verstehen mögen. Denn Dieses ist am allerzierlichsten und besten in den Predigten geredet, wenn der Prediger die göttliche Wahrheit klar und verständlich predigt. Denn die einfältige Weise zu reden verstehen auch die Gelehrten und Hochverständigen; dagegen aber, wenn man allein den Gelehrten und Hochverständigen will predigen, so kann es der gemeine und einfältige Mann nicht verstehen, und bringen solche Predigten bei den Geringverständigen wenig Frucht. Und soll billig ein hochgelehrter Prediger sich nicht schämen, dass er sich nach den einfältigen Leutlein in seinen Predigten richte. Denn Das hat unser höchster Lehrmeister Jesus Christus, der Erzhirt, selbst gethan, welcher das einfältige Völklein, das häufig zu ihm gelaufen, einfältig und verständlich gelehret und ihnen die heilsame Lehre mit feinen Gleichnissen eingebildet hat, bei denen sie seine Lehre haben behalten können. Es sind auch allerwegen der einfältigen Leute mehr, denn der gelehrten und hochverständigen; darum sich ein Prediger billig nach dem grossen Theil seiner Zuhörer richten soll. Und sind ja die armen Bäuerlein (für welche der Sohn Gottes so wohl sein Blut vergossen als für die allerfürnehmsten Leute) unserm Herrn Gott eben so angenehm und lieb (oft auch viel angenehmer), als die reichen und fürtrefflichen Leute in der Welt. Denn bei Gott dem Herrn ist kein Ansehn der Person. Und schreibt St. Paulus hievon also (1. Cor. 2): Sehet an, liebe Brüder, euern Beruf; nicht viel Weise nach dem Fleisch, nicht viel Gewaltige, nicht viel Edle sind berufen, sondern was thöricht ist vor der Welt, Das hat Gott erwählet, dass es die Weisen zu Schanden mache. Und der Herr Christus sagt von seinem Evangelio also: Ich preise dich, Vater und Herr Himmels und der Erde, dass du Solches den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbaret, ja Vater, denn also ist es wohlgefällig gewesen vor dir. Darum soll ein getreuer Prediger allen möglichen Fleiss anwenden, dass er auch die allergeringsten und einfältigsten Bauersleutlein also in Gottes Wort unterrichte, dass sie ihn (zu ihrem ewigen Heil) hören, verstehen und sich aus den Predigten bessern können. Dessen ich mich in dieser meiner Bauernpostille (ohne Ruhm zu melden) zum Höchsten beflissen habe.“
Unter O.’s homiletischen Schriften sind die bemerkenswerthesten: Bawren Postilla, das ist, einfältige, jedoch gründliche Auslegung der Episteln und Evangelien für das einfältige christliche Völklin auf den Dörfern. 5 Theile. Tübingen 1597 – 1600. 4. Predigten über den christlichen Catechismus. Tübingen 1602. 4. Predigt von der Wiedertaufe. Tüb. 1582. 4. Predigt von hoffährtiger, ungestalter Kleidung der Weibs- und Mannspersonen. Tüb. 1586. 4. Libellus de ratione concionandi. Tubingae 1582. 8. Ausserdem schrieb er Commentare über die ganze heilige Schrift (biblia latina. Tubingae 1589), ein Communionbüchlein für junge, einfältige Leute, institutiones religiones christianae, enchiridion controversiarum, epitome centuriar. Magdeburg. u.s.w. Christliche Leichpredigt bei dem Begräbniss des ehrwürdigen sel. Lucae Osiandri, gehalten zu Stuttgart in der Stiftskirche durch M. Johannem Magirum. Tübingen 1604. 4. Freheri theatrum eruditorum p. 332. Frischlini Memoria theol. Wurtembergens. I. p. 146.
Die bedeutendsten Kanzelredner
der
lutherschen Kirche des Reformationszeitalters,
in Biographien und einer Auswahl ihrer Predigten
dargestellt
von
Wilhelm Beste,
Pastor an der Hauptkirche zu Wolfenbüttel und ordentlichem Mitgliede der
historisch-theologischen Gesellschaft zu Leipzig
Leipzig,
Verlag von Gustav Mayer.
1856