Anna Lavater

Lavater, der große Zürcher, ist einer der Sterne, welche der Menschheit zu dem neuen Tage voranleuchten und Armen und Reichen zu dem wiederleuchten sollten, der gestern und heute in Ewigkeit ohne Wechsel des Lichtes und der Finsternis alle Menschen erleuchten will, die in die Welt kommen. Sehen wir an wessen Seite er das wurde und wirkte, was er so vielen geworden und für so viele getan hat. Seine Gattin, Anna Schinz, war den 8. Juli 1742 in Zürich geboren, eines der jüngsten von drei und zwanzig Geschwistern. Ihr Vater war als obrigkeitlicher Beamter längere Zeit im Thurgau und von diesem Aufenthalte her behielt sie fortwährend eine große Vorliebe fürs Landleben. Ihre Mutter war eine ausgezeichnet verständige und fromme Frau, die das Geheimnis der Erziehung ganz in dem Geheimnis der Gottseligkeit und des Gebetes enthalten und ihre Kinder mit wenig Worten auf den rechten Weg zu leiten wusste. Anna hatte als Kind von zehn Jahren eine üble und leichtsinnige kleine Nachbarin; trotz den Warnungen der Mutter ließ sie sich mit derselben ein und zum Kaufen von Naschwerk verführen. Die Mutter erkannte auf den ersten Blick, dass auf dem Gewissen der spät erst heimkehrenden Anna eine Schuld liege. „Kind,“ sagte sie, „ich sehe, dass du etwas Unrechtes getan.“ Weinend bekennt Anna den Fehltritt. „Wir wollen nicht darüber reden, komm‘, wir beten!“ sagt die Mutter und führt das Kind mit ins Kämmerlein. Der Eindruck davon blieb der Tochter lebenslang und fortan war bei jeder Regung ihres Gewissens das herzliche Gebet ihre Zuflucht.

In denselben frühen Jugendjahren bemerkte die scharfsichtige Mutter, dass eine Anhänglichkeit ans Kartenspiel sich in der Kleinen rege. Als einmal Anna sich mit einem Bruder nach Tisch hinweggeschlichen, um im Stübchen das Spiel zu treiben, überrascht die Mutter die kleinen Spieler, hält ihnen mit kurzen Worten das jetzt wohl noch geldlose aber nicht schuldlose (und darum verheimlichte) Spiel mit seinen bösen Folgen vor und schließt: „Also liebe Kinder, nicht wieder!“ Der rechtzeitige Wink erreichte seinen Zweck auf Lebenszeit.

Anna war von Kind an überaus zum Wohltun geneigt. Als eine viele Jahre hindurch im Hause bekannte Arbeiterin durch Alter und Armut in die bitterste Not gekommen war, trug Anna einen guten Bissen, den sie etwa bei Tisch zugeteilt erhielt, in der Stille zu der armen Alten hinüber, um sie zu erfreuen. Hatte sie einige Erholungsstunden im Freien, so widmete sie gerne eine derselben, wohl auch einen ganzen Abend der Alten und brachte ihr dazu ihr eigenes Abendbrot mit.

So wuchs das Kind mehr im Umgang mit Armen und Leidenden als mit Büchern auf; sie erhielt keine wissenschaftliche aber eine desto tiefere Gemütsbildung, und so sehr sie den Mangel an Wissen später bedauerte, so sehr strahlte ihr bescheidenes reines Gemüt mitten in der gelehrten Umgebung, in welche sie versetzt ward. Zu einer Trösterin der Mühseligen und Beladenen wurde sie ganz besonders durch die Stunden und Zeiten gebildet, in denen ihr selbst um Trost bange war. Sie versank nämlich oft in Schwermut und aus der tiefen Nacht half ihr bloß das Gebet und das Lesen des neuen Testamentes nächst der vortrefflichen Behandlung ihrer weisen Mutter zum Lichte. Anna hatte sich im Schlossgarten ein einsames Plätzchen unter dem Schatten eines Gebüsches an der Seite eines kleinen Wasserfalls und mit weit offener Ausficht ins Land zur Stätte ihres stillen Umgangs mit Gott ausgesucht. Hier verlebte sie mit ihrem neuen Testamente viele Stunden und ihr kindliches Gebet schaffte ihr allemal neue Kraft zum dunkeln Gange. Ein jüngerer Bruder, der innig an ihrem Leiden Teil nahm, baute zu ihrer Überraschung ihr einmal ein Hüttchen an dem Plätzchen und legte auf das selbstgezimmerte Tischchen der lieben Schwester ein Neues Testament, diese Überraschung gehörte zu ihren lieblichsten Lebenserinnerungen. Die dunkle Zeit in der sie an Gottes Dasein und Güte, an der Erlösung und Allem zweifelte, ward ihr zur wichtigsten, an geistlicher Erfahrung und himmlischem Segen reichsten Zeit; als sie in einer ihrer bangsten Stunden im einsamen Kämmerlein auf die Knie hingesunken betete, strahlte mit Einemmale ein Friede in ihr Herz, und durchdrang eine Zuversicht der göttlichen Gnade ihre Seele, dass sie ein Gefühl hatte wie Jakob dort bei Bethel, wo er die Pforte des Himmels offen sah, und seine Seele genesen ist. Von fast tödlichem Eindrucke war für sie die Erkrankung und der Tod eines geliebten Bruders, sie fiel in einen Starrkrampf und wurde bereits als tot beweint, doch auch in dieses Dunkel sollte wieder Licht kommen, sie erwachte aus dem Scheintode, und wurde den Ihrigen und viel Hunderten zum Segen erhalten.

Eben in ihrem damaligen Landaufenthalte war sie die Trösterin aller Leidenden; der steile Berg hielt sie auch in Winterszeit nicht ab, ins Dorf hinab zu steigen, die Traurigen aufzusuchen und den armen Kranken Erquickung für Leib und Seele zu bringen. Ihre eigenen Erfahrungen hatten sie besonders zur Freundin der Gemütskranken gemacht; nach ihrer Verheiratung kamen viele solcher Kranken in ihr Haus, um Rat und Tat zu suchen, selbst auf Tage und Wochen behielt dann die erfahrene und liebevolle Frau arme Bauersleute bei sich um sie erheitert und gestärkt zu entlassen. Die Pflege solcher Mühseligen und Beladenen ist gewiss ein wichtiger Teil der rettenden Liebe und wer dazu die Liebeskräfte hat, mag sie wohl nach solchem Vorbilde üben. Einst kam eine schwermütige Bäurin, die durchaus nicht mehr arbeiten wollte und bat, doch einige Tage bleiben zu dürfen. Auf keine andere Bedingung, erklärte Frau Anna, als wenn sie wieder etwas arbeiten wolle. Nun musste das Spinnrad gebracht werden und so sauer es der Trübsinnigen ankam, sie musste dem Ernste und der Liebe, womit sie angehalten ward, nachgeben. So verließ die arme Frau nach einigen Tagen das Haus beruhigt und mit erneuerter Lust zu heilsamer Beschäftigung. Anna, so zart und schwächlich sie selber war, fürchtete sich nicht vor den Unglücklichen, ob sie auch dem Wahnsinne nahe waren. Ihr Ernst wusste diese Leute in Achtung zu erhalten und ihre herzliche Barmherzigkeit zog auch die Verirrten an, dass diese sie wie eine Mutter verehrten.

Anna Schinz war als gereifte Jungfrau mit ihren Eltern wieder nach Zürich zurückgekehrt. Sie war geschickt in jeder weiblichen Arbeit, sie verstand das Hauswesen, sie hatte eine gründliche Erkenntnis der Religion, sie war eine rechte Beterin, dazu sanft, bescheiden, schmiegsam, stillverständig – das war ihre Bildung. Hans Kaspar Lavater sah sie und gewann sie lieb. Nach kurzer aber ernster Prüfung vor Gott gab sie ihr Jawort und ließ sich auch gerne gefallen, dass gemäß der Lavatern eigenen Schnelligkeit in Ausführung wohl überlegter Entschlüsse schon in vier Wochen die Hochzeit sein sollte.

Lavater führte seine Gattin in das Haus seiner Eltern, wo in der auf acht volle Jahre sich ausdehnenden gemeinsamen Haushaltung aller Mut und Demut, alle Sanftmut und Schmiegsamkeit gegen die treffliche aber sehr selbständige Schwiegermutter zu üben war. Die Ordnungsliebe, die Klugheit und Wohlanstelligkeit, die Geschicklichkeit und Gewandtheit der bescheidenen Sohnsfrau gewann bald und immer mehr die Herzen der Eltern und der Geschwister Lavaters. Dieser selbst hatte eine etwas leidende Gesundheit und seine Reizbarkeit regte oft einen bedenklichen Husten auf, so dass der Vater, der Arzt war, wenn er ihn husten hörte zu sagen pflegte: „Hans Caspar, du hast Verdruss gehabt!“ Da bot nun Anna allem auf, vor Unangenehmem ihren Gatten zu bewahren und was sie nur konnte, auf eigenen Schultern zu laden; zu seinem spröden und feurigen Wesen fügte sich aufs Glücklichste ihre weiche, sanfte, nüchterne, treue Seele. Darum konnte Lavater auch schreiben: „Ich bin der glücklichste Ehemann, der unter der Sonne lebt. So übereinstimmend schafft Gott in einem Jahrhundert nur zwei Seelen. So zärtlich und so tugendhaft, so gefühlvoll, so erfindsam mich zu erquicken hätte keine andere, auch noch so vollkommen geglaubte Seele sein können.“ Sie wusste sich zu fügen, nachzugeben, zu schweigen und in letzter und höchster Beziehung Gott Alles anheimzustellen. Konnte sie ihrem einmal entschlossenen Gatten nicht anders beikommen, so nahm sie ihre Zuflucht zum Gebete für denselben. Dieses treueste Mittragen und Fürbitten war ihr so zur andern Natur geworden, dass sie gar nicht mehr ahnte, was sie tat. Große und was bekanntlich dem weiblichen Geschlechte schwerer fällt, kleine Opfer für ihren Mann zn bringen, war ihre Lust; ihre einzige Last war, dass die Zartheit ihrer Gesundheit ihr nicht erlaubte, noch gar manches für ihn zu tun, was ihr zartes Gemüt so gerne getan hätte.

Ein Beispiel, mit welchem Geschickt ihre Sanftmut seine Hitze zu dämpfen wusste, erzählte er selbst in seinem Tagebuche. „Während ich gerade in unmutiger Stimmung war, fragte mich die Magd, ob sie mein Zimmer kehren solle? Ja, aber dass sie mir die Bücher nicht berührt, und nichts von meinen Papieren durcheinander wirft! Kaum war sie einige Augenblicke weg, so eilte meine Frau, um einem etwaigen Verdruss zuvorzukommen, unvermerkt weg und befahl der Magd, Sorge zu tragen. „Ist die Stube noch nicht gekehrt,“ rief ich unten an der Treppe – allein statt die Antwort mit Gelassenheit zu erwarten, lief ich die Treppe hinauf, und da ich eben ins Zimmer trat, warf die Magd mit dem Kehrbesen ein Dintenfaß vom Büchergestell auf den Tisch herunter. Sie erschrak sehr; ich fuhr sie hart an: Was sie doch für ein dummes Vieh sei? Ich hätte es ihr doch ausdrücklich gesagt, dass sie sich in Acht nehmen solle. Meine Frau kam mir leise und furchtsam nach. Anstatt mich zu schämen, raffte ich mich noch zu neuen Ausbrüchen meines Zorns auf und klagte und jammerte, als wenn die werteste Schrift verdorben worden wäre, und die Dinte hatte doch nur altes Druckpapier getroffen. Die Magd suchte Gelegenheit, sich wegzuschleichen und mit furchtsamer Sanftmut trat meine Frau zu mir. „Ach! mein Lieber!“ – Ich sah sie mit Unmut an. – Sie umarmte mich. – Ich wollte ihr halb ausweichen. – Sie ruhte einige Augenblicke auf meinem Gesichte. – „Du schadest deiner teuren Gesundheit!“ sagte sie mit unaussprechlich sanfter Zärtlichkeit. – Nun fing ich an, mich zu schämen. Ich schwieg und endlich brach ich in Tränen aus: Wie bin ich doch ein armer Sklave meines Blutes! Ich darf meine Augen nicht mehr aufheben! Ich kann mich der Herrschaft dieser Sünde nicht entreißen. – Aber es vergehen doch, erwiderte meine Frau, Tage und Wochen, dass du dich niemals vom Zorn dahinreißen lässt? Komm mit mir, wir wollen mit einander beten! Sie führte mich in ihr Zimmerchen, betete aus dem Herzen so natürlich warm, dringend und weise, dass ich innigst dadurch erquickt, Gott recht herzlich für diese Stunde und für meine Frau dankte.“

Welch‘ eine unschätzbare Wohltat eine verständige und selbstlos liebende Gehilfin für den Mann ist, das erfuhr Lavater namentlich, seit er zu kränkeln angefangen hatte. Anna, die gegen alle Kranken und Leidenden immer so herzlich teilnehmend und darin so geschickt und erfahren war, wurde dem kranken Manne die unersetzbare Pflegerin. Im Mai 1799 musste er in die Bäder nach Baden gehen; hier hoffte denn auch Anna den Umgang mit dem ihr durch seine vielen Geschäfte so sehr entzogenen Gatten recht genießen zu können. Der erste Tag war auch voll stiller ungestörter Ruhe glücklichen Beisammenseins. Aber kaum graute der andere Morgen und noch war Lavater, der sehr heftig an Flüssen litt, und seine sehr gebrechliche Frau in ihren Betten, als drei Abgeordnete ins Zimmer traten, um alle seine Papiere wegzunehmen und ihn selbst nach Basel fortzuführen, weil er gegen die 1797 die Schweiz brandschatzenden Franzosen „Ein Wort eines freien Schweizers an die große Nation“ geschrieben hatte. Rücksichtslos versiegelten die drei Männer die Papiere; Lavater behielt die Ruhe, die sein gutes Gewissen ihm gab; als man ihn aber selber fortschleppen wollte, konnte die Frau sich nicht halten und rief aus ihrem Bette hervor, ihren kranken Mann möge man doch schonen, sie lasse ihn nicht fort, wenigstens solle man sie mitgehen lassen. Es half nichts, nur einen Schrank mit Briefen ihres Mannes, deren Wegnahme seinen Freunden hätte gefährlich werden können, vermochte sie durch ihre Geistesgegenwart zu retten. Sie benetzte die Kleider und Sachen, die sie eiligst für Lavater zusammenpackte, mit ihren Tränen und stärkte ihren Mut an der völligen Ruhe ihres Gatten. Aber von ihm sich zu trennen, schien ihr unmöglich, bis sie beim Anblicke der Bewaffneten und ihrer aufgepflanzten Bajonette händeringend in Ohnmacht fiel. Lavater, der edle Sohn seines Vaterlandes und der treue Diener des Evangeliums Jesu Christi, durfte kein weiteres Leid erfahren, er kehrte bald wieder zu der Gattin zurück, die zu den Füßen des Gekreuzigten in Geduld und Flehen seiner harrte.

Als Lavater sein erstes Amt, die Predigerstelle am Waisenhause bekleidete, war der Besuch und die Seelsorge der im Zuchthause Gefangenen mit seinem Berufe verbunden. Da scheute sich nun die zarte Frau nicht, ihn oft dahin zu begleiten, und auf die gefangenen Weibspersonen mit ihrem würdigen Ernste und ihrer sanften Menschenliebe einzuwirken. Gebildet in der Schule dessen, der da kam um die Verlorenen selig zu machen, war sie ganz geeignet zu dem hohen Berufe, selbst Verbrecher zu gewinnen. Unter den letzteren war eine junge, blühend schöne Kindsmörderin. Anna Lavater ging hin und wusste die Unglückliche bald so an sich zu ziehen, dass sie mit ungeheuchelten Tränen ihr ganzes Herz mit seiner Verirrung und seiner Reue, mit seinem Durste nach Gnade und Erbarmung von Gott ihr aufschloss. Lavater und seine Gattin hatten die trostvolle Gewissheit, durch ihren Umgang mit der Schuld- und Reuevollen diese als eine Gerettete des Herrn zu wissen, als sie zum Tode geführt wurde. Anna gehörte zu den seltenen Menschen, denen andere ihr ganzes Herz aufschließen; nicht dass sie dem Sünder Kissen unter die Schulter legte, im Gegenteil, sie sprach mit so tieftreffendem Ernste von der Sünde und warnte so eindringend, aber aus ihrem ernsten Blicke strahlte zugleich eine solche Milde, dass der Bestrafte nur Liebe fühlen, nur danken, nicht zürnen oder grollen konnte.

Ganz besonders zog sie junge Leute an. Es war die gleichmütige Ruhe, womit sie hören und Alles prüfen konnte, was die Herzen so sehr an sie fesselte. Viele segneten „die Lavaterin, die ihnen ihr Selbst wieder gegeben,“ „ihnen ihren Herrn wieder finden gelehrt habe.“ Doch nicht bloß in Herzenssachen war sie mit Rat und Hilfe stets bereit, in hundert Fällen wurde sie zu Rat gezogen, weil sie Rat wusste. Damit erleichterte sie unendlich das schwere Amt ihres Mannes. Als dieser an die große St. Petersgemeinde versetzt wurde, öffnete sich ihr ein weites Feld zu solcher Mithilfe. Bürger und Landleute, zumal die Ärmsten fanden stets offenen Zutritt bei ihr. Sie hatte in Krankheiten, in acht schweren Wochenbetten viel gelitten und gelernt, so konnte sie auch wieder viel raten und trösten. Eine Bäuerin, die durch eine harte Niederkunft sehr gelitten hatte, und ängstlich geworden war, klagte ihr einst ihre Not. Anna Lavater beruhigte mit kräftigem Wort aus Schrift und Erfahrung und gab gerne der guten Frau das Wort, in der wiederkommenden schweren Stunde selber ratend und helfend zugegen sein zu wollen. Die Stunde traf in die Nacht, wo es der Gebrechlichen nicht leicht ward, in die ziemlich weit außer der Stadt liegende Bauerswohnung hinzukommen – allein sie wurde gerufen und der mühsamen Anstrengung ungeachtet wurde treulich Wort gehalten. Es lässt sich denken, welche Anhänglichkeit und Liebe sie sich durch solche Liebe erwarb.

Eine Frau, deren Liebe also auf fremde Leiden und Freuden überfloss, musste unerschöpflich sein im eigenen Hause. Nicht leicht konnte es aber auch eine treuere, treuer namentlich für ihre Kinder betende und dankende Mutter geben. Bei aller Zartheit ihres Gefühls war dabei keine Spur von Verzärtelung ihrer Kinder. Ernst und doch sanften und ruhigen Gemütes kam sie auch nie in Gefahr, ihre Kinder scheu zu machen; ihr stetes Verharren in Bitte und Fürbitte legte das was nicht ihre Sache war, dem Anfänger und Vollender auch aller Erziehung ans Herz. Durch das Leibliche hindurch hatte sie immer das Geistige und Geistliche im Auge; die Erhörung zeitlicher Wünsche und Gebete stellte sie vertrauensvoll dem anheim, der alle Haare auf unserm Haupte zählt. Wie köstlich es für einen Menschen ist, wenn er das Joch in seiner Jugend tragen lernt, hatte sie selbst erfahren, so war sie auch nicht die unglückliche und trostlose Mutter, wenn die Ihrigen schwer litten und z. B. ihre eigene lange Erkrankung sie von dem Krankenlager ihrer lang und schwer darniederliegenden älteren Tochter entfernt hielt. Dafür aber pflegte sie auch mit der ihr eigenen Anmut zu sagen: „Wenn mich der liebe Gott selig machen will, so muss er mir dort einst meine Kinder und Enkel alle, alle wieder schenken. Es darf keins dahinten bleiben.“ Sie tat auch an ihrem Teile Alles, damit sie von den ihr mit gleicher Treue anhängenden Kindern einst sagen könnte: „Siehe hier sind die du mir gegeben hast, ich habe deren keines verloren, die du mir gegeben hast.“

Mit ihrer Einfalt und Treue als Gattin, Pfarrfrau, Mutter und Schwester verband sich eine ausnehmende Naturliebe, Menschenliebe und Wahrheitsliebe. Obwohl in der Stadt geboren und erzogen behielt sie doch von ihrem ländlichen Aufenthalt her eine innige Vorliebe für das Landleben und seine stillen Naturgenüsse. Mit jedem Frühling erwachte ihre Sehnsucht nach der friedenvollen Natur aufs Neue. Konnte sie dieselbe nicht stillen, wie sie gern wollte, so ehrte sie doch dankbar die göttlichen Wege der Vorsehung, die ihr andere Freuden und Leiden beschieden. Ihre tätige Menschenliebe fand Blumenwege auch mitten im Disteln und Dornenfelde städtischen und vaterländischen Elends, das mit der französischen Revolution so traurig hereinbrach. Hier hatte sie namentlich ihre herzhafte Wahrheitsliebe zu erproben als die Gattin eines Mannes, der durch sein mannhaftes Zeugnis gegen Lüge und Sünde sich so vielen Gefahren aussetzte. Oft wurde sie aufgefordert, mit ihrem Einflusse Lavater von solcher Gefahr, namentlich von seinem mannhaften Zeugnisgeben zurückzuhalten. Aber sie kannte jenes Wort an Petrus: „Du denkst nicht was göttlich, sondern was menschlich ist,“ und statt ihrem Manne die Adlersflügel zu knicken mit einem „das widerfahre dir ja nicht,“ nahm sie, wo sie ihres Mannes Entschlossenheit bemerkte, zu wagen, was er für seine Pflicht erkannte, ihre Zuflucht am liebsten zum Gebete, um den mutigen Wahrheitszeugen dem Schutze dessen zu empfehlen, der allein schützen kann.

Mit allen ihren Vorzügen, bei allen der vielen Berührungen ihres Mannes mit den Ersten seiner Zeitgenossen, war sie die bescheidene Zurückgezogenheit selbst. Sie verbarg sich hinter ihrem Gatten, so dass Freunde von ihm, die sie erst lange nach seinem Tode kennen lernten, verwundert fragten: „Warum sprach man so wenig von der edlen Lavaterin? Es ist so viel Großes und Gutes in dieser würdigen Frau!“ Statt sich vorzudrängen, ließ sie sich suchen, oder vielmehr zog sie sich zurück in tiefer Anspruchslosigkeit; wurde sie aber gesucht, so ließ sie auch das finden, was die Frau am ehrwürdigsten macht, nämlich gesunden, gebildeten Verstand, ein Herz, das sich mit heiliger Reinheit und Zartheit jedem öffnete und Allen Alles zu werden suchte, und eine harmlose Frömmigkeit, welche tiefste Hochachtung einflößte. Mit dieser echt weiblichen Zurückgezogenheit, die auf echter Herzensdemut gegründet war, verband sie einen hohen Anstand auch im Äußern; ihr ganzes Benehmen war so kunstlos, nirgends etwas Gemachtes und Unnatürliches. Wenige Frauen konnten weniger Eitelkeit besitzen als sie. Dabei war die größte Reinlichkeit und Ordnungsliebe ihr zur andern Natur geworden – reines Herz, reiner Leib! Ohne allen Aufwand und ohne jede Schaustellung war alles einfach und wohlgeordnet, der vornehmste fremde Besuch (Goethe und der Prinz von Weimar z. B.) durfte unversehens ins Haus kommen, ohne dass die Hausfrau hätte erröten müssen. Anstatt neumodisch aufgeputzter Zimmer fand man eine häusliche geschmackvolle Wohlanständigkeit, die auch in ihrem oft Monatelang sie einschließenden Krankenzimmer niemals und in nichts fehlte. Diesen Sinn für prunklose Schönheit hatte sie als ein Erbgut ihrer Mutter Lavater, der für alles Schöne so hochempfänglich war, als ein köstliches Heiratsgut ins Haus gebracht.

Ein besonderer Zug ihres so freundlichen, milden und zutraulichen Wesens war ihre hohe Würde. Obwohl sie ihren Dienstboten mit mütterlicher Liebe zu Rat und Tat nahe war, sich der kleinsten Angelegenheiten selbst mit Aufopferung annahm, auch das Niedrigste wo es not war, selber verrichtete, und des ihr geschenkten Zutrauens sich freute, so duldete sie doch nirgends eine unziemliche Vertraulichkeit. Ein Wort, ein Blick von ihr steckte der Zudringlichkeit die sicheren Grenzen.

Das Lehrreichste in dem Leben der edlen Frau waren ihre vielen Leiden und Krankheiten. Mehr als die Hälfte ihres Lebens war ein beschwerliches Kränkeln, und über ein halbes Jahrhundert war sie eigentlich nie ganz gesund. Dazu kamen die Krankheiten ihrer Kinder und ihres Mannes, dem z. B. ein Grenadier, den er soeben erquickt hatte, eine Kugel durch den hohlen Leib schoss, an welcher Wunde er lange darniederlag und obgleich äußerlich genesen, doch einen früheren Tod fand. Mehr als ihr eigenes Leiden drang ihr das Leiden ihrer Lieben zu Herzen. Lavater setzte aber auch fast nie die Feder an, um etwas für seine Geliebte zu schreiben, ohne dass Worte der Ermutigung und Tröstung derselben entflossen.

„Harren, dulden, glauben und säen und pflanzen auf Hoffnung,\\
Still das Gute wirken, das Böse dulden mit Stille,\\
Dies ist unser Beruf im Leben der Nacht und der Träume.\\
Lasst uns jeden Tag, den uns auf Erden noch Gott gönnt,\\
Etwas Ewiges tun! Was die Liebe tut, das ist ewig!\\
Lasst uns, segnend einander, und Hand in Hand bis zum Ziele \\
Wandeln den Blumenweg, den Dornenpfad, den uns Gott führt!

So schrieb er ihr zu ihrem achtundfünfzigsten Geburtstage den 8. Juli 1799. Am 2. Jan. 1801 starb Lavater nach schwerstem Leiden, in dem er oft Viertelstunden lang nach einander hell aufschreien musste. Sein letztes Wort war gewesen: „Betet, betet!“ An einem solchen Sterbebette ließ sich die Sterbenskunst wohl lernen. Anna Lavater war schon mehr als einmal dem Tode nahe gewesen; doch nie war sie in so entschiedener Erwartung ihres Heimgehens als im Jahre 1811. Am Pfingstfeste wurde sie von einem heftigen Fieber befallen, dass sie sich nicht rühren und kaum ein Wort sprechen konnte. Gerade die Krankheit, vor der sie sich am meisten fürchtete, die Wassersucht, schien sich einzustellen; doch war ihr Anderes beschieden. In stetiger Erwartung, dass nur der Tod sie endigen werde, zog sich die Krankheit durchs Jahr hin, nur ihr Sohn, ein erfahrener Arzt, ließ die Hoffnung nicht sinken. Als sie sich wirklich gegen Ende des Jahres wieder ziemlich bedeutend zu erholen anfing, ward sie ganz wehmütig, dass sie wieder auf die Erde zurückversetzt sein sollte, nachdem sie so nahe an den Pforten des Paradieses zu sein gehofft hatte. Indessen kam im folgenden März ein neuer heftiger Anfall. Schmerz und Gebundenheit an Leib und Geist war ihr trauriges Los, ihr Antlitz war eingefallen, sie wagte kaum in den Spiegel zu sehen. Doch so ist’s ja recht, so muss es kommen, wenn diese arme Hütte zerbrechen soll. Und wer weiß, ob nicht gerade durch diesen Anblick in einem oder andern, der mich besucht, das Suchen des Unvergänglichen mehr geweckt wird.“ Im Übrigen mochte sie lieber die Hand auf den Mund legen als klagen, wo sie durch die treue Pflege der Ihrigen nur Grund zum Danken vor Tausenden zu finden wusste. Unerschrocken bereitete sie ihre Kinder auf den ihr bevorstehenden Tod vor und trocknete mit eigener Hand die Tränen der Tochter, der solche Worte die Seele durchschnitten. Sie ließ sich zum voraus ihr Totenhemd machen, damit man mit ihrem schweren Körper sich nicht zu sehr bemühen müsse. Als die Näherin kam, sagte sie zu ihrer Tochter: „Geh hinaus, das Herz würde dir zu bange schlagen; mich aber kommt es nicht schwer an, das letzte, das ich auf Erden bedarf, noch selbst zu besorgen.“ Über ihren eigenen Zustand bemerkte sie, sie leide nur körperlich, es sei ihr, als ob Geist und Körper nicht mehr zusammengehörten. Nach oben gerichtet sagte sie: „Der Herr hat mich so wie ausgezogen von Allem, dass ich ja recht arm und verdienstleer vor Ihm erscheinen muss. Es bleibt mir nichts übrig als zu rufen: Herr, erbarme Dich meiner! Alles was allenfalls auch Gutes durch mich getan sein mag, ist meinem Blicke wie verschwunden; nur das Heer meiner Fehler, Übereilungen, Versäumnisse steht jetzt vor mir. O wie wohl ist mir, dass ich einen Versöhner und Begnadiger habe, an den ich mich jetzt ja recht fest anschließen muss, wenn ich ruhig sein will.“

In der zweiten Hälfte des Jahres 1812 kehrte ihr Zustand auf das gewohnte Maß zurück: ohne Gefahr, doch auch nie ohne Leiden zu sein. Am bittersten empfand sie es, dass sie so ganz die Gemeinschaft der Gläubigen im öffentlichen Gottesdienste entbehren musste. Am 19. Sept. 1814 überfiel sie ihre letzte Krankheit, aber noch ein ganzes, langes, banges Jahr musste sie leiden. Mitten in ihrer großen Schwäche hatte sie eine außerordentliche Gemütsruhe und mit heiterem Lächeln empfing sie die Besuchenden, die an ihr ein lebendiges Zeugnis sahen, wie dem Christen, ob auch der äußere Mensch verwese, doch der innere von Tag zu Tag erneuert wird. Das tiefste Leiden ihres Mutterherzens war die Unmöglichkeit, ihre ältere immer ans Bett gefesselte Tochter nicht mehr sehen zu können, obgleich sie nur fünfzig Schritte entfernt wohnte. Ihr einziger Trost war ihr die Nachricht, dass die Tochter sich darin ganz dem Willen Gottes übergebe und so konnte sie selbst den warmen Dank gegen Gott darüber aussprechen und „fest glauben, dass der Herr auch dabei heilige Zwecke habe und dass dieses schwere Entbehren einst zu seligeren Genüssen führen werde.“

Am letzten März war ihr schlimmster Tag. Die linke Seite wurde gelähmt, ihr ganzes Wesen war von unsäglicher Bangigkeit durchzittert, kalter Schweiß bedeckte sie, Stirne und Hände waren todeskalt, es schien nicht möglich, dass sie den Tag überlebe und doch kam noch das Allerschwerste. Der Körper widerstand, der Geist unterlag. Stunden und Tagelang war sie von einer Verirrung des Geistes gebunden, die ans Kindischwerden grenzte. Zwischen die Fieberträume kamen lichte, ja liebliche Augenblicke, aber sie wurden drei schreckliche Monate lang verdüstert durch die sie zu Tod folternde Vorstellung: eine verworfene Person habe sich eingedrängt, ihre Tochter von ihr gestoßen, sich an ihre Stelle gesetzt, die Stimme, Kleidung und Gesichtszüge derselben nachgeäfft und bürde ihr und ihren Kindern Verbrechen auf, deren sie sich und ihre Kinder unfähig wusste. Kam dann ein Augenblick, in dem sie ihre Tochter erkannte, so war die unaussprechliche Freude durch die Angst getrübt, dass sie doch wieder in diesen quälenden Zustand versinken werde. Einst hörte man sie, da sonst Niemand an ihrem Bette war, für eben diese sie quälende Person aufs Innigste beten. „Nur Erbarmung such ich für mich und die Meinen,“ sprach sie ein andermal mit gefalteten Händen. An ihrem letzten 72. Geburtstage betete sie: Wie ein Hirsch schreiet nach frischem Wasser, so dürstet meine Seele nach dem lebendigen Gott ach, Herr, höre in Gnaden, was Dein Kind – darf ich sagen, Dein Kind? – vielleicht am letzten Tag seines Lebens zu Dir fleht!“

Schon im Juli besserte sich der Zustand. Sie konnte wieder an Allem Anteil nehmen, selbst lesen, doch musste sie klagen, dass sie den Zusammenhang nicht mehr recht verstehe. „Aber,“ sprach sie gen Himmel blickend, „nun, Herr, wenn ich nicht mehr zusammenhängend beten kann, so will ich doch stammeln. Du verstehst auch das Stammeln.“ Als am 7. August die eidgenössische Bundesbeschwörung statt hatte, ließ sie sich ans Fenster setzen, von wo sie den Zug in die Kirche sehen konnte und betete mit Inbrunst für das teure irdische Vaterland, das sie nun bald verlassen durfte.

Sie war täglich einige Stunden im Lehnstuhle, selbst was ein ruhiger Schlaf und eine gute Nacht sei, konnte sie am 19. September wieder mit dankbarer Rührung erfahren. Für alle teilnehmende Liebe war sie offen, für jede kleinste Aufmerksamkeit voll Dank. Einer Freundin konnte sie sagen: „Der Herr hat mich wahrlich gewürdigt, Ihm nach über den Kidron hinaus nach Gethsemane zu gehen.“ Auch einige auswärtige Freunde besuchten sie noch, der letzte war der würdige Prediger Steinkopf aus London mit seiner Gattin.

Gleich darauf am 22. September 1815 befiel sie ein heftiges Fieber und von Stund an sprach sie kein Wort mehr. Am 24. Abends siegte endlich der entfesselte Geist; es war vollbracht.

Hedwig, Königin von Polen, Herzogin von Litauen.

geb. 1371. gest. 1399.

Mehr als in andern Zeiten waren durch das Mittelalter hindurch die fürstlichen Frauen Trägerinnen des Geistes der Zeit und Werkzeuge seiner Wirkungen; das Bürgertum hatte noch keine Gestalt gewonnen, die Bildung und Frömmigkeit war in die Einförmigkeit der stillen Klöster gebannt, so konnten neben den die Zeitgeschichte bildenden Fürsten fast nur die Fürstinnen in das offene Licht heraustreten. Daher sollen uns noch einige gekrönte Frauen die Brücke zu derjenigen Frau bilden, mit welcher die Frau des schlichten deutschen Bürgerhauses nach evangelischer Ordnung zu voller und höchster Ehre kam.

Ludwig von Anjou, König von Polen, überließ während seiner zwölfjährigen Regierung sein Land den innern Zerwürfnissen und den Angriffen der äußern Feinde; bei seinem Tode 1382 hinterließ er zwei Töchter, Marie, die Gemahlin des Markgrafen von Brandenburg, und Hedwig, geboren 1371. Letztere war von ihrem vierten Jahre an mit dem jungen Herzog Wilhelm von Österreich verlobt, und wurde mit ihm erzogen. Die Polen erwählten die junge Hedwig zu ihrer Königin. Kaum fünfzehn Jahre alt, kam sie aus der Obhut ihrer Mutter auf den Thron. Ihre anmutsvolle Schönheit, ihre Züchtigkeit und Frömmigkeit entzückte das leicht erregliche Volk. Am Hedwigstage des Jahres 1385 wurde sie in der Hauptkirche zu Krakau feierlich gekrönt und mit voller Ausübung der königlichen Herrschaft bis zu ihrer Vermählung betraut.

Die schöne Frau war bescheiden und sanftmütig, wohl unterrichtet und fast gelehrt; sie war eine geborene Königin.

Der furchtbarste Feind Polens, Jagellon, Großherzog von Litauen, hörte von ihr und beschloss, sie zur Ehe zu begehren. Er erklärte sich bereit, mit seinen Großen und seinem Volke den Glauben der Polen anzunehmen, alle christlichen Kriegsgefangenen frei zu geben, seine Länder Litauen und Samogitien samt seinen russischen Eroberungen mit Polen zu vereinigen und dem Königreiche die losgerissenen Provinzen wieder zu erobern. Auch erbot er sich, den Herzog Wilhelm von Österreich für die Abtretung der Verlobten zu entschädigen. Das gefiel den polnischen Großen. Aber Jagellon war aus halbwildem Heidenvolke und Hedwig liebte den Herzog Wilhelm leidenschaftlich.

Ihre Mutter, die Königin Elisabeth von Ungarn, sollte entscheiden, und sie entschied für die Heirat Jagellons um der zu hoffenden Verbreitung des christlichen Glaubens willen. Die Edlen des Landes stimmten desgleichen zum Besten Polens und der christlichen Religion. Eine Gesandtschaft wurde an Jagellon geschickt, er solle selber um Hedwig werben, welche sich den angegebenen Gründen nicht ganz entziehen konnte. Indessen erfuhr Wilhelm, was ihn bedrohe, und er eilte nach Krakau. Man wehrte ihm den Eintritt ins Schloss, so besuchte Hedwig den Geliebten im Franziskaner-Kloster, und verbrachte mit ihren Ehrenfräulein und Rittern manche fröhliche Stunde in allen Züchten bei dem schönen fürstlichen Jüngling. Sie beschloss, ihn vor Jagellons Ankunft zu heiraten. Die Großen des Landes erfuhren es und trafen ihre Maßregeln; als Hedwig zum großen Schlosstore kam, fand sie es verschlossen. In Verzweiflung griff sie nach einer Axt, um in unmächtigem Zorne Riegel und Schloss zu durchhauen. Niemand wagte ihr zu nahen, nur der greise Großschatzmeister bat sie, ihre Liebe dem Wohle des Vaterlandes und die Wünsche ihres Herzens denen ihrer Untertanen, ihre Leidenschaft der Sache der Religion zum Opfer zu bringen. Da ließ Hedwig schweigend die Axt fallen und kehrte mit heißen Tränen in ihre Gemächer zurück. Herzog Wilhelm, für sein Leben besorgt, floh aus Krakau.

Im Anfange des Jahres 1386 kam Jagellon in Polen an. Hedwig hatte einen Vertrauten entgegengesandt, um über seine Person und Sitten Bericht zu erhalten. Der Herzog, hieß es, sehe gar nicht so erschrecklich aus, sein zwar langes Gesicht sei nicht abstoßend und seine Sitten seien ernst und fürstlich. Doch ergab sich Hedwig lange noch nicht; ihr Herz hing an Wilhelm, eine Trennung vom Verlobten galt ihrem Gewissen als Ehebruch.

Indessen hielt Jagellon am 12. Februar seinen feierlichen Einzug in Krakau und besuchte alsbald die Königin, die inmitten ihrer Frauen in blendender Schönheit strahlte. Es kostete noch einige Zeit, da wurde ihr Wille erstürmt. Als die fünfzehnjährige Königin alles Widerstreben vergeblich sah, ging sie mit schwarzem Schleier zur Hauptkirche, weinte und betete drei Stunden lang vor dem Bilde des Gekreuzigten, riss zu seinen Füßen gleichsam ihr Herz aus ihrem Herzen und bedeckte beim Hinweggehen das Christusbild mit ihrem schwarzen Schleier. Dieses Zeichen ihrer Trauer sollte für ewige Zeiten dort aufbewahrt bleiben, und noch jetzt hängt ein Schleier über dem „Kreuze der Hedwig.“

Hierauf erklärte sie sich zur Heirat bereit, lediglich aus Rücksicht auf ihr Volk und ihren Glauben. Am 14. Februar wurde Jagellon vom Erzbischof von Gnesen getauft und mit Hedwig vermählt, drei Tage nachher war seine festliche Krönung.

Einmal mit Jagellon verheiratet wandte ihm Hedwig auch alle Liebe und Treue zu. Bald nachher führte er sie nach Großpolen, wo ihre Holdseligkeit die Zerwürfnisse zwischen den Großen mit ausgleichen sollte. Der Hof war zu Gnesen. Zu seinem Unterhalte wurde eine große Steuer auf die Bauern gelegt und fast all‘ ihr Vieh in Beschlag genommen. Weinend kamen sie mit Weib und Kind zur Königin. Hedwig tief gerührt von ihren Klagen, machte ihrem Manne dieses Unrecht begreiflich und ließ Alles zurückgeben. „Das Vieh ist ihnen wiedergegeben, aber,“ so rief sie aus, „wer wird ihnen ihre Tränen wiedergeben?“

Mit Hedwigs Hilfe war bald Frieden und Sicherheit hergestellt. Im Frühjahre darauf (1387) führte Jagellon seine Gemahlin nach Litauen, damit sie ihre neuen Untertanen kennen lerne und Zeugin ihrer „Bekehrung“ zum christlichen Glauben wäre. Alle Götzen des Landes ließ er umwerfen, die ewigen Feuer auslöschen, die heidnischen Götterhaine niederhauen. Um die Taufhandlung abzukürzen, der sich das ganze Volk unterwerfen musste, teilte man die Litauer, jedes Geschlecht für sich, in gesonderte Scharen ein; jede Schar besprengte man massenweise mit Weihwasser und gab Allen, die dazu gehörten, denselben Namen.

Die erste Abteilung Männer erhielt den Namen Peter, die erste Abteilung Frauen den Namen Katharina und so weiter, nur die Edlen und ihre Familien erhielten die Taufe besonders. So war Litauen „bekehrt“.

Mit Begeisterung begrüßten die neuen guten Christen ihre sechzehnjährige Königin. Auf Hedwigs Rat stiftete Jagellon in den Hauptstädten Kirchen und Anstalten. Nachdem also das katholische Christentum in Litauen „festbegründet“ war, zogen sie nach Krakau zurück (1388). Da wurde der Friede ihrer Ehe durch Verleumdung und Eifersucht gestört. Man beschuldigte Hedwig heimlichen Umgangs mit Herzog Wilhelm während ihrer Vermählung, da er als Kaufmann verkleidet in Krakau war. Die Sache kam vor Gericht und Hedwig ging glänzend gerechtfertigt hervor. Der Ankläger musste zur Strafe sich unter eine Bank bücken und erklären, er habe gewissenlos gegen die tugendhafte Königin gebellt, und dann dreimal das Gebell eines Hundes nachahmen. Fortan verlebten Jagellon und Hedwig ihre Tage in ungetrübter Eintracht.

Als im Jahre 1390 Jagellon sein Litauen gegen die deutschen Ritter verteidigte, sammelte die neunzehnjährige Königin ein Heer und führte die begeisterten Polen, zu Pferde an der Spitze ihrer Geschwader, gegen Ungarn, nahm durch Sturm oder Unterhandlung die Städte und Festungen ein und eroberte ganz Rotrussland1Rotruthenien, auch Rothreußen oder Rotrussland oder Roth-Reußland oder Rot-Reußen war ein historisches Teilgebiet der Rus. Es umfasste die heutige Westukraine sowie Teile Ostpolens. Seine Ausdehnung veränderte sich im Laufe der Jahrhunderte einige Male. wieder, das ihr eigener Vater von Polen abgerissen hatte. So dem Wohle ihres Vaterlandes hingegeben, verewigte sich die ritterliche Frau in den Herzen der Polen.

Gleich darauf zog sie nach Schlesien und nahm dem Herzoge von Oppeln die Provinz wieder ab. Weiterhin suchte sie den Frieden mit den deutschen Rittern zu vermitteln und überall das Beste ihres Landes zu erwirken.

Wie sie groß war gegen den Feind und auf dem Throne, so war sie noch größer daheim im stillen Walten. Die freie Zeit, welche Kriege, Unterhandlungen und Regierung ihres Landes ihr ließen, verwandte Hedwig aufs Lernen, auf Werke der Barmherzigkeit und fromme Übungen. Nie sah man sie im Zorne, nie stolz, hochmütig oder eitler Zerstreuung hingegeben. Jedem Prunke war sie abgeneigt, gern schloss sie sich ins Kämmerlein, um mit Gott allein zu sein. Gegen Arme, Witwen, Waisen, Fremde und Pilger war sie grenzenlos großmütig, gegen alle Leidenden voll liebender Teilnahme. Man warf ihr Verschwendung vor, denn wo sieht man nicht scheel, wenn Eines gütig ist? Ihre geistigen Beschäftigungen galten besonders der heiligen Schrift, die sie fleißig las und zum ersten Mal ins Polnische übersetzen ließ. Eben so fleißig las sie die heiligen Reden und Betrachtungen der großen Kirchenväter Augustin, Gregor, Hieronymus, Ambrosius und Bernhard; auch diese ließ sie ins Polnische übersetzen. So war sie gläubigen Sinnes und erleuchteten Geistes, fertig zu treiben das Evangelium des Friedens. Wir neigen uns vor der Königin, die das Schwert fürs Vaterland in der Hand schwingt, aber tiefer noch beugen wir uns vor der Fürstin mit der Bibel in der Hand.

Getreu auch ihrer Liebe zur Wissenschaft unterhielt sie auf ihre Kosten eine Menge armer Studenten in den gelehrten Schulen. Für die besten Jünglinge Litauens stiftete sie (1397) eine große, prächtige, hohe Schule zu Praga, um den neuen Samen des Glaubens zu begießen, den ihr Mann in seinem Lande ausgestreut hatte. Sterbend vermachte sie alle ihre Edelsteine, Geräte und Barschaften dem Bischof und Kastellan von Krakau zu Gründung einer Hochschule in dieser Stadt. Gemeinschaftlich mit ihrem Manne gründete sie eine Menge anderer religiöser Stiftungen, Kirchen, Hospitäler und Klöster. Besondern Sinn und Eifer hatte sie für die heilige Musik, auch die förderte sie durch eine besondere Anstalt.

Kein Wunder, wenn sie der Liebling des Volkes und die Allverehrte in der weiten christlichen Welt ward.

Nur ein Schmerz betrübte Polen unter dem Zepter der Vielgeliebten. Sie war kinderlos. Da verbreitete sich am Ende des Jahres 1398 die Nachricht durchs jubelnde Land, sie werde demselben einen Erben ihrer Tugenden hinterlassen. Kurze Zeit vor ihrer Niederkunft musste Jagellon in den Krieg ziehen. Während seiner Abwesenheit empfahl er ihr in seinen Briefen, Sorge zu tragen, dass die Vorbereitungen zu ihrer Entbindung mit aller Königspracht getroffen und Gold und Perlen nicht gespart würden. Hedwig antwortete: „Ich habe längst auf die Pracht dieser Welt verzichtet, jetzt beim Herannahen des Todes, dem so oft eine Gebärerin ausgesetzt ist, will ich mich nicht damit umgeben; nicht durch Gold und Edelsteine, sondern durch Ergebung und Demut gedenke ich dem allmächtigen Gott angenehm zu sein, der die Einsame zur fröhlichen Kindermutter macht und auch mir die Gnade der Mutterschaft gewährt hat.“

Am 14. Juni 1399 gebar sie eine Tochter, die alsbald in der Hauptkirche getauft wurde und zu dem königlichen Namen Elisabeth nach ihrem Taufpaten, dem Papste, den Namen Bonifazia erhielt. Kaum aber hatte Hedwig dem heißersehnten Kinde das Leben gegeben, so wurde ihr Zustand bedenklich. Die kleine Elisabeth selbst starb nach drei Tagen. Hedwig, der man es verschweigen wollte, ahnte und wusste es mit dem tiefen Gefühle der Mutter. Bald darauf begehrte sie die Sterbsakramente, nahm zärtlich Abschied von ihrem Gemahl, und gab in der Mittagsstunde des 17. Juli ihren Geist auf, erst achtundzwanzig Jahre alt.

Der päpstliche Gesandte bestattete sie in der Hauptkirche von Krakau, links vorm Hochaltare. Die Liebe des Volkes sah ihr als einer Heiligen nach. Jagellon, der sich nach ihrem Rate wieder vermählte, bewahrte den Trauring seiner liebsten Gattin als seinen kostbarsten Schatz, und vermachte ihn sterbend, als eine bleibende Mahnung zum treuen Dienste gegen das Vaterland, das Hedwig so sehr geliebt, dem Bischofe von Krakau, der ihm in einer Schlacht das Leben gerettet hatte.

Auf ihr Grab wurde die (lateinische) Inschrift gesetzt: „Hier liegt Hedwig, Polens Stern – sie wusste ihr Herz durch Vernunft zu zügeln und heldenhaft sich selbst zu überwinden. Sie war der Reichtum der Geistlichkeit, der Thau der Armen, die Säule der Kirche, der Schmuck des Adels, des Bürgers fromme Schützerin. Mächtig wollte sie nicht sein, sie war lieber milde. Ach, die Trösterin der Armen und Leidenden, unsere Mutter und Herrin, unsere Hoffnung und Zuversicht ist verschwunden. O König der Polen, nimm diese Königin der Polen auf und lass sie in Deinem Paradiese sein!“

Sophie von Bayern, Königin von Böhmen.

Geb. 1375. gest. 1429.

Im Jahre 1300 feierte die römische Kirche ihr großes päpstliches „Jubeljahr“. Wer an demselben fünfzehn Tage lang die Kirchen der Apostel zu Rom andächtig besuchte, bekam vollkommenen Ablass für ein ganzes sündiges Leben! Hunderttausende sammelten sich da in der „heiligen“ Stadt um den „heiligen“ Vater, dass es schien, das menschliche Geschlecht sei römisch und eine Familie. Aber vom Augenblick ihres höchsten Glanzes an musste die verweltlichte Kirche Riss um Riss erfahren: durch die Risse wollte das Licht des Evangeliums brechen. Im Jahre 1310 zog der Papst in die „babylonische Gefangenschaft“ nach Avignon. Als der Papst zu Avignon und der zu Rom einer den andern in den Bann zu tun begann (1378), da war es hohe Zeit, dass über der Christenheit ein neues Morgenrot aufging. Eine Hedwig hat ihren Polen die Bibel in ihrer Sprache geschenkt. Auch Deutschland soll sie bald bekommen – ein Dr. Tauler in Straßburg, Heinrich Suso in Ulm, J. Ruysbrook bei Brüssel, Heinrich von Nördlingen, Berthold von Regensburg und ihre Genossen mit ihren deutschen Predigten und gottinnigen Liedern machen offene Bahn (1340-1380). Wiclif predigt in England (1380), sein Schüler J. Hus in Böhmen dem Volke (1413). Das Licht kämpft fortan mit den Schatten des Todes und wie es kämpft in Männer- und Frauen-Herzen, bei Völkern und Fürsten!

Es war im Jahre 1392, da zog die schöne siebenzehnjährige Herzogin Sophie von Bayern nach dem stolzen, prachtvollen Prag zum prunkenden Beilager mit einem rohen und elenden, blutdürstigen und furchtbaren Manne. Wenzel, der König von Deutschland und Böhmen hatte seine erste tugendhafte und sanfte Gemahlin hinrichten und ihren Beichtvater Nepomuk über die Moldaubrücke stürzen lassen. Was hatte die zweite zu hoffen? Doch es erging ihr besser als zu befürchten war und sie durfte namentlich ihrem frommen Triebe zu Begabung von Kirchen und Stiften leben. Ihrem Eifer für die Förderung der Religion aber sollte sofort eine neue Richtung gegeben werden.

Johannes Hus hatte in der 1391 neugestifteten Bethlehemskapelle in der Altstadt von Prag mit einer unerhörten Kraft und Begeisterung das Evangelium zu predigen begonnen. Wie alle Welt, so ging auch Sophie dorthin zur Andacht. Sie sah in Hus, wenn er den Übermut und die Laster der Geistlichkeit, die lüsterne Pracht der Bischöfe geißelte, einen Boten des Himmels und den jungen Mann mit der langen, hagern Gestalt und mit dem bleichen, geistvollen Antlitz, mit dem unbescholtenen Wandel und der unbegrenzten Freundlichkeit gegen das Volk, mit der Fähigkeit Allen Alles zu werden, musste sie zu ihrem Beichtvater, Ratgeber und Vorleser über biblische Abschnitte haben, dem sie ganze Tage lang mit unverdrossener Aufmerksamkeit zuhören konnte. Hus war damals noch rechtgläubiger Katholik. Bald aber gewann ihn sein Freund Hieronymus von Prag für Wiclifs reformatorische Schriften und dies sowie das fleißige Lesen der Bibel brachten ihn immer weiter von Rom weg. Obwohl er sich in den Schranken aller Mäßigung hielt, wurde er doch alsbald verketzert, in Rom verklagt und dahin vorgeladen. Die Universität, der Hof, der König und die Königin traten für ihn ein und der Erzbischof von Prag erkannte den von Rom bereits gebannten Hus als rechtgläubig an. Sophie hatte sich und ihrem Manne eine Handbibel ins Deutsche übersetzen lassen, die noch in der kaiserlichen Bücherei zu Wien vorhanden ist. Als aber der Bann erneuert und Prag sogar mit dem päpstlichen Verbote jeder geistlichen Amtsverrichtung, weil Hus darinnen war, belegt wurde, vermochte Sophie denselben nicht länger zu schützen. Hus verließ die Stadt, kehrte aber auf die Nachricht von der bevorstehenden Kirchenversammlung zu Konstanz wieder zurück und mit gutem Zeugnis und Geleite zog er 1414 fröhlich dahin zur Verantwortung – und zum Scheiterhaufen, an den ihn der wortbrüchige Kaiser verriet.

Zorn und Ersetzen erfasste ob dieser Kunde ganz Böhmen und Wenzel sogar schien den allgemeinen Unwillen zu teilen. Sophie hielt den Märtyrer noch immer für katholisch-rechtgläubig und ihrem Herzen war der verklärte Hus noch teurer als der lebende. Als ihr Bruder Ernst sie damals besuchte, erschrak er ob ihrer hussitischen Reden und schalt sie aufs heftigste. Sie aber versicherte, auf den Glauben, den Hus gelehrt habe, wolle sie leben und sterben. Von Zorn überwältigt schrie darauf Ernst ihr zu: „stirbst du mit diesem Vorsatz, so wirst du dein Verbrechen beim Teufel in der Hölle ewig beweinen und die furchtbarsten Strafen erdulden müssen!“ Dazu gab er ihr eine Ohrfeige, dass ihr der Schleier vom Haupte fiel. Dann ritt er eiligst von dannen, den Zorn der Böhmen fürchtend. Von da an lebten ihre Brüder und Verwandten in feindschaftlicher Entfremdung von Sophie, die sie als Abgefallene verabscheuten. Als sie später landflüchtig umherirrten, suchten sie überall lieber Zuflucht, als bei der verhassten Schwester.

Indessen wurde es in Böhmen immer unruhiger, bald folgten Aufruhr und Gräuel und nachdem Wenzel im Schreck darüber, dass die Hussiten seine Räte aus den Fenstern des Prager Schlosses gestürzt hatten, unter fürchterlichem Gebrüll und Heulen am 16. August 1419 gestorben und ohne Sang und Klang, ohne Licht und Kreuz beigesetzt war, lösten sich alle Bande. Vom Schlosse Wisserat herab musste Sophie es ansehen, wie Kloster um Kloster, Kirche um Kirche in Flammen aufloderten und ihre Heiligtümer zertrümmert wurden, der Anblick der ungeheuren Gräuel des unter dem römischen Katholizismus nicht veredelten, von der Hussitenrache vertierten Volkes entschied Sophiens bis dahin schwankendes Urteil. Sie kehrte in den Schoß der katholischen Kirche zurück, der sie im Grunde nie ungetreu geworden war, die sie aber von bessern und frömmeren Geistlichen verwaltet wissen wollte. Sie raffte Kriegsvolk zusammen, brachte es zu einem Waffenstillstande, übergab dem Kaiser Sigismund die Regierung und verließ das blutbefleckte Böhmen, um in Ungarn der Buße und Andacht zu leben. Inzwischen hatten sich ihre Brüder mit ihr versöhnt, das Leben bei Hofe in Preßburg ließ ihr keine Ruhe, voll Sehnsucht rüstete sie sich zur Heimkehr in ihr Vaterland, da führte sie der Tod hinüber in die ewige Heimat (1429). Ihre Gebeine liegen bei St. Martin in Preßburg begraben. Das Gedächtnis der überaus klugen, gütigen, weisen und schönen Fürstin lebt in Ehren. Ihre tiefe Bekanntschaft mit der heiligen Schrift, ihre hohe Wohltätigkeit bleibt ihr Ruhm. Ausdrücklich wird gerühmt, wie sie öfters zu Prag arme Deutsche besucht und reichlich beschenkt habe, welche aus Meißen vertrieben worden waren, weil sie den Genuss des Kelches im heiligen Abendmahl nicht für unerlaubt hielten.

Ob das Gleichnis von dem Samen, der auf Felsen gefallen bald aufging, aber als die Hitze kam, schnell wieder verdorrte, auf sie anzuwenden ist, mögen wir nicht wohl fragen, noch weniger entscheiden. Wenn sie von den Revolutions-Gräueln der den Deutschen feindlichen Hussiten in die römische Kirche, für deren Reformation die Stunde noch nicht geschlagen, zurückgeschreckt wurde, so dürfen sich die Evangelischen nicht wundern, die Päpstlichen nicht berühmen; es ist das weder Tadel noch Verdienst Sophiens. War ihr Herz jener Felsen, so teilte sie ihn mit Vielen, und Hussens Kirchenverbesserungsplan musste in ihr wie in ihrem Volke scheitern, weil das Wort der Schrift noch nicht genug evangelische Erkenntnis und Buße gewirkt und so das gute Erdreich für den guten Samen bereitet hatte.

Die, wie von den meisten Sekten und Reformatoren vor der Reformation, immer mehr äußerlich gemeinte Verbesserung schlug immer auch mehr oder weniger in äußerliche Zerstörung und Selbstzerstörung um. Der rechte Säemann und Baumeister sollte erst nach hundert Jahren kommen. Was Hus nicht vermochte, setzte Luther durch, und was einer Sophia zu schwer ward, das nahmen andere Frauen auch in die siegreiche Hand.

Mechtilde und Barbara von Württemberg.

1400-1503.

„Hus die Gans“ war (1415) zu Konstanz verbrannt; er hörte im Geiste den Wittenberger Schwan ein anderes, nicht mehr durch Rauchdampf und Feuer zu erstickendes Lied von Gnade und Wahrheit singen. Indessen ließen sich die einmal wach gewordenen Stimmen, die nach Verbesserung der Kirche riefen, nirgends mehr unterdrücken.

Die Kirchenversammlung zu Konstanz und noch mehr die zu Basel (1431) machte eine Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern zur Losung des Jahrhunderts. In Rom fehlte der Wille und die Kraft dazu. Das Verderben der Geistlichkeit und der Klöster nahm überhand; je mehr dieselben zu Ehren und Gütern kamen, desto weniger wollten diese zu den klösterlichen Schwelgereien ausreichen. Was nun ein ernster Wille zum Bessern vermochte und – nicht vermochte, das zeigt uns der edelste und in der Liebe seiner Untertanen reichste Herr der damaligen Zeit, der vom Grafen zum Herzog erhöhte Eberhard im Bart von Württemberg. Gottes Geist und Leitung machte aus dem fast schon verlorenen Sohne einer bereits überall aus den Fugen gehenden Zeit einen Mann, der an Tugend und an Ehren reich wie keiner vor seinem Volke als Vorbild alles Löblichen herzog. Wer kennt ihn nicht, den herrlichen Mann, der mitten in seinen Jugendverirrungen sich aufraffend „Attempto“ sprach, „Ich hab’s gewagt“ und nun erfahren durfte, dass frisch gewagt ist halb gewonnen! Was er aber seiner Zeit und seinem Lande geworden und gewirkt, das hatte er nächst Gott und etlichen treuen Männern seiner Mutter und seiner Gemahlin zu danken.

Die Gräfin Henriette von Mömpelgard, eine herrschsüchtige, unruhige, schrankenlose Französin, ersah nach dem frühen Tode ihres Gemahls Eberhard (1419) für ihren älteren Sohn Ludwig eine Gemahlin in Mechtilde, der ältesten Tochter des Kurfürsten Ludwig von der Pfalz. Graf Ludwig war ein guter und frommer Fürst. Er und sein Bruder Ulrich („der Vielgeliebte“ von der Geistlichkeit genannt, die er so wohl bedachte, dass ihrer 900 zu seinem Leichenbegängnisse erschienen,) samt ihren Gemahlinnen gefielen sich ganz besonders in frommen Stiftungen zu einer Zeit, wo bereits der alte Vergabungseifer abzunehmen begann. Schon zu Anfang ihrer Regierung, noch ehe sie das Land geteilt hatten, gründeten und begabten sie mit ihren Frauen im stillen Felsentale bei Urach die Karthause Güterstein, um von ihrer dortigen Hofhaltung aus dem Gottesdienste ordentlich abwarten zu können. Auch nach der Teilung des Landes fuhren sie fort in ihren Stiftungen; die Geistlichen fanden immer mehr Eingang bei Hofe. Der Probst Spönlein von Herrenberg stand in Graf Ludwigs besonderem Vertrauen. Er war Doktor der Gottesgelahrtheit und der Arzneifunde zugleich. Als der erstgeborene Sohn der Mechtilde, Ludwig, von der fallenden Sucht heimgesucht wurde, hieß derselbe ihm Zettel und Amulette anhängen, auch allerlei Gelübde zu St. Velten, St. Apollonius und St. Ludwig tun. Als Mechtilde ihren zweiten Sohn gebar (11. Dez. 1445), war der Graf gerade auf Besuch bei dem Probste zu Herrenberg. Acht Tage darauf nahm er zu Urach die Taufe vor. Zu Paten des jungen Eberhard wurden gebeten der Bischof Heinrich von Konstanz und der Abt von Maulbronn, auch die meisten übrigen Gäste waren geistliche Herren. So hatte sich der württemberger Grafenhof aus einem ritterlichen in einen kirchlichen verwandelt. Leider starb der fromme Graf (1450) schnell an einer pestartigen Krankheit viel zu frühe für die Söhne, und diese kamen unter Vormundschaft. Nach wenigen Jahren starb (1457) der ältere Sohn Ludwig und der zwölfjährige Eberhard ward einziger Erbe. Kaum konnten die Vormundschaftsräte erwarten, bis er das vierzehnte Jahr erreichte, um ihn in die Regierung einzusetzen und über denselben ungehindert zu herrschen. Letzteres geschah auch zum Schaden des Landes, zum Verderben für Eberhards Leib und Seele, zum Jammer der Mutter, die den vaterlosen Sohn vom fünften Jahre an unter Aufsicht gehabt und ihn in der Zucht und Vermahnung zum Herrn nach der Weise ihrer Zeit und Kirche zu erziehen gesucht hatte. Der edle Samen aber, den die treffliche Mutter in ihn gelegt, konnte vor dem Versucher durch alle Jugendsünden und Verirrungen, in die der zuchtlose Herr sich verstricken ließ, nicht verderbt werden.

Frau Mechtilde wird gerühmt als Fürstin von hoher Tugend und Weisheit und von hellerer Einsicht in die Schrift, als manche Geistliche damals hatten. Eine Liebhaberin der Kunst, „dero guter Lümde (Leumund) aller Weisheit, Tugend und Menschlichkeit so groß ist, dass der mit Loben nit mag werden gemehret, noch mit Schelten gemindert“, heißt sie Nicolaus von Wyle, dem sie an ihrem Hofe, wo strenge Sitte und Zucht herrschte, „eine Tochter in ihrem Frauenzimmer erzogen, er wollte nicht, dass sie in dieser Zeit in einem Kloster reformierter Schwestern gewesen wäre“.

Leider, dass die Vormundschaftsräte es ihr verleideten, die Erziehung des Grafen zu vollenden. Als er dreizehn Jahre alt war, tat sie Verzicht auf die ein Jahr lang geführte Mitvormundschaft. Am Ende des folgenden Jahres trat sie in die zweite Ehe mit Erzherzog Albrecht von (Vorder-) Österreich. Das war dem Lande leid und ihr selbst unheilvoll, denn ihr Gemahl war ein übler Haushälter und nach seinem Tode wurde sie in bösen Streit verwickelt. Um so mehr blieb in ihrem Herzen „hie gut Württemberg allweg“ und sie wollte nach ihrem Tod bei ihrem ersten Gemahl in der Karthause Güterstein begraben werden. Für ihre Kinder aber hat sie zu sorgen nicht aufgehört, ja sie scheint jenen Schritt sogar um derselbenwillen getan zu haben, damit sie desto unabhängiger und von ihrer Residenz, Rothenburg am Neckar, aus, desto näher dieselben, die erst in Urach, dann in Tübingen mit den Vormündern lebten, überwachen und beraten könne. Für Eberhard hatte sie ohnehin eine besondere Vorliebe, immer blieb sie seine vertraute Freundin, sie wusste sein Jugendfeuer zu mäßigen und er hörte gerne auf ihren weisen Rat. Vielleicht war auch sie bei der trefflichen Wahl des ausgezeichneten Lehrers Johann Fergen (Nauclerus) für Eberhard beteiligt. Diesem Manne, der Eberhards vertrauter Freund und Ratgeber lebenslang blieb, befahlen die Vormünder, aus dem jungen Fürsten keinen Lateiner zu machen, sondern nur deutsch lesen und schreiben zu lehren! Das konnte der Wille Mechtildens nicht sein, denn sie war selbst mit den römischen Schriftstellern wohl vertraut und schrieb lateinische Briefe. Das Werk des Italieners Boccaccio „von den berühmten Frauen“ hat der Arzt Steinhöfel in Ulm deutsch übersetzt der Gräfin zugeeignet und der Stadtschreiber von Esslingen, Nikolaus von Wyle meldet in seinem „Lob der Frawen, wie die Frawen allzyt übertreffentlich gewesen synt“ von ihr, sie habe ihn einst im Beisein etlicher Edeln gefragt, ob er ihr noch nicht verdeutscht habe das Büchlein des alten römischen Weisen Seneka von den Sitten? Darauf habe er geantwortet: Nein, weil er etwas gefunden, das er nicht genug verstünde, entweder aus Mangel an Einsicht, oder weil es unrecht geschrieben stünde. Als sie nun weiter gefragt, was das wäre, habe er die Worte: Si vis omnibus esse notus, fac prius neminem noveris, gemeldet, welche also lauten: „willst du jedermann bekannt sein, so mach vor, dass du niemand kennst.“ Zu der Stunde habe sie nach kurzem Stillschweigen und Bedenken die Worte wiederholt und gesagt: ich meine, es habe diesen Sinn: „willst du, dass männiglich guts von dir sage, so richt dich vor dazu, dass du jedermanns Ding müßig stehest, dich auswendiger Dinge nicht bekümmerst, und allein ein Genügen habest an dir selbst, hierdurch wirst du männiglich bekannt.“ Nikolaus setzt hinzu, er habe seither Doktores der heiligen Schrift darüber gefragt und gefunden, dass Ihre Gnaden ihm alle seine Kunst aberraten hab.

Die Vormundschafts-Räte waren Männer von Adel ohne gelehrte Kenntnisse und wollten auch Eberhard nur zu einem wackeren Rittersmann bilden in einer Zeit, wo das Schwert doch nicht mehr allein entschied. Eberhard, schwachen Leibes, aber lebhaften Geistes, wurde, weil nicht in die Zucht des Lernens gebracht, vom Vater schon etwas verzärtelt und auch von der Mutter nicht allzu hart gehalten, ein ausgelassener Knabe und leichtsinniger Jüngling. Die Mutter verlor die Gewalt über den ungezügelten, ehrgeizig nach den Zügeln der Regierung greifenden Sohn, der nun ein wüstes Leben mit seinen neuen jungen Räten führte, in Frauenhäuser und selbst in Nonnenklöster eindrang, um mit seinen lustigen Gesellen darin Tag und Nacht zu schwelgen. Namentlich im Kloster zu Offenhausen bei Urach wiederhallte es von Mahlzeiten, Trinkgelagen und Tänzen. Die Basen und Freundinnen der jungen Ritter wurden gegen die strenge Priorin in Schutz genommen. Bald rechnete es sich jede junge Nonne zur Schande, wenn sie von keinem Liebhaber hätte erzählen können. Auf weitere Sünden und ihre Folgen war keine andere Strafe gesetzt, als kurze Entfernung aus dem Kloster, – damit die Wände nicht (von Kindern) beschrien würden und ein kleines Geschenk an den Beichtvater. Solche Sittenlosigkeiten herrschten in den meisten Klöstern damals, so hatten sich die Zeiten seit der heiligen Elisabetha verändert, so mussten die Steine nach einer Reformation schreien lernen.

Aber Eberhard erwachte aus seinem Rausche; vieles kam zusammen seine schwache Gesundheit, der Zerfall seines Hauses, sein noch mehr ausschweifender Vetter, dessen auch er sich noch schämen musste, das Andenken an seine erlauchten Vorfahren, die Erinnerungen seines sterbenden Vaters, ein Wort des Lehrers vom Herkules am Scheidewege, am meisten aber ein Wort des „alten Vaters“, des Priors von Güterstein und seine treue Mutter brachten ihn zur Besinnung: Attempto „ich wag’s“, wurde der Wahl- und Wahrspruch seines neuen Lebens. Er pilgerte (1468) ins heilige Land, die Palme, der Baum des Morgenlandes, der je mehr er beschwert wird, desto herrlicher wächst, nahm er sich mit in sein Wappen; „im Barte“, den er unterwegs sich hatte wachsen lassen, blieb er fortan; Italien besuchte er auf dem Heimzuge; reich an Kenntnissen, mit gekräftigter Gesundheit und neuer Liebe zur mütterlichen Heimat kehrte er von Neapel, Rom, Florenz, Bologna her über Verona, Meran, Landeck, Kempten, Memmingen und Ulm ins schöne württemberger Land zurück.

Sechs Jahre darauf, ein Jahr nachdem (1473) der Uracher Vertrag das Haus und Land Württemberg gesichert, ließ Markgraf Albrecht von Brandenburg den nun 29jährigen Fürsten auf seines Bruders, des Kurfürsten Johannes Enkelin, des Markgrafen Ludwigs von Mantua Tochter, Barbara, aus dem Hause Gonzaga, aufmerksam machen. Ritter Georg von Ehingen warb glücklich für Eberhard. Ein großes Fest wurde zur Heimführung bereitet. Der Markgraf von Mantua brachte seine Tochter selbst heraus; die Pfalzgrafen Ott und Philipp, Eberhards Mutter und andere Verwandte, mehrere Bischöfe und Prälaten, viele Grafen, Freiherrn und Edle, auch Städte-gesandte, in allem 14000 Gäste kamen in dem kleinen Urach zum 4. Juli 1474 zusammen; fünfhundert Eimer Landwein, zwölf Eimer Rheinwein und vier Eimer Malvasier wurden ausgetrunken. Für das Volk floss der Wein aus Brunnenröhren.

Eberhard fand in seiner Gemahlin seine angenehmsten Erwartungen erfüllt. Sie übertraf an Schönheit die meisten Frauen ihrer Zeit((In der öffentlichen Gemälde-Sammlung zu Stuttgart strahlt ihr altes Bildnis mit den regelmäßigen geistvollen Zügen als eine wahre Perle.)). Nach Geist und Herz besaß sie vorzügliche Eigenschaften und ihre Kenntnisse bewiesen eine sorgfältige Erziehung. Durch beides gewann sie Eberhards Liebe und Achtung. Sie schrieb lateinische Briefe und verstand die deutsche Sprache vollkommen. Ob sie gleich in Italien viel Glänzenderes gesehen, so wusste sie sich doch in den Kreis der deutschen Hausmutter zu finden. Welch ein Abstand von den herrlichen Ufern des Po gegen die Wälder und Gebirge Württembergs, und doch war sie recht gerne auf ihrer Maierei im Schönbuch (Hasenhof bei Waldenbuch), von welcher sie die fürstliche Küche versorgte. Als einst das Land von Teuerung gedrückt war, hörte man sie auf der Weinsteig (bei Stuttgart) sagen: „sie wolle gerne (mit den Landleuten) Speck und Erbsen essen;“ welche Rede lang zu ihrem Andenken ein Sprichwort blieb. – Eine Meile vom Hasenhof, in demselben Walde, näher bei Tübingen, hatte Eberhard ein Jagdhaus, genannt im Einsiedel, wo er oft verweilte; auch ein Stutenhaus mit Gärten war dabei, darin ergötzte er sich an der Pferdezucht, wie seine Gemahlin an ihrer Melkerei, welche mit auserlesenen Kühen und Rindern besetzt war.

Ein schönes Leben erblühte denn an dem Uracher Hofe. Eberhard hat nach seiner Vermählung die strengste Sitte beobachtet. Bei der Reformation der Frauenklöster nahm er seine Gemahlin mit, um mit ihrem Beistande die Sachen zu ordnen. Sie erfreute ihn mit einem Sohne, Ludwig, und einer Tochter, Elisabeth. Ob er wohl einen Sohn habe, schreibt Eberhard an einen Edelmann im Jahre 1487, sei es doch nicht genug, ihn gelüste noch mehr derselben zu überkommen. Allein Sohn und Tochter starben wieder frühzeitig und seine Gemahlin gebar nicht mehr. Schmerzlich bittere Empfindungen für sein ganzes Leben. Eberhard sah an seiner kenntnisreichen Mutter und Gemahlin den milden Einfluss der Wissenschaft und Religion auf das Leben. Tief bedauernd, dass seine Jugend durch die Vormünder so vernachlässigt war, suchte er nun das Mögliche hereinzubringen durch Anstellung berühmter Gelehrten, wie seines Lehrers Nauklerus, des ausgezeichneten Gottesgelehrten Biel und des geistvollen Reuchlin, durch fleißiges Anschaffen und Lesen von Büchern, unter welchen sein Handbuch, ein deutsches, in schöner Schrift auf Pergament niedlich gemaltes Evangelium Johannis mit angehängten Gebeten war. Auch eine (1482 unternommene) zweite Reise nach Italien in Reuchlins Gesellschaft sollte ihn fördern. Zu Florenz sah er da bei Lorenz von Medici die fürstliche Gemahlin mit ihren Töchtern auf der einen und die Söhne mit ihrem Lehrer auf der andern Seite des Saales beschäftigt, dass er begeistert und seiner Barbara gedenkend ausrief: „Ja wohl, was könnte schöner sein als diese Zucht und Ordnung!“ In Rom erhielt er die goldene Rose, die der Papst nur dem ausgezeichnetsten Fürsten jährlich weihte, aber er sah auch, wie Luther später, Vieles, was ihn von seiner unbegrenzten Verehrung des heiligen Stuhles zurückbrachte. Einer der zwei Kardinäle, die ihn in des Papstes Auftrag zur Peterskirche begleiteten, wurde an seiner Seite von einem Banditen erstochen. „O heiliges Rom“!

Eberhards Mutter Mechthilde hatte mit ihrem zweiten Gemahl, Erzherzog Albrecht (1463) die Universität Freiburg gestiftet. Wie bezeichnend für unsere Zeit; nicht sowohl Klöster mehr als Schulen waren jetzt das wesentliche Mittel innerer Mission. Ihr Beispiel und was er selbst zu Heidelberg gesehen, bewog ihn ein gleiches zu tun und er rühmt es ausdrücklich in den Urkunden, dass seine Mutter hauptsächlich durch ihre Stiftungen mitgewirkt habe, durch Begründung der hohen Schule zu Tübingen „der ganzen Christenheit zu Trost, Hilfe und Macht wider die Feinde unseres Glaubens, unserer ganzen Herrschaft Württemberg zu Lob, Ehre und Nutzen helfen zu graben den Brunnen des Lebens, woraus von allen Enden unersichtlich tröstliche und heilsame Weisheit zur Erlöschung des verderblichen Feuers menschlicher Unvernunft und Blindheit geschöpft werden möge.“(1477). Bedürfte es nach solchen Worten noch weiteren Zeugnisses, in welchem Geiste Mutter und Sohn die Universität aufgerichtet wissen wollten, so mögen wir hören, wie einer der ersten Lehrer, Scriptoris hieß er, offen erklärte, in der Kirchenlehre müsse von nun an alles nach dem Worte Gottes geprüft werden und was da nicht stehe, z. B. die katholische Lehre von der Verwandlung des Brotes in den Leib Jesu (Fronleichnam) sei klarer Irrtum. Freilich wurde er ob seiner freimütigen Predigt gegen die Missbräuche der Priester und Klöster durch seine Ordensbrüder vertrieben. Gabriel Biel auch, der Lehrer des Staupitz in Tübingen behauptete geradezu, christliche Fürsten haben das Recht, kirchliche Gesetze zu geben, die Kirchenversammlung stehe über dem Papste und dieser könne irren, weshalb man für ihn beten, nicht aber seinen Pantoffel küssen müsse. So leuchtete Tübingen als eine Stadt auf dem Berge im Morgenrot einer bessern, evangelischen Zeit. Ein fremder Gottesgelehrter aber, der von Rom nach Tübingen kam, fand es seltsam, dass man hier den heidnischen Weisen Aristoteles verlasse und die Bibel hervorsuche, in der man doch nichts weiter finde, als was auch der gemeinste Menschenverstand begreifen könne.

Eines forderte und förderte das andere. Gleich nach Gründung der Universität sollten die zuchtlosen Klöster gesäubert werden, hier zu reformieren hielt Eberhard für eine heilige Aufgabe. Mussten ihn doch seine Erinnerungen von Offenhausen als ein Brandmal im Gewissen brennen. Wie musste es aussehen damals, wenn z. B. zu Adelberg ein Manns- und Frauenkloster als „Madelberg“ beisammen war! Trotz dem Widerstreben der Nonnen wurden sie von dort nach Laufen versetzt. Die Bischöfe unterstützten die Sache schlecht; mit Umsicht, aber streng suchte Eberhard Königsbronn, Denkendorf und andere Klöster vor äußerem und innerem Verderben zu retten. Hatte seine Mutter die hohe Schule stiften helfen, so war bei der Reformation der Klöster seine Gemahlin am Platze. Barbara hatte vom Papste die besondere Vergünstigung erhalten, mit einer gesetzten Zahl Jungfrauen in allen Frauenklöstern, welche in den Württembergischen Landen lagen, einzukehren. Von diesem Vorrecht machte sie nun auch Gebrauch, um ihrem Gemahl bei dem Reformationsgeschäfte beizustehen. Offenhausen, wo er den Anfang gemacht, wollte noch immer nicht in Ordnung kommen. Er kam wieder selbst und wollte ganz unerbittlich sein; doch bewilligte er den Nonnen auf ihr Verlangen einen alten ehrlichen Beicht-Vater. Diesem ging es wie vorher den Muster-Nonnen, welche man von Pforzheim berufen hatte. Sie legten ihm Scherben und andere zerbrechliche Dinge auf die Treppe, um seine Ankunft zu hören und das Verbotene wegschaffen zu können. Er erkrankte und erhielt einen andern Nachfolger; dieser wurde auch weggebissen unter dem Vorwande, dass er aus der Beichte schwatze. Die Nonnen hatten eine Zeitlang wenig Novizen aufgenommen, um desto mehr für sich zu behalten; jetzt nahmen sie Töchter des benachbarten Adels auf, von welchem sie sich besonderen Schutz versprachen. Dies untersagte Eberhard. Als die Nonnen merkten, dass ernstlichere Anstalten gegen sie gemacht wurden, wollten sie noch wegbringen, was sie konnten, oder verkauften und vergruben, was im Kloster war. Eberhard ließ aber noch zu rechter Zeit die Kirchenkostbarkeiten und Briefe nach Güterstein bringen. Er schickte seinen Kanzler mit neuen Reformierschwestern und einem Beichtvater, dann kam er selbst mit seiner Gemahlin und einem ansehnlichen Gefolge. Die alten Nonnen wurden der Verwaltung entsetzt; einige entdeckten, was sie versteckt hatten, und versprachen Besserung. Da sie dies wieder nicht hielten, wurden sie in andere Klöster gesteckt. Einige endigten ihr Leben als elende Landstreicherinnen. Als nach drei Jahren ein Blitzstrahl die Kirche traf, und eine der Reformierschwestern tötete, wollte die Sache wieder wanken. Doch blieb die neue Verwaltung standhaft; man lernte sich mit Wenigem begnügen; es wurden junge, unverdorbene Mädchen aufgenommen, und so kam das Kloster endlich in guten Ruf.

Das Frauenkloster zu Kirchheim haben die Grafen gemeinschaftlich reformiert. Eberhard fand bei seinem Besuch die Anstalten der Reformierschwestern so gut, dass er ihnen aus Höflichkeit sagte, er wolle seine Gemahlin zu ihnen schicken, „um sie auch geistlich zu machen“.

Eberhard war kein Feind der Mönchsorden, aber ein unversöhnlicher Feind ihrer Ausartung. Er hoffte sie zeitgemäß verbessern zu können und ließ sich selbst in die Brüderschaft von zwölf verschiedenen Orden aufnehmen, um sich deren Fürbitten und guten Werke teilhaftig zu machen. Dennoch erwartete er weniger von den einmal für immer verblühten Klöstern, als von den Collegialstiften; ihnen gab er eine verbesserte Regel nach der Congregation der Chorherren zu Windsheim (Windesem bei Zwoll), welche schon zu Anfang des 14. Jahrhunderts von Gerhard Groote, Canonicus zu Utrecht, und Florentinus Radewin – diesen Vorläufern der Reformation – gegründet worden. Es lag darin die wohltätige Absicht, die Weltgeistlichen ihrer ersten Bestimmung wieder näher zu bringen, indem sie neben den Andachtsstunden hauptsächlich mit dem Volksunterricht, dabei auch mit Handarbeit und mit Bücherabschreiben sich beschäftigen sollten. Eine ihrer Hauptvorschriften war, die Bibel in deutscher Sprache zu lesen. Die Regel dieser Congregation sollte die Mitte halten zwischen der Ungebundenheit der gewöhnlichen Weltgeistlichen und der geisttötenden Sklaverei des Mönchwesens. Diese Chorherren hießen Brüder des gemeinen Lebens (von ihrem gemeinschaftlichen Zusammenleben), bei dem gemeinen Mann Kappen- oder Gugelherren (von ihrer Tracht). Mit der Einführung dieser Regel gewann Eberhard zugleich Männer, wie Gabriel Biel.

Jenes Jagdhaus im Schönbuch, das ihm so manchen frohen Tag zurückrief, das er nach seiner Rückkehr aus dem heiligen Lande zunächst nach Güterstein besucht hatte, und wohin er auch von dem nahen Tübingen öfter kam, war ihm nicht zu wert, dass er es nicht zu einer neuen Stiftung obiger Art, die er ganz aus seinen eigenen Gütern machte, hätte widmen wollen. Er tat dies in demselben denkwürdigen Jahr, da er, von einer schweren Krankheit genesen, den Esslinger Vertrag schloss, einen Regiments-Rat aus den drei Ständen des Landes ersah, und darauf sein Testament errichtete.

„Nach langem Nachdenken,“ sagt Eberhard in der Stiftungsurkunde, was er wohl in schuldiger und billiger Dankbarkeit und zur Ehre Gottes, von welchem alle Güter und Herrschaft kommen, und zur Mehrung des göttlichen Dienstes, auch zu seinem und der Seinigen Seelenheil, besonders aber zur Wiederkehrung und Erstattung unrechten Gutes, so er den rechten Erben nicht wüsste, stiften und aufrichten möchte, seien ihm durch innere Erleuchtung eingefallen, da er in seiner Herrschaft und Regierung dreierlei Stände habe, Geistliche, Adel, Städte und gemein Volk, aus diesen dreien Ständen einen Konvent zu errichten, damit diejenigen, welche gern in Ruhe und Abgeschiedenheit Gott dienen wollten, und doch die Strenge anderer Orden zu scharf fänden, unter dem sanfteren Joche dieser heiligen Versammlung, ohne weitere Beschwerung, mit Besserung ihres Lebens Gott getreulich dienen und ihr Seelenheil mit Sicherheit erlangen möchten.

In diesem Stifte, so verordnet Eberhard weiter, sollen 12 Canonici, Priester und Kleriker, nach der Zahl der 12 Apostel, unter einem Probst oder Vater, sodann 24 Laienbrüder oder Conversen unter einem Meister, das von zwölf vom Adel oder rittermäßige aus der Herrschaft Württemberg oder in deren Ermanglung aus dem Lande Schwaben, die andern zwölf aber aus ehrbaren Bürgern von der Landschaft Württemberg, zusammen in Gemeinschaft leben, und ein Kapitel ausmachen, das dem General-Kapitel der „Brüder des gemeinen Lebens“ in deutschen Landen und dessen Satzungen unterworfen sein solle. Ihr Name soll sein St. Peters Brüder, ihre Kleidung sollte blau sein. Zu diesem Stifte der blauen Mönche zu St. Peter im Einsiedel vergabte Eberhard mit Zustimmung seiner Gemahlin als Mitstifterin sein neues Haus in der Widem im Schönbuch, nebst andern Gebäuden, Gründen und Gütern. Ferner vermachte er ihm 18000 Gulden von dem Erbe seiner treuen Mutter, welche nachdem sie wiederholt ihm Friedensstifterin und Vermittlerin zwischen Gegnern gewesen, in dem stillen Güterstein zum ewigen Frieden eingegangen war.

Ein gemeinsames Leben sollten die Brüder führen, alle Güter sollten sie gemein haben, ein Herz und eine Seele sein, Tag und Nacht Gott dienen, züchtigen Wandels sein, freundlich und friedlich als Brüder gedenken, dass sie alle gleich von einem ersten Vater Adam kommen, auch durch Eine Pforte des Todes für das strenge Gericht und Urteil Gottes kommen sollen, so sollen sie über ihren Zorn nie die Sonne untergehen lassen, ihre Rede nicht unnütz, sondern Ja Ja, Nein Nein sein lassen; während des Essens soll Stille herrschen und der Leser deutsche Bücher lesen, aus der Bibel, die heil. Evangelien, von dem Leben der Heiligen, „auf dass, so der Leib gespeist wird, die Seele nit leer und hungrig bleibe.“ Keiner soll müßig gehen, sondern allzeit etwas Gutes schaffen, als beten, lesen, schreiben, Bücher binden, drehen, schnitzeln, hobeln, Garn stricken, Wasser brennen. Ein Almüsner soll die übrigen Speisen und das Almosen täglich austeilen, besonders hausarmen Leuten von den beiliegenden Dörfern. So sollen sie voll Almosen sein und guter Werke, sittig und keusch; keine Frauensperson soll in den Beschluss des Hauses eingehen, ausgenommen die Frau des Landes, wenn diese des Jahres einmal und nicht weiter darein begehrt mit ihren Jungfrauen, doch nicht weiter, als in die allgemeinen Gemächer, auch nicht nach Vesperzeit darin bleiben.

Bei seinen damaligen Gesundheitsumständen und Gemütsstimmungen (1492) hatte Eberhard wohl im Sinne, selbst unter den blauen Mönchen seine Tage zu beschließen. Er wollte wenigstens laut seinem letzten Willen an diesem stillen Orte begraben sein. (1580 brannte das Stift ab und von seinen Steinen wurde die „edle Schule“ zu Tübingen gebaut). Ein Jahr nachdem er zum Herzog erhoben war, kam Eberhard zu seiner Ruhe (1496), noch ehe das Stift ganz besetzt war; und wohl ihm, denn er hätte nur sehen müssen, wie sein bester Wille ohne dauernden Erfolg blieb. Dass Menschen aus allen Ständen, arm und reich, Geistliche, Edle und Bürger in Gemeinschaft leben und sich gleich betrachten sollten, wie hoch dachte dieser herrliche Mann; dass Alles in altapostolischer Einfalt und Gemeinschaft stehen soll, welch ein wichtiger Versuch zur Rückkehr in die Zeit vor der katholischen Kirche. Aber es war bald steter Unfriede im Stifte zwischen den Laienbrüdern vom Ritter- und Bürgerstande, die alten Orden waren ihm tödlich feind. Eberhard hoffte vergeblich das Mönchstum aus sich selbst zu verbessern; umsonst war sein heißester Wunsch: noch eine allgemeine Kirchenversammlung, eine Reformation in Haupt und Gliedern zu erleben. Es war kein Rat noch Hilfe, ehe der Bergmannssohn von Eisleben, der bei Eberhards Tod bereits bei Frau Cotta in Eisenach wohlversorgt war, mit dem Hammer (des göttlichen Wortes), der Felsen zerschmeißt, an die versteinerte Kirche des „Nachfolgers Petri“ seine Schläge getan. Eberhards Nachfolger im Regimente, „der jüngere“, forderte alsbald die verwitwete Herzogin auf, das Stift aufzuheben, ungeachtet er seinem Vetter die Erhaltung desselben urkundlich zugesichert hatte.

Barbara erhielt von ihrem Manne außer dem Widdum1 Wittum (lateinisch Vidualitium), Widum, Widdum, Witthum oder Wedem ist ein Begriff aus der mittelalterlichen Rechtssprache. Das Wort „widum“ und „wittum“ leitet sich von derselben Wurzel her wie „widmen“; Widum und Wittum bezeichnet also ein „gewidmetes Gut“, in Tirol und Südtirol heute noch gebraucht als Bezeichnung für einen Pfarrhof. Im deutschen, mittelalterlichen Recht wurde damit auch die Witwenversorgung aus dem Nachlass genannt, da auch diese „gewidmete Güter“ waren; die Verknüpfung des Wortes Widum mit Witwe (und die daraus resultierende Schreibweise mit tt anstelle von d) ist eine Volksetymologie. , das Eberhard „seiner lieben Gemahlin“ verschrieben, zum Andenken seinen Trinkbecher von lauterem Golde.

Zwei Jahre nach seinem Tode erschreckte sie der Tumult gegen den jüngern Eberhard so sehr, dass sie ihre besten Sachen nach Ulm flüchtete. Nach achtjährigem Witwenstande starb sie zu Böblingen in ihrem Widdumsitze den 21. Mai 1503 und wurde im Frauenkloster zu Kirchheim begraben, wo sie eben so gerne war, als ihr Gemahl zu Einsiedel. Ihr Gedächtnis lebt noch heute bei den Einwohnern des Schönbuchwaldes, die als Nachbarn ihres Hasenhofes verschiedene Rechte und Gnaden ihr verdanken. Aber auch wer nur einmal von ihnen gehört, dem wird Eberhards Mutter und Gemahlin unvergesslich bleiben.

Sidonie, Herzogin von Sachsen

geb. 1450. gest. 1510.

In der Fürstengruft des Domes zu Meißen ruht das Bruderpaar Ernst und Albrecht, das im Jahr 1485, durch schlimme Einflüsterungen bewogen, das sächsische Haus und Land in die zwei Linien teilte. Nicht weit von dem „Ruhestättlein“ Ernsts ist das Grabmal des Stammvaters der Albertiner, Albrecht des Beherzten, des deutschen Roland, wie ihn die Krieger nannten, des Junkers von Grimm, wie er sich selbst bezeichnete und wie er von dem muntern sächsischen Bergvolke begrüßt ward.

Die Inschrift auf dem Grabe des ritterlichen Mannes besagt, er sei im Dienste des heiligen Reiches zu Emden gestorben. Diese Grabstätte weist hinüber zu der andern, worin die tugendhafte Fürstin, „Frau Zedone, geborene von Behaym ruht, die gewesen ein Gemahl des hochberühmten Fürsten, Herrn Albrechts.“ Auch die Burg in Meißen, die nach Albrechts Namen genannt ist und die beinahe verfallenen Mauern Tharandts rufen ihr Gedächtnis zurück. Dort hielt Sidonie oft Hof, wenn ihr Gemahl im Dienste des Kaisers, fern vom Vaterlande weilte, hier verlebte sie ihre Witwenzeit.

Schon als neunjähriges Kind war Sidonie, die Stammmutter der albertinischen Linie, dem jungen Herzog Albrecht zu Eger vermählt worden. Das Beilager ward erst 1464 vollzogen. Sidoniens Vater, Georg von Podiebrad gehört zu den gefeiertsten Königen Böhmens. Eigene Trefflichkeit hatte ihn auf den Thron erhoben. Er stand über seiner Zeit und trat namentlich päpstlichen Übergriffen, wie sich einem Könige gebührt, entgegen. Die Verbindung von Sidonie und Albrecht sollte ein Sühnungsmittel zwischen Sachsen und Böhmen sein. Es sollte dadurch alter Unwille um verweigerter Ansprüche willen „aus den Herzen gereudet“ werden; so war Sidonie, das junge Königskind aus Böhmen, eine willkommene Botin des Friedens für Sachsenland. Von dem an aber endete auch ihre politische Bedeutung für dasselbe. Sie erscheint nunmehr einfach als fürstliche Hausfrau und Mutter in dem Stillleben des sächsisch-meißnischen Fürstenstammes jener Zeit und wenn sie je an den öffentlichen Angelegenheiten des Landes und seiner Verwaltung Teil nahm, so geschah dies nur mit Rücksicht auf den unmittelbaren Kreis des weiblichen Waltens.

Da ist sie denn die liebende und sorgende Mutter, die ihren Gemahl ehrende Fürstin, die Fürsprecherin der Unglücklichen, die Helferin der Dürftigen, die treue, jedoch Andersdenkende nicht hassende, vielmehr sanfte Anhängerin ihrer Kirche. Eine Reihe noch vorhandener Briefe aus der Zeit ihres häuslichen Lebens bezeichnet ganz die Art ihres Waltens und den nicht geringen Grad schlichter Bildung, den Sidonie in mannigfacher Hinsicht besaß.

Sidonie war eine glückliche Mutter. Sie hatte zwar mehrere Söhne und Töchter durch den Tod verloren, diese waren aber in zarter Kindheit gestorben, und es blieben ihr bis zu der Zeit, wo sie selbst heimging, drei Söhne, an denen sie Freude erlebte: Georg, Heinrich, Friedrich, und eine Tochter, Katharine, in zweiter Ehe mit Erich von Braunschweig verheiratet.

Als ihr Gemahl nach den Niederlanden zog, um in Kaiser Maximilians Namen Gewalt zu haben und „zu tun und zu lassen, als der König selbst“, lehnte Sidonie es ab, wie dieser wohl wünschte, in das fremde Land zu folgen. Sie zog es vor, in der Nähe ihres geliebten Sohnes Georg zu bleiben. „Dieweil denn“, schrieb Albrecht an Georg, „mein Weib nicht Willen hat, in Niederland zu ziehen, und auch nicht willens ist, bei dir selber am Hofe zu leben, deshalb sie sich vorgenommen, gen Meißen auf unser Schloss zu ziehen, völlig da unserm Herrgott zu dienen bei dem löblichen Stift, wie sie mich berichtet, so wollest du mit Herr Hansen und dem Hofmeister zu ihr gehen und sie befragen, was ihr redlich Gemüt hierin sei“. Albrecht befahl dem Sohne, der Herzogin „Stuben, Kammern und Wesen in der großen Kemenaten zurichten zu lassen und so zu versorgen, damit sie nicht Gebrechen habe.“ Vierteljährig sollte sie außer dem hundert Gulden ausgezahlt erhalten.

Alles deutet darauf hin, dass Sidonie nur einen mäßigen Hofstaat wünschte und den bisherigen einschränkte. Sie betrachtete sich gleichsam als verwitwet, entsagte äußerem Glanze und war mehr auf kirchliche Übungen bedacht. Sie entließ viele ihrer Diener und Hoffräulein. Den kirchlichen Übungen obliegend, hatte sie wohl „eine hitzige Andacht“ aber diese war fern von falschem Eifer, von Verfolgungssucht, ein wirklich frommer Sinn und eine redliche Meinung spricht sich bei ihr aus. Immerhin bildet ihre streng römisch-kirchliche Überzeugung einen Gegensatz zu der viel freieren Lehre, zu der sich ihr Vater Georg Podiebrad bekannte. Dieser hatte oft genug des Papstes Unwillen auf sich geladen, weil er die Grundsätze des Johannes Hus und die gegenpäpstlichen Satzungen des Basler Konzils zu bekennen und zu verteidigen kein Bedenken trug.

Der Sinn Sidoniens geht vollständig hervor aus ihren Briefen an ihr „herzallerliebstes Söhnlein“ Georg. Sie hatte eine Stiftung errichtet zu Begehung des Festes der heiligen Lanze, womit nach der kirchlichen Sage der Hauptmann Longinus den Leib Jesu durchstochen haben soll. In Bezug darauf schreibt sie ihrem Sohne, er möge sich des Ablasses teilhaftig machen, den der Papst und der Bischof zu diesem Feste gespendet. Fast in jedem Briefe erwähnt sie eines Planes zu dieser oder jener Stiftung, z. B. – etwa „zu Lob St. Paul und seiner Bekehrung, Gott helf mir zu der Seelen Seligkeit“, weswegen sie sich dem Sohne nicht so habe widmen können, als sie gern wollte, und er vielleicht „in eine kalte Küche gekommen ist“. War irgend ein Geistlicher in besonderem Rufe von Frömmigkeit, so sah sie es gern, wenn ihre Söhne ihn kennen lernten. „Ich schicke dir,“ heißt es in einem Briefe, „Doktor Proles, dem hab ich befohlen, dass er einen frommen Menschen aus dir machen soll, er bringt dir ein gar säuberlich Bild der Mutter Gottes und das Kindel hat schier eine solche Fisomey (Physiognomie) des Antlitz halb als du, an dem wirst erkennen, wie du gestalt bist.“ Oft sendete sie ihm Bücher, welche sich auf geistliche Dinge bezogen und überhaupt verwendete sie sich für Verbreitung solcher Schriften, die ihr lieb waren. Bezeichnend und ein Verdienst zur inneren Mission ist es für sie, dass sie sich insbesondere der Schriften Johann Taulers, aus denen Doktor Luther gerade damals so viel lernte, ernstlich annahm. „Nachdem ich mit dir geredet hab des Buches halb, genannt der Tauler (das man (1498) zu Leipzig gedruckt und von etlichen gehemmt wird zu verkaufen), bitt ich dich aufs freundlichste, mein herzallerliebster Sohn, du wollest es Gott dem Allmächtigen zu Lobe, auch um unser aller Seligkeit willen tun, dass die Bücher ausgehen und verkauft werden mögen, denn ich kann nicht anders denken, denn dass der Feind der menschlichen Seligkeit durch etliche (in gutem Schein) solche Bücher zu verkaufen betrüglich verhindert oder hemmt; er erkennt auch, dass ihm vielleicht dadurch manche Seele entzogen wird, daran tut er wie er kann, auf dass die guten Werke verhindert und nachgelassen werden. Das Buch lehret nichts denn grundlose Demut und sich selbst erkennen, auch die Welt und alle zeitlichen Dinge verschmähen und verachten. Mein herzallerliebstes Kind, ich bitte dich nach wie vor, du wollest den ewigen fröhlichen Lohn von Gott empfangen und mir die Bitte gewähren, du magst mir wahrlich glauben, dass sich des Buches, aus dem die andern gedruckt sind, 6 Menschen, die ich weiß, fast sehr gebessert haben und vom irren Leben in gute vollkommene Leben gelangen und von Tag zu Tag zunehmen. Merk, wie es um die Welt stünd, wenn fromme andächtige Menschen nichts täten. Demnach bitt ich dich, du wollest dazu vörderlich, dass du in der Weise voll und genüglich tust und dich aller guten Werk teilhaftig machen, die von den Menschen geschehen, die sich des Buches (aus dem Buche) gebessert.“

Weniger anziehend sind die Mahnungen an Benutzung der damals festgesetzten vielen Ablasstage und dergleichen Ähnliches. So sendet Sidonie ihrem Sohne Georg ein Buch mit der Bemerkung, dass er darin sehen werde, „auf welchen Tag und wie viel er Ablass verdienen könne, und ihn auffordert, sich ja genau zu merken, wenn der Ablass in zweien oder dreien Kirchen sei, wegen jeder Kirche besonders zwei Altäre zu nehmen, wenn sie schon in einer und derselben Kirche „wären.“ „Nimm den Ablass an,“ sagt die Herzogin, „denn er ist dir nicht schädlich, dient er dir nicht vor die Pein, so mehrt er dir das Verdienst bei Gott.“ Namentlich ängstigte sich Sidonie, wenn Todesfälle in der fürstlichen Familie eingetreten waren. Es wurden dann die Mahnungen zum Gebet und zur Buße immer dringender; es bewegte sich das freundliche Wohlwollen Sidoniens mit Hast und Eile in dem Kreise der kirchlichen Satzungen. Als Kurfürst Ernst gestorben war, äußerte die Herzogin gegen ihren Sohn Georg, „du hast diese Woche (bis) ganz zu End, Vergebung (von) Pein und Schuld an dem zufälligen Ablass, denselbigen Tag als du in dem Büchlein lesen wirst und steht bis zu künftige Mittwoch nach Ostern und diese mit eingeschlossen, und auf diese Mittwoch hast du eine Seele aus dem Fegfeuer zu erlösen, ich bitte dich, komm deines Vettern Herzogs Ernsts Seele mit dem Ablass zu Hilfe, oder ordne es so, wenn es die Seele nicht dürft (bedürfte), dass du den elendesten Seelen im Fegfeuer zu Hilfe kommst.“

Nach des Gemahls Heimgang tat Sidonie eine gleiche Mahnung an ihren Sohn Friedrich, Hochmeister des „löblichen deutschen Ordens in Preußen.“ Sie drückt zugleich Freude aus über das Wohlbefinden des entfernten Sohnes, „und ich bitt euch,“ hieß es weiter, „ihr wollt mich in eurem Gebet und freundlichen Gedanken haben, auch der Seele eures lieben Vaters nicht vergessen, sondern täglich mit sonderbarem Gebet gegen Gott und die Mutter Gottes auch aller Heiligen gedenken, so ihr ihm denn mit dem Gebet und andern guten Werken vor das Angesicht Gottes helfet, alsdann wird er nicht aufhören, bis er euch dahin hilft, da ihr auch gerne seid und euch mit ihm zu ewigen Zeiten freuet. Herzliebster Sohn, ich bin sonder Zweifel, ihr seid die Dinge von euch selbst zu tun geneigt, jedoch so bewegt mich die Liebe, die ich zu ihm trage dazu, dass ich euch deshalb schreiben muss. Damit befehl ich allezeit Gott dem Allmächtigen in seine göttliche Gnade und Bewahrung, auch der Gebärerin Gottes euer eheliches Gemahl, die euch allezeit vor allem Übel bewahre.“

Doch erinnerte sich die Herzogin inmitten dieser ihr Gemüt beschäftigenden Betrachtungen auch des leiblichen Haushalts und schrieb bei den dringendsten Empfehlungen, Ablass zu suchen, dem Herzog Georg: „ich bitte dich, herzallerliebster Sohn, du wollest mich auf diese heilige Zeit (Ostern) mit Wildpret versorgen,“ aber gleich empfiehlt sie, mehr als einen Altar zu nehmen, d. h. mehr als eine Messe halten zu lassen) „mit dem Zusage, wir können ihm nimmer zu viel tun.“

Zuweilen ließ sich Sidonie Bücher aus der lateinischen Sprache ins Deutsche übersetzen. Dies Geschäft war unter andern dem Meister Ludwig an Georgs Hofe übertragen. Die Fürstin schreibt deshalb ihrem Sohne: „ich hab dich gebeten, du wollest Fleiß ankehren, dass mir Meister Ludwig das andere Teil verdeutschen wolle, als ihm anzeigig ist, hätt er etwas davon zu tun angefangen, bitt ich dich, du wollest Fleiß ankehren, dass er es vollend verdeutscht, er soll es nicht umsonst tun, ich will ihm gern ein Badhemd darum machen lassen, hat er aber nichts daran gemacht, so schick mir das Buch wieder, ich verseh mich, ich will hier jemand bekommen, der mir es umsonst verdeutscht.“
Sidoniens Bücherschak mochte meist aus Legenden und andern dergleichen Schriften bestehen, die sie auch gern weglieh, aber dann pünktlich wieder einforderte, und zwar durch den Herzog Georg selbst. „Noch hab ich,“ schreibt sie, „Maltig die Legend Sancti Francisci geliehen, ich bitt dich, du wollest ihm sagen, dass er mir sie eher je besser wieder schicke.“

Doch nicht immer fand Sidonie bei Herzog Georg, selbst in Dingen der Kirche, ganz unbedingtes Gehör, wenn schon das liebevolle Verhältnis zwischen Mutter und Sohn nie erkaltete. Die vom Herzog zu nehmenden Regierungsrücksichten traten gewiss hin und wieder mit den, wenn auch kleinen Begehren der sorgenden Sidonie in Zwiespalt. In solchen Fällen suchte, wie es scheint, der Herzog die Sache stillschweigend zu verschieben, hoffend, Sidonie werde nicht auf diesem oder jenem Wunsche beharren.

Betrachtet man den späteren Zorn Georgs gegen Luther und die Freunde der Kirchenverbesserung, so müssen traurige Schicksale und dadurch hervorgerufene trübe Stimmung und Weltansicht des Herzogs mit in Rechnung gebracht werden, ein unbedingt in den Fesseln rohen Priesterwesens und in den Schranken mechanischen, Kern und Hülle verwechselnden äußerlichen Dienstes der Kirche ruhender Geist war Georg an sich nicht. Obgleich über das Wesen der Religion befangen und hier nicht über den Dingen stehend, war ihm doch vieles zuwider, was von der Priesterschaft sehr begünstigt ward. Es ist bekannt, wie schwer er daran ging, Ablasskrämer im Lande herumziehen zu lassen. Noch im Jahre 1517 schrieb Georg entrüstet an den Prior und Konvent zu Leipzig, er werde berichtet, dass Herr Tezel und etliche seines Anhanges in dem Kloster Gnadenbriefe auszugeben sich unterstünden und die Untertanen solche zu lösen in Predigten anreißen. Der Herzog missbilligte, dass dies Alles „hinter des Landesfürsten Wissen und Willen“ verstattet worden sei, da es aber einmal geschehen, so könne er es jetzt nicht ändern. Doch befahl Georg das Geld ohne seinen Befehl nicht herauszugeben, „da es oftmals an die Orte, dahin es gehört, nicht geantwortet und zu andern Sachen, als wozu es bestimmt, gebraucht werde.“

Die Meisten zu Sidoniens Zeit glaubten noch fest an Wunderheilmittel. Auch Sidonie teilte diesen Glauben, sie empfahl ihrem Sohne dringend dergleichen wundertätige Heiligtümer. „Des heiligen Hubertus Bote,“ schreibt die Fürstin bei solcher Gelegenheit, „hat mich ersuchen lassen, dass ich ihm eine Schrift an dich geben und ihn gegen dich verbitten wollte, auf dass du ihm Gunst und Laub geben wolltest, dass er das würdige Heiligtum des heiligen Hubertus des Jahres einmal in deinem Lande umführen möcht und daneben des Hubertus Leben und würdiges Verdienen dem Volke vorerzählen oder offenbaren. Ich bitt dich auf das freundlichste, du wollest es tun und dich gnädig gegen ihn erzeigen.“ Dabei begnügte sich aber Sidonie nicht, sie suchte ihre Bitten dadurch zu begründen, dass der Vorzeiger des Heiligtums in ihrer Kirche gepredigt und das Wasser und Brot gesegnet habe; „das soll gut sein,“ fügt sie bei, „zu dem, da Gott vor sei, wenn einen Menschen ein töricht Hund gebissen hat, auch desgleichen, wenn ein Tier, es sei ein Hund oder waserlei1was für ein Tier es sei, von einem Hund gebissen würd, so man ihm des Brotes einen Bissen zu essen gäb.“ Dieser Auseinandersetzung war nun noch die Bitte beigefügt, Georg möge den Mann in eigener Person hören, was ihr, der Herzogin nicht unziemlich zu sein dünke. Doch auch hier machte sich bei der Fürstin die Mutter geltend. Du musst aber,“ schreibt sie, „ein seiden Kleid anhaben, denn er ist ein Niederländer, so du andern gleich gehen würdest, würde er dich für keinen Herzog halten.“

Ganz besonders ließ es sich die Herzogin angelegen sein, Leute, die sie schätzte, zu geistlichen Ämtern zu empfehlen. Dann rühmte sie gewöhnlich die Frömmigkeit der Empfohlenen, auch wohl ihre Gelehrsamkeit. Zuweilen mochte es für den Herzog Georg keine leichte Aufgabe sein, den Bitten seiner Mutter zu willfahren, er hatte als Regent des Landes doch auch noch andere Rücksichten zu nehmen. Bald handelte es sich um Verleihung eines Altarlehens an gewisse geistliche Personen, welche Empfehlungen Sidoniens vorwiesen, bald um Leistungen an die Kirche, die dem Herzog schwer fielen. Für die Spendung des Ablasses war er überhaupt nicht zu geneigt und ließ die Ablasskrämer nur aus finanziellen Rücksichten im Lande umherziehen, weil die Leute sonst das Geld in anderer Herren Länder tragen möchten! Daher kommt es auch, dass Sidonie mitunter sanfte Vorwürfe in ihre Briefe einfließen lässt. Es wurden zuweilen Dinge gerügt, die sich auf die, wie Sidonie glaubte, vernachlässigten Formen bezogen. Georg hatte einst die Priorin eines Klosters „mit ihrer Sammlung“ schlechthin „Nonnen“ genannt, und den Brief seiner Mutter, wie sie begehrt, gesendet; „so du in deinem Brief,“ rügt Sidonie, „die Sammlung“„ (Konvent) „und nicht „Nonnen“„ gesetzt, wollte ich ihn der Äbtissin zugeschickt haben, aber so du sie und ihre Sammlung schlechthin Nonnen heißt, will ich mich ihnen den Brief zu schicken enthalten.“

Dinge der Art mussten es sein, welche die Priorin zum Hayn vermocht hatten, sich bei der Herzogin-Mutter über Georg zu beschweren. „Ich schicke dir, herzallerliebster Sohn,“ so schrieb Sidonie an Georg, „einen Brief, den mir die Priorin von Hayn mit samt Versammlung geschickt haben, in dem du ihre Meinung vernehmen wirst, herzallerliebstes Kind, weiß ich doch nicht anders, denn dass es dir noch eingedenk sei, da du nächst bei mir warst, dass ich dich ganz freundlich bat und dir aus mütterlicher herzlicher Lieb getreulichen riet, du wolltest feste über den Priestern und Nonnen halten und sie getreulichen handhaben und sie dir befohlen lassen sein, das du mir zu der Zeit als ein mir fromm gehorsam Kind verheißen hast und als ich gänzlich Vertrauen zu dir hab und vielleicht nichts von dem Briefe weißt, der an den Official gelangt ist es mit deinem Wissen und Will geschehen, so bitt ich dich aufs höchst und in allen mütterlichen Treuen ehre Gott und die werte Mutter Gottes auch die heilige Maria Magdalena und den heiligen Valentin, stelle es ab und schaffe, dass den Nonnen das Ihre werde.“

War Sidonien viel an Erfüllung ihrer Wünsche gelegen, so fügte sie oft sehr heitere Beteuerungen bei. „Ich bitt dich,“ heißt es in einem solchen Schreiben, „du wollest herzallerliebster Sohn deiner Zusage nachkommen und dich niemand davon weisen noch reden lassen, anders ich würd nicht eines Mohnkorns wert vor dir gehalten.“

Doch war bei alledem Sidoniens Vorliebe für die Geistlichkeit nicht so unbedingt, dass sie darüber jede andere Rücksicht vergessen hätte.
Als ein gewisser Caspar Salhausen, vielleicht ein Verwandter des trefflichen Bischofs Johann von Salhausen, „etliche ihrer und Georgs Feind“ beherbergt hatte, gab die Herzogin ihrem Sohne davon Nachricht, und da bei dieser Gelegenheit die Capitelsherren aus irgend einer Ursache beteiligt waren, so bat sie den Sohn, „mehre Räte zu senden, die das Capitel alles Ernstes von Georgs wegen anreden sollten, den zu beniemen, der der Sache schuldig sei.“

Die Juristen hatten schon damals den Ruf, nicht immer die besten Christen zu sein. Sidonie war auf die weltlichen Räte ihres Sohnes wenig gut zu sprechen, die Rechtsgelehrten schienen ihr die Schuld des vermeinten Unrechts gegen ihre Wünsche für Kirche und Geistlichkeit zu sein. Da sie den Kirchen eine so große Menge Wachs zu verehren pflegte, dass auch dies in dem fürstlichen Haushalte berücksichtigt und von den Räten nicht gebilligt ward, so ermahnte sie einst den fürstlichen Sohn: „dass du mir solch Wachs sendest, willst anders eine freundliche Mutter haben und kehr dich weder an Maltig noch an diesen und jenen und lass mir mein Wachs in deiner Gegenwärtigkeit abwiegen (den Männern des Rechts traute sie nicht) einen rechten wohlgewogenen Zentner und brich den Heiligen nichts ab. Ich bitte dich, mein herzallerliebstes Kind, du wollest diese meine Schrift nicht aus dem Sinne schlagen.“ Regelmäßig, wenn hohe Feste oder sonst heilige Tage kamen, so sorgte Sidonie namentlich für Wachs zu Kerzen mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit. An Herzog Heinrich schreibt sie deshalb und dankt ihm dafür, dass er ihre Bitte erfüllt und das Wachs ihr gesendet: „ich will es verdienen,“ setzt sie hinzu, „wenn ich groß werd, ich halte dich nun für einen wahrhaften Mann, da du mir das Wachs geschickt hast, ich hatte aber Sorg und Furcht, du hättest es Jorgen zu sagen vergessen, es ist aber nun ganz richtig.“

Der vornehmste Ratgeber Sidoniens in geistlichen Angelegenheiten war ein Doktor Schwertfeger, auf ihn bezieht sie sich häufig und sendet den Söhnen Gebete, welche er verfertigt. Eben an Heinrich schickt sie „ein Büchel, das gebessert ist mit etlichen Gebeten, welches ihm, dem Herzog, Doktor Schwertfeger sende.“

Doch auch weltliche Geschäfte ließ sich Sidonie angelegen sein, wobei sie stets die durch die Natur der Sache ihrer Tätigkeit angewiesenen Grenzen achtete. Ihre Verwendungen für andere waren keine ungehörigen Einmischungen, wenn gleich die Rechtsansicht der Fürstin fast immer in der ersten schnellen Auffassung oder in einseitiger Vorstellung ihren Ursprung hatten. Kam bei weltlichen Dingen, bei Kauf und Verkauf, Schenkungen oder anderen Geschäften das Interesse der Geistlichkeit in Sprache, so konnte letztere einer warmen Fürsprache durch die Herzogin gewiss sein. Insbesondere aber scheint die gutmütige, oft wohl selbst ohne richtige Unterscheidung für die Milde gestimmte Herzogin die Zuflucht für alle gewesen zu sein, welche Strafe fürchteten.

Wie viele Gefangene mögen sich an die Herzogin gewendet haben! Georg war natürlich außer Stand dem gutmütigen Willen seiner Mutter überall zu willfahren, er entschuldigte sich daher sehr oft. Allein Sidonie begnügte sich damit nur selten. Als ein Mann wegen Vergehens „im Turm bestrickt“ saß, äußerte Sidonie, „sie habe Georgs Antwort auf ihr letztes Schreiben gar ungern vernommen. Wir alle,“ erwiderte Sidonie, „sehen gerne, dass uns Barmherzigkeit von Gott geschehe, aber wir schicken uns fast wenig dazu, und fürchte, uns wird zur Zeit mit der Elle gemessen werden, als wir unserem Nächsten messen und versehe mich, so einer deiner Räte an des Gefangenen (Stelle) säße, er würde gedenken: o! wollte sich Jemand über mich erbarmen und mir aus dieser Not helfen, so uns denn auf Erdreich solcher Gezwack (Qual) wehe tut, wie wohl wird uns dann der Gezwack in dem Fegefeuer für unsere Missetat tun. Man sollte bedenken, dass der allmächtige Gott allezeit seine Gerechtigkeit vermischt mit der Barmherzigkeit und sollte nicht so geschwind mit der Strafe sein, was wird es dir und deinen Räten helfen wenn der arme Mensch in dem Turme stürbe.“ Doch fügt sie hinzu: „ich lasse Alles bestehen in seinem Wert, wiewohl ich mich einer andern Antwort versehen hätte, so es aber nicht anders sein kann, muss ich mir daran genügen lassen.“ Ein ander Mal bittet sie für einen Gefangenen, der ein, nach damaligem Stande des Strafrechts größeres Vergehen sich hatte zu Schulden kommen lassen. „Du wollest,“ so bittet Sidonie den Herzog, „deinen besten und meisten Fleiß ankehren, dass der arme Schalk bei dem Leben bleiben möge und also aus dem Gefängnis komme, ist es aber Sach, dass man ihm eine Straf anlegen will, das doch heimlich durch den Büttel und nicht durch den Henker geschehe.“ Hatte Georg den Bitten seiner Mutter um Begnadigung dieses oder jenes in Haft Befindlichen, eines Versehens oder Vergehens Bezüchtigten, nachgegeben, so war sie voll von Freude und dankte dem Sohne aufs Beste. Auch die Gelehrten des Landes, jedoch wohl kaum andere als Theologen, versahen sich, wenn die Gelegenheit der Dinge es mit sich brachte, Sidoniens Schutzes und Fürsprache, die dann auch selten fehlte.

War Sidonie im Allgemeinen zur Milde gestimmt, so kommen denn doch auch, namentlich wenn es Personen höherer Stände betraf, nicht undeutliche Spuren von Strenge und Zucht vor. Bei der religiösen Stimmung der Herzogin, bei der beinahe ängstlichen Beobachtung auch des äußeren Gottesdienstes, konnten sich die in der Nähe des fürstlichen Hoflagers lebenden jungen Edelleute gar leicht den Unwillen der Herzogin zuziehen, wenn sie in dem angedeuteten Stück etwa nachlässig waren. Es verstand sich von selbst, dass die Herzogin ein sonst unsittliches oder zu lockeres Leben nicht minder rügte. Manche Klage kam darüber an Georg, manche Bitte um kräftiges Einschreiten. „Ich hab,“ äußerte Sidonie, „Herr Lorenzen befohlen dir etliche Meinung zu sagen betreffend den von der Kehr; dem magst du Glauben geben, immaßen redet ich es selbst mit dir. Sicherlich! Du musst ihm einen härtern Zaum anlegen, anders er verdirbt gar.“

Am meisten aber beschäftigte sich Sidonie in ihren Briefen mit den eigentlichen Familienangelegenheiten. Bald gab es eine neue Zeitung zu besprechen, welche von Albrecht ihres Gemahls Kriegstaten eingelaufen war, bald über Besuche und kleine Familienversammlungen zu reden, die die Herzogin an hohen Festen liebte, oder über ähnliche Gegenstände. Bat sie ihre Söhne mit deren Gemahlinnen zu sich, so setzte sie gewöhnlich hinzu: „komm ja auf einen Fleischtag!“ damit die gern gesehenen Gäste sich nicht bloß mit Fastenspeisen begnügen müssten.

Bei kleinen Unannehmlichkeiten, Krankheiten, Verletzungen usw. welche ihre Söhne trafen, war Sidonie sehr ängstlich und mahnte zur Vorsicht. „Herzliebstes Söhnchen,“ heißt es in einem Schreiben der Fürstin, „der Schaden, den du an dem Fuße empfangen hast, ist mir ein treuliches Leid, denselbigen nach hab seiner baß in Achtung und dien Gott mit besserem Fleiß, denn du bisher getan hast, wer weiß, was dir Gott damit zu erkennen gibt, denn wir sind arme Leut und wissen nicht, was Gott über uns verhängt, hier sollen wir stets in der Furcht Gottes wandern.“ „Hüte dich,“ heißt es ein ander Mal, „vor den Haselnüssen und vor allerlei Obst und sei vorsichtig im Rennen, Stechen und Gehen.“

Man mag sich denken, wie sehr Sidonie über glückliche Ereignisse sich freute, die ihre Kinder angingen. Als Herzog Georg sich mit Barbara von Polen verlobte, eine Verbindung, welche auch den Herzog Albrecht sehr glücklich machte, konnte es Sidonie nicht unterlassen, den Sohn ein wenig zu necken. Hierzu gab der fürstliche Bräutigam durch mancherlei kleine Zerstreuungen Anlass. So z. B. sendete er einst einen für Friedrich den Weisen oder auch für den dritten Sohn Albrechts, Friedrich, bestimmten Brief an seine Mutter, während ein anderer der Mutter bestimmter, in die Hände Friedrichs kam. „Wie wohl ich den Brief,“ schreibt Sidonie, „aufgebrochen und gelesen, schick ich dir ihn wieder und versehe mich Herzog Friedrich werd den Brief, der mir gehört, auch gelesen haben, es wird, herzallerliebster Sohn, das gemeine Sprichwort an dir wahr, denn man spricht gern zu denen die nicht aller Ding tun Achtung geben, du gehest in Gedanken als eine verlobte Maid, desgleichen mag man jetzt auch zu dir sprechen. Herzallerliebster Sohn, Gott gebe dir und deinem Gemahl gar viel Glücks und Heiles, auch Liebe, Frieden und Eintracht; Fruchtbarkeit der Seelen und des Leibes.“

Hatte sich dagegen Sidonie auch nur im Datum geirrt, so entschuldigte sie sich ebenfalls. „Das hab ich versehen,“ sagt sie in einem Briefe, „das hab mir nicht vor Übel, denn es versiehet sich manche gute Dirne.“

Große Sorge hatte Sidonie als die Zeit der Vermählung herannahte „des Sterbens halb.“ Man fürchtete in der späteren Herbstzeit sehr oft ansteckende Krankheiten. Man findet in den damaligen Nachrichten sehr oft die Kunde es sterbe“ in dieser oder jener Gegend des Landes. Ich würd,“ heißt es in jenem Briefe, „des Sterbens halb fast sorglich sein.“

In jener Zeit sendete Sidonie auch häufig Geschenke, bald dies, bald jenes, gewöhnlich Kleidungsstücke, die sie selbst mit mütterlicher Sorgfalt gefertigt. Das Material zu dergleichen bezog man meist aus Leipzig, oft in ziemlicher Menge, welsche Leinwand, Sammet und Seide wurden dort eingekauft, ja selbst Zwirn „Nähnadeln und Stecknadeln“ musste der Kammermeister dort für die junge gnädige Frau (so nannte man Sidonie in frühern Jahren) schon immer besorgen. Man sieht, die Hoffnung auf das künftige Glück ihrer Kinder führte ihr bei den Arbeiten die fleißige Hand. „Ich schicke dir“ sagt die Herzogin, hiermit eine Haube, die ich dir verheißen, und der allmächtige Gott gebe, dass du sie nicht eher zerreißt, es sei denn, dass sie dir dein eigen Sohn oder Tochter beschmeißt, damit sei Gott befohlen.“ Auch aus der Wirtschaft sendete sie oft etwas an die Söhne, etwa Obst, Butter u. dgl., zuweilen mit der Bemerkung, dass sie ein Unvollkommenes und Mangelhaftes nicht Jug habe einem Fürsten zu schicken.“

Man kann sich eines trüben Gefühls kaum erwehren, wenn man den nachher ernsten, und nach allen Richtungen hin, namentlich gegen Luther verstimmten Herzog Georg zusammenstellt mit dem Bilde, welches man aus den Schreiben Sidoniens und aus der Zeit fröhlicher Hoffnung, die damals den jungen Fürsten belebte, wenn auch nur in schwachen Zügen sich weben sieht. Georgs eheliches Verhältnis, mit Kindern reich gesegnet, war dennoch von Trauer umhüllt. Die Georgenkapelle in Meißen gibt davon Kunde. Das göttliche Walten ließ Georgs Familienhaus veröden und bald einen, die Weltgeschicke teilweise bestimmenden Fürstenjüngling (Moritz von Sachsen) eintreten in die Halle der Burg, wo Georg in trübem Sinn über den Särgen seiner Kinder geweint und, vom, Schmerz umdüstert, das neue aufgehende Leben einseitig betrachtet hatte. Georg erwartete die Abstellung von Missbräuchen von daher; wo kein Wille war sie abzustellen und keine Einsicht in den Gang der Weltgeschichte. Wie ganz anders erscheint derselbe Georg als die Mutter mit ihm über seine ihr hold erscheinende Zerstreuung scherzte!

Bald sah Sidonie den zweiten Wunsch ihrer Seele erfüllt. Dem jungen Herzoge ward ein Sohn geboren.

Da gab es für die fürstliche Großmutter manche liebe, werte Sorge, obgleich nicht berichtet wird, dass die Herzogin daran dachte, ihrer Schwiegertochter Barbara, während der Zeit, da sie in Hoffnung lebte, „Sankt Elsbeths Kopfgürtel und Löffel“ zu senden, was sie selbst einst als ein wundertätiges Heiligtum sich von ihrer Muhme, der Herzogin Katharina zu Weimar hatte senden lassen.

Georg bestimmte, dem ihm geschenkten Sohn bei der Taufe den Namen Johannes geben zu lassen. Sidonie konnte bei der heiligen Handlung nicht gegenwärtig sein, schrieb aber dem Herzoge: „Du hast mir gesagt, dass dein Sohn Johannes getauft soll werden, demselbigen komm nach und willt du mir Liebe tun, so befiehl, so man ihn tauft, dass ihn die Paten alle nicht Hans sondern Johannes nennen und dass er also mit dem Namen getauft wird.“

Um dieselbe Zeit wünschte kurz nach der Geburt des Enkels Sidonie den Eltern auf die herzlichste Art Glück. „Die neue Zeitung“ sagte sie, die du mir geschrieben, hab ich mit großen Freuden herzlich gern verstanden, dem Herrn sei Dank, Lob und Ehr gesagt. Gott gebe dir und deiner Gemahl auch dem lieben kleinen Söhnlein viel Glücks und Heiles und verleih uns allen, dass wir an dem lieben Kindlein Ehre und Heil Leibes und der Seelen erleben!“ Sie wolle, sagte Sidonie, zur Taufe sich gestellen mit ihrem köstlichen Geschenk.“ Später bat die Herzogin oft, ihr den Enkel auf einige Zeit zu senden, ihr herzliebes Söhnlein, wie sie den jungen Herzog Johann nennt. Solche Bitten waren dann oft mit der sehr großmütterlichen Versicherung versehen, es werde dem Kleinen ohne allen Schaden, sondern ein großer Nutzen sein!“

War Sidonie bei recht guter Laune, so scherzte sie auch mit Georg, dem tüchtige Kenntnis der lateinischen Sprache nicht abging, eben über jene Sprache. „Ich will dir,“ sagt die Fürstin als sie für einen Dritten eine Ausfertigung wünschte,“ ich will dir Benedictum leihen, der soll dir die Botschaft wohl ausrichten und wird dich vielleicht einen Groschen kosten, den gibst du ihn zum Pretio, an dem Latein kannst du gedenken, dass ich daher eine Zeit baß gelehrter worden bin denn du vorher, du hast mir säuberlich mitgesparen (mitgespielt?), hast mich Briefe schreiben und den Boten vielleicht andere Wege gehen lassen, denn den Weg, den ich dich gebeten habe, harr! ich will dich mit Gerten hauen, dass dir das Maul nach süßen Wein wässern soll.“

Ähnliche scherzhafte Verweise erteilt sie ihrem Sohne, wenn er undeutlich schrieb z. B. deines Briefs Meinung kann ich nicht vollkommen vernehmen, denn du hast unterweilen böse Buchstaben gemacht, auch etliche Worte ausgelassen.“ Dann bittet sie, „sich besser vorzusehen und ganz sichtige Buchstaben zu machen.“

Ein nicht seltener Gegenstand der Briefe war auch die Versorgung alter treuer Diener und die Belohnung derselben.

Erwartete Sidonie Gäste, so sorgte sie mit Eifer, zuweilen mit Ängstlichkeit für eine stattliche Ausrüstung des Hofes und des eigenen Bedarfs an Kleidungsstücken, Schmuck u. dgl. Mehreremale schrieb sie an Georg deshalb. Bei solcher Gelegenheit unter andern einmal um „ein Heftel,“ auf dass „so der Herzog kommt ich nicht mit Schanden bestehe.“ Dann sollte Georg zuweilen den Hofschneider zu seiner Mutter senden. „Schick mir doch Jorgen Schneider,“ bat Sidonie, dass er mir den Rock recht mach.“ Auch die Stoffe zu den Kleidern besorgte Georg. Vielfach schrieb ihm Sidonie, „er möge ihr das seidene Gerät (Zeug) besorgen, auch könne sie des Sammet, den sie doch fast gern hätte, nicht geraten.“ Einst war die Sendung „von 15 Ellen Damaschken“ dem Sohne aufgetragen; nach echter Frauen-Weise war die Fürstin, wenn sie Briefe schreiben sollte, immer sehr durch die Zeit gedrängt, da enthalten denn die Briefe sehr ergötzlich in wenigen Zeilen das Verschiedenartigste und wohl auch das Wichtigste gerade noch in „Nachschrift“; so bittet sie auch hier um fünfzehn Ellen Damaschken und andere Stoffe und Georg möchte ja beichten; denn „so man, das hochwürdige Sakrament empfangen will, pflegt man vorher zu beichten, auch Reue und Leid um die Sünd zu haben.“

Bei ihrem Hofstaate hielt Sidonie auf Anstand im Äußern und auf Beständigkeit und Wahrheit der Gesinnung.

Sehr gerne sah es Sidonie, wenn an Festtagen ihre Kinder sie besuchten, jedoch wurden vorher zu dergleichen Zusammenfünften Wildpret, Haselhühner und Eichhörnchen bei Georg bestellt, dagegen Sidonie sich erbot, Georgs Gemahlin den Wagen zu schicken. Die Männer reisten fast immer zu Pferde und die Gelegenheit des Fahrens war sehr zweifelhaft, da zu Albrechts Zeit manche Ausgabe vorkommt, „für Herausheben des Fuhrwerks der gnädigen Frau,“ aus Schnee und Sumpf.

Unter die vielfachen Aufträge, die Georg von seiner Mutter erhielt, gehört auch die Besorgung einzelner Prachtstücke von Silber und andern Stoffen von Wert. In Vergleich mit der spätern Zeit und selbst mit dem Stand der damaligen Silberkammer war das, was Sidonie in solchen Dingen besaß, gewiss sehr gering, wenigstens mochte sie wenig zu dem, was sie besaß, anschaffen. Um so sorgfältiger war sie in Bestellung der Arbeit, die sie etwa doch in außerordentlichen Fällen fertigen ließ.

Das sind die freundlichen Züge aus dem Stillleben der liebenswürdigen Fürstin. Albrecht starb im Jahr 1500. Zehn Jahre später folgte ihm Sidonie. In den Schatten der Täler zum alten Tharandt, in dem kleinen Schlosse daselbst starb sie, wie sie gelebt hatte, „in hitziger Andacht.“

Wenn nun eine hochgestellte, gebildete, belesene und wirklich fromme Frau wie Sidonie, die Doktor Taubers geistliche Schriften liebt und befürwortet, in Ablass und Reliquien, in Aberglauben und Zeremonien, in Heiligen- und Priesterverehrung so hart gefangen war, wie musste erst das gemeine Volk unter diesem Banne liegen! Welch ein Abstand zwischen dieser hitzigen Andacht und der Innbrunst einer Elisabeth, zwischen dieser um ein Pfund Wachs knausernden und der in Entsagungslust glühenden frühern Zeit; zwischen einem Franz von Assisi und einem Doktor Schwertfeger, zwischen dem Dominikaner Conrad von Marburg auch und dem Dominikaner Johannes Tezel! Welch eine Kluft zwischen jenem Frühlingswehen, da die Kirche Märtyrer und Heilige in Scharen sich gebar und dieser herbstlichen Zeit, da man ernten wollte, was andere gesät, und auch mit dürren Stoppeln sich begnügte; da, wie Johannes Brenz sagt, „der Heiligendienst Abgötterei geworden ist, und Einer aus dem heiligen Wendel einen Säuhirten macht, ein Anderer aus dem heiligen Ulrich einen Rassenhirten, aus der heiligen Margaretha eine Hebamme, St. Sebastian muss die Pestilenz verjagen, der heilige Atanasius den Kopfschmerz vertreiben, die heilige Agathe gegen Brustleiden helfen, der heilige Maurus Patron gegen Schnupfen sein – der heilige Valentin hat auch keine Ruhe und der heilige Nikolaus verjagt die Mucken“

Christus, der ewige König und Hoherpriester, hatte seiner Mutter und ihren Priestern weichen müssen, der Gotteskasten ist zur Ablasskiste, das Haus Gottes zum Kaufhaus, das Heiligtum zu einer Apotheke, die Kirche seit Hussens Tod vollends zur Mördergrube geworden; alle äußeren Mittel, alle halben Maßregeln sind vergeblich, es muss Alles ganz anders werden, das ewig Alte muss neu auf den Leuchter und siehe die Füße derer, welche die tote Kirche hinaustragen sollen, stehen schon vor der Türe. In demselben Jahre, als Sidonie starb (1510), sollte der im Worte Gottes und in der Trübsal geläuterte Geist eines Bergmannssohnes ergrimmen über die Art, wie es in Rom selber zuging. Nachdem er auf seiner Reise dahin all das Schalkswesen an seiner schmutzigen Quelle selbst sich besehen, musste er um so ernster daran, das lautere Brünnlein Gottes wieder aus dem Schutte zu graben und für Kirche und Staat, für Schule und Haus eine frische Zeit heraufzuführen.

Argula von Grumbach

Diese geistreiche, gottselige und heldenmütige Frau stammte aus dem uralten adeligen Geschlechte der Herren von Stauffen in Bayern, welches von dem Schwäbischen Geschlechte gleiches Namens zu unterscheiden ist. Ihr Großvater, der Stifter der Ehrenfelsischen Linie des Bayrischen Hauses von Stauffen, und Kanzler des Herzogtums Bayern, war einer von den drei großen Bayrischen Hansen. So nannte man nämlich die drei Herren Hans von Stauffen, Hans von Degenberg und Hans von Eichberg, weil sie in der innigsten Freundschaft miteinander lebten, von großen Verdiensten um das Land und alle drei zugleich sehr ansehnlichen Leibes waren. Argulas Vater hieß Bernhardin, und ihre Mutter Katharina von Thering (oder Dörring). Das Jahr ihrer Geburt ist unbekannt((genannt wird oft um 1492 AJ)). Ihr Vater muss ein frommer christlicher Mann gewesen sein, denn er schenkte seiner Tochter an ihrem zehnten Geburtstage eine schöne, neue, deutsche Bibel, und ermahnte sie mit ganzem Ernst, dieselbe ja recht fleißig zu lesen. Aber die Bettelmönche, damit sehr unzufrieden, prägten dem Mägdlein ein, die Bibel sei ein Verführbuch, und tauge am wenigsten für Kinder. Das fromme Kind wollte sich nicht selbst verführen, und folgte darum den verführerischen Pfaffen, ließ die Bibel ungelesen und lernte dafür Menschentand. Als sie zur Jungfrau herangewachsen war, kam sie an den Bayrischen Hof und erhielt dort nach alter deutscher Hofsitte weiteren Unterricht in allen den Künsten und Wissenschaften, in denen ein adeliges Fräulein damaliger Zeit wohlerfahren sein musste; vor allem rühmt sie die gute Zucht und die Gottesfurcht der Herzogin von Bayern, in deren Dienste sie war. Ihr Vater, der ebenfalls im Dienste des Herzogs von Bayern stand, erwarb sich dadurch wohl einen ehrenvollen Namen bei Hofe, aber desto weniger Vermögen, ja, er setzte noch das, was er besaß, dabei zu; ein Zeichen, dass er seinem Herzog durchaus treu und redlich gedient hat.

Gott wollte unsere Argula frühzeitig in die Schule der Trübsal führen, damit sie ihn suchen und finden möchte, und für die Zeit, wo sie um seines Namens willen leiden sollte, Geduld im Unglück lernen könnte. Sie war noch sehr jung, als ihr innerhalb fünf Tagen Vater und Mutter durch den Tod entrissen wurden. Ohne Eltern, ohne Vermögen, ohne den Trost des Wortes Gottes, fühlte die Waise sich ganz verlassen und weinte darüber Tag und Nacht. Der Herzog Wilhelm von Bayern, der Sohn der Herzogin, in deren Dienste Argula stand, und der ihr Obervormund war, sah sie einstmals so weinen, trat zu ihr, und tröstete sie mit den Worten, sie sollte nicht so weinen, er wolle nicht bloß ihr Landesfürst, sondern auch ihr Vater sein. Der edle Herr hat sein Wort gehalten, und wenn ihn die Pfaffen nicht betrogen hätten, so würde Argula nicht viel mehr von zeitlicher Not zu sagen gewusst haben.

An des Herzogs Hofe lernte sie der Fränkische Baron Friedrich von Grumbach (oder Grünbach) kennen, und verheiratete sich mit ihr; in welchem Jahre, ist ebenfalls ungewiss. Gott segnete diese Ehe mit vier Kindern. Argulas Gemahl war in Herzoglich Bayrischen Diensten, und einen ihrer Söhne nahm der Herzog ebenfalls an seinen Hof.

Um diese Zeit ging in Wittenberg das Licht des Evangeliums auf, und verbreitete seinen hellen Schein blitzesschnell durch alle Lande. Die Völker, die bisher so lange in Finsternis gesessen hatten, erschraken zuerst über den hellen, gewaltigen Glanz, wie die Hirten in der heiligen Weihnacht, und Vieler Augen konnten ihn lange nicht ertragen. Man war zwar des päpstlichen Joches herzlich müde, und die ernsteren Gemüter hatten es immer mit tiefem Schmerze gefühlt, dass ein Mensch durch seine eigenen Werke niemals zum wahren Frieden kommen kann; aber die Furcht vor dem päpstlichen Bann hielt alle in unwilligem Gehorsam. Um so mehr erstaunte man nun über den einzelnen, kühnen Mönch, der es im Namen Gottes wagte, dem Statthalter Gottes an die Krone zu greifen, und sich vor dem nicht fürchtete, der Kaisern und Königen auf den Nacken trat und sich rühmte, dass er die Schlüssel zu Himmel und Hölle allein in seinen Händen habe. Wie eine Heldengestalt, aus den Riesengräbern der Vorzeit wieder auferstanden, Vertrauen und Furcht zugleich erweckend, stand Luther da vor aller Augen, und sein Name war in aller Munde. Argula vernahm auch bald von der neuen Lehre, und suchte sich eine genaue Kenntnis derselben zu verschaffen. Der Bayrische Theologe von der Universität zu Ingolstadt, D. Eck, war Luthers gewandtester und heftigster Gegner; am Bayrischen Hofe war Luther arg verleumdet und nicht wohl gelitten; der Bayrische Adel teilte sich, wie überall, in zwei Parteien, der kleinste Teil desselben neigte sich Luthern zu; das Volk machte Anstalten, die christliche Freiheit in eine fleischliche Empörung zu verwandeln; Argulas Gemahl scheint selbst nicht zu Luthers Freunden gehört zu haben: wäre es unter solchen Umständen zu verwundern gewesen, wenn sie den Lügen über die Wittenberger Glauben geschenkt und sich auch hätte verblenden lassen? Leichtsinn war aber nicht ihr Sinn, ihr Seelenheil lag ihr wahrhaft am Herzen; auch kannte sie den Hof, die Klerisei und den meisten Adel viel zu gut, als dass sie sich danach hätte richten sollen, was diesen gefiel, was sie sagten und taten. Sie nahm also das edle Geschenk ihres Vaters, ihre lang vergessene Bibel wieder zur Hand, und so übel sie auch verdeutscht sein mochte, so verstand sie doch so viel daraus, dass sie einsah, dasjenige, was sie von Luthers Lehre gehört hatte, sei wirklich in der Schrift gegründet, und der Ruhm ihrer Pfaffen, als könnten sie Luthern überwinden, möge wohl grundlos sein. Um sich nun genau davon zu unterrichten, schrieb sie an den Kursächsischen Hofprediger Spalatinus, und bat ihn, ihr die Titel von Luthers Büchern aufzuzeichnen, damit sie sich dieselben verschaffen könnte, und nicht mit untergeschobenen betrogen würde. Spalatinus erfüllte ihren Wunsch; sie las, was Luther in deutscher Sprache geschrieben hatte, und daraus ging ihr bald das Licht auf über die ganze heilige Schrift. Gott senkte durch das Wort den heiligen Geist in ihr Herz, und bald war sie eine gläubige wahre Christin und erklärte Anhängerin der Reformatoren. Auch ihr Bruder Bernhard wurde von der Wahrheit des Evangeliums ergriffen, und bekannte sich schon im Jahre 1520 öffentlich zu der reinen Lehre des Wortes Gottes, wie es durch Luthern anfing in Wittenberg gepredigt zu werden. Er ließ auf seinem Gute Berezhausen das Evangelium predigen, und die Bürger von Nürnberg benutzten fleißig diese Gelegenheit, Gottes Wort zu hören. Späterhin, 1536 oder 1542, hielt er auch in seinem Hause zu Regensburg, dem sogenannten Stauffischen Hause((Vor hundert Jahren ist dieses Stauffische Haus der Gasthof zum grünen Strauß gewesen; wie es jetzt damit steht, weiß ich nicht. — Das ursprüngliche Haus ist im Jahr 1884 durch einen Brand zerstört worden. Es lag in der Obermünsterstr. 9 in Regensburg – und hier wurde 1542 auch das erste Abendmahl der Stadt gefeiert. Heute ist es die Gaststätte „Grüner Kranz“. Eine Tafel am Haus erinnert an Argula von Grumbach. AJ)), einen eigenen Prediger, der die päpstlichen Irrtümer abtun und den Seelen den Weg zu Christo, dem einzigen Heilande, zeigen sollte.

Wie fleißig Argula die heilige Schrift gelesen, wie gut sie sie verstanden und wie sorgfältig sie Luthers und Melanchthons Schriften damit verglichen hat, davon geben ihre herrlichen Briefe gültiges Zeugnis. Es blieb aber bei ihr nicht beim bloßen Lesen und Schwatzen darüber, sondern das Wort Gottes wurde in ihr zur Kraft und zur Tat. Sie konnte sich mit gutem Gewissen rühmen, dass sie durch Gottes Gnade ihre häuslichen Pflichten treulich und mit Freuden erfüllt, und ihrem Gemahle mit ihrem Wissen nie zu einer Klage Veranlassung gegeben habe. Ihr Gesinde und ihre Untertanen hielt sie ebenfalls in christlicher Zucht zu Gottesfurcht und Gottes Wort an, wie es christlicher Herrschaften Schuldigkeit ist. Ja, sie benutzte jede Gelegenheit, die ihr Gott gab, wo sie einen Sünder bekehren und einem Irrenden den rechten Weg zum ewigen Leben in Jesu Christo zeigen konnte. Leider haben wir weiter keine Nachrichten über ihr häusliches Leben; christliche Frauen werden sich aber leicht aus der heiligen Schrift und ihrer eigenen Erfahrung ein Bild davon entwerfen können.

Das für uns merkwürdigste Jahr ihres Lebens ist das Jahr 1523. Dieses gab ihr die Gelegenheit, der ganzen Welt ihren christlichen Heldenmut zu zeigen, dieses hat ihren Namen berühmt gemacht, ihr aber auch alle die schweren Leiden verursacht, die sie um Christi Willen erdulden musste, und heldenmütig durch Christum erduldet hat.

Es war zu Ingolstadt an der Donau ein junger Magister der freien Künste((Man zählte damals deren sieben: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Musik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie.)), Arsatius Seehofer, kaum: 18 Jahre alt, der Sohn ehrsamer und wohlhabender Eltern aus München. Dieser hatte aus Luthers und Melanchthons Schriften die christliche Wahrheit zu erkennen angefangen, und in Schriften und Vorträgen öffentlich bekannt gemacht. Die Professoren der Universität zu Ingolstadt zogen aus diesen Schriften Seehofers, wie sie sagen mit inbrünstigem, ernstlichem Fleiße, siebzehn Punkte heraus, welche sie für ketzerisch erklärten, ließen den Magister ins Gefängnis werfen, lange darin schmachten, und brachten es endlich, nachdem sie ihn auf Herzog Wilhelms Befehl aus dem Gefängnis unter der Bedingung, dass er widerrufen wolle, hatten entlassen müssen, durch Androhung des Feuertodes bei ihm dahin, dass er die 17 Artikel öffentlich und feierlich am 7. September 1523 widerrief. Die Artikel sind folgende:

– Der Mensch wird vor Gott allein durch den Glauben gerecht.
– Die Gerechtigkeit vor Gott besteht darin, dass uns Gott dieselbe zurechnet, ohne unsere Werke anzusehen.
– Der Mensch kann diese Rechtfertigung sich durch keinerlei Werk oder Verdienst erwerben.
– Gott allein macht uns gerecht dadurch, dass er uns seinen Geist eingießt, ohne alle unsere Werke.
– Wir sollen auf unsere guten Werke gar keine Hoffnung oder Zuversicht sehen.
– Es ist unmöglich, dass der Glaube nicht sollte gute Früchte oder Werke hervorbringen.
– Wenn die Schrift sagt, dass die guten Werke belohnt werden, so soll man das so verstehen, dass wir nichtsdestoweniger durch den Glauben selig werden.
– Diejenigen, welche es sich unterstehen, durch ihre guten Werke sich gerecht und gut zu machen, die bauen nicht auf einen Felsen, sondern auf Sand.
– Man soll in der Kirche Keinem etwas glauben, außer was er gewiss und klar beweist aus dem Worte Gottes.
– Es soll kein Mensch in der christlichen Kirche etwas tun oder lehren, was Gott nicht gewisslich angegeben, gelehrt oder geboten hat.
– Ein Bischof darf nichts anderes, als das Wort Gottes lehren.
– Ein Bischof ist der, der das Amt hat, Gottes Wort zu predigen.
– Wenn ein Mann rechtlich von seinem Weibe geschieden wird, so hat er Macht, eine andere zu nehmen, ebenso darf sich die Frau einem andern vermählen, ausgenommen, wenn man dem, der daran schuld ist, dass die erste Ehe geschieden ist, verbieten wollte, eine andere einzugehen.
– Man soll nicht schwören, ausgenommen zu Gottes Ehre und des Nächsten Nutzen; um zeitlicher Güter willen zu schwören, ziemt sich nicht. – Wer einen Eid von einem andern fordert, der muss notwendig ein argwöhnisches, untreues, boshaftiges und leichtfertiges Gemüt haben, auch wenig Ehrfurcht vor Gottes Wort.
– Das Gesetz Mosis fordert vom Menschen, was er nicht leisten kann.
– Dass das Evangelium Christi nicht Geist sei, sondern Buchstabe, ist falsch.

Wer nur ein wenig im wahren Christentum unterrichtet ist, wird sogleich erkennen, dass gegen diese Behauptungen Seehofers, die fünfzehnte ausgenommen, die man ihm zu gut halten darf, nichts Gründliches aus der heiligen Schrift vorgebracht werden kann, sondern dass sie vielmehr ganz mit der Bibel übereinstimmen. Aus welchen Gründen die Universität zu Ingolstadt diese siebzehn Artikel für ketzerisch erklärt hat, kann man aus Luthers Schrift dagegen, die hier mit abgedruckt ist, zur Genüge ersehen. Die Eidesformel, mit welcher Seehofer diese sogenannten Ketzereien abschwören musste, war folgende:

Ich, Arsatius Seehofer von München, der freien Künste Meister, schwöre auf das heilige Evangelium, das ich in meinen Händen habe, und bekenne hier mit dieser Schrift, die ich mit meiner eigenen Hand geschrieben habe, und mit meinem eigenen Munde vor Euch, Rektor und Räten und der ganzen hohen Schule der löblichen Universität zu Ingolstadt, hiermit lese und ausspreche: wiewohl ich vor dieser Zeit mit der frevelhaften, falschen, irrigen, lutherischen Ketzerei in Verdacht und mannigfaltig befleckt gewesen bin, so dass ich sie auf manche Weise durch lehren, schreiben und verteidigen ausgebreitet und nach meinen Kräften damit getäuscht habe; weshalb ich denn in der obengemeldeten, meines Herrn Rektors und der Räte der Universität, Gefängnis gekommen bin, und eine Strafe (wie denn eine solche nach allgemeinen Rechten den Verteidigern der Ketzereien aufgelegt werden soll) verschuldet hatte; so habe ich doch bei denselbigen aus besonderem Befehl und Verordnung der Durchlauchtigen, Hochgeborenen Fürsten und Herren, Herrn Wilhelm und Herrn Ludwig, Gebrüdern, Pfalzgrafen am Rhein usw. die Gnade erlangt, dass solche ernstliche Strafe gegen mich ab- und eingestellt worden ist, unter der Bedingung, dass ich’s jetzt soll demütig erkennen und widerrufen. Hierauf so bekenne ich hiermit, dass Alles, das in meinen Vorlesungen durch mich aus den Schriften Philippi Melanchthons gelesen, auch sonst durch mich geredet und geschrieben, und jetzt hiervor durch den Notarius der Universität verlesen ist, eine rechte Erzketzerei und Büberei sei, dass ich auch denselben ((Schriften Melanchthons)) allen, wie von Päpstlicher Heiligkeit, Kaiserlicher Majestät und obengenannten meinen gnädigen Herrn verboten ist, nimmermehr anhangen oder sie gebrauchen, sondern, wie einem frommen Christen gebührt, alles dasjenige, was die heilige, Römische, christliche Kirche, die heiligen Concilia geordnet und gesetzt haben, und was durch einen ehrbaren, geistlichen Brauch angenommen worden ist, halten wolle, und mich mit meinem eigenen Leibe in das Kloster Etztal stellen, daraus ohne besondern Befehl unseres gnädigen Herrn nicht kommen, endlich auch kein lutherisches Buch lesen noch herausgeben wolle. Das helfe mir Gott, der Allmächtige, usw.!

Als M. Seehofer auf diese Weise seinen Herrn Christum verleugnet hatte, stürzten ihm, wie Argula erzählt, die Tränen in Strömen über die bleichen. Wangen. Da trat ein Jurist zu ihm, und frug ihn, was er so weine? ob er noch ein Ketzer sei? Ich weiß nicht, kam die Frage aus Mitleid oder aus Verdacht; ob Arsatius geantwortet habe, wird uns nicht gemeldet, aber wohl, dass er bald darauf in ein Kloster zu hartem Gewahrsam abgeführt worden ist. Sein Gewissen ließ ihm aber keine Ruhe, und er suchte aus dem Kloster zu entkommen. Auf welche Weise ihm das gelungen sei, wissen wir nicht; es wird aber gemeldet, dass Arsatius Seehofer, nachdem er aus seinem Kloster geflohen war, sich nach Wittenberg zu D. Luther begeben, seinen Fall und seine Verleugnung Christi bekannt und Absolution darüber empfangen habe. Luther schickte ihn darauf nach Preußen zum Hochmeister des deutschen Ritterordens, Markgraf Albrecht von Brandenburg, wo er etwa anderthalb Jahr lang das Evangelium predigte. Weil er aber das dortige Klima nicht wohl vertragen konnte, ging er wieder nach Wittenberg. Im Jahre 1534 finden wir ihn zu Augsburg als Lehrer in der zweiten Klasse der St. Annenschule daselbst. Als Herzog Ulrich von Württemberg sein Land wiedererobert hatte, ging Arsatius 1536 nach Stuttgart, wurde von D. Erhard Schnepf examiniert, und darauf zum Pfarrer und Prediger des göttlichen Wortes nach Leonberg berufen, wo er der Kirche gegen drei Jahre treulich und fleißig gedient hat. Von dieser Stadt Leonberg wurde er zur Stadtpfarre Winnenden im Remstale befördert, wo er zur Verteidigung seiner Lehre gegen allerlei Lästerer und Feinde seine lateinische Postille oder Auslegung der sonntäglichen Evangelien im Jahre 1539 geschrieben hat. Dieser Postille sind einige Fragstücke angehängt, welche er allen evangelischen Predigern zu gut über die vornehmsten Hauptstücke der christlichen Religion aufgesetzt hatte; auch einige Sätze von der Messe, dem Fegfeuer und dem päpstlichen Ablass. Dieses beides soll, nach M. Riegers Nachrichten darüber, eine ziemlich vollständige und echt evangelische Unterweisung sein, welche wegen ihrer Gründlichkeit, Deutlichkeit und Erbaulichkeit nicht wenig Nutzen gestiftet haben wird. Nachdem Seehofer zu Winnenden sechs Jahre lang das Evangelium gepredigt hatte, ist er an einem Seitengeschwür in christlichem Bekenntnis selig entschlafen. In seiner vielfachen Bedrängnis hat er sich öfter an seine Eltern gewandt und um Unterstützung gebeten, aber allezeit abschlägliche Antwort erhalten. Er hat dies mit christlichem Herzen ertragen, und sich getrost Gott dem Allmächtigen befohlen, auch seine Eltern deswegen entschuldigt, als ob sie aus Furcht vor ihrem Landesfürsten solches hätten unterlassen müssen. – Ich habe diese Nachrichten über M. Seehofer hier deshalb mitgeteilt, damit man sieht, dass Argulas Hoffnung, die sie mehrmals über ihn ausgesprochen hat, in Erfüllung gegangen, und dass noch viel Gutes aus diesem Jüngling geworden ist.

Wir kehren nun zum Jahre 1523 zurück. Kaum war dieser Gräuel zu Ingolstadt geschehen, so meldete es ein Bürger von Nürnberg an unsere Argula, schickte ihr die siebzehn Artikel, die Widerrufsformel des Arsatius und eine ausführliche Erzählung des ganzen Vorfalls zu, und schrieb dabei ziemlich spöttisch über die Universität und den Herzog von Bayern. Argula schrieb demselben zurück, und entschuldigte den Herzog, so gut sie konnte, indem sie darauf hinwies, dass der Herzog es ja gewesen, durch den Arsatius aus dem Gefängnis befreit worden sei, und dass er gewiss über den Arsatius falsch berichtet worden sein müsse, sonst würde er nicht in dieses grausame und gottlose Verfahren der Universität gewilligt haben, dazu sei sein Gemüt zu christlich. Sie war aber über diese Misshandlung des „achtzehnjährigen Kindes“, wie sie sich ausdrückt, so empört, dass sie gleich willens war, der Universität zu schreiben, und ihr ihr Unrecht auseinanderzusetzen. Indessen ließ sie sich durch den Spruch des Apostels Paulus, dass die Weiber in der Kirche schweigen sollen, davon abhalten, obwohl es ihr, nach ihrem eigenen Geständnisse, schwer ward und viel Kummer machte. Sie hoffte täglich, es würden Männer auftreten, und diese Unbill öffentlich rügen, die dem armen Arsatius öffentlich angetan war. Es geschah aber nicht. Länger als acht Tage konnte nun Argula auch nicht warten, und so schrieb sie denn am Sonntag nach der Erhöhung des heiligen Kreuzes, den 15. September 1523, ihre gewaltige Strafepistel an die Universität zu Ingolstadt. In derselben erbot sie sich, nach Ingolstadt zu kommen, und mit den Professoren über die heilige Schrift zu disputieren, wenn dieselben den Mut und Willen dazu hätten, und zwar in Gegenwart der drei Fürsten von Bayern und des ganzen Volks; so gewiss war sie ihrer Sache. Sie hoffte zwar, die Herrn Professoren würden so klug sein und die Sache geheim halten; da es aber wohl möglich war, dass man sie beim Herzog Wilhelm verleumden würde, so schrieb sie noch denselben Sonntag Abend ihren vortrefflichen Entschuldigungs- und Ermahn-Brief an den Herzog, und übersandte ihm eine Abschrift ihres Fehdebriefes an die Universität. –

Herr D. Eck hielt es für zu schimpflich, mit einem Weibe zu disputieren, und schickte ihr Rocken und Spindel, „damit sie dabei in der Spinnstube mit ihresgleichen Wäscherinnen plaudern möchte, so lange sie wollte“; und die Sache wurde teils durch die Universität, teils durch den Hof bald überall bekannt. Man machte ein lustiges Histörchen daraus, spottete und lästerte über die edle Argula, was nur aus dem Munde wollte, und ehe ein Monat vergangen war, war sie das Liedlein aller Leute (Ezech. 33,32.). So gering aber die Universität die Sache zu nehmen schien, so bitter war ihnen doch die Arznei, die ihnen von Frau Argula eingeschenkt war, eingegangen, und sie dachten in ihren Herzen nur darauf, wie sie die heldenmütige Zeugin Christi bald von dieser Welt schaffen könnten; das war ihre beste Art, Recht zu behalten, und ihre Sache zu verteidigen. Argula erfuhr das, und schrieb daher Sonntag Abends, den 27. Oktober 1523, an den Rat der Stadt Ingolstadt, übersandte demselben auch eine Abschrift ihrer Epistel an die Universität und bat, dieselbe zu lesen, damit sie in der Sache wohl unterrichtet würden und sich nicht verführen ließen.

Argulas Verwandte hatten auch eben keinen Gefallen an ihrem Schritte, und ihr Zorn ging so weit, dass sie drohten, sie würden sie einmauern lassen, wenn ihr Gemahl nicht dazu täte. Deshalb schrieb sie an ihren Vetter Adam von Thering und übersendete demselben auch eine Abschrift ihres Briefs an die Universität. Es half ihr aber alles nichts. Die Gnade des Herzogs Wilhelm verwandelte sich in Ungnade, er vergaß seine Versprechungen, die er der Waise getan hatte, und der großen Verdienste des Stauffenschen Hauses, und verwies unsere Argula, die noch dazu gerade zu der Zeit Witwe geworden zu sein scheint, aus dem Lande, entließ auch ihren Sohn aus seinem Dienste und hinderte es nicht, dass sich die Pfaffen in Würzburg eines Gutes bemächtigten, das ihrem Gemahl gehört hatte. „Meine Kindlein wird der HErr schon versorgen, (schrieb sie dazumal) und sie speisen mit den Vöglein unter dem Himmel, auch bekleiden, wie die Blümlein des Feldes! Er hat’s gesagt! Er kann nicht lügen!“ – Ihr Glaube hat sie auch nicht betrogen! Er hat’s gesagt!

Wir haben aus dem Jahre 1523 noch zwei Briefe von ihr, einen an den Churfürst Friedrich den Weisen zu Sachsen, und einen an Johannes, Pfalzgrafen am Rhein, beide vom Zinstag (oder Dienstag?) nach Andreä, das wäre vom 3. Dezember ohne Angabe des Ortes datiert.

Im Jahre 1524 erschien das Karmen, welches ein Ingolstädter Student, Johannes, gebürtig aus Landshut, gegen Argula fabriziert hatte, und woraus man sieht, dass die Feinde der Wahrheit in ihrer Art zu streiten sich zu jeder Zeit gleich bleiben. Auf die Sprüche der Schrift und die Hauptsachen wird nicht geantwortet, sondern es werden einige Kleinigkeiten aufgestochen, hauptsächlich aber der Argula eine schlechte Gesinnung angedichtet, und das mit solcher Frechheit, dass der Verfasser es für gut gehalten hat, seine werte Person hinter den Schirm der Anonymität zu verstecken. Argula verteidigte sich wieder in Versen, und antwortete (nach Sprüchw. 26,5.) dem Narren nach seiner Narrheit.

Sie hat außer den hier wiederabgedruckten noch viele Briefe geschrieben, die uns aber leider nicht erhalten sind. Wir haben nur Nachrichten davon. Salig in seiner vollständigen Historia der Augsburgischen Konfession erwähnt noch einer Schrift Argulas von 1523, worin sie alle Stände und Obrigkeiten ermahnt, bei der Wahrheit und dem Worte Gottes zu bleiben; auch noch einen andern an den Pfalzgrafen Johann beim Rhein, als die hier abgedruckten. Luther schreibt schon 1522 an Paul Speratus nach Mähren((Ausgabe von Walch, Teil 21, Seite 792)): „Ich habe den Brief der Frau Argula von Stauffen erhalten, darinnen mir angenehm zu lesen gewesen ist, dass das Evangelium fruchtbar im Lande((Bayern)) sei.“ Ferner 1524 an Georg Spalatinus((ebendaselbst, S. 885)): „Ich schicke Euch, lieber Spalatin, den Brief der Argula, einer Jüngerin Christi, dass ihr seht und euch freut mit den Engeln über eine sündige Adamstochter, die bekehrt und eine Tochter Gottes geworden ist. Wenn ihr ihrer ansichtig werden könnt, so grüßt sie meinetwegen((d. h. von mir)) und tröstet sie im Namen Christi. Denn ich suche, auch zu ihr zu gelangen, und hätte schon geschrieben, wenn ich gewusst hätte, dass ich gewiss durch Euch an sie schreiben könnte.“ Ferner an ebendenselben((S. 929)): „Wenn ihr etwa unserer Argula antwortet, lieber Herr Spalatin, so schickt diesen meinen Brief zugleich an sie. Denn ihr könnt solches eher als ich.“ Man sieht hieraus, dass sie bald mit Luther in einen brieflichen Verkehr getreten war. Sie hatte ihn denn auch ermahnt, in den heiligen Ehestand zu treten, worüber Luther an Spalatin 1524 schreibt((S. 931)): „Was mir die Argula wegen der Heirat schreibt, dafür danke ich, und es wundert mich nicht, dass man so von mir schwatzt, da man wohl mehr dergleichen redet. Ihr könnt ihr aber meinetwegen danken, und sagen, dass ich zwar in der Hand des HErrn sei, als seine Kreatur, deren Herz er ändern und wieder umkehren, töten und lebendig machen kann alle Augenblick‘ und Stunden. Bei dem Herzen aber, so ich bisher gehabt und noch habe, wird es wohl nicht geschehen, dass ich heirate; nicht, dass ich mein Fleisch und Geschlecht nicht fühlte, da ich weder Holz noch Stein bin, sondern weil ich noch keine Lust dazu merke, und täglich den Tod und die verdiente Strafe eines Ketzers erwarte; darum will ich auch dem HErrn kein Ziel noch Maß seiner Wirkung in mir sehen, noch mich auf mein Herz verlassen. Ich hoffe aber, er werde mich nicht lange leben lassen.“ 1528 schreibt er wieder an Spalatin((S. 1136)): „Ich schicke die Briefe unserer Argula, dass Ihr sie lest statt der meinigen (denn ich habe nichts zu schreiben), und seht, was das gute Weib ausstehen und leiden muss.“ Diese paar Worte Luthers sind alles, was wir aus dieser Zeit von Argulas Lebensgeschichte wissen. Sie hat nachher auch Luthers persönliche Bekanntschaft gemacht, ist vielmals bei ihm gewesen, und namentlich hat sie ihn während des Reichstages zu Augsburg in Coburg öfter besucht, woselbst Luther, als einer, der sich noch in der Reichsacht befinde, vom Churfürsten von Sachsen vorsichtshalber zurückgelassen war. Luther gedenkt ihrer in einem Briefe an Melanchthon vom 2. Juni 1530, der so anfängt ((Teil 16, S. 2826)): „Gestern ist Hans Reynick von Mansfeld und Georg Römer, auch heute Argula von Stauffen bei mir gewesen. Ich aber, als ich sah, dass der Anlauf an diesem Orte gar zu stark war, habe mir vorgenommen, nach dem Exempel Eures Stromers, entweder mich zu stellen, als wäre ich nicht zu Hause, oder auf einen Tag anderswohin zu reisen, damit die Rede gehe, ich hielte mich gar nicht mehr allhier auf.“ Spalatinus hat uns in seinem auf dem Reichstage zu Augsburg geführten Tagebuche noch ein Bruchstück eines Briefes von Argula aufbewahrt, indem er schreibt ((Teil 21, S. 68)): „Donnerstags nach Margarethae habe ich auch neben andern Schriften einen fast ((sehr)) christlichen Brief von der von Stauffen gehabt, die schreibt unter anderem also: Fürchtet euch nicht, die Sache ist Gottes, der sie in uns ohn‘ uns angefangen hat, der weiß und wird uns wohl beschützen; er schläft nicht, der da behütet Israel, die Sache ist sein; wird den Streit wohl stillen, und hinausführen usw.“ Daselbst erzählt Spalatin auch von Herzog Wilhelm von Bayern ((S. 57)): „Man sagt nochmals ((Spalatin hatte es schon einmal erzählt)), auch etliche Bayern selbst, dass Herzog Wilhelm zu Bayern zu Doktor Ecken gesagt habe: Man hat mir viel anders von der lutherischen Lehre gesagt, denn ((als)) ich in ihrem Bekenntnis gehört habe. Ihr habt mich auch wohl vertröstet, dass ihre Lehre zu widerlegen sei!! Da habe D. Eck gesprochen: Mit den ((Kirchen-)) Vätern getraute ich’s zu widerlegen, aber nicht mit der Schrift. Da habe sich Herzog Wilhelm von ihm gewandt.“ Ob aber Argula hiervon je einen Nutzen gehabt habe, ist unbekannt. Sie starb acht Jahr nach Luthers Tode im Jahre 1554.

In einem Briefe an Spalatin vom Jahr 1524 schreibt Luther folgendes ((Teil 21, S. 898)): „Ich schicke Euch hier die in ihrer und einer fremden Gestalt gemalte Argulam, ingleichen die tollen Possen Emsers usw.“ Hieraus. hat D. Zeltner geschlossen, Argula habe Luthern ihr Portrait zugeschickt, und er hat sich viele Mühe gegeben, aber vergebens, es irgendwo aufzufinden. Ich glaube indes, dass sich Luthers Worte wenigstens ebenso gut auf die beiden Gedichte deuten lassen, nämlich das von Johannes von Landshut, welches die in einer fremden Gestalt gemalte Argula oder die Argula, wie sie nicht ist, wäre, und das von Argula selbst verfasste, wo sie sich in ihrer wahren Gestalt abgemalt hat. Beide sind vom Jahre 1524, und Luthers Worte haben so einen bessern Sinn, als wenn man sie von Portraits versteht, da es teils kaum glaublich ist, dass Argula Luthern ihr Bildnis zugeschickt habe, teils auch wunderlich wäre, wenn sie gleich zwei Exemplare übersendet hätte, und das endlich ein sonderbares Bildnis gewesen sein müsste, wo Argula in einer fremden Gestalt gemalt gewesen wäre.

Selbst nach ihrem Tode hat Argula vor den Papisten keine Ruhe gehabt, Der Jesuit Jacob Gretser schalt sie in seiner Verteidigung Bellarmin „seine lutherische Medea oder Furie, ein Weib, das vom wiedertäuferischen Gifte angesteckt gewesen sei“. Der Jesuit Maimburg zielte auch auf sie, indem er in seiner Geschichte des Luthertums schrieb: „Es war niemand in Deutschland, der nicht Luthers deutsche Bibelübersetzung hatte, oder doch dafür gelten wollte, als hätte er sie gelesen. Besonders Frauen hielten das für eine Ehre, und lasen sie beständig. Ja, einige Frauen von Stande waren auf das Lesen dieser lutherischen Bibel so erpicht, dass sie dasselbe so wie die lutherische Lehre nicht nur gegen andere Frauen, sondern auch gegen die katholische Geistlichkeit, Priester, Mönche und Doktoren zu verteidigen sich unterstanden, mit solcher Anmaßung und solchem Hochmut, dass sie jener als einfältiger und neidischer Menschen spotteten, und sich nicht scheuten ihnen vorzuwerfen, dass sie weder Hebräisch noch Griechisch und daher auch die Schrift nicht verständen, Luther allein habe den wahren Sinn getroffen.“.

Es hat sich aber keine Frau zu beklagen, welcher von ihren Feinden ein solches Ehrendenkmal nach ihrem Tode gesetzt wird. Von unserer Seite hat man ihr Gedächtnis ebenfalls immer in Ehren gehalten. Schon der alte Ulmische Theologe Ludwig Rabus setzte sie in sein Märtyrerbuch, weil sie, wie er sagt, nicht ohne Gefahr ihren Glauben öffentlich bekannt hat. Demselben verdanken wir auch die Erhaltung der Briefe, die wir noch von der Argula besitzen. Jacob Thomasius, Paschius und Johann Kaspar Ebert, welche von gelehrten Frauen geschrieben haben, rechnen auch unsere Argula mit darunter, und haben ihr Leben mitgeteilt. Seckendorf in seiner Geschichte des Luthertums und Salig in seiner Geschichte der Augsburgischen Konfession gedenken ihrer und ihrer Schriften mit großen Ehren. Im Jahre 1730 erneuerte ihr Andenken M. Johann David Schreber, Rektor zu Schulpforta, in einem besondern lateinischen Programm: Ehrengedächtnis der Argula von Grumbach, einer berühmten Zeugin der Wahrheit. Im Jahre 1737 gab M. Georg Konrad Rieger ihr Leben und ihre Schriften wieder heraus, als einer Bayrischen Debora, die seine Württembergische Tabea, d. h. das Leben der Jungfrau Beata Sturmin, begleiten sollte.

Die Worte des Rabus über sie mögen hier als ihr Grabstein stehen: „Sie widerlegte die Verfolger des Evangelii zu Ingolstadt mit unüberwindlichen Gründen der Schrift, mehr, als man glauben möchte, dergleichen man vormals vom weiblichen Geschlechte gar wenig, und bei unseren Zeiten gar nie gehört hat. Und was noch mehr ist, so erbot sie sich den Doktoren zu Ingolstadt, zum Verhör zu kommen, woraus man sehen kann, dass sie solches ihr Schreiben nicht durch Unterweisung anderer, sondern allein vom Geiste Gottes habe. Sie ließ sich auch durch die neuen Beispiele der grausamsten Strafen, die man wider einige Verteidiger des göttlichen Wortes angewendet hatte, in diesem ihrem christlichen Werke nicht hindern. Daher mögen wir wegen solcher ihrer Überwindung der hochmütigsten, größten Feinde Christi wohl sprechen aus Judith 9,12: Das wird deines Namens, o Gott, Ehre sein, dass sie ein Weib darniedergelegt hat!“

Pistorius, Hermann Alexander

Peter Martyr Vermili.

14. November.

Auch Italien ist einst vom Hauche der Reformation angeweht worden. In den Dreißigerjahren des sechzehnten Jahrhunderts finden wir in den meisten bedeutenderen Städten Italiens kleine evangelische Gemeinden. Nicht bloß die Verachtung der Hierarchie und der Reichtum an weltlicher Bildung trugen zu ihrer Entstehung bei, sondern auch bei einer Anzahl von Einzelnen in verschiedenen Gegenden ernste Regungen des wahrhaft evangelischen Lebens. Als Beispiel und als vorzüglicher Zeuge davon steht vor uns Peter Martyr Vermili. Er ward geboren den 8. September 1500, als der Sohn eines reichen und angesehenen Edlen in Florenz, welches damals ein Hauptsitz der klassischen Bildung war und kurz zuvor der Schauplatz gewesen, auf dem Savonarolas Buß- und Reformationspredigten so großen Anklang gefunden hatten. Peter Martyr ist sein Taufname, sein Geschlechtsname Vermili (Vermiglio). Seine Mutter, eine Frau von hoher Bildung, las mit ihm und seiner Zwillingsschwester schon von seiner zarten Jugend an lateinische Schriftsteller, doch ein früher Tod entriss sie den Ihrigen. Den weitern Unterricht empfing er sodann unter den vortrefflichsten Lehrern in Gemeinschaft mit den Söhnen der ersten florentinischen Familien. Schon hier zeichnete er sich durch vorzügliche Talente wie durch Eifer und Reinheit des Wandels aus, und gewann zugleich durch seine Liebenswürdigkeit die Herzen Aller.

Es winkte ihm nun auf der einen Seite die glänzende Laufbahn des Staatsmanns, gepaart mit dem Ruhme der feinen Weltbildung und den Genüssen der Kunst; auf der anderen Seite stand die Entsagung und der Ernst eines gottgeheiligten Lebens. Er wandte sich ab von der glänzenden fast heidnischen Üppigkeit, von der damals seine Vaterstadt beherrscht war und entschied sich für die andere Lebensrichtung – ein Mal für immer; diesem Entschlusse blieb er treu sein Leben lang. Daher trat er in seinem 16. Jahre in den Orden der regulierten Augustiner-Chorherren, eine Gemeinschaft, welche zu jener Zeit vor den anderen Orden durch größere Strenge sich auszeichnete und eben so durch hohe Wissenschaftlichkeit. Seine Schwester tat den nämlichen Schritt. Der Vater aber gab seinen Unwillen dadurch kund, dass er ihn enterbte. –

Nahe bei Florenz in Fiesole brachte er nun drei Jahre zu; eine reiche Bibliothek kam hier seinen Studien zu Statten, welche sich vorzüglich auf Redekunst und auf die heiligen Schriften richteten. Weitere Gelegenheit zu seiner Fortbildung bot ihm hierauf Padua dar, woselbst er acht Jahre im Augustinerkloster zubrachte. Auf dieser blühenden Universität widmete er sich mit dem lebendigsten Eifer den philosophischen und theologischen Studien; mit großer Beharrlichkeit betrieb er auch das Studium des griechischen Altertums.

In seinem sechs- und zwanzigsten Jahre trat er dann als Prediger auf, indem er in einer Reihe von Städten Ober-Italiens nach italienischer Sitte die Fastenpredigten hielt; er erntete sehr großen Beifall. Daneben hielt er an verschiedenen Orten Vorlesungen über klassische Literatur und Philosophie; auch die genaue Kenntnis der hebräischen Sprache eignete er sich an, um desto gründlicher die Schrift zu kennen und ihr gemäß zu predigen. Eine Erhöhung seines Ranges trat nun dadurch ein, dass seine Ordensbrüder ihn zum Abte von Spoleto wählten. Hier stellte er mit großem Eifer die Zucht des Klosters her; auch wusste er den Hader der beiden in dieser Stadt oft blutig sich bekämpfenden Fraktionen zu beschwichtigen.

Nach fast drei Jahren kam er an die Spitze des Augustinerklosters in Neapel, und hier sollte ihm nun das Licht evangelischer Erkenntnis aufgehen; die Bibel selbst spendete ihm dieses Licht, zudem erhielt er einzelne Schriften der Reformatoren wie von Zwingli, Melanchthon, Bucer, und er fand Freunde, die dasselbe mit ihm ersehnt und gefunden hatten, dasselbe liebten und im Stillen pflegten. Eine wundersame Erscheinung ist jene evangelische Gemeinde in Neapel, wie sie damals bestand aus einer überraschend großen Zahl von hochbegabten, zum Teil in der Gesellschaft hochgestellten Männern und Frauen, voll Sehnens, Hoffens und Glaubens, und wie sie still allmählig nach innen und außen immerfort wuchs. Da wurde für Vermili ein Führer zum Leben vorzüglich der spanische Ritter Valdez (Val d’Esso), Geheimschreiber des Vizekönigs Don Pedro de Toledo, ein feuriger Anhänger der evangelischen Lehre, ein Mann von tiefem inneren Leben; im Begleit des Kaisers Karl V. hatte er in Deutschland die Reformatoren gesehen und fühlte sich gedrungen, was seine Seele erfasst hatte, wenn gleich mit Zurückhaltung, auch Andern mitzuteilen; er und Vermili fanden sich. Hier traf Vermili auch mit Bernhard Occhino zusammen, dem gewaltigen Prediger, in welchem damals auch erst die Wahrheit aufdämmerte, welche ihn auf dieselben Schmerzenswege führen sollte; mehrmals hielt Occhino in dieser Zeit seine erschütternden Fastenpredigten in Neapel; selbst Karl V. empfand ihre ungewohnte Kraft, so dass er ganz erstaunt bezeugte: „Wahrhaftig, der Mann könnte Steine zu Tränen rühren!“ Hier hielt Vermili Vorlesungen über den ersten Brief Pauli an die Korinther unter solchem Zulaufe, dass, wie ein neapolitanischer Geschichtsschreiber selbst sagt, jeder der nicht hinging für einen schlechten Christen angesehen wurde. Seine Auslegung der Stelle 1 Kor. 3,13-15, die er nicht vom Fegfeuer verstand, zog für ihn das Verbot nach sich, Vorlesungen zu halten. Er aber wandte sich nach Rom an die ihm befreundeten Kardinäle Bembo, Fregoso, Contarini, Poole, und merkwürdig, so sehr hatte das Bedürfnis einer tiefgreifenden Erneuerung der Kirche sich fühlbar gemacht, so empfänglich war man damals noch in Rom für solche Bestrebungen, so wenig war man verhärtet und abgeschlossen gegenüber der evangelischen Wahrheit, dass Paul III. alsbald ihm die Erlaubnis erteilte, seine Vorlesungen fortzusetzen.

Doch nach einer heftigen Krankheit machte seine Gesundheit ihm wünschbar, Neapel zu verlassen. Nunmehr zum General-Visitator seines Ordens erhoben, zeigte er seinen heiligen Ernst und seine Unerschrockenheit in der durchgreifenden Strenge, womit er den ausschweifenden Leben der Ordensglieder entgegentrat. Eben deshalb traf ihn auch der Hass Vieler, so dass er dann zum Abt von St. Fridian in Lucca erwählt wurde; diese Stelle war zwar höchst ehrenvoll; sie gab bischöfliche Rechte über einen Teil der Stadt. Allein für einen Florentiner schien sie unerträglich, bei der Feindseligkeit der Lucceser gegen die mächtigere Nachbarstadt. Nicht nur überwand er aber diese Stimmung völlig durch seine Würde und Gerechtigkeit, sondern er erwarb sich vielmehr große und allgemeine Anhänglichkeit. Hier ordnete er die im Kloster befindliche höhere Unterrichtsanstalt seiner reformatorischen Gesinnung und seiner Sorge von Kirche und Wissenschaft gemäß so trefflich, dass keine andere in ganz Italien ihr an die Seite gesetzt werden konnte; es war gleichsam eine evangelische Universität. Der Reichtum klassischer und humanistischer Bildung verband sich hier mit dem unausgesetzten gründlichen Studium der heiligen Schrift; er verschaffte sich dafür die Unterstützung ausgezeichneter Männer der Wissenschaft. Daneben setzte er seine Predigten fort.

Doch nicht lange sollte diese glückliche Zeit vielversprechenden Wirkens dauern. Die Zusammenkunft des Papstes Paul III. mit Kaiser Karl V. in Lucca 1541 schien seinen Gegnern eine günstige Gelegenheit für ihre Anschläge darzubieten. Vorerst wurde ein Schüler Vermilis einer freimütigen evangelischen Predigt wegen ins Gefängnis geworfen; da sich aber hierbei der starke Unwille der Bevölkerung Luccas kund gab, blieb Vermili selbst noch verschont. Doch wurde durch eine geheime Anklage gegen ihn in Rom seine Verdammung eingeleitet; seine Gegner unter den Mitgliedern seines Ordens veranstalteten eine Versammlung von Ordensgliedern in Genua, dorthin zitierten sie ihn, um ihn dem Schutze des luccesischen Adels und Volkes zu entziehen. Doch klar genug durchschaute Vermili die Plane seiner Feinde; den Umschwung der Dinge in Italien und besonders am päpstlichen Hofe in Bezug auf die vorher von der Kurie selbst als notwendig empfundene Reformation erkannte er völlig; zur Verheimlichung seiner wahren Gesinnung gleich vielen Andern sich zu bequemen, hatte er vorher schon in freundschaftlichen Gesprächen mit dem Kardinal Contarini seinem geraden Charakter gemäß ganz entschieden abgelehnt. Er erkannte, dass es nur noch eine Ausgleichung gebe zwischen seiner äußeren Lage und seiner Gesinnung, nur Ein Mittel um wirksam zu bleiben für die Herstellung der Kirche; nämlich seinen Feinden zuvor zu kommen und den letzten Augenblick, da sie ihm die Freiheit noch gönnen mussten, anzuwenden, um diese für seine fernere Lebenszeit sich zu sichern. Er erkannte, dass er seine hohe Stellung, seine ergebenen Schüler (von denen in den folgenden Jahren 18 ihm ins Ausland nachfolgten), sein liebes Italien verlassen müsse, fasste voll edler Entsagung den schweren Entschluss und führte ihn mit aller Umsicht und Besonnenheit rechtzeitig aus.

Nachdem er das Seine geordnet, reiste er 1542 mit zwei ausgezeichneten Gelehrten, seinen bisherigen Mitarbeitern, und einem treu ergebenen Diener heimlich ab und gelangte nach Pisa. Nachdem er hier mit seinen Begleitern und einigen reformatorisch gesinnten Pisanern das heilige Abendmahl gehalten hatte, ging er nach Florenz. Merkwürdiger Weise traf er hier mit einem Schicksalsgefährten zusammen, der eben im Begriff war nach Rom zu reisen, wohin er beschieden war, mit Bernhard Occhino. Von Vermili gewarnt beschloss auch dieser ungesäumt Italien zu verlassen; er reiste über Herrara nach Zürich und Genf. Vermili folgte ihm zwei Tage später; überall von alten Freunden gefördert, gelangte auch er glücklich nach Zürich und Basel. Da aber an keinem der beiden Orte eine Lehrstelle offen stand, so folgte er mit Freuden dem Rufe Bucers nach Straßburg, der ihm die durch Capitos Tod erledigte Professur der alttestamentlichen Schriftauslegung anbot. Er freute sich, inmitten einer hergestellten Christengemeinde zu leben; und hier leuchtet nun seine Sprach- und Sachkenntnis, seine Klarheit und Genauigkeit in der Auslegung, seine Einsicht in den Sinn und Umfang der christlichen Glaubenslehren, seine Feinheit und Geschicklichkeit im Disputieren und in der Leitung der Disputationen vorzüglich hervor. Wie sehr er Bucers ungemeine Tätigkeit bewunderte und in schönster Eintracht mit ihm lebte, so unterschied er sich doch dadurch bestimmt von ihm, dass er keiner zweideutigen oder dunklen Worte sich bedienen mochte. Fünf Jahre verlebte Vermili in unausgesetzter akademischer Tätigkeit in Straßburg; als aber in Deutschland die Maßnahmen Karls V. immer bedenklicher sich entwickelten, Occhino von Augsburg flüchtig nach Straßburg gekommen war, und auch diese Stadt keine Zufluchtsstätte mehr darbot, da folgte er im November 1547 dem dringenden Rufe Cranmers, des Erzbischofs von Canterbury, der unter dem hoffnungsvollen Eduard VI. eben um die Erneuerung der Kirche Englands eifrig bemüht war, und hierfür so wie namentlich für Heranbildung tüchtiger Kräfte unter den trübseligen und verworrenen Zustanden des Landes die Hilfe ausländischer Gelehrten sehr bedurfte. So hatte der Herr schon wieder dafür gesorgt unserm Vermili in fernem Lande sofort einen neuen Schauplatz seiner Wirksamkeit zu eröffnen.

Oxford ward die Stätte für sein Wirken, hier widmete er seine Kräfte wiederum den akademischen Vorlesungen, anfangs selbst von den päpstlich Gesinnten gerne gehört. Doch bald entflammte sich ihr Hass. Als sie einst arglistiger Weise ihn zu einer ungeordneten Disputation zu bringen suchten und ihn selbst in Gefahr brachten, da hatte der milde und sanfte Mann Anlass, seine Unerschrockenheit und Standhaftigkeit glanzvoll zu bewähren; die hernach erfolgende große Disputation über das Abendmahl gab ihm Gelegenheit seine Geistesschärfe zu zeigen. An Gefahren, Verunglimpfungen und rohen Anfeindungen fehlte es ihm indes in Oxford nie, obgleich er feierlich zum Doktor der Theologie erklärt und Dekan des Kollegiums an der Christkirche wurde. An den wichtigsten kirchlichen Arbeiten, namentlich an der Bearbeitung der Kirchengesetze für die erneuerte englische Kirche hatte er den größten Anteil. In Oxford starb ihm seine treue Gattin, Catharina Dammartin aus Metz, mit der er sich in Straßburg vermählt hatte. Durch ihre Sorge für die Armen, durch ihre weise Hilfeleistung bei Krankheiten, besonders auch bei Geburten, erwarb sie sich solche Liebe, dass sie von den Dürftigen fast wie ein höheres Wesen verehrt wurde. Ihre Gebeine, von den Katholiken ausgegraben, wurden unter Elisabeth ehrenvoll beigesetzt. –

Während aber Cranmer heftig und nicht ohne Gewaltsamkeit in der Erneuerung der Kirche fortschritt, starb Eduard VI. noch als Jüngling, die blutige Maria folgte ihm auf dem Throne, und alsbald sah Vermili seine Schüler wieder dem Rufe der Messglocke folgen. Er erfuhr wieder einmal den größten Glückswechsel. Kaum hatte er mit großer Gefahr Oxford verlassen, so eilte er zu Cranmer; als dieser von aller Welt verlassen ward, trat er ihm mutvoll zur Seite und machte sich anheischig mit Cranmer die unter Eduard VI. angeordnete Gestaltung der kirchlichen Dinge öffentlich zu verteidigen. Als die Königin Maria durch die Verhaftung Cranmers und seiner Gefährten darauf antwortete, bat Vermili um seinen Abschied. Er selbst schwebte in der größten Gefahr, nicht nur ehe er seine Entlassung erhielt, sondern selbst nachher. Über Antwerpen gelangte er mitten durch das Gebiet heftiger Gegner wunderbar wohlbehalten nach Straßburg, wo die alten Freunde ihn mit freudigem Erstaunen aufnahmen; auch der Rat war ihm aufs Neue gewogen.

Inzwischen hatte sich auch in Straßburg Vieles verändert, Bucer war längst in England gestorben; man hatte sich schon gewöhnt Alles nach den stehenden Formeln der Bekenntnisse zu messen; man war der Zeit des Orthodoxismus um ein Bedeutendes näher gerückt; in Straßburg hatten heftige Lutheraner Ehre und Ansehen gewonnen. Der Rat erklärte sich zwar durch die von Vermili abgegebene Erklärung befriedigt. Doch ließ man ihm keine Ruhe, er fühlte sich stets von neuen Verdächtigungen umringt. Einen Ruf nach Genf an die Predigerstelle bei der italienischen Gemeinde lehnte er zwar ab; als aber seine Gegner einen Studierenden veranlassten die reformierte Lehre aufs heftigste öffentlich zu schmähen, behielt er zwar seine friedfertige Sanftmut bei; doch war ihm nun der Ruf nach Zürich an die Stelle Pelikans sehr erwünscht. Ungern ließ ihn der Straßburger Rat, im Juni 1556, abreisen.

Während er nun bei Bullinger vorerst seine Herberge fand, knüpfte sich zwischen diesen beiden Männern die auf wahre gegenseitige Hochachtung und gemeinsames einmütiges Streben gegründete Freundschaft immer fester und schloss sie unauflöslich zusammen. Während Bullinger den ganzen äußeren Stand und Gang der kirchlichen Angelegenheiten leitete sowie den Verkehr nach außen hin, fand er sich durch Vermili von der wissenschaftlichen Seite her durch Gelehrsamkeit, Schärfe des Gedankens, Präzision im Ausdruck aufs trefflichste ergänzt und unterstützt. Vermilis friedliebender, echt humaner Charakter trat auch hier wieder überall aufs wohltuendste hervor; die Zürcher Theologen lebten damals in der schönsten Einstimmigkeit. Hier fand nun Vermili Muße und namentlich auch Freiheit, seine gelehrten Werke auszuarbeiten und herauszugeben, sowohl Auslegungsschriften von reichem Gehalt als namentlich auch sein großes Werk über das Abendmahl; eine Gelehrsamkeit bewährte sich darin, welche selbst Calvin gerne über seine eigene setzte. Vermilis Verdienste fanden in Zürich so große Anerkennung, dass er, selbst entgegen einem kurz zuvor gefassten Beschlusse, ins Bürgerrecht aufgenommen wurde. Hier trat er mit der italienischen Gemeinde in Zürich, deren Prediger damals Bernhard Occhino war, als Freund und Ratgeber in nahe Verbindung und leistete ihr die größten Dienste; er wurde von ihr außerordentlicher Weise zum Mitgliede ihrer Vorsteherschaft erwählt; eine Angehörige derselben, Catharina Merende aus Brescia, wurde seine zweite Gattin; sie gebar ihm eine Tochter und einen Sohn, welche beide früh starben, und nach seinem Ableben noch eine Tochter, welche das reifere Alter erreichte. Die italienische Gemeinde in Genf, welche viele vornehme Mitglieder zählte und manche ehemalige Schüler Vermilis, wählte ihn nach dem Tode ihres Predigers des Grafen Martinengho zu ihrem Prediger; unterstützt wie früher von Calvins Bitten drang sie aufs angelegenste in ihn den Ruf anzunehmen; Vermili aber hing so sehr an Zürich, dass er die Sache dem Rat in Zürich anheimstellte, und dieser entließ ihn nicht. Dasselbe war der Fall, als seine Freunde in England, die in steter Verbindung mit ihm blieben, unter den glänzendsten Anerbietungen, die sie im Namen der Königin Elisabeth ihm machten, ihn dorthin zurückriefen. Voll froher Teilnahme aber an dem Aufschwung der Reformation in England war er stets bereit mit seinen oft erbetenen Ratschlagen beizustehen. Nach einer anderen Seite hin aber sollte sich ihm gegen Ende seines Lebens noch eine Gelegenheit zu einer vorübergehenden Mitwirkung eröffnen, nämlich in Frankreich.

Seit 40 Jahren waren hier die Protestanten verfolgt worden, und doch hatte ihr Wachstum nicht gehindert werden können, vielmehr war die Lage des Reiches nur immer verwickelter geworden. Unter dem unmündigen Carl IX. seit Dezember 1560 herrschte dessen Mutter, die schlaue Catharina von Medici, während die beiden Parteien der Guisen und Bourbons sich um den Einfluss stritten und die furchtbarsten Zerrüttungen drohten. Noch schien ein letzter Augenblick zur Ausgleichung vorhanden, zumal der weise und edle Kanzler l’Hopital ernstlich strebte, anstatt des bisherigen Verfahrens gegen die Protestanten einen mildern Weg einzuschlagen, um endlich einmal den Zerwürfnissen hinsichtlich der Religion ein Ende zu machen; und so wurde im September 1561 ein öffentliches Gespräch in der Abtei Poissy nicht weit von St. Germain bei Paris veranstaltet. Da gelangte nun sowohl von Seiten der Protestanten namentlich Calvin und Theodor Beza, welcher Letztere selbst Teil nehmen sollte, als auch von Seiten der Katholiken das dringende Begehren nach Zürich, dass Vermili sich dazu einfinde. Katharina von Medici insbesondere schien sehr den Wunsch zu hegen, ihn, ihren Landsmann, entsprossen aus einer der edelsten Familien ihres Vaterlandes, dabei zu sehen. Doch nur unter den genauesten Vorsichtsmaßnahmen ließ der Rat von Zürich Vermilis Abreise zu. Am französischen Hofe angelangt, nachdem bereits eine öffentliche Sitzung stattgefunden hatte, wurde er aufs ehrenvollste empfangen. Über den Wert solcher Höflichkeit, wie über den der Religionsgespräche überhaupt, täuschte er sich zwar nicht; indes benutzte er gerne die ihm zu Teil werdenden Audienzen, um sowohl der Catarina, welche damals noch als geistvolle und weise Fürstin, noch nicht als Muster der Falschheit erschien, als dem König Anton von Navarra eine gemäßigte Reformation und milde Behandlung der Protestanten als das rechte Mittel zur Beilegung der religiosen Zerwürfnisse anzuempfehlen. Mit Sicherheit wusste er den verfänglichen Fragen, die mehr aus List als aus Unwissenheit an ihn getan wurden, zu begegnen. Sodann wohnte er der Sitzung bei, in welcher der Kardinal von Lothringen (Carl v. Guise) eine glänzende Rede hielt gegen die Protestanten. In einer folgenden Sitzung entgegnete ihm Vermili auf besondere Erlaubnis Catarinas, zuerst in italienischer, dann in lateinischer Sprache, und überführte den Cardinal mehrerer Irrtümer. Bei diesem Anlass war es, dass auch der Jesuiten-General Lainez sich ins Gespräch mischte, indem er die Reformirten, freilich mit Bibelstellen, Affen, Wölfe, Füchse und Ungeheuer schalt. Besonders schwierig ward dann die Sache, als die Beratung der streitigen Punkte einem Ausschuss überwiesen wurde; hier unterstützte Vermili den Beza und die übrigen Protestanten besonders durch Abweisung aller täuschenden und zweideutigen Formeln; auch während des öffentlichen Gesprächs war seine große Gelehrsamkeit und Geistesgegenwart dem Beza öfter sehr zu Statten gekommen. Sobald er dann sah, dass die Besprechungen durch den Einfluss der päpstlichen Gesandten und der gegnerischen Partei überhaupt vereitelt seien, bat er um seinen Abschied und erhielt ihn huldvoll. Die Häupter der Protestanten Frankreichs, der Prinz Condé und der Admiral Coligny), ließen ihn durch zwei ihrer Edelleute bis nach Zürich begleiten. Unterwegs fand er in Troyes den Bischof Carracioli mit dem größten Teile seiner Umgebung der Reformation zugetan; derselbe hatte die Vorsteher der Reformierten seiner Diözese bei sich versammelt, um sie zu bewegen, ihn auch in ihrer Kirche als Bischof anzuerkennen; Vermili dem dies von England her nichts fremdartiges war – unterstützte durch sein Ansehen das Begehren des Bischofs und sie entsprachen ihm; doch musste dieser das einzige Beispiel eines französisch-reformirten Bischofs auf Befehl der Regentin alsbald sein Bistum aufgeben.

Diese Reise ward für Vermili der Anfang seines Endes; die Anstrengung, welche sie mit sich brachte, bei der schon rauen Jahreszeit, hatte seine Gesundheit so sehr angegriffen, dass er sich nicht wieder erholte. Dazu kam zweierlei, was sein letztes Lebensjahr verbitterte. Einerseits die Heftigkeit mit der Johannes Brenz gegen seine milde Verteidigung der reformirten Abendmahlslehre auftrat. Anderseits der Fortgang der Dinge in Frankreich. Zwar wurde im Januar 1562 wenigstens ein beschränktes Recht des öffentlichen Gottesdienstes den Reformirten zugestanden; die Bemühungen des edlen Kanzlers l’Hopital schienen mit Erfolg gekrönt. Allein nur zu bald fing das Morden und Brennen wieder an; die beiden großen Parteien stießen immer heftiger an einander, der langjährige grauenvolle Bürger- und Religionskrieg kam zum Ausbruch.

Mit der größten Pünktlichkeit erfüllte Vermili bis in seine letzten Tage die Pflichten seines Berufes. Als aber die Fieberanfälle überhand nahmen, traf er ruhig seine letzten Verfügungen zur Obsorge für seine Gattin, die ihrer Niederkunft entgegen sah. Während dieser ganzen letzten Krankheit trat seine wahre Frömmigkeit aufs Klarste hervor. Mit großer Geduld und Sanftmut ertrug er die mancherlei sich häufenden Leiden seines Sterbelagers, bezeugte seine Glaubensfreudigkeit vor den Anwesenden und nahm herzlichen Abschied. Besonders rührend war sein Abschiednehmen von der Vorsteherschaft und dem Prediger der italienischen Gemeinde. An seinem Sterbelager stand Bullinger, dessen treuer Gefährte er gewesen, und der berühmte Naturforscher Conrad Gessner, sein vertrauter Freund. Raum merklich hauchte er sein Leben aus.

Suchen wir die Eigentümlichkeit dieses Mannes zusammen zu fassen, so finden wir als die hervorstechenden Züge seines Charakters Friedensliebe und Sanftmut, aber eine Friedfertigkeit, die mit dem reinsten Wahrheitssinne gepaart, nie der Wahrheit vergeben mochte um des bloß scheinbaren Friedens willen, und eine Sanftmut, die aus ihrer inneren Stille gerade in den entscheidenden Momenten seines Lebens im Angesicht der Gefahr eine heldenmütige Standhaftigkeit hervorbrachte. Dabei zeichnete sich sein Umgang stets durch Würde und Anmut aus. Besondere Zuneigung hatte er daher zu Melanchthon. Calvin, dem er an theologischer Gelehrsamkeit noch überlegen war und dessen höchste Achtung er stets genoss, pflegte ihn das „Wunder Italiens“ zu nennen, wohl darum besonders, weil er die Vorzüge der Begabtesten unter seinen Landsleuten in sich trug, ohne die Fehler, die man ihnen beilegte „Scharfsinn ohne Spitzfindigkeit, Feuer ohne Schwärmerei, Gewandtheit ohne Hinterlist,“ bei ihm daher seine allgemein humane, philosophische Bildung sich nicht mit dem Christentum entzweite, sondern vielmehr beides in vollem Einklange stand, und er so die gesunde rechte Stellung zur Kirche gefunden hatte. Er, der die beiden Momente, die auch bei unseren Zeitgenossen so oft auseinander geben wollen, das Positive und das allgemein Humane so in sich einigte, dass er mit all seiner Bildung nur Christo die Ehre gab, und deren Durchdringung in einem feinen Christenherzen pflegte, möge daher uns Allen in gesegnetem Andenken bleiben als ein rechter Wahrheitszeuge.

C. Pestalozzi, Geistl. in Zürich.

Gerhard Tersteegen

Gerhard Tersteegen wurde geboren am 25. November 1697 zu Moers im Regierungsbezirk Düsseldorf als Sohn des Kaufmanns Heinrich Tersteegen und der Maria Kornelia Tersteegen, geborenen Triboler. Von acht Kindern, sechs Söhnen und zwei Töchtern, war Gerhard der jüngste; einer seiner Brüder war Prediger, die andern Kaufleute, unter welchen besonders einer Namens Johannes diesen seinen jüngsten Bruder vorzüglich liebte. Durch seine treffliche Begabung legte er die Gymnasialstudien auf dem Gymnasium zu Moers rasch und glänzend zurück und wurde von verschiedenen Seiten zum Universitätsstudium aufgefordert. Weil aber der Vater früh starb, so glaubte die Mutter auf diesen Vorschlag nicht eingehen zu können und bestimmte Gerhard zur Kaufmannschaft, welche er von seinem 15. Lebensjahre an in vier Jahren bei seinem Schwager zu Mülheim an der Ruhr erlernte.

In Mülheim war es, wo er schon in seinem 16. Jahr von Gottes Gnade merklich ergriffen und berührt wurde, indem er einen erweckten Kaufmann kennen lernte, welcher sehr segensreich auf ihn einwirkte. Ganze Nächte brachte er mit Beten, Lesen und frommen Betrachtungen zu. Er übergab sich völlig dem HErrn ohne Vorbehalt. Weil die Kaufmannschaft seinem ruhigen, stillen Wesen nicht recht zusagte, wählte er nach Beendigung seiner vier Lehrjahre sich einen andern, stilleren Beruf, nämlich das Bandweben, und blieb in Mülheim lebenslänglich wohnen.

Seine Lebensweise war äußerst einfach, seine Kleidung schlicht; seine Speisen, die er sich, weil er seine Lebenstage im ledigen Stande zubrachte, meistens selbst bereitete, bestanden zumeist aus Mehl, Wasser und Milch. Wie gering auch sein Einkommen sein mochte, so bewies er sich doch überaus freigebig gegen die Armen. Des Abends pflegte er in die Häuser der Dürftigen und Kranken zu gehen, und teilte ihnen mit, was er von seinem Verdienste nur immer entbehren konnte. Bei der Teilung der mütterlichen Erbschaft wiesen ihm seine Miterben ein Haus zu; von seinem Bruder Johannes erhielt er den Wert dieses Hauses in barem Gelde, welches er ebenfalls größtenteils an Arme hingab. Dabei genoss er die größte Zufriedenheit und dachte, kein König in der Welt könne so zufrieden leben, wie er.

Allmählich führte ihn der HErr in innere Leiden. Er musste durch manche Dunkelheiten, Versuchungen und Proben hindurch gehen. Gott entzog ihm seine Gnade, um seine Treue und ausharrende Geduld zu prüfen und ihn auf seine spätere Wirksamkeit vorzubereiten. Fünf Jahre lang dauerte diese Finsternis. Endlich ging ihm das Licht wieder auf, indem er die versöhnende Gnade Jesu Christi völlig erfasste, wodurch er in seinem Innern gründlich beseligt wurde. Bei dieser Gelegenheit dichtete er das schöne Lied im „Blumengärtlein“: „Wie bist Du mir so innig gut, mein Hoherpriester Du!“ Wohl um dieselbe Zeit hat er die Verschreibung an den Herrn Jesum mit seinem eigenen Blute vorgenommen. Durch solche gründliche Erleuchtung und Erfahrung wurde er so in der Erkenntnis Gottes gefördert, dass er später mit solch großer Kraft und Salbung davon hat reden und schreiben können.

Etwa ein Jahr nach jener Verschreibung (1725) nahm er einen gewissen Heinrich Sommer zu sich, um ihn das Bandweben zu lehren. Des Morgens um 6 Uhr kamen sie zusammen und arbeiteten bis 11 Uhr, hierauf sonderten sie sich ein Stündchen ab, um dem Gebete obzuliegen. Um 1 Uhr gingen sie wieder an die Arbeit, die bis abends 6 Uhr dauerte. Darauf machten sie Feierabend und verwendeten wiederum ein Stündchen zur Absonderung und zum Gebete. Die Zeit nach 6 Uhr abends brauchte Tersteegen zur Übersetzung und Abfassung erbaulicher Bücher und Gesänge. So übertrug er ins Deutsche Jean de Labadies((Jean de Labadie ist geboren den 13. Februar 1610 zu Bourg in Guyenne (Frankreich), studierte Theologie, besonders die Werke Augustins und Bernhards von Clairvaux (sprich: Klärwoh) (gest. 1153). Seine Begabung und sein Rednertalent verhalfen ihm bald zu großer Anerkennung, so dass er Prediger, Professor und Universitäts-Rektor zu Montauban ward. 1659 wurde er Prediger zu Genf, woselbst ihn Philipp Jakob Spener (gest. 1705 zu Berlin) kennen lernte. Labadie starb 1675.)): „manuel de piété,“ (Handbüchlein der wahren Gottseligkeit), Thomas von Kempens (Thomas a Kempis)((Thomas – sein eigentlicher Name ist Thomas Hämerken (Hämmerchen) – wird gewöhnlich genannt nach seinem Geburtsort a (=von) Kempis, d. i. Kempen (bei Köln), wo er 1380 geboren wurde, war Mönch in dem Augustinerkloster auf dem Agnesberge bei Zwolle in der Nähe von Utrecht (Holland), wo er 1471 starb. Unter seinen Erbauungsbüchern ist das über die „Nachfolge Christi“ („de imitatione Christi“) sehr berühmt geworden, welches bis auf die Gegenwart eines der beliebtesten Erbauungsbücher geblieben ist. Man hat es in alle gebildeten Sprachen übersetzt, wie es denn nach der heiligen Schrift das verbreitetste Buch der Welt sein dürfte. Der Zweck des goldenen Büchleins ist darzutun, dass die Nachfolge Jesu in der Abkehr von der Welt, in der Ertötung des Fleisches und in der unbedingten Hingebung an den HErrn bestehe. Dies wird mit der rührendsten Innigkeit klar und einfach in den drei ersten Büchern ausgeführt, worauf das vierte die rechte Begehung des hl. Abendmahls schildert.)): „de imitatione Christi“ (Nachfolge Jesu Christi), und anderes; er selbst verfasste den „Unparteiischen Abriss christlicher Grundwahrheiten“, „auserlesene Lebensbeschreibungen heiliger Seelen“ (neu herausgegeben 1887 bei C. F. Spittler in Basel), „die wahre Theologie des Sohnes Gottes“, „der Frommen Lotterie“, „Geistliches Blumengärtlein“, den Weg der Wahrheit“ und vieles andere.

Bei seiner großen Neigung zur Einsamkeit und Stille suchte er seinerseits keine Anlässe sich sehen und hören zu Lassen. Doch auf das Zureden seines Freundes des Kandidaten Wilhelm Hofmann, welcher in der von dem gesegneten Pastor Theodor Undereyk (geb. 1635 zu Duisburg) zu Mülheim gestifteten Versammlung und auch sonst redete, fing Tersteegen an, in den Erbauungsstunden erweckter Seelen Vorträge zu halten.

Durch die Fülle seiner Erfahrungen im Christenleben sowie durch seine Herzlichkeit und Redekraft stiftete er äußerst großen Segen. Viele Unbekehrte wurden dadurch zu dem HErrn bekehrt, Erweckte tiefer gegründet und weitergefördert. Doch nicht nur in der Nähe wirkte er mit vielem Segen, sondern auch, da er durch Veröffentlichung von Schriften immer mehr bekannt wurde und seine Gottseligkeit weithin leuchtete, in der Ferne. Von weither bekam er viele Briefe, darin Leute, die in allerlei Versuchungen, Prüfungen und Anfechtungen standen, mit dem größten Zutrauen bei ihm sich Rat einholten. Personen der verschiedensten Stände aus der Schweiz aus Holland, England, Schweden und Deutschland besuchten ihn zu Mülheim, wo in seinen Erbauungsstunden oft 300 bis 400 Menschen erschienen, dadurch sein Haus ganz angefüllt ward, so dass manche auf eine Leiter stiegen, um durch die Fenster ihn hören zu können. Um auswärtige Freunde, die ihn aufsuchten, beherbergen zu können, mietete er das Haus seines verstorbenen Freundes Hofmann, das deshalb auch „Pilgerhütte“ hieß. Ungeachtet seiner schwächlichen Körperbeschaffenheit war er rastlos tätig im Reden, Raten, Helfen und Schreiben. Von früh bis spät sah er sich den Tag über von solchen umringt, die Rat bei ihm suchten. War er wieder allein, so hatte er eine Menge Briefe zu beantworten oder er schrieb und übersetzte erbauliche Bücher. Nicht bloß in Mülheim, sondern auch in der Umgegend bat man ihn, Erbauungsstunden zu halten. Durch sein überaus liebreiches Wesen, durch seine schonende Geduld mit Schwachen, durch seine besondere Weisheit, jeden zur Offenherzigkeit zu bringen, durch seine innige Teilnahme an den Leiden andrer erwarb er sich das Zutrauen der Leute im höchsten Maße.

Befand er sich unter kindlichen und gottergebenen Seelen, so war er in seinem Element. Dann war er besonders liebreich und offenherzig, und wurde ihm eine Frage vorgelegt, so floss sein Mund von göttlicher Weisheit über. Seelen, die über ihre Seligkeit verlegen waren, machte sein demütiges und liebreiches Wesen so offenherzig, dass sie ihm ihr ganzes Herz entdeckten. Solche wies er eindringlich zu dem Heiland hin und überzeugte sie gründlich, dass sie nur allein bei ihm, in seiner Versöhnung, Vergebung, Gnade und Ruhe finden können. Zugleich wies er sie ernstlich darauf hin, dass sie nun auch ihrem HErrn aus Liebe und Dankbarkeit gehorsam werden und sich ihm völlig ergeben müssten. Dabei war er weit davon entfernt, den Seelen zu viele Vorschriften zu geben. Wer mit Seelen umgeht“, sagt er, „muss wie eine Kinderwärterin sein, die das Kind am Leitband hält, und es nur vor Gefahr und Fallen bewahrt, sonst aber dem Kinde seinen freien Gang lässt.“

„Es ist gottlob hier viel Erweckung und Bewegung unter den Menschen“, schreibt er. Seit einigen Wochen „hinter einander hat immer vom Morgen bis an den Abend der eine auf den andern warten müssen, um mich sprechen zu können. Manche müssen fünf bis sechs Mal wieder umkehren, ehe ein Viertelstündchen kann gefunden werden, um mich allein zu sprechen. Es kommt vor, dass ich 10, 20 ja 30 und mehr bekümmerte Seelen zugleich bei mir habe.“ „Die Erweckung hier hält noch immer an. Ich muss mich beinahe vom Morgen bis an den Abend dahingeben, um mich entweder mit einzelnen Seelen oder mit mehreren zugleich in ein Gespräch einzulassen. Vergangenen Donnerstag um acht Uhr wurde mir angesagt, dass ein ganzer Trupp Bauersleute ins Haus kommen wollten, um mich zu sprechen. Es dauerte denn auch keine halbe Stunde, und ich hatte bei 50 Menschen beisammen, die haben wollten, ich sollte etwas zu ihnen reden, was ich denn auch tat. Unter dem Reden über Jes. 55,10 ff. entstand bei den Zuhörern eine gewaltige Bewegung; zwei Leute gerieten in ein starkes Beben. Unter dem Sprechen kam einer von den hiesigen Pastoren, um mich zu besuchen. Man sagte ihm, ich sei eben am Reden, weil unvermutet viele Freunde zum Besuch gekommen wären; er möchte nur meinem Reden zuhören, weil es doch schiene, dass er gegen dergleichen Versammlungen ein Vorurteil habe.“

„Nach dem Reden ließ ich einige sehr bekümmerte Gemüter allein zu mir kommen, unter welchen sich auch eine Witwe befand, die sehr angstvoll aussah. Diese warf sich vor meine Füße nieder auf die Erde; ich hieß sie aber aufstehen. Da bekannte sie ungefragt ihre Sünden, wovon ich gestehe, dass sie schwer waren. Weil sie ganz außer Fassung war, ermutigte ich sie, mir alles zu sagen, was ihr auf dem Herzen liege, mit der Versicherung, es geheim zu halten.“ „Was,“ sagte sie darauf, geheimhalten? Sagt es nur der ganzen Welt. Ich fürchte die Schande vor den Menschen nicht, ich unterwerfe mich allen Leiden, und sollte ich auch als ein Totengerippe auszehren, wenn ich nur Gnade bei Gott finde.“

„Ich probiere es bisweilen, mich mit Gewalt zu entziehen, aber es hilft mich doch nichts. Verwichenen Sonntag war ich kaum aus dem Bette aufgestanden, da musste ich vor mehr als 60 Personen, die ins Haus gedrungen waren, reden, was ich denn tat über Matth. 21,5. Gestern, als am Mittwoch frühe, nachdem ich die ganze Nacht in einem Fieber gelegen, versammelten sich auf dem Kornboden des Hauses und dem daran gelegenen Zimmer zum wenigsten 250 Menschen, vor denen ich unter dem Beistand der Gnade Gottes über Gal. 1,3.5 sprach. Heute Morgen frühe habe ich schon wieder reden müssen, ohne dass ich es eine Viertelstunde vorher wusste. Nun aber bin ich doch recht abgemattet.“

„Stellte ich die Versammlungen regelmäßig zu bestimmten Zeiten an, wie es manche gerne wollten, dann würde der Platz überall zu klein werden. Man hatte bereits unsere Obrigkeit sehr in den Harnisch gebracht, welches doch nun wieder vorüber ist. Ich sagte zu unsrer Obrigkeit: „Findet ihr Freiheit in euerm Gewissen mir das Sprechen zu verbieten, so finde ich Freiheit, euch zu gehorchen, was ich nicht tun würde, wenn ich bei mir selbst eine Gewissheit davon hätte, dass es ein göttlicher Ruf sei.“ Man wollte mir es zwar nicht verbieten, sondern sagte nur, der Zulauf sei zu groß. Ich antwortete: „Ich heiße niemand kommen, werde aber auch niemand heißen wegbleiben.“

„Zwei von unsern Pastoren gingen zu der Regierung, klagten und baten, dass es möchte verboten werden. Ich wusste nichts darum, vermutete aber doch etwas und fand mich gedrungen einen Brief an unsern Amtmann zu schreiben, um ihm Bericht zu geben. Siehe, da war der Befehl schon bei dem Sekretär, um abgeschrieben und des folgenden Tages veröffentlicht zu werden. Der Amtmann, der mir sehr gewogen ist, und nicht wusste, dass ich mit in der Sache begriffen war, ließ den Befehl von dem Sekretär holen und sandte mir ihn heimlich zu mit einem eigenhändigen sehr freundschaftlichen Schreiben. Ich schrieb darauf an drei von unsern Pastoren und stellte ihnen ihr unbilliges Verhalten vor Augen, erbot mich auch, in ihrer Anwesenheit sprechen zu wollen mit der Versicherung, dass, wenn sie solchem mit aufrichtigem Herzen zustimmten, sie gar bald die Kirche wieder voller Menschen haben würden, weil das Volk alsdann sähe, dass sie der guten Sache zugetan seien, wo im Gegenteil jetzt die Kirche leer stände. Sie schienen sich damals noch auf unsern Richter zu verlassen, der ein Feind der Versammlungen war. Ich schrieb dann auch an diesen einen ziemlich scharfen Brief, und hielt ihm darin vor, wie übel er tun würde, wenn er gute Versammlungen verbieten, und dagegen Seiltänzer, Spiel- und Saufgelage erlauben wollte. Ich stellte ihm vor, wie er auf seinem Sterbebette desfalls gesinnt sein möchte? Kurz, der Richter und die andern der Regierung gaben nach und gestanden, dass ich recht hätte.“

„Die Freunde von Krefeld schickten eine Chaise((Kutsche)) hierher, um mich abzuholen. Sobald es nun ruchbar ward, dass ich in der Stadt sei, sandte das Konsistorium der Mennoniten zu mir und ersuchte mich, einen Tag zu bestimmen, da ich in ihrer Kirche predigen könnte, denn sie wussten, dass ich nicht über den Sonntag bleiben wollte. Dies Ersuchen kam mir fremd vor; gleichwohl entschloss ich mich in Gottes Namen es als einen Wink von seiner Hand anzunehmen. Des Mittwochs morgens, am 25. August (1751), kamen die beiden Prediger und begleiteten mich nach der Kanzel. Wie ich in die Kirche kam, war sie voll gepfropft von allerlei Konfessionen, doch meistens von Reformierten und Mennoniten, und Gott gab mir zu reden über 2 Petri 3,11. Die Menschen waren sehr gerührt und einige so stark, dass man hoffen kann, dass es haften bleiben wird.“

Wenngleich Tersteegen sehr wenig Zeit fand, sich auf seine Reden vorzubereiten, und meist nur aus dem Herzen sprach, so zeigten dieselben doch bewundernswerte Einheit, Ordnung und Klarheit. Eine seiner Reden schrieb er 1751, nachdem er sie gehalten, selbst auf und ließ sie drucken. Sie wurde so verbreitet, dass sie öfters gedruckt werden musste. Man ersuchte ihn, noch mehrere dem Drucker zu übergeben. Um diesem Wunsche zu willfahren, hielt er sich acht Schreiber oben im Hause, welche die Reden nachschrieben. Und so er schienen 30 Reden unter dem Titel: „Geistliche Brosamen“. Da die Zahl der Zuhörer so überaus groß wurde, musste er sich beim Sprechen sehr anstrengen, damit alle hören und verstehen konnten. Allein solche Anstrengungen konnte sein schwacher Körper nicht ertragen und es wurde ihm dadurch ein Leibschaden verursacht, wodurch er genötigt wurde, das Reden in allzu großen Versammlungen und weite Reisen zu unterlassen. Nur in die Nähe, nach Duisburg, Spelldorf, Essen ging er noch bisweilen, um seinem schwachen Körper eine Bewegung zu machen und um zugleich die Freunde daselbst zu besuchen. Manchmal ging er mit Freunden in den eine halbe Stunde entfernten Wald, wo sie unter gottseligen Gesprächen den Tee zu sich nahmen, ein geistliches Lied fangen und mit Gebet schlossen.

Um ihn der Nahrungssorgen zu überheben, boten ihm christliche Freunde wiederholt Unterstützungen an. So wollte ihm ein Kaufmann lebenslänglichen Unterhalt gewähren, eine Dame setzte ihn in ihrem Testamente zum Verwalter über 40.000 Gulden unter der Bedingung ein, dass er seine eigenen Bedürfnisse damit bestreiten solle. Ein Holländer bat ihn unter Tränen, den Betrag von 10.000 Gulden von ihm doch annehmen zu wollen. Aber alle diese und noch mehrere andere Anerbietungen schlug er aus und nahm nur, da er wegen Körperschwäche zur Handarbeit nicht mehr fähig war, milde Gaben von besonders nahe stehenden Freunden an. Um aber nicht ganz ohne Handarbeit zu sein, bereitete er, da er medizinische Kenntnisse besaß, Arzneien, die er an Freunde und Arme umsonst abgab und die so häufig gesucht wurden, dass er einen Freund zum Gehilfen nehmen musste. Auch die Juden holten Arzneien bei ihm, und haben für ihn, als er krank war, Betstunden gehalten.

Mit weltlich Gesinnten ging Tersteegen ohne Not nicht um. Musste er aber zuweilen mit solchen verkehren, so flößte seine Gottseligkeit sehr große Achtung und Ehrfurcht denselben ein. Gab es Gelegenheit, ein Wort der Ermahnung und Erbauung anzubringen, so ließ er sie nicht unbenutzt vorbeigehen; im großen und ganzen verhielt er sich aber im Umgang mit irdisch Gesinnten meistens stille. Als er auf einer Reise nach Holland im Omnibus mehrere Kaufleute vorfand, war er zuerst ganz still, lehnte den Kopf an die Wand des Wagens an, indem er die Augen schloss, als wenn er schliefe. Nach verschiedenen Erzählungen und Gesprächen wollten die Mitreisenden zum Kartenspiel übergehen. Da öffnete Tersteegen die Augen und sagte, er hätte eine schöne Karte in der Tasche. Auf Verlangen zog er das Neue Testament hervor. Als sie nun beim Anblick desselben sagten: „Da sollte man ja toll werden,“ antwortete Tersteegen: „Seid ihr Leute denn nicht toll?“ und wiederholte alle ihre nichtswürdigen, zeitverderbenden Reden und suchte sie aus ihren eigenen Worten und Reden davon zu überzeugen, wie töricht sie handelten, dass sie die edle Zeit so unnütz verschwendeten. Einige gaben ihm Beifall, die andern aber wurden wenigstens von ihrem Vorhaben abgehalten.

Gegen jedermann war er dienstfertig; er scheute keine Arbeit und Mühe, um Gottes Ehre, sein und andrer Seelen ewiges Heil zu fördern. Wie viele suchten Rat und Tat bei ihm für ihre kranke Seele, wie viele auch für ihren kranken Leib, weshalb man ihn mit vollem Recht einen Seelsorger und der Armen und Verlassenen Leibarzt nennen kann. Alle seine Körper- und Geisteskräfte verzehrte er im Dienst Gottes und des Nächsten. Als einst eine Freundin kam und sein Antlitz mit einem matten Schweiß bedeckt sah, sagte er zu ihr: „Ich bin so schwach, habe viele Besuche, auch habe ich schon vieles geschrieben und noch sechs Briefe unerbrochen daliegen, die noch beantwortet sein wollen.“ Tersteegen muss nicht geschont werden, er muss keine Ruhe haben.“ Und da er sah, dass sie mitleidig und traurig darüber ward, stand er auf, ging das Zimmer auf und ab und sang mit freudiger Stimme zwei Verse.

Durch sein väterliches Mitleid, sein gesalbtes Beten und seinen tröstlichen Zuspruch war er vielen Kranken in hohem Maße erbaulich und erquickend. Oft blieb er, der Kränkliche, halbe und ganze Nächte bei Kranken, die er durch seine Tröstungen derart im Vertrauen auf ihren HErrn und Heiland zu stärken wusste, dass sie im Frieden hinschieden. „Ich blieb über Nacht bei der Kranken und konnte manches mit ihr seufzen und reden. Sie blieb ruhig im kindlichen Vertrauen bis an ihr Ende. Sie verstand, was ich sprach und versiegelte alles mit Ja und Amen. Das Letzte, worauf sie Ja und Amen sagte, waren die beiden letzten Verse aus dem Liede: „So gehts von Schritt zu Schritt“, „ich lege meinen Geist;“ darauf sagte ich noch: So nimm denn, o Herr Jesu, in Gnaden auf den Geist Deines Kindes, das Du erlöst hast. Lass nun endlich Deine Dienerin im Frieden hinfahren, und ihre Augen Dich, ihren Heiland, anschauen. Und wie ich ihr die Augen am folgenden Morgen zugedrückt habe ich Gott für die gnädige Erlösung, den Beistand und Gnade herzlich gedankt. Dies ging noch alles ziemlich männlich mit mir her. Wie ich aber ihrem Bruder ein Wort zureden und der Schwester Vorbild anpreisen wollte, da überfiel mich die Weichlichkeit und Tränen erstickten meine Stimme. Ihr langes und schweres Leiden ist hoch gegangen, was ich mitfühlte, obgleich ich sie solches nicht merken ließ. Ihre stille Geduld ist so gewesen, dass man mit Verwunderung und Dank daran gedenken muss, und ihre ruhige Gemütsverfassung, ihr unwandelbar kindliches Vertrauen bis ans Ende bleibt mir zum beständigen und großen Trost. Ehre sei Gott, der alles gegeben.“

Mit wahrer Demut und mit aufrichtiger Bescheidenheit lehnte er allen Ruhm und Lobeserhebungen von sich ab. Rühmte jemand seine Frömmigkeit, so erklärte er: „Ich habe nötig in meiner Hütte zu sitzen und meine Sünden zu beweinen.“ Befand er sich unter erweckten Seelen, so pflegte er beim Abschied zu sagen: „Kinder, wenn ich unter euch sitze, so ist es mir, als ob ich dessen nicht wert sei, und so muss es euch auch werden.“

Einem holländischen Freund, der ihm von seinen um des HErrn willen erlittenen Verfolgungen, von seinen Erfahrungen erzählte, entgegnete er: „Hat man schon vieles erfahren und verkostet und ist man bereits durch viele Prüfungen hindurch gegangen, so muss endlich doch nichts anders, als ein kleines unschuldiges Kind daraus geboren werden.“ Gefragt, ob man ältere, erfahrene Christen „Väter“ nennen dürfe, antwortete er: „Dass man mich bisweilen ganz unverdient „Vater“ nennt, hat mir immer von Herzen missfallen und mich vor Gott gebeugt. Ich halte mich von Herzen für unwürdig und es demütigt mich, wenn mich ein Kind Gottes „Bruder“ nennt, geschweige, dass ich den Vaternamen begehren sollte. Ich wünschte von Herzen, dass der Name Tersteegen von allen Menschen vergessen und hingegen der Name Jesu in aller Herzen tief eingeprägt würde.“

Seine Geduld ist sehr bewundernswert. Hatte er doch zur Ausübung derselben beständig Gelegenheit, weil er von Jugend auf, besonders in seinen letzten dreißig Jahren mit vielen Krankheiten und Schmerzen behaftet war. Einem besuchenden Freunde sagte er: „Ich habe einen Ausschlag am ganzen Leibe; der Rücken ist ganz wund, so dass das Hemd daran kleben bleibt, und sonst habe ich noch große Schmerzen.“ „Heute acht Tage – schreibt er an einen Freund – bekam ich einen Fluss ins Haupt, der sich ganz fest setzte an der linken Seite in, hinter und um das Ohr. Ein Fieber kam dazu. Der Fluss senkte sich auf den Hals und die Brust, und ich musste sehr husten. Das Ende der Klagelieder ist: „Heimkommen“. „Am Freitag vor Pfingsten musste ich einen nötigen Brief schreiben, worüber ich an Haupt und an allen Gliedern ganz zitternd wurde. Abends kam ein Fieber und starke Gliederschmerzen, die Nacht aber setzte es sich zur völligen Gicht in die Beine, so dass ich vor empfindlich brennenden Schmerzen nicht recht liegen konnte; dennoch musste ich vier Freunde aus Kr. und drei aus E. vor mich ans „Bett kommen lassen. Gelobt sei Gott, der bisher geholfen.“ In den letzten Jahren konnte er wegen großer Schwäche des Magens die Speisen so wenig vertragen, dass er sagen musste: „Ich werde traurig, wenn ich höre, dass sie mir Essen bringen, indem mir die weichste Speise viel Beschwerden und Leiden macht.“

Außerdem hatte er sehr vieles zu leiden, sowohl von der Welt, welche ihn verspottete, als auch von Frommen, deren Unvollkommenheit Gott gebrauchte, um ihn vollkommener zu machen. Manche beneideten ihn wegen seiner Gaben und um der großen Ehre und Achtung willen, die er weithin genoss. Doch solches alles ertrug er mit außerordentlich großer Geduld.

Eben so groß war seine Nachsicht, Sanftmut und Friedfertigkeit. Er musste manchen Widerspruch, manche Bitterkeit und Feindschaft von seinen Gegnern erdulden; gleichwohl aber wusste er denselben jederzeit mit solcher Liebe zu begegnen, dass sie dadurch tief beschämt wurden. An jemand, der ihn sehr heftig und bitter behandelt hatte, schrieb er: „Tue das nicht mehr, dass Du einen Bruder so anfällst: es ist etwas hartes, etwas unbedachtsames; ich will es vergessen. Im Namen Jesu und in demütiger Hoffnung sage ich Dir und mir etwas vorher: dass, wenn wir einander lieben und dem Ziele unsrer Berufung nachjagen, wir uns bald vor dem Angesicht Jesu Christi umfassen und einander nicht das Geringste zu vergeben oder vorzurücken haben werden.“

Hörte Tersteegen, dass da und dort jemand von seinen Freunden untreu in seinem Wandel war, so verursachte ihm das oft schlaflose Nächte und presste ihm Seufzer aus. „O welchen Druck und welche Last machen mir die berufenen Seelen, welche untreu vor dem HErrn wandeln. Es gibt mir solche Not, dass ich mich oft auf mein Angesicht vor Gott niederlegen muss. O wüssten sie es, was es mir für Leiden verursacht, dass sie so sicher dahin gehen.“

Jemand, der solche Untreue in seinem Wandel beging, kam zu Tersteegen und dachte, er werde einen Verweis von ihm erhalten. „Allein sein Vaterherz kam mir,“ sagt derselbe, „mit der größten Freundlichkeit entgegen; er umarmte mich, wodurch mein Herz sehr gerührt und zerknirscht wurde. Dabei gab er mir die nötige Erinnerung, wie ich mich fernerhin zu verhalten hätte. Zu drei andern Freunden und zu mir sprach er einmal: „Kinder, seid vorsichtig und meidet die Gelegenheit zur Sünde.“„ Schwachen und Strauchelnden mit sanftmütigem Geiste wieder zurecht zu helfen, darauf war er stets bedacht. Anstatt gegen solche Seelen streng zu sein, war er, so zu sagen, mütterlich und ermahnte sie aufs liebevollste, die Sünden und die Gelegenheiten dazu als das größte Übel zu hassen und zu fliehen. Und so machte er ihnen wieder Mut, es aufs neue zu wagen und dem HErrn treulich nachzufolgen.

Tersteegen war weit davon entfernt, sich einen Anhang zu verschaffen. „Das lateinische Sprichwort,“ bekennt er, „Qui bene latuit, bene vixit (auf deutsch: wer wohl verborgen geblieben, der hat wohl gelebt) oder nach dem Blumengärtlein: „Nicht gelehrt und nicht geehrt“, wird mir alle Tage wichtiger. O wie so viele Zeit und Kraft nehmen uns auch die guten Geschöpfe weg! Wie so leicht bekommt man daselbst Schaden, auch da, wo man andern gedenkt nützlich zu sein.“ „Ach die Geschöpfe hindern uns oft, und wir hindern sie. Mein Grundsatz bleibt: Gern bei den Kindern, am liebsten aber bei dem Vater.“

„Dass ich eine Sekte oder einen Anhang suchen sollte, „hoffe ich nie bewiesen zu haben. Mein Gott! Du erkennst es, welch ein empfindliches Opfer es mir so lange gewesen, dass ich meine Kraft und Zeit, sowie meine liebe Einsamkeit andern hingab. Tue ich es nicht um deinetwillen, so gebrechlich es auch geschehen mag und aus Furcht, Dir zu missfallen, wenn ich es anders machte? Suchte ich etwas anders dabei, als die Seelen Dir, nicht aber mir, zuzuführen?“

Alle ernsten Seelen, die mit ihm im Verkehre standen, bezeugen einmütig, dass man in seiner Nähe unwillkürlich still und ernst wurde und eine ehrerbietige Scheu vor ihm empfand. Sein Beten sei innig, sanft, erquickend gewesen, sein Leben ein in Wahrheit mit Christo in Gott verborgenes; das Bild Jesu habe aus ihm hervorgeleuchtet, so dass seine Freunde oft denken mussten: „Gibt ein Strählchen solchen Schein, was muss erst des Lichtes Quelle sein?“ „In meinem Innern,“ sagte er zu einem Freunde, „ist so ein immerwährendes Beugen und Anbeten.“ Bei all dem hatte er aber jenes eigentümliche Siegel der Kindschaft empfangen, dass er von seiner innern Herrlichkeit nichts wusste.

Seine letzte Krankheit war die Wassersucht, die sich am Ende des Monats März 1769 einstellte und ihm große Engbrüstigkeit verursachte. Vom 1. bis 3. April musste er 47 Stunden im Lehnstuhl sitzen, in welchem er sich bald rückwärts auf den Stuhl, bald vorwärts auf ein Kissen, das auf dem Tische lag, lehnte. Obwohl er sehr große Schmerzen hatte, so hörte man doch kein ungeduldiges Klagen oder Jammern aus seinem Munde; man bemerkte an ihm nicht einmal eine ungeduldige Miene. Hatte er einige Minuten geschlafen und war er wieder erwacht, so seufzte er: „O Gott! Jesus! O süßer Jesus!“ Als ihm einige seiner Freunde die Nähe seines Heimganges anzeigten und von ihm Abschied nahmen, redete er jedem so erbaulich und herzlich zu, dass alle sehr gerührt und weinend weg gingen. Er selbst blieb immer gleichmütig, dem heiligsten Willen des HErrn mit kindlicher Zuversicht überlassen. Ein Geistlicher, der ihn besuchte, bat ihn beim Abschied um seinen Segen. Da erhob Tersteegen lächelnd seine Hände und sprach: „Jesus Christus, unser großer Hoherpriester, zur Rechten seines himmlischen Vaters, hebe seine Hände auf aus seinem Heiligtum und segne Sie mit Liebe und Frieden in Ihrem Herzen. Er gebe Ihnen Gnade und Weisheit in Ihrem Amte.“ Einem andern Abschied nehmenden Freunde rief er nach: „Jesu Versöhnung, Jesu Worte, Jesu Geist, Jesu Vorbild!“

Öfters hatte er Anfälle des Schlafs. In der Nacht vom 2. auf den 3. April wurde der Schlaf so fest, dass man ihn nicht mehr wecken konnte, und so schlummerte er fort, bis er am 3. April 1769 morgens früh um 2 Uhr zum Schauen dessen hinüberging, an den er hienieden geglaubt, und dem er mit ganzem Herzen in inniger Liebe ergeben war.

Joh. 7,38: Wer an mich glaubt, spricht der HErr, von dessen Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen.

Dan. 12,3: „Die Lehrer aber werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die, welche viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich“

Girolamo Savonarola

Girolamo Savonarola

Hieronymus Savonarola.

In der Vorrede zu Savonarolas Auslegung des 51. Psalms sagt Luther: „Obwohl an den Füßen dieses heiligen Mannes noch etwas von dem Kot menschlicher Theologie1Die Scholastik. haftet, so hat er dennoch es ausgesprochen und behauptet, wie aller Ruhm der Werke so gar nichts vor Gott und wie nötig der alleinige und gründliche Glaube im Gericht und Tod sei, ohne alle Werke, darauf man sich verlassen könne. Er erlitt den Tod, weil er Rom, den Abgrund alles Verderbens, reinigen wollte. Aber siehe, er lebt und sein Gedächtnis ist im Segen. Christus kanonisiert ihn durch uns, sollten gleich die Päpste und Papisten miteinander darüber zerbersten.“ Und dann, wenn auch lang vergessen, ist das Gedächtnis Savonarolas seit den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts wieder bei uns aufgelebt, und seit Meister Rietschel seine Gestalt als eines Vorläufers des Reformation auf seinem Lutherdenkmal verewigt hat, lebt sein Name im Bewusstsein des evangelischen Volks als der eines evangelischen Glaubenshelden. Andrerseits hatten ihn aber unterdessen die Römischen, trotz ihres Todesurteils, wieder für sich in Anspruch genommen, nicht bloß als schwachen, sondern als einen der vorzüglichsten Söhne ihrer Kirche. Ja, nicht bloß im Kloster San Marco ist der Heiligenschein um sein Bildnis erhalten, den ihm der Pinsel Fra Bartolomeos sofort nach dem Märtyrertod verlieh, die Papisten haben ihn doch auch beinahe kanonisiert: ein Papst (Benedikt XIV.) erklärt ihn im Heiligenregister der Heiligsprechung für würdig, gegenüber dem früheren Urteil ging es zwar nicht gut an, diese wirklich zu vollziehen, aber man hat doch einen seiner begeistertsten Anhänger, Philippo Neri, zum Heiligen gemacht. Was Wunder, wenn auch, je nach dem Standpunkte, die Beurteilung des großen Mannes so verschieden ausfällt, dass man ihn bald für einen Heiligen, bald für einen Reformator, bald für einen ehrgeizigen Politiker, einen Betrüger, einen in Selbsttäuschung Befangenen, einen Wahnsinnigen hält. Besonders stehen die gleichzeitigen Chronisten und Schriftsteller unter dem Einfluss ihrer jeweiligen politischen und religiösen Stellung, und wer sich nur auf ihre Berichte verlässt, wird je nach Wahl der Berichte ein anderes Urteil erhalten2Daher behandeln ihn Bayle und Buddeus mit Verachtung, Rastrelli mit Hass, dagegen der Dominicaner Barsanti mit wundergläubiger Begeisterung.. Unserem Landsmann Rudelbach, wenn man ihm auch mancherlei Irrtum nachweisen kann, gebührt das Verdienst, nicht bloß die Aufmerksamkeit der gebildeten Welt und der Theologen auf die großartige Erscheinung Savonarolas wieder hingelenkt, sondern vor allem ihn aus sich selbst und seinen Werken, insbesondere auch aus seinen Predigten beurteilt zu haben (1835). Neben Rudelbach sind, von ihm angeregt, der Franzose Perrens (1855) und der Italiener Villari (1859) die Hauptrepräsentanten der gegenwärtigen Anschauungen über Savonarola. Rudelbach sieht in ihm den Märtyrer des Protestantismus (zugleich einen Propheten nach Art Joachims und der h. Brigitta), weswegen er sich von Villari sagen muss, dass er die Gedanken Savonarolas in das Prokrustesbett seiner eigenen Tendenz zwänge, Villari betrachtet ihn als den glänzendsten Vertreter der Renaissance (?!) und sucht ihn zugleich als treuen Katholiken zu reklamieren, was aber nicht ohne Zwang und Windungen abgeht. Perrens urteilt: „Er war demnach ein geschickter Politiker, und obgleich er uns nicht das Musterbild eines vollkommenen Christen darstellt, so kann man doch hinzufügen, dass, einige Charakterschwächen und einige Verirrung bei seinem Auftreten abgerechnet, er ein treuer Schüler des Evangeliums war.“ Wir werden indirekt diese verschiedenen Urteile mit prüfen, wenn wir Savonarolas Anschauung nach seinen Predigten kennen lernen3Die Auswahl der nachfolgenden Sammlung ist daher hauptsächlich in Rücksicht auf diesen Zweck getroffen. Soweit dies im engen Rahmen möglich, sollte Savonarola nicht bloß in verschiedenen Momenten seines Lebens, bei Behandlung verschiedener Gebiete, in seiner Art der Darstellung, sondern auch nach seiner Lehre gezeigt werden..

Wir werden da nicht bloß bewegt von dem ergreifenden Drama dieses Lebens, sondern wir stehen bewundernd vor dieser einzigartigen Gestalt: wir sehen einen Propheten, gotterfüllt und Zornesblitze schleudernd wie die Propheten des alten Bundes, – einen Volksredner, mit seiner Beredsamkeit Volk und Staat lenkend, wie die Redner der Alten, ein Demosthenes, ein Cicero, dem in der christlichen Kirche höchstens Chrysostomus vergleichbar, – wir sehen einen Reformator, der das Morgenrot einer neuen Zeit ahnt und an seinem Teil beiträgt, zu zertrümmern, was morsch und faul ist, wir sehen das Alles an einem Prediger, der Gottes Wort wieder verkündigt, der auch hierin einzigartig in seiner Zeit dasteht und auch für die Predigt der Kirche reformatorische Bedeutung hat.

Girolamo Savonarola4Savonarola ist die richtige italienische Betonung, über die man bei uns manchmal Zweifel trifft. ward am 21. September 1452 zu Ferrara geboren, wo sein Großvater als Arzt am dortigen Hofe in großem Ansehen stand. Auch er ward zum Studium der Medizin bestimmt, erhielt die erste Ausbildung von dem Großvater, die Einführung in die Philosophie, d. h. in die Scholastik von seinem Vater. Seine Mutter bildete aber auch später noch seine einzige Vertraute, der er sein Herz ausschüttete. Das Leben und Treiben an dem üppigen Hofe widerte ihn bald an, er zog sich in die Einsamkeit zurück, um sich von dem mystischen Element in der Scholastik des Thomas Aquinas erfassen zu lassen und – die Bibel zu lesen. Von seiner Stimmung gibt besonders das Gedicht de ruina mundi Zeugnis:

„Ich sehe umgestürzt die ganze Welt,
Und hoffnungslos vernichtet
Jedwede Jugend, jede schöne Sitte;
Kein lebend Licht find‘ ich,
Ja keinen, der sich seiner Laster schämt.“

1475 ist er bei Gelegenheit einer großen Festlichkeit verschwunden und in das Dominikanerkloster zu Bologna getreten; noch am Tage seines Eintritts schrieb er einen herzbewegenden Brief an seinen Vater, die Verzeihung der Seinen zu erflehen. Er wollte im Kloster nur die niedrigsten Dinge verrichten, ein Leben der Buße führen und nicht, wie er sagt und wie es allgemein geschah, von Aristoteles in der Welt zu Aristoteles im Kloster übergehen. Allein er war zu Anderem ersehen. Sieben Jahre blieb er in Bologna, betend, sich kasteiend und die Bibel lesend, die er fast auswendig konnte. Immer mehr wurden seine Oberen auf seine Gaben aufmerksam und man beauftragte ihn mit dem Unterricht der Novizen; widerwillig, aber gehorsam kehrte er zu den Scholastikern zurück. Schon aber kam sein Schmerz über das Verderben der Kirche in dem Gedicht de ruina ecclesiae zum Ausdruck. Vor der Üppigkeit der Welt war er geflohen, Üppigkeit fand er an seinem Zufluchtsort selbst, und in Rom übertrafen seit Pius II. Tod die heiligen Väter die schlimmsten Fürsten an Lasterhaftigkeit. Ein Sixtus IV., ein Innozenz VIII. haben jedenfalls zu Savonarolas Charakterentwicklung und zu seinem Abscheu vor den verdorbenen Würdenträgern beigetragen, der dann wider den Letzteren und den unerreichten Alexander VI., Borgia, zum Ausbruch kam. Bald ward er vom Lehrstuhl auf die Kanzel befohlen und 1482 zunächst in seine Vaterstadt gesandt, aber der Prophet galt auch hier nichts im Vaterlande. Oder lag das an dem Propheten selbst? Durch einen Krieg, in den der Papst fast ganz Italien gestürzt hatte, ward Savonarola nach Florenz vertrieben, wo er in das Kloster San Marco eintrat, aber auch hier fand der neue Bruder wenig Anklang. Der junge Mönch mit dem alten Sinn, der gefurchten Stirn und den Flammenaugen, mit der tonlosen Stimme und den eckigen Gebärden hatte wenig Anziehendes, zumal er seine Predigten vortrug wie Lektionen, und weder durch gemeinen Gassenjargon die Menge zu ergötzen, noch durch Kokettieren mit heidnischem Unglauben und Brillieren mit Zitaten aus dem Alten die Gebildeten zu interessieren verstand. Im Gegenteil, er predigte heftig gegen die Laster, verachtete die Dichter und Philosophen und schien kein anderes Buch zu kennen als das schlechte Latein der Bibel. Das war nichts für die Stadt des üppigen Lebens und der wiederauflebenden klassischen Bildung; seine Zuhörer wurden immer weniger, 1483 hatte er in der Kirche San Lorenzo nicht mehr als 25. Alles lief zu den Predigten des Mariano de Gennazzano, des Günstlings der Medici, der den Schöngeistern durch seine glänzende Rhetorik, seinen gewählten Satzbau, seinen harmonischen Tonfall gefiel und mit dem Lorenzo von Medici sich gern in gelehrte Dispute einließ. Savonarola wollte das Predigen ganz aufgeben; da führten ihn seine Wanderjahre weiter.

Er ward 1484-85 für die Fastenpredigten nach dem kleinen Städtchen San Geminiano geschickt, wo er, in den Bergen von Siena verborgen, sich freier entwickelte; dort stellte er zum ersten Mal die drei Sätze auf: Die Kirche wird gezüchtigt werden und dann erneuert und zwar bald. Schon vernimmt er in seinem innigen Gebetsverkehr mit Gott direkte Antworten und Offenbarungen, die den Charakter der Vision tragen; die Geschichte des alttestamentlichen Volks und der Propheten, sowie der Apokalypse geben ihm zu seinen Bußpredigten und seinen Zukunftsbildern gleicherweise Anhalt an der Schrift. Voll und ganz brach seine innere Gewalt durch die äußeren Hemmnisse 1486 zu Brescia hindurch, wo er die Gestalten der 24 Ältesten der Apokalypse so gewaltig zu den Brescianern reden ließ, dass sein Name schon in ganz Italien genannt wird. Wieder nach Florenz zurückgekehrt, predigte er dort zunächst nicht, sondern legte erst in einer Zelle vor einem kleinen Kreis Auserwählter die Apokalypse aus; der Kreis wuchs, man zog unter den Rosenstrauch im Garten von San Marco, bis er schließlich auf vieles Bitten eines Sonnabends erklärte: „Morgen werden wir in der Kirche sprechen und das soll Lektion und Predigt zugleich sein.“

Der 1. August 14905Diese und andere Zeitangaben findet man oft unrichtig, so bei Rudelbach, Rothe, Schaff. Es beruht dies auf einer Nichtbeachtung des Unterschieds der alten florentinischen Zeitrechnung von der allgemeinen. sah die Kirche von San Marco erfüllt von einer neugierigen Menge, zum ersten Mal ertönten hier seine drei Sätze, seine Stimme erschallte schier übermenschlich – und ganz Florenz sprach von ihm und seinen Predigten. Die Gläubigen fanden in seinem biblischen Standpunkt ersehnte Speise, die Menge ward durch seinen ernsten Bußton von Schauern ergriffen, die Gebildeten auch disputierten über ihn, obwohl sie, wie es in der heidnischen Bildung der Zeit lag, gegen ihn waren. Aus letzterem Grunde schrieb er, um zu zeigen, dass auch er philosophische Bildung habe und vielleicht um die Gebildeten an sich zu ziehen, philosophische Schriften6„Grundriss der Philosophie“. „Logik“. „Moral“. „Über die Einteilung und den Rang der Wissenschaften“. „Auch hierin neu, erkennt er keine andere Autorität an, als die eigene Erfahrung und schreitet so vom Bekannten zum Unbekannten fort. Villari bezeichnet ihn als Campanellas Vorläufer und Quell., zugleich aber auch religiöse Schriften moralischen Inhalts.7Über die Demut, das Gebet, die Liebe zu Jesu Christo und das Leben der Witwen. Alle diese Schriften sollten dazu dienen, seine Predigt zu unterstützen, sie sind meist aus einem augenblicklichen Impuls schnell hingeworfen, wie er dann auch später die Zeiten, da er wenig oder gar nicht predigte, dazu benutzte, auf diese Weise zu seiner Gemeinde in einer Art von Hirtenbriefen zu reden.8Außer einer Anzahl Schriftauslegungen und Episteln meist apologetischen Inhalts sind seine bedeutendsten und gelesensten Schriften: Das Kompendium der Offenbarungen, Der Dialog über die prophetische Wahrheit, Von der Einfachheit des christlichen Lebens und Der Triumph des Kreuzes.

Das Hauptgewicht legte er selbst aber immer auf seine Predigt, durch die er so gewaltig wirkte, dass er bald der geistige Führer und Herr von Florenz war, dass ganz Italien, ja Europa auf ihn lauschte und selbst der Sultan sich seine Predigten übersetzen ließ. Die Klosterkirche von San Marco langte nicht mehr zu, so zog man seit den Fasten 1491 in den Dom; die Menge strömte so herzu, dass auch dort der Platz nicht langte und an den Seiten Emporen gebaut werden mussten. Von weither kamen sie, an besonderen Tagen ganze Pilgerkarawanen, und es bildete sich die Sitte, dass die Bürger jenen Fremdlingen entgegengingen, sie begrüßten, erquickten und in ihre Häuser luden. Das Volk fühlte, hier war Einer, der nicht bloß aus Zorn über seine Sünden es um diese strafte, sondern ein Jünger im Geiste des Herrn, von dem es heißt „ihn jammerte des Volks“, der in der Liebe dieses Herrn um die verlornen Seelen warb. Dabei reißt auch die Glut seiner Phantasie die Menge fort und seine Drohungen kommender Strafen übten auf die Gemüter eine magische Gewalt aus.

Zunächst führte ihn nun seine Predigt wider das heidnische Wesen in Leben und Bildung in einen Kampf auf Leben und Tod mit den Herren der Stadt, dem Hause Medici: die Üppigkeit und Freude am heidnischen Altertum, die diese dem Leben der ganzen Stadt aufprägten, betrachtete er als das Haupthindernis einer dauernden Umkehr des Volks. Lorenzo der Prächtige suchte den Mönch erst durch Drohungen einzuschüchtern, vergebens; er besuchte, als Savonarola Prior geworden war, die Messe in San Marco und machte dem Kloster Geschenke, Savonarola machte bittere Bemerkungen darüber in der Predigt und schenkte das Geld den Armen. Weder machte er Lorenzo, dem Neuerbauer des Klosters, den üblichen Besuch, als er Prior ward, noch begrüßte er ihn, wenn derselbe selbst in den Garten des Klosters kam und ihn erwartete. Obwohl der Prinzipe erzürnt auf ihn war, musste er doch die Charakterfestigkeit achten und als er zum Sterben kam, ließ er „den einzigen echten Mönch, den er kannte“ rufen, ihm die Absolution zu erteilen, da ihm sonst noch niemand die Wahrheit zu sagen gewagt habe. Lorenzos Nachfolger, Pietro Medici, war wohl ein eleganter Kavalier, aber unfähig das Werk seiner Väter aufrecht zu erhalten. Er unterstützte gegen sein eigenes Interesse Savonarolas Gesuch an den Papst um Selbständigmachung des Klosters von San Marco aus der lombardischen Kongregation, Savonarola wollte dadurch dem entgehen, dass er wieder, wie 1493, wenn er missliebig wurde, zur Predigt fortgeschickt werden konnte; die Klöster von Toskana schlossen sich San Marco zu einer neuen Kongregation an, deren Generalvikar Savonarola wurde. Das Volk von Florenz und besonders ein Teil des Adels sehnten sich zurück nach der Republik, schon unter Pietros Großvater, Cosimo, war ein Ausstand ausgebrochen; als Pietro in seiner Unsicherheit sich im November 1494 Karl VIII. von Frankreich in die Arme warf, brach der Aufstand in hellen Flammen aus und die Republik ward proklamiert. Freilich blieb ein Teil der Bürgerpartei, die besonders Savonarola anhingen, im Herzen mediceisch und ein großer Teil des republikanischen Adels hasste diesen wegen seiner Sittenstrenge, so dass seine politischen Gesinnungsgenossen oft seine erbittertsten Feinde waren. Dies erklärt auch, wie es möglich war, dass schon nach wenigen Jahren der Rat von Florenz Savonarola selbst verurteilte. Jetzt aber brauchten sie ihn dringend. Er hielt das Volk in Zucht, gab überall guten Rat, wenn er befragt wurde, so auch bei Aufstellung der neuen Verfassung, deren erster Paragraph nur über Savonarolas Kanzel geschrieben stand: „Jesus Christus, König von Florenz.“ Als Karl VIII., der auch nach dem Regierungswechsel „Beschützer von Florenz“ blieb, trotz der mit Capponi geschlossenen Verträge durch das einquartierte Heer die Stadt schwer bedrohte, war es Savonarola, der durch sein persönliches Einschreiten Hilfe brachte9Die Notizen in seinen Predigten, die für seine Geschichte von Bedeutung sind, sind noch nicht genügend beachtet.. Überhaupt hat dieser irdische Beschützer, auf den Savonarola für die Kirche große Hoffnungen gesetzt, und das Bündnis mit ihm der Stadt viel Kummer gebracht; auch die auf ihn gesetzte Hoffnung, dass er den Papst absetzen werde, hat er nicht erfüllt, sondern mit demselben paktiert. Darum erfüllte sich die angekündigte Strafe an ihm. Als Savonarola am 28. Dez. 1496 der bedrängten Stadt einen besonderen Gnadenbeweis verheißen, vertrieb der Wind schon am andern Tag die feindliche Flotte und trieb die erhoffte Zufuhr in den Hafen von Livorno herein. Solche und ähnliche Zeichen, dass Gott mit ihm sei, machten die Angriffe seiner Feinde in und außer der Stadt wirkungslos, Volk und Rat von Florenz standen treu zu ihm auch in dem erbitterten Kampf gegen Rom.

Der Papst erkannte allmählich den gefährlichen Feind, der ihm in dem sittenstrengen Mönch erwachsen war, er ermahnte ihn freundlich, bot ihm den Kardinalshut an, bis er ihm schließlich bei Strafe der Exkommunikation das Predigen verbot. Savonarola predigte (1495) trotzdem in bedrängter Zeit noch einige Male, schrieb an Kaiser und König wegen Berufung eines Konzils wider den Papst, so dass dessen Zorn in hellen Flammen ausbrach. Dann schwieg Savonarola, betend, sich prüfend und erwägend, ob seine Predigt notwendig sei oder nicht. Unterdessen hatte auch die Signoria10(im Mittelalter) höchste Behörde der italienischen Stadtstaaten für ihn doch die Erlaubnis zum Predigen wieder erwirkt und er benutzte nun die Fastenzeit 1496 besonders, sich Rom gegenüber zu rechtfertigen, Buße zu predigen, und die schon begonnene Sittenreform zur Vollendung zu bringen. Zum wütenden Ärger des üppigen Adels hatte er es schon in der Zeit des Predigtverbots verstanden, der Stadt und ihrem Leben durch die „Reform der Kinder“11Bis zum 18. Jahre, wo die florentinische Jugend erst das Gewand der Erwachsenen bekam. Wir haben das fanciulli daher meist entsprechender mit „Jugend“ übersetzt. ein ganz anderes Gepräge zu geben, das besonders in der sonst so frivolen, ja obszönen Karnevalszeit zum Ausdruck kam. Man vergleiche seine eigene Schilderung in der 1. Fastenpredigt 1496. Durch die Jugend ließ er Spiele, unsittliche Bücher, Bilder usw. sammeln und nach feierlicher Prozession verbrennen (vgl. seine Ermahnung an die Jugend). Der Hass seiner Feinde war schon so groß, dass ihn bei seinem ersten Wiederauftreten der Rat durch eine Wache geleiten ließ, die Zahl der Gegner wuchs und am Himmelfahrtsfest 1497 störten sie den Gottesdienst so, dass Savonarola nicht zu Ende predigen konnte und mit genauer Not der Ermordung in der Kirche entging. In Folge seiner immer schärferen Angriffe gegen Rom, erfolgte nun die endgültige Exkommunikation Mai 1497, die nicht nur den eifersüchtigen Franziskanern in Florenz eine willkommene Handhabe gab, sondern auch zur Folge hatte, dass die Frechheit sich wider den einst so Gefeierten breit machte und binnen Monatsfrist das unsittliche Leben in Florenz aufblühte, wie kaum zur Zeit der Medici. Trauernd zog er sich zu seinen Klosterbrüdern zurück, bis die Not der Stadt seine Anhänger immer dringender mit der Bitte werden ließ, dass er das Volk stärke und tröste. Er tat es, obwohl im Bann, und predigte von Septuagesimä 1498 ab wieder mit unerhörter Kühnheit und mit dem Gefühl des nahen Endes.12In eben dieser Predigt von Septuagesimä, den 11. Febr. 1498 (Predigten über den Exodus I) sagt er: Die ganze Theologie, alle kanonischen und bürgerlichen Gesetze, alle Zeremonien der Kirche sind um der christlichen Liebe willen verordnet, und die ganze Welt ist von Gott zur Liebe geschaffen. Wer also etwas gegen die christliche Liebe gebietet, die das A und O unseres Gesetzes ist, anathema sit, der sei von Gott exkommuniziert. Und wenn es ein Engel sagte, alle Heiligen und die Jungfrau Maria (was natürlich nicht möglich ist) anathema sit. Wenn ein Gesetz, ein Kanon, ein Konzil es sagte, anathema sit. Und wenn irgend ein Papst dem, was ich hier sage, je widersprochen hat, so sei er exkommuniziert! Ja, Bürger und Frauen, wir müssen alle bereit sein, für diese Wahrheit zu sterben. Ich wende mich zu dir, o Herr, du bist für die Wahrheit gestorben. Ich bitte dich, nur für sie lass mich sterben, zum Heil deiner Auserwählten und dieses Volks. Als eine ihm feindlich gesinnte Signoria gewählt ward, die, vom Papst gedrängt und bedroht, ihn am 17. März 1498 ersuchte, das Predigen einzustellen, hielt er am folgenden Tag noch eine Predigt mit dem Bewusstsein, dass es seine letzte sei. Noch einmal redete er zum Volk bei der Feuerprobe auf dem Marktplatz. Von den Franziskanern, nicht von ihm provoziert, sollte dieselbe die Wahrheit seiner Lehre oder der Behauptungen seiner Gegner erweisen, indem je ein Franziskaner und ein Dominikaner zwischen brennenden Holzstößen hindurchging. Sein Schüler Domenico war voll Begeisterung bereit, die Franziskaner aber wollten nun nicht und suchten die Sache durch nichtige Dispute über Formalitäten hinzuziehen, bis am Abend ein Befehl der Signoria das Nachhausegehen befahl. Die Enttäuschung des wundergierigen Volkes machte sich in einer grenzenlosen Wut Luft, die sich über dem unschuldigen Haupte Savonarolas entlud. Das Kloster ward gestürmt, Savonarola ward in den Kerker geschleppt und, ohne dass man bei aller Mühe einen Scheingrund fand, vom geistlichen und weltlichen Gericht zum Feuertod verurteilt. In den schweren Tagen vor seinem Tode hat er im Kerker jene herrlichen, gebetsartigen Meditationen über den 51. und 31. Psalm geschrieben, die unseren Luther bewogen, ihn als evangelischen Glaubenshelden zu „kanonisieren“. Ruhig und ergeben, nachdem er mit den gleichzeitig verurteilten Brüdern Domenico und Silvester das Abendmahl genossen, beschritt er den Scheiterhaufen, dem Bischof, der in seiner Verwirrung sagte: Ich scheide dich von der streitenden und triumphierenden Kirche!“ antwortend: „Von der streitenden, nicht der triumphierenden, denn das kannst du nicht!“ mit solchem Tone, dass es den Umstehenden unvergesslich blieb. Meist trauernd stand dasselbe Volk umher, das erst so wütend schien, sie hofften bis zuletzt ein Wunder. Sein Andenken blieb; er war auch noch im Tode lange der geistige Führer von Florenz, wie auch politisch die streitenden Parteien sich über seiner Asche die Hand reichten, so dass es lange dauerte, ehe die Medici und der Papst dort wieder zur Herrschaft gelangten.

Johann Friedrich Lobstein

Mancher, dem die schriftstellerischen Arbeiten des nun vollendeten Pfarrer Lobstein zum Segen geworden, wünscht über den Verfasser Einiges zu erfahren. Diesen Wunsch zu befriedigen, zugleich auch, um zu zeigen, wie der Inhalt seiner Arbeiten aus tiefer Selbsterlebnis hervorgewachsen ist, dazu mag folgender kurze Lebensabriss dienen.

Zu Straßburg, den 9. Januar 1808, war Johann Friedrich Lobstein geboren, der Sohn eines Arztes. Von früher Kindheit auf nahmen die Seinen sich seiner Erziehung sorgfältig an. Besonders nahe kam er bald, durch Familienverhältnisse, seinen mütterlichen Großeltern. Hier herrschte noch die alte, gute, christliche Sitte. So ward der kleine Fritz zum Gebet angehalten und mit der heiligen Schrift und schönen Liedern, seinem Alter gemäß, vertraut. Die Lust am Lernen und am Umgang mit Büchern zeigte sich frühe, und neben dem Deutschen, das seine Muttersprache war, wurde das Französische nicht vernachlässigt. Der siebenjährige Knabe wurde einem Landgeistlichen in der Nähe der Vaterstadt übergeben, wo er einige Jahre zur Förderung seiner Kenntnisse verblieb. Hier erwachte in ihm die Freude an Dichtungen, und er selbst versuchte sich frühzeitig in allerlei Nachahmungen. Er vermaß sich sogar in größeren Versstücken und dramatischen Arbeiten.

Hier auch machte eine Begebenheit auf ihn einen Eindruck, dessen er später oft Erwähnung tat und welche wir darum anführen. Anfälle von Heimweh beschlichen ihn zuweilen; da zog er sich einst in die Scheune an ein Plätzchen zurück. Hier schüttete er sein Herz vor Gott aus und klagte ihm seine Verlassenheit, seine große Not. Unter heißen Tränen bat er Ihn, Er möchte ihm irgend ein bekanntes Wesen aus der Heimat herbeiführen, welches ihn durch sein Erscheinen tröste, erquicke. Während er so flehte, rollte ein Wagen in den Hof. Der Knabe eilte zu sehen und sah nun den Großvater und die Tante ganz unerwarteter Weise aus dem Wagen steigen. Sie kamen von Straßburg und wollten nach dem Kleinen fragen. Nun war’s ihm klar, Gott hatte ihn gehört. Tief ergriffen begab er sich, noch bevor er die ankommenden Gottesboten begrüßte, zurück an seine Gebetsstätte und dankte aus voller Seele. Später, in die Stadt zurückgekehrt, besuchte er ein Institut, damals wohlbekannt und ausgezeichnet durch dessen berühmten Vorsteher. Als er aber für die oberen Klassen sich befähigt erwies, trat er in das protestantische Gymnasium, wo er zu den besten Schülern gehörte. Die alten Sprachen, besonders aber das Griechische, beschäftigten ihn mehr und mehr. So widmete er sich denn auch vorzüglich der Philologie, als er, 17 Jahre alt, die akademischen Studien begann, ob er sich gleich zu der Theologie bekannte. Es herrschte übrigens damals an der Hochschule der Rationalismus. Er selbst urteilte später streng über diese und einige folgende Jahre, wo er, in Eitelkeit und Dünkel befangen, dem weltlichen Wesen huldigte. Er absolvierte, 21 Jahre alt, und begab sich nach Berlin. In dieser Stadt wirkten damals in ihrer schönsten Kraft Schleiermacher und Neander, die für so manchen Jüngling die Führer zur Wahrheit geworden sind. Sie sprachen jedoch Lobstein wenig an; er zog ihnen den Umgang mit den Griechen der Vergangenheit vor, in welchen ihn der berühmte Böckh, dem er sich anschloss, mehr und mehr einführte. Seine eifrige Beschäftigung mit der alten Literatur konnte ihn dennoch vor mancher trüben Stunde nicht bewahren, in welcher er in der großen Stadt sich gar einsam fühlte. Diese Empfindung war ihm desto lebendiger, als er, mit dem Bedürfnis des Umgangs, sich dennoch nicht leicht an Gefährten anschloss.

Eine schöne Reise brachte ihn nach achtmonatlichem Aufenthalt über Greifswalde, Rügen, Kopenhagen, Hamburg, Holland und Belgien nach Paris. Damals war Europa, besonders aber Paris, in voller Aufregung und allerseits traten dem Jüngling die bedeutendsten Erscheinungen entgegen. Er aber war zu sehr von sich selbst und seinen Aufgaben eingenommen, als dass ihm, was um ihn herumwogte, tiefere Eindrücke mitgeteilt hätte. In Paris selbst traf ihn, nach acht bis neun Monaten, der Ruf zur Professur der alten Sprachen an dem Lyceum zu Mühlhausen. So verließ er denn gegen Ende des Jahres 1831 die Hauptstadt, in Gesellschaft des späteren Pfarrer Verny, welcher zum Vorstand desselben Lyceums ernannt worden war. Keiner von beiden ahnte, als sie ihre Anstellungen bezogen, wie Gott noch umgestaltend eingreifen würde in ihre innern und äußern Verhältnisse.1Eduard Verny starb als Geistlicher der Pariser Gemeinde, in Straßburg 1854.

Mühlhausen, wo Lobstein von 1831 bis 1841 verblieb, sollte für ihn gleichsam eine zweite Vaterstadt werden, dadurch, dass sie die Geburtsstätte seines geistlichen Lebens ward.

Die schönen Kenntnisse, welche er sich gesammelt, befähigten ihn durchaus zu der Stellung, die er einnahm; doch eine große Reizbarkeit eignete ihn weniger zum Unterricht von Knaben des Alters, das ihm zufiel, und die Aufgabe ward noch schwieriger dadurch, dass man inmitten der industriellen Interessen den Wert der alten Sprachen bedeutend unterschätzte. Auch beschlich ihn oft jene Unruhe, von welcher Augustin sagt: „Du hast uns für Dich geschaffen und unser Herz ist unruhig, bis es in Dir ruhe.“ Nun vergrub er sich mehr und mehr in seinen Liebling, in Plato, und suchte durch lebendiges Aneignen der erhebenden Ahnungen des großen, sinnenden Griechen über die Tiefen sich hinwegzuträumen, in welchen das Sehnen aller Kreatur und die Angst nach Befreiung vom Dienst des vergänglichen Wesens unverstanden und oft quälend sich kund gab. In seinem längeren Gedicht, die platonischen Weihestunden und in der vorzüglichen Übersetzung der zweiten olympischen Ode Pindars haben wir die Frucht langer und fleißiger Arbeit aus jener Zeit.

In den Vakanzen besuchte Lobstein gewöhnlich die Seinen in der Vaterstadt und erholte sich gerne auf längeren Fußreisen. Bei einer solchen Gelegenheit, nach einem anregenden Aufenthalt Tholucks in Straßburg, ging ihm zuerst, in Gesprächen mit einem durch den Umgang und die Schriften des gläubigen Theologen ergriffenen Bekannten, die Bedeutung des Begriffs und Wesens der Sünde auf und ihre Beziehung zur Versöhnung in Christo. Von jenen Gesprächen an datierte Lobstein seine beginnende Aufmerksamkeit auf die höhere Wahrheit.

Die Jahre 1837 bis 1839 predigte und wirkte mit mannigfachem Segen ein französischer Geistlicher zu Mühlhausen; auch Lobstein gesellte sich zu dessen Zuhörern und nun geschah es, dass „der Zug des Vaters zum Sohne“ in ihm sich fühlbar machte. An einem Sonntag, wo die Predigt über 2 Kor. 4,5 gehandelt hatte, wandte sich Lobstein persönlich an den Geistlichen und begrüßte ihn mit den vielsagenden Worten: „Wie müssen Sie glücklich sein, glauben zu können!“ Von dieser Stunde an war ihr Umgang ein häufiger und immer erfolgreicher. Langsam jedoch nur und mühsam entrang sich des Ergriffenen Vernunft der rationalistischen Anschauung. Dabei leisteten ihm die Reden Vinets, welche er ernstlich las, die wesentlichsten Dienste. Er wandte auch seine Aufmerksamkeit, zuerst mit philologischen Absichten, dem Neuen Testament wieder zu. Bei der Erforschung desselben jedoch erwachte zugleich eine höhere Erkenntnis. Das Gewissen tat sich mit seinem Ernste kund; geschärft wurde dessen Macht durch die Mahnungen bald dieser, bald jener Predigt. Nach und nach übertönte die Stimme Johannis des Täufers das eitle Geschwätz und Räsonieren der wohlgefälligen, weltlichen Einbildungen; sie sprach von Sünde und Gericht, mahnte zu Buße und Sinnesänderung. Da trat die alte Welt mit dem schönen Heidentum in den Schatten, ja noch mehr, das Wesen des natürlichen Herzens, die Fleischeslust, die Augenlust, die Hoffart des Lebens ward vom Geiste Gottes aufgedeckt und gestraft. Die Worte des heiligen Gesetzes und der lockende Ruf der Gnade wirkten immer gewaltiger, bis die überwundene Seele zu den Füßen des Heilands der Sünder, und des ewigen Trösters niedersank und ihm sich hingab. Wie wohltuend wurde damals für ihn ein kleiner Kreis gläubiger Freunde, der sich ihm aufschloss und ihn treulich aufnahm. Die Stunden, wo die Paar Freunde, regelmäßig zur Betrachtung des Wortes Gottes, zum Gebet, zur traulichen Besprechung beisammen saßen, sind ihm unvergesslich geblieben und bis zu seinem Heimgang fühlte er sich in Dank und Liebe mit diesen Freunden verbunden. Sein Briefwechsel gibt davon rührende Beweise.

So war denn Lobstein für das Evangelium gewonnen. Das neue Leben wuchs und trieb. Die Einsamkeit hatte sich belebt durch die erfahrene Gegenwart Gottes im Gebet. Mit dem Licht der Wahrheit beleuchtete er sein Inneres mehr und mehr, und mit den geistlichen Waffen bekämpfte er die gebrochene Macht des alten Wesens. Wie gerne auch besuchte er nun einige arme Familien, welchen er das Evangelium vorlas; bei einer solchen Veranlassung äußerte er sich einst gegen jenen Prediger mit den Worten: „Hätte mir vor einiger Zeit jemand gesagt, ich würde in diesen feuchten Behausungen des größten Elends einst mehr Freude finden als in meinem netten Zimmer bei den schönen Büchern, nie hätte ich es geglaubt.“

Ermutigt durch seine Freunde, bestieg im Jahr 1840 Lobstein die Kanzel und predigte nun einige Mal in Mühlhausen, häufig aber in einer Nachbargemeinde. Diejenigen, welche ihn damals hörten, erinnern sich gar wohl des Ernstes und der Entschiedenheit, mit welchem er sein Zeugnis ablegte. Seine Rede war ergreifend. Die natürliche Gabe der Dichtung und das tiefere Studium der Sprache wurden nun der Wahrheit dienstbar.

Damals aber herrschte zu Mühlhausen unter dem Einfluss einiger Persönlichkeiten eine dem Evangelium entschieden feindselige Stimmung. Lobstein sollte deren Opfer werden, um so mehr als seine Gaben und sein Eifer ihn nur verhasster machten. So brachte man es dazu, dass er im Lauf des Jahres 1841 seine Professur aufgeben musste und auch bald darauf jener Nachbargemeinde, welche ihn zum Geistlichen verlangte, und an welcher er sehr hing, rundweg abgeschlagen wurde. So verließ er sein teures Mühlhausen nicht ohne Kummer; doch hatte er daselbst, wie er es oft den Freunden schrieb, einen überschwänglichen Trost gefunden. Aus den harten Prüfungen ging er mutig hervor und, entschieden für das Predigtamt, ließ er sich in seiner Vaterstadt dazu weihen. Ein Vorfall aus jener Zeit mag beweisen, wie er fertig war mit seiner Vergangenheit und welche große Umwälzung in ihm sich vollendet hatte.

Eine auserlesene Bibliothek hatte er sich im Verlauf der Jahre gesammelt; an ihr fand er lange sein größtes Wohlgefallen. Diese verkaufte er nun, sich beschränkend auf die Bibel und die Bibel erklärenden Werke. Gebet, Betrachtung des Wortes Gottes, Predigen und ein wohltätiger Umgang mit verwandten Seelen füllten die Monate aus, welche er meistens bei den Seinen zubrachte, bis ihm ein neuer Wirkungskreis eröffnet wurde.

Ende April 1842 begab er sich nach Freiburg in der Schweiz, wo er bis Oktober desselben Jahres den Geistlichen ersetzte. Er arbeitete da mit rechter Freudigkeit und wäre wohl auch in der Stelle geblieben, wenn seine deutsche Predigt den Landbewohnern verständlicher gewesen wäre.

Was überhaupt einem Jeden so schwer fällt, was aber besonders dem ungeduldigeren, leicht erregbaren Gemüt Lobsteins unerträglich sein musste, ward nun reichlich über ihn verhängt. Er sollte warten lernen. Beinah ein ganzes Jahr floss hin, ohne dass sein Wünsch, eine Pfarrstelle zu erhalten, sich erfüllte. Zwar predigte er oft und manche Aussicht hatte sich auf Wochen eröffnet, doch auch wieder erfolglos. Freilich für jede Gemeinde fühlte sich Lobstein nicht gleich tüchtig. So geschah es, dass er zuletzt den Ruf zum Geistlichen der freien deutsch-reformirten Gemeinde in Odessa (Russland) annahm, wo er vom Oktober 1843 an sich aufhielt. Dieser Posten hatte große Schwierigkeiten für ihn. Sie erwuchsen teils aus der streng reformirten Richtung einer Anzahl der Gemeindeglieder, teils aus den entgegengesetzten Klassen der Gesellschaft, aus welchen die Zuhörer bestanden. Doch fand er in der Folge an mancher Seele eine süße Erquickung in der Offenbarung der seligmachenden Kraft des Evangeliums, und auf seinem Sterbebette erfreute ihn auch der Gedanke, dass er diese und jene Seele bei seinem Herrn finden würde, welchem er sie damals zuführen durfte.

In Odessa, wohin ihm 1844 seine Verlobte gefolgt war, gründete er seine Familie, und da ward ihm sein erstes Kind geboren.

Immer reger jedoch ward der Wunsch, in die Heimat zurückzukehren, da die besagten Schwierigkeiten sich nicht lösen wollten und das warme, weiche Klima der Gesundheit seiner Gattin nachteilig wurde. Als sich denn endlich einige Aussicht auftat, gab er seine Entlassung und reiste, nach langen Mühseligkeiten, im Oktober 1848 mit Frau und Kind zurück. Hier nun begann eine neue Wartezeit von einem halben Jahr. Wie schwer war sie ihm! Im Juni 1849 übernahm er den Posten als Geistlicher der unter Katholiken weithin zerstreuten Protestanten des Departements der Vogesen, und bezog Epinal. Bis 1852 im September bekleidete er diese Stelle, wo er hin und her pilgerte, auf Entdeckung seiner Glaubensgenossen ausgehend, die Erkalteten anfeuernd und selbst angefeuert durch einen segensreichen Umgang. Hier, wo er beinah ausschließlich französisch predigte, übergab er sein erstes Büchlein der Öffentlichkeit. Er war von christlichen Freunden dazu aufgefordert worden und gab ihren Wünschen Gehör, obgleich er mehr, wie irgend jemand, das Mangelhafte seiner Leistungen einsah und hervorhob.

Im September 1852 vertauschte er Epinal gegen Genf, wo er als Professor der neutestamentlichen Exegese an der theologischen Schule angestellt wurde. Aus seiner Einsamkeit sah er sich nun plötzlich in einen Herd evangelischer Bewegung versetzt und von tätigen, erprobten Glaubensgenossen rings umgeben, mit welchen er sich in herzlichem Einverständnis fühlte. Hier genoss er viele Freundschaft und Bruderliebe: sie war ihm reiche Entschädigung für manche lange Entbehrung. Seine Vorlesungen jedoch, welche mehr den erbaulichen als den belehrenden Charakter hatten, waren von den Studierenden weniger geliebt als seine Predigten von seinen Zuhörern. Erstere wurden nach einiger Zeit aufgegeben und nun trug man sich mit dem Gedanken, Lobstein zum Prediger an der freien Kirche zu ernennen. Da erging von der französischen Gemeinde in Basel ein Ruf an ihn. Nicht ohne einiges Widerstreben entschloss sich Lobstein, die schöne Stadt und den lieblichen Kreis zu verlassen, mit welchem er in innigem Verkehr blieb und der nach seinem Heimgang seine tätige Sorge auf die hinterlassene Familie noch ausgedehnt hat. Er traf im Juli 1853 in Basel ein, wo er, bis zu seiner Übersiedelung in die ewigen Wohnungen, mit möglicher Treue und jedenfalls mit wachsender Freudigkeit arbeitete.

Unterdessen hatte sich seine Familie vermehrt und manche häusliche Prüfung war über ihn gekommen. Zwei Kinder waren ihm wieder abgefordert worden und seine Gattin hatte Zeiten der Kränklichkeit durchgemacht. In Genf hatte eine Feuersbrunst, wobei er selbst große Gefahr gelaufen, einen Teil seines Eigentums zerstört und manches Provisorische in der äußern Stellung hatte, Sorgen erweckend, Monate angedauert. Doch durch Alles hatte der Herr freundlich durchgeholfen und stets hatten Sein Wort und die Macht des Gebetes die Oberhand behalten.

Die ruhigste Zeit seines Lebens war Lobstein in Basel geworden. Es knüpften sich da, auf dem lieblichen Grund der Genfer Eindrücke, ähnliche Beziehungen und die neue Tätigkeit entsprach ganz den Wünschen. Außer der Predigt und den Pfarrfunktionen beschäftigten ihn die seit Epinal fortgesetzten Veröffentlichungen, auf welchen ein merklicher Segen lag und die mit Anerkennung und Dank aufgenommen wurden. Die Zahl derselben ist ziemlich angewachsen und nachdem Lobstein sich bloß in französischer Sprache versucht hatte, gab er seine letzte Arbeit in der ihm immer teuern Muttersprache heraus.

Über seine letzte Zeit schrieb er, einige Wochen vor seinem Heimgang, und weit entfernt davon, diesen zu ahnen: „Ich kann sagen, dass diese gegenwärtige Zeit die glücklichste meines Lebens ist. Wir können nur loben und danken, nach einem so ernsten und mörderischen Jahr, und wollen uns einen recht freudigen Glauben anschaffen, damit wir auch dieses Jahr zum voraus ein Segensjahr nennen können.“ Aus diesen glücklichen Verhältnissen wurde er nun schnell herausgenommen und in die Hütten des himmlischen Vaters verpflanzt. Da sein Ende manchem Gemüt einen Eindruck hinterlassen, so möchte einiges davon erwähnenswert scheinen.

Den 12. Januar predigte Lobstein noch über die Worte: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“ (Jes. 54,10.) Den zweiten Morgen. darauf erwachte er unter heftigen Brustschmerzen und Beklemmungen und die Seele voll trüber Todesahnungen: seine ersten Worte handelten von seinem wahrscheinlichen Ende. Den körperlichen Leiden gesellte sich geistige Unruhe und innere Dunkelheit bei, welche vier Tage, bis zur Nacht vom Samstag auf den Sonntag andauerte. Er selbst sagte letztern Tag: „Ich hatte viele Kämpfe in diesen letzten Tagen, da wählte M. (welcher diese Nacht bei ihm wachte) beim Lesen der Psalmen den 20ten; den hatte mir Herr M. als Losung bei meiner Abreise nach Basel mitgegeben; nun schwanden sogleich meine Kämpfe. Die Lieben von Genf!“ Von Dankbarkeit und Liebe, von der seligen Gewissheit der zukünftigen Freuden floss nun seine Seele über. Diese Gefühle kleideten sich am liebsten in Worte der h. Schrift, welche er sich so lang und treu angeeignet hatte. „Mich dürstet nach dem Wasser, von dem der Herr sagt: Wer das Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten,“ so sprach er zu dem Freund, der ihm die Erfrischung reichte. Der letzte Sonntag und Montag, welche er hienieden verlebte, waren besonders lieblich. Seiner nahen Auflösung in sich selbst gewiss, verfasste er am Morgen jenes Tages den Abschied an seine Gemeinde, welcher ihr auch verlesen wurde. Vor einigen Gliedern derselben, welche ihn besuchten, äußerte er seine Freude über den bevorstehenden Heimgang und wechselte mit ihnen freundliche Worte. Ja, dem Einen sagte er: „Ich werde zwar nicht aus dem Gesangbuch singen, an dem wir so fleißig gearbeitet haben, aber im Himmel werden wir zusammen singen.“ Er hatte großen Frieden. „Ich hätte nie gedacht, sagte er, dass ich einen siegbewussten Tod haben würde. Wohl gehe ich durch die Stufen des Sterbens, doch der Herr führt mich sachte von der einen zur andern. Der Gesichtskreis dehnt sich aus, mehr und mehr; man kommt in ein lichtvolles Land, ein himmlisches Italien. Jetzt verstehe ich die Stelle: „Dies Verwesliche muss anziehen das Unverwesliche und dies Sterbliche muss anziehen die Unsterblichkeit:“ Der Heiland entzieht mich dem Verweslichen, mir ist’s, als wäre ich schon im Unverweslichen. Das Gebet wird ein anderes; es wird ein leidendes; man empfängt bloß; das gewöhnliche Gebet ist schon ein zu langsames Verkehrsmittel mit dem Heiland; nun ist der Umgang unmittelbar und bleibend.“ Solche Worte sprach er mit Unterbrechungen und sehr ruhig. Wie dankend äußerte er sich über seine Gemeinde, die christlichen Freunde nah und fern!

Auch von seinen nächsten Anverwandten waren zu seiner Freude einige herbeigeeilt. Die Schmerzen wurden sehr empfindlich, da sagte er wohl auch: „traurig, aber allezeit fröhlich; sterbend und siehe, wir leben.“ Sehr gestärkt fühlte er sich immer durch Vorlesen der H. Schrift und Gebet. Oft wiederholte er: „Es sind deren viel mehr für uns, als wider uns.“ „Der Teufel hat keine Macht über die Kinder Gottes, er plagt sie nur.“ Als beim Anbruch des Montags, auf die Frage nach der Uhr, ein Freund zu ihm sagte: „Es bricht vielleicht Ihr schönster Tag an,“ so erwiderte er: „In der Tat, es wird keine Nacht da sein und nicht bedürfen einer Leuchte noch des Lichts der Sonne; denn Gott der Herr wird sie erleuchten, und sie werden regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ (Offenb. 22,5.) Im Lauf eben dieses Tages sah er noch mehrere Freunde. Zu dem Einen sagte er: „Als Sie neulich ausgeführt haben, dass unsere Vereinigung mit Christo nicht bloß eine moralische, sondern eine metaphysische sei, eine Wesensumwandlung, dem geb‘ ich mit beiden Händen meine Zustimmung. Ich erfahre schon etwas davon.“ Ein andermal: „Man dringt in das Privatleben des Herrn, in eine Welt, wo man angesehen ist; da sind die dienstbaren Geister, ausgesandt zum Dienste, um derer willen, die ererben sollen die Seligkeit.“ (Hebr. 1,14.) – „Wahrlich, der Tag des Todes ist besser, denn der Tag der Geburt.“ (Prediger 1,2.) Oft hörte man ihn die Worte wiederholen: „Die Rechte des Herrn behält den Sieg.“

Nach diesen trostreichen Tagen, wo sich die Macht des innern Lebens auf eine so klare Weise kund gegeben, und den Todkranken über alle Anfechtungen und Sorgen erhob, und nachdem er Abschied genommen von seinen Geliebten, die er zuversichtsvoll den Händen seines Erlösers überließ, stellten sich noch einige Tage ein, welche den Umgebenden schwer werden mussten. Die Krankheit gestaltete sich vollständig in ein Nervenfieber um und es trat ein beinahe anhaltendes Delirium ein, welches freilich immerfort auf dem geistlichen Gebiet sich bewegte und worin er sich oft mit großer Schärfe über sich und seine Leistungen vernehmen ließ. Zuweilen wurde er sich seines Zustandes und seiner Umgebung bewusst. So zogen sich die letzten Tage hin, während welcher die Ärzte noch allerlei Mittel fruchtlos versuchten. Freitag Morgen um 210 Uhr entschlief er, umgeben von den Seinigen und den nächsten Freunden, nachdem er noch um 6 Uhr Zeichen des Bewusstseins gegeben hatte. Sonntags darauf wurde er beerdigt. Sein Amtsgenosse und Freund wandte auf ihn die Worte aus Josua 1,2 an: „Moses, mein Knecht, ist gestorben.“ Für die Feierlichkeit hatte Lobstein selbst einige Tage vor seinem Ende die Worte bezeichnet: „Es müsse Frieden sein inwendig deinen Mauern und Glück in deinen Palästen.“ (Psalm 122,7.)

Wir schließen mit den Ausdrücken, welche Pfarrer Kramer gebraucht: „Erzählte ich alle Erfahrungen, welche der Sterbende noch durchlebt hat, so wäre es für manchen, als redete ich von den Höhen unsrer Alpen, von der Aussicht, welche sie erschließen und von der Luft, welche man da einatmet, zu irgend einem Fremden, der nie aus dem dichten und schweren Dunstkreis der Ebene gekommen wäre.“

Diese Erfahrungen aber hatte der Hingeschiedene darum gemacht, weil er gewiss war, dass „weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes ihn scheiden mochte von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, seinem Herrn.“ Denn „da er gewandelt hatte nach dem Lauf dieser Welt und den Willen des Fleisches tat und der Vernunft, hat Gott, der da reich ist an Barmherzigkeit, durch seine große Liebe ihn lebendig gemacht samt Christo und ihn samt Ihm in das himmlische Wesen gesetzt. Dasselbige ist Gottes Gabe.“