Unter der großen Zahl von Liebhabern der Gottseligkeit, von Bekennern und Märtyrern des Evangeliums, welche durch Wiclif zur Erkenntniß der Wahrheit geführt worden sind, ist derjenige Mann, dessen Name oben steht, weit genauer, als viele andere, bekannt. Und zwar um deßwillen, weil die Geschichte seines Lebens und der von ihm erduldeten Verfolgungen durch Aufzeichnungen von seiner eigenen Hand, welche auf uns gekommen sind, uns näher gerückt ist. Dieselben wurden durch Freunde des Mannes sorgfältig aufbewahrt, vielfach abgeschrieben, und zur Zeit der englischen Reformation von Wilhelm Tyndale, dem Uebersetzer der Bibel in’s Englische, 1536, im Druck herausgegeben. Diese Schrift wurde im 16. Jahrhundert eine in England beliebte Lektüre. Jene eigenhändigen Aufzeichnungen Thorpe’s sind denn auch die Quelle, aus welcher wir die zuverlässigsten Nachrichten über seinen Lebensgang und seine Gesinnung zu schöpfen im Stande sind.
Wilhelm Thorpe mag etwa um das Jahr 1360 geboren sein, denn er ist noch ein persönlicher Schüler Johann Wiclif’s gewesen, der im Jahre 1384 gestorben ist. Seine Eltern scheinen fromme und wohlhabende Leute gewesen zu sein; ersteres ergibt sich aus dem Umstand, daß sie nichts sehnlicher wünschten, als daß ihr Sohn Wilhelm seiner Zeit ein Priester werden möchte; letzteres läßt sich aus der Thatsache schließen, daß sie ihn mit nicht geringen Kosten in verschiedene Schulen schickten. Allein dem Sohn selbst war es, als er das jugendliche Alter erreicht hatte, nur gar nicht nach Wunsch, Priester werden zu sollen; und das setzte oft harte Worte und eine unfreundliche Behandlung von Seiten der Seinigen. Endlich aber verstand er sich doch, in Folge vielen Zuredens aber auch mancher Drohungen, dazu, seine Eltern um Erlaubniß zu bitten, daß er zu solchen Männern gehen dürfte, welche für weise und tugendhafte Priester galten, um von ihnen Rath und Anweisung zu dem priesterlichen Beruf zu empfangen. Mit Vergnügen ertheilten Vater und Mutter ihre Einwilligung zu diesem Vorhaben, spendeten ihm das nöthige Reisegeld, und entließen ihn mit ihrem Segen. Nun begab sich der Jüngling nach Oxford, und suchte Männer auf wie Johann Aston, Nicolaus von Hereford, Johann Purvey und andere Gesinnungsgenossen und Verehrer von Wiclif, vorzüglich aber den letzteren selbst. Er schloß sich an Wiclif und seine Freunde voll Verehrung an, und machte es sich zur nächsten Aufgabe, Wiclif’s Lehre sich einzuprägen, weil er sich je mehr und mehr davon überzeugte, daß diese die Reinheit der apostolischen Kirche im höchsten Grade an sich trage. Zugleich widmete er sich persönlich dem freundschaftlichen Umgang mit Wiclif, als dem tugendhaftesten, gottseligsten und weisesten Manne, den er jemals kennen gelernt habe. Und er blieb so lange im Umgang mit ihm selbst und dessen Freunden, bis er hoffen durfte ihre Lehre und Lebensweise sich gründlich angeeignet und nicht allein von ihrer Gelehrsamkeit sondern auch von ihrer Gottseligkeit und ihren heiligen Uebungen Nutzen für sich gezogen zu haben. Insbesondere vermochte ihn das Vorbild Wiclif’s und seiner Schule dazu, dem Studium der Schrift das angestrengteste Bemühen zu widmen. Und als er Oxford verließ, stand sein Entschluß fest, derjenigen Lehre und Lebensweise sein Lebenlang treu zu bleiben, welche er von Wiclif überkommen hatte. Diesen Vorsatz hat er in der That mindestens 20 Jahre lang beständig gehalten, bis er gerade deshalb als ein „Lollarde“, wie man’s nannte, in Untersuchung gezogen und in einen Kerker geworfen wurde, aus dem er wie es scheint nicht mehr entlassen worden ist. Insbesondere hat er es für seine Pflicht gehalten, als Reiseprediger, oder wie Wiclif selbst diese seine Freunde zu nennen pflegte, als einer der „armen Priester“ (ohne Pfründe und Gehalt), bald da bald dort aufgetreten, und Gottes Wort, wie er es in Wiclif’s Schule verstehen gelernt hatte, in englischer Sprache dem Volk zu verkündigend) Thorpe hatte theils im Norden Englands theils in anderen Gauen als Reiseprediger gearbeitet, da wurde er 1397 in London verhaftet; indessen ist er, nachdem Erzbischof Arundel von Canterbury verbannt worden war, vom Bischof von London, auf Verwendung der Freunde des Reisepredigers, ohne weiteres wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Als aber Thomas Arundel zurückgekehrt und wieder auf den erzbischöflichen Stuhl erhoben worden war, ist Wilhelm Thorpe etwa im Jahre 1406 auf’s neue festgenommen und anfänglich zu Shrewsbury, im Westen Englands, in’s Gefängniß gelegt worden. Allein der Erzbischof Thomas Arundel ließ ihn im Jahre 1407 auf seine Burg Saltwood in der Grafschaft Kent, unweit der Südküste Englands bringen, um in eigener Person ihn in’s Verhör zu nehmen und ihn wo möglich zu bekehren. Dieser Mann, aus dem gräflichen Geschlechte der Arundel, hatte es sich zur Pflicht und zur Lebensaufgabe gemacht, England von den Lollarden zu reinigen und diese auszurotten, was ihm jedoch keinesweges gelungen ist. Er hat denn auch seinen Gefangenen, Thorpe, zu wiederholten Malen vor sich kommen lassen, ihn theils unter vier Augen theils in Gemeinschaft mit einigen Priestern vernommen, und bald in wohlwollendem zutraulichem Ton, mit gleißnerischer Güte, bald in inquisitorischer, herrischer und feindseliger Weise mit ihm gesprochen, wobei man es an heftigen Vorwürfen, fanatischen Auslassungen und gewaltthätigen Drohungen nicht fehlen ließ. Allein Wilhelm Thorpe ließ sich eher brechen als beugen, und er ist nicht der einzige Lollarde gewesen, der seiner Ueberzeugung bis zum Tode getreu blieb. Auf Ansuchen von Freunden, die theils schon unterwegs, während er von Shrewsbury nach der Grafschaft Kent transportiert wurde, ihn sprachen, theils auf Saltwood ihn je und je im Gefängnis! besuchen durften, setzte er im Kerker eine Art Denkschrift und Tagebuch auf über seine Erlebnisse, insbesondere über die Verhöre und seine Verantwortung vor dem Erzbischof. Diese Schrift ist in hohem Grade anziehend, sowohl durch die schlichte naive Form des Berichts und der ganzen Darstellung, als durch den lehrreichen Inhalt. Namentlich erregt die Geistesgegenwart und Ruhe, die Klarheit Wärme und Entschiedenheit, mit welcher der Gefangene sich verantwortet, zumal bei den verschiedenen Tönen, welche der Kirchenfürst ihm gegenüber anschlägt, wahre Seelenfreude und Bewunderung für den Geist Christi, welcher in diesem Bekenner gelebt hat. Thorpe läßt sich in keiner Weise imponieren, läßt sich nicht durch wohlfeile Dialektik werfen; er setzt den schmeichelnden Zureden und den drohendsten Einschüchterungen eine in Gottes Wort gebundene Freimüthigkeit, eine zum Leiden um der Gerechtigkeit willen entschlossene Bekennertreue entgegen. Und es ist merkwürdig, mit welcher Klarheit und sittlichen Ueberlegenheit er seine obwohl nicht in allen Lehren fehlerfreie, aber doch in der Hauptsache biblische und evangelische Denkart in dem Geisteskampf, wozu das Verhör sich gestaltet, zu vertreten weiß.
Da nun Thorpe den Widerruf und die unbedingte Unterwerfung unter die Autorität der Kirche standhaft verweigerte, und nur auf Grund des Wortes Gottes sich eines Besseren belehren lassen wollte, so gab der Erzbischof schließlich seine erfolglosen Bemühungen auf. Als Thorpe nach dem letzten Verhör wieder in den Kerker gebracht wurde, führte man ihn in ein garstiges Gelaß, worin er nie zuvor gewesen war. Ohne Zweifel wollte man ihn dadurch vollends mürbe machen. Allein als die Thüre hinter ihm zugeriegelt und er ganz allein war, wandte er sich zu Gott und dankte ihm mit großer Freudigkeit, nicht allein dafür, daß er ihn von der Gegenwart, dem Spott und den Drohungen seiner Feinde befreit hatte, sondern noch viel mehr dafür, daß Gottes Gnade ihn unter den gleißenden Schmeichelreden wie unter den Drohungen der Widersacher standhaft erhalten hatte.
Hiemit schließen die eigenen Aufzeichnungen Thorpe’s.
Ueber seine letzten Lebensschicksale lassen uns die Urkunden völlig im Dunkeln. Frei ist er schwerlich je wieder geworden. Andererseits ist kaum anzunehmen, daß er, wie manche andere Lollarden, als „hartnäckiger Ketzer“ öffentlich verbrannt worden sei; denn in diesem Falle würden sicherlich Synodalakten oder sonstige Urkunden irgend eine Notiz davon erhalten haben. Eher mag er im Kerker sei’s durch Hunger sei’s durch Henkersqualen heimlich um’s Leben gebracht worden sein. Das letztere hat er offenbar selbst gefürchtet. Denn in seinem Testamente, welches uns gleichfalls erhalten ist, erklärt er seinen festen Entschluß, „zum Beweis der Wahrheit seiner Ueberzeugung, demüthig und freudig zu leiden, daß sein armer Leib gefoltert werde, wo Gott will, und von wem, und wann und wie lange er will, und welche zeitliche Strafe und Tod er will, zur Ehre seines Namens und zur Erbauung seiner Kirche.“ Schließlich bittet er alle Gläubigen, welche sein Testament lesen oder hören, um ihre andächtige Fürbitte, „daß ihm möge gegeben werden Gnade, Weisheit und Klugheit von oben, damit er sein Leben beschließen möge in der Wahrheit die er bezeugt hat, und um seiner Sache willen, in wahrem Glauben, beständiger Hoffnung, und vollkommener Liebe!“
Auch das Dunkel, das über seinem jedenfalls 1407 erfolgten Ende liegt, gehört zu dem tragischen Charakter seines Geschicks. Jedenfalls kann darüber kein Zweifel bestehen, daß Wilhelm Thorpe der Wahrheit treu geblieben ist bis an den Tod.
Gotthard Lechler in Leipzig.