Maria, Lazarus, Martha:- Glaube, Hoffnung, Liebe? Fast möchte man so deuten. Der Glaube sitzt empfangend zu Jesu Füßen: Maria; – die Hoffnung schweigt, blickt aufwärts und wird gekrönt: Lazarus; – die Liebe wirft, rührt sich und dienet: Martha. Doch was bildern wir, wo die Gedichte so mächtig redet und so reiche Gedankenschätze vor uns aufthut? – Maria, Lazarus, Martha. Kaum leben im kirchlichen Bewußtsein drei andre Persönlichkeiten der heiligen Geschichte in sicherern Gestalten und kräftigern Zügen fort, als diese.
Bethanien! Wer vernimmt dieses Namens süßen Klang, und träumt nicht von einem Himmelsvorhof im Thal des Todes? – Das aus der drei Geschwister war ein solcher. Nirgends findet sich vor dem großen Pfingsttage das neue Geistesleben in solcher Fülle, Frische und Vertiefung schon entfaltet, wie hier. Die Familie Bethaniens gewährt den herzerhebenden, verheißungsreichen Anblick eines lebensvollen Vorbildes des vollendeten Christusreichs auf Erden. Als in dem liebsten Gehege seines hoffnungsvoll erblühenden Gottesgartens pflegte der Herr nach des Tages Last und Hitze hier zu weilen. Auf seine Einkehr in Bethanien hat man das Wort des Hohenliedes deuten wollen: „Mein Freund ist hinab gegangen in seinen Garten zu den Würzbeeten, daß er sich weide und Rosen breche.“
An dem Herzen Maria’s fand der göttliche Sünderfreund für die Himmelsaussaat seines Worts ein fruchtbares und ergiebiges Ackerwerk. Ein tiefes Heilsbedürfniß führte ihm diese innige und reichbesaitete Seele zu, und ließ sie in dem Manne von Nazareth den Mittler Gottes schon erahnen, ehe dieser es selbst noch an der Zeit erachtete, als solchen sich der Welt zu offenbaren. Mit der Losung Assaphs in der Tiefe ihres Gemüths: „Wenn ich nur dich habe, frage ich nichts nach Himmel und Erde,“ klammerte sie sich bald nach der ersten Begegnung schon, eine Halt und Hülfe suchende Epheuranke, mit allen Fasern ihres innern Lebens an ihn an. Was sie mit Schmerzen gesucht, aber nirgends gefunden, fand sie in überschwänglicher Fülle bei Ihm. Vielleicht wußte sie’s eine geraume Zeit hindurch mit Namen nicht zu nennen, doch hatte sie’s. Saß sie, seinen Lebensworten lauschend, zu seinen Füßen, so fühlte sie sich am Ziele ihres innersten und heiligsten Begehrens, und schaute er sie an mit dem Auge von Erbarmung, so trank sie wie aus unsichtbaren Wunderquellen an dem Doppelbewußtsein getilgter Schuld und wiedergewonnener Gotteskindschaft eine Friedenswonne bis in’s Herz, von der sie früher kaum eine Ahnung hatte. Welch ein Festtag ging der Hütte zu Bethanien auf, so oft Er dieselbe mit seiner regnenden Einkehr wiederum beglückte. Dann däuchte der lieben Jüngerin ihr Haus ein Tempel, ihr armes Gemach ein Allerheiligstes, das die Herrlichkeit des Herrn erfüllte. Sie war nur Auge dann und Ohr für Ihn. Wie in den honigreichen Blüthenfeld die Biene, so versenkte sich ihre Seele in jeden Laut seiner Lippe. Wie der Morgenstern, des eignen Glanzes sich begebend, in dem Strahlenmeer der heraufsteigenden Sonne, so ging sie auf in der Herrlichkeit, von der Johannes zeuget: „Wir sahen sie, eine Herrlichkeit, als des eingeborenen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit.“
Lukas, der Evangelist, führt und in eine solche Feierscene ein. Da begegnet uns denn die Sinnige ganz wieder an den ewigen Magnet ihres Herzens hingegeben. Lebendiges Wasser strömt von seinem Munde: sie trinkt’s mit vollen, seligen Zügen. Mit seinen Weisheitssprüchen aber trinkt sie sich sein Bild, mit seinen Trostesworten Ihn Selbst in’s Herz herein. Martha, die ältere Schwester, vielleicht verwitwet, weil Eigenthümerin des Hauses, ist mit der Bereitung des Abendbrodes für den hohen Gast beschäftigt. Auch sie ist überglücklich, unter ihrem Dache den Mann zu wissen, von dessen Ruhme damals noch Judäa voll war, und welchem die göttliche Sendung so unverkennbar in leuchtenden Zügen von der Stirn strahlte. Was indeß ihre Seele so froh bewegte, war mehr die Ehre seiner Gegenwart, als deren Heilsbedeutung. Aeußerlicher, als Maria, und zur Zeit viel weniger gründlich noch in ihres Herzens wahren Zustand und innerstes Bedürfniß eingeweiht, gelangte sie mit ihrer Ahnung über den Gottgesandten Lehrer und Propheten in Jesu kaum weit hinaus, und ihre Liebe zu ihm war bei aller ihrer Innigkeit und Wärme einstweilen mehr erst ein menschlich begeistertes Hingenommensein von dem Ideale sittlicher Schöne und Holdseligkeit, das in seiner Erscheinung ihr verkörpert entgegentrat, als jene heilige, unbedingte Hingegebenheit des in sich selbst verlorenen Kindes an Ihn, als an den einigen Retter und Seligmacher. „Jesus hatte auch Martha lieb,“ meldet ausdrücklich das Evangelium. Wie hätte er sie auch nicht lieben sollen. Mochte doch eine ungeschminktere, durchsichtigere und wohlwollendere Seele in Israel nicht gefunden werden, als sie; und Jesus, der schon in ihrer Einfalt das Gottessiegel der Erwählung ihr aufgedrückt erblickte, freute sich in der Knospe schon der Rose.
Freilich tritt an Martha bald ein Zug hervor, der, obenhin gewürdigt, an der Kindlichkeit und Lauterkeit der lieben Magd uns wieder irre machen könnte. Wie sie nämlich, emsigst mit den Zurüstungen zu dem Mahl beschäftigt, die Maria unbeweglich zu des Meisters Füßen verharren sieht, wagt sie es, diesen in seiner Rede zu der Gnadendurstigen zu unterbrechen, indem sie sich nicht ohne Empfindlichkeit das etwas unwirsche Wort an ihn erlaubt: „Herr, kümmert’s dich nicht, daß mich meine Schwester alleine dienen lässet? Sage ihr, daß sie mit mir angreife.“
Wir beklagen diese Aeußerung, die uns allerdings einem rauhen Luftzuge gleich den zarten Blüthenschmelz von ihrer Erscheinung streifen will. Hätte Martha harmlos und ohne Seitenblick in ihrer häuslichen Liebesthätigkeit sich fortbewegt, so fiele uns nicht ein, aus der letztern der rührigen Schaffnerin einen Vorwurf zu machen, oder dieselbe gar als Merkmal eines noch nicht in das rechte Verhältniß zum Herrn eingegangenen Herzens aufzufassen. Wir würden sagen: auch solche Persönlichkeiten haben ihre Stelle im Reiche Gottes, und auch in derartigen Formen bethätigt sich die unermüdliche und erfinderische Liebe zu dem Herrn. Aber daß die Schwester die Hingebung Maria’s an Jesum nicht nur nicht begreift, sondern gar darüber aus sein kann, sie aus ihrer innigen Vertiefung in die Mittlerherrlichkeit des Eingeborenen vom Vater in die eigne Zerstreutheit und Vielgeschäftigkeit um den Herrn her herüber zu ziehn, das erscheint bedenklich, und verräth nur die Oberflächlichkeit wie ihres Glaubenslebens überhaupt, so ihrer Anschauungen von Jesu Person und dem letzten Zwecke seiner Sendung insbesondere. Oder sagt ihr vielleicht ein dunkles Ahnen, daß die Schwester den hohen Gast richtiger würdige und gebührender sich zu ihm verhalte, als sie, und darum auch unverkennbar einer nicht geringen Bevorzugung seinerseits sich zu erfreuen habe? In der That hat es den Anschein, als gehe beim Blick auf die so selig an Jesum Angeschmiegte etwas wie Neid, und zugleich wie unwillkürliche Selbstanklage durch Martha’s Herz, und als verrathe sich in ihren gereizten Worten ein, wenn auch nur halbbewußter, Versuch, dem Gewissen, das sie richtet, den Stachel abzubrechen, und ihrer Eifersucht den Gegenstand zu entziehen und den Raum zu nehmen.
Dürfen wir uns Martha’s gemüthliche Stellung also deuten, und wir sind allerdings dazu berechtigt, so söhnen wir uns insofern mit dem freilich, immer unentschuldbaren Ausbruch ihrer innern Verstimmung wieder in etwas aus, als wir uns dadurch schon zu dem Schlusse berechtigt glauben, daß sie anfange sich dessen bewußt zu werden, was ihr noch mangele, und als wir daraus die Hoffnung schöpfen, es werde das bessere Gefühl, wider das sie vorläufig noch niederkämpfend angeht, schon die Oberhand in ihr gewinnen.
Martha, Martha!“ – Mit diesem Wächterrufe gebeut der Herr der ruhelos Umgetriebenen Stillestand auf ihrem Irrgang. Was einst der Hahnenschrei dem taumelnden Petrus, das soll jener Doppelruf der Martha werden. Es ist wohl nie noch auf Erden in einem Worte so viel schonende Zartheit bei so durchdringender Schärfe, so viel liebevolle Milde bei so gewaltigem Ernste offenbar geworden, wie in dem Wort der Rüge, das der Herr an Martha richtet: „Du hast viel Sorge und Mühe;“ buchstäblich: Um Vieles sorgest und beunruhigest du dich. „Eins aber ist Noth! Maria hat das gute Theil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“ Unverkennbar wirft er hiermit zunächst der Martha vor, daß sie seine Einkehr in ihr Haus gar zu menschlich ansehe und behandle, da er ja nicht seiner selbst halben gekommen, und am wenigsten erschienen sein könne, sich ein Festmahl bereiten zu lassen. Doch geht der Sinn Seiner Rede sofort in’s Geistliche über, und rügt an Martha die Vielgespaltenheit und Zerstreutheit in den kleinen Sorgen und Mühen, es ihm unter ihrem Dache recht behaglich zu machen, während sie besser, in Erinnerung an sein Wort, wie er gekommen sei nicht, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene, vor allem darauf bedacht gewesen wäre, seine Gnadengegenwart für ihre unsterbliche Seele auszubeuten und ihn sammt der Fülle seines Heils lauschend und glaubend in sich aufzunehmen. Nicht ihren Dienst in Vielem verwirft der Herr als solchen. „Gerne nimmt er,“ bemerkt ein Ausleger bei dieser Stelle richtig, auch im Vielen die viele Liebe an. Manchmal ist wirklich in äußerer Geschäftigkeit für den Herrn Vieles Noth, und es fleißig zu besorgen ein Lob.“ Es tadelt der Herr nur die zerfahrene Gemüthsrichtung, die ihrem Dienen zu Grunde liegt. Eins ist Noth: daß man Seiner theilhaftig werde, und vor Allem mit ihm, dem Himmelsbrode, zum göttlichen Leben sich speisen und nähren lasse. Maria hat das gute Theil erwählt, nicht darin etwa, daß sie in müßiger Beschaulichkeit zu Jesu Füßen saß, sondern darin, daß sie durch Beschränkung aller ihrer Sorgen auf die eine, daß nur Christus Gestalt in ihr gewinne, den Weg betrat, in welchem man erst die Tüchtigkeit erlangt, dem Herrn recht zu dienen. „Maria’s Theil wird nicht von ihr genommen werden.“ Was Martha erzielt: die Süßigkeit des Bewußtseins, ihre Sache gut, und dem hohen Gaste in ihrer Hütte es recht angenehm gemacht zu haben, ist eitel, und ohne nachhaltig tröstende, geschweige heilbringende Bedeutung. Maria dagegen legt einen guten Grund auf’s Zukünftige, und eignet in der gläubigen Ergreifung Christi einen Schatz sich an, der da bleibet in das ewige Leben.
Daß Martha den Herrn in seinem zurechtweisenden Wort verstanden habe, und auch des ganzen Segens dieses Wortes theilhaftig worden sei, steht außer Frage. Das eigenthümliche Gepräge ihrer ursprünglichen Naturanlage verwischte sich freilich auch nachmals nicht, sondern heiligte und verklärte sich nur. Sie blieb bei allem Zuwachs an Verinnerlichung die heitre, rührige, vorzugsweise zu Geschäftigkeit und Dienst der Liebe aufgelegte Martha. Wie Petrus zu Johannes, so verhielt sie sich zur Schwester Maria. Wie verschieden jedoch die Gefäße, der verborgene Schatz in ihrem Innern war derselbe. Gelegenheit, uns hievon zu überzeugen, geben und die Tage der Heimsuchung, die bald über die Hütte zu Bethanien hereinbrachen.
Lazarus, der geliebte Bruder, erkrankte schwer, und zum nicht geringen Kummer der Schwestern weilte der Meister zu der Zeit fern in der Wüste am Jordan. daß Er der Bekümmerten erster Gedanke war, ist begreiflich. Sobald die Krankheit einen bedenklichern Charakter annahm, sandten sie Botschaft an Ihn ab, beschränkten sich aber darauf Ihm, dessen Herz sie kannten, in zartester und sinnigster Weise nur sagen zu lassen: „Herr, siehe, den Du lieb hast, der liegt krank.“ Sie trauten’s ihm zu, daß er auf diese Kunde unverzüglich nach Bethanien eilen werde; aber – ihre Hoffnung täuschte sie. Der Bote kam ohne Ihn zurück; doch überbrachte er den Sorgenvollen von dem Herrn die herzerleichternde Antwort: „Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch geehret werde.“ Was Wunder, daß sie diesem Räthselworte die Deutung gaben, der Bruder werde nicht sterben, sondern zum Preise Gottes wiederum genesen. Wie groß war darum ihre Bestürzung, als statt dessen die Krankheit von einem Augenblick zum andern sich steigerte, ja endlich das für unmöglich eintrat, und das theure Bruderhaupt im Tod erblaßte. Ach, sie vernahmen nicht das verheißungsreiche Wort, mit welchem der Meister die Nachricht von der Lazarus Verscheiden entgegen nahm. „Lazarus, unser Freund,“ sprach er, „schläft; aber ich gebe hin, daß ich ihn auferwecke;“ und als die Seinen die bildliche Rede nicht faßten, und erwiderten: „Herr, schläft er, so wird’s ja besser mit ihm,“ da fügte er, eigentlicher redend, hinzu: „Lazarus ist gestorben; und ich bin froh um euretwillen, daß ich nicht dagewesen bin, auf daß ihr glaubet; aber lasset uns zu ihm ziehn!“ Doch, deß vernahmen die Schwestern nichts, und schwer dürfte zu sagen sein, was sie am tiefsten daniederbeugte: ob die Trauer um den unersetzlichen Verlust, den sie erlitten, oder ob der Schmerz über die bittre, die Herrlichkeit des Herrn ihnen verdunkelnde, Täuschung, welche sie erfuhren.
Vier Tage schon ruhete Lazarus in seiner Gruft, als den Thränenreichen zu Bethanien die Kunde kam, der Meister sei im Anzug. Sofort flog Martha, ganz ihrem Charakter entsprechend, auf, dem Heißersehnten entgegen zu eilen. Dem Herzensbedürfnisse der ganz vom Gram überwältigten Maria entsprach es mehr, daheim zu bleiben, und fern vom Gewühl der Straße, den Nahenden in ihrer häuslichen Stille zu empfangen. „Herr,“ so lautete Martha’s Bewillkommensgruß, als sie mit Jesu zusammentraf, „wärest Du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben!“ Wie wahr fühlte und redete Martha hier! Es hätte sich nicht geziemt, daß in der Gegenwart Dessen, der das Leben selber ist, Jemand eine Beute des Todes geworden wäre. „Ich weiß aber auch,“ fuhr Martha fort, „daß, was Du bittest von Gott, wird Dir Gott geben.“ Als einen Vertrauten und Liebling des himmlischen Vaters, wie kein zweiter es sei, hatte sie Jesum erkannt; darüber hinaus aber ging – vielleicht ihre Ahnung wohl, – aber noch nicht ihr Glaube. Nichtsdestoweniger erscheint uns Martha gegen früher schon wesentlich am inwendigen Menschen gefördert. Der Herr sucht sie nun stufenweise zu höheren Anschauungen von seiner Person und Würde emporzuheben. Zuerst besiegelt er die Zuversicht, die sie zu ihm geäußert, mit der bestimmten Eröffnung: „Dein Bruder wird auferstehn.“ Da aber Martha den eigentlichen Kern dieser Rede verkennt, und dieselbe zu der für den Augenblick ihre tief gebeugte Seele wenig zufriedenstellenden Versicherung verallgemeinern und abschwächen will, daß Lazarus einmal in weit entlegener Zukunft, nämlich am jüngsten Tage erstehen werde, da entkleidet der Herr seine Majestät der letzten Hüllen, indem er das große Zeugniß von sich ablegt: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben.“ – Das schlägt durch. Martha’s Seele liegt anbetend vor dem Herrn am Staube und als Echo seines Zeugnisses dringt aus ihrem Innern volltönig das Bekenntniß hervor: „Ja, Herr, ich glaube daß Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, der in die Welt gekommen ist.“
Auf den Flügeln erwartungsvoller Freude eilt sie nach Bethanien zurück, und, damit ein unnöthiger Volkszusammenlauf verhütet werde, flüstert sie leise ihrer eben von einem Schwarme beileidsbezeugender Nachbarn und Anverwandten umgebenen Schwester Maria zu: „Der Meister ist da und rufet dir.“ Diese Eröffnung reicht hin, auch Mariens Füße zu beflügeln. Vor dem Herrn angelangt sinkt sie schluchzend zu seinen Füßen nieder, und spricht, klarer nur des Grundes ihrer Aeußerung sich bewußt, wie Martha: „Herr, wärest Du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.“ – „Als nun Jesus sie weinen sah,“ meldet die Geschichte, „und die Juden auch weinen, die mit ihr kamen, ergrimmte er im Geist und betrübte sich selbst,“ d. h. da gab er sich ganz der tiefen, heiligen Entrüstung hin, die ihn erfaßte, der Entrüstung des Heiligen in Israel, des Herrn vom Himmel wider die Sünde, diese furchtbare Mutter all des namenlosen Elends und Gräuels auf Erden. Dann sprach er mit der erhabenen Ruhe Dessen, der sich allen Mächten des Verderbens gewachsen weiß: „Wo habt ihr ihn hingelegt?“ „Herr, komm und siehe!“ lautete die Antwort.“ „Und Jesu gingen die Augen über. Da sprachen die Juden: Siehe, wie hat er ihn so lieb gehabt!“ Andre sprachen Andres. Nachdem er aber an das Grab herangetreten, gebot er: „Hebet den Stein ab!“ – Doch nun sollte noch einmal seiner Herrlichkeit gegenüber die ganze Armseligkeit des kleingläubigen, im Schein befangenen, dem Thatenkreise Gottes entfremdeten und entwöhnten und mit seinen Anschauungen lediglich innerhalb der Grenzen des menschlich Möglichen festgebannten Menschenherzens zu Tage treten. „Herr, er riechet schon,“ bemerkte Martha, denn er hat schon vier Tage gelegen.“ Auf diese klägliche und kleingeistige Neuerung erfolgte aber zunächst, die Glaubensschwache aus ihren armen, dunkeln Erdenträumen vollends aufzurütteln, das Wort der Majestät: „Habe ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, solltest du die Herrlichkeit Gottes sehn?“ – Dann wurde der Stein abgehoben, und was sich nun begab, und wie die Versichrung des Herrn: „Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch geehret werde,“ jetzt Ja und Amen wurde, weiß Jeder. Jenes glorreiche, mit unvergänglichem Glanze die Welt durchleuchtende Wunder der Auferweckung trat jetzt ein, an welches zur Rechten und zur Linken so große Entscheidungen sich knüpften: Entscheidungen zu dämonischer Verderbensreife, aber auch zu göttlicher Glaubensvollendung. Unstreitig fiel auch Martha’s vollständigere Erleuchtung und Wiedergeburt mit jener unvergleichlichen Selbstverherrlichung des Meisters in einen Moment zusammen. Viele erstanden geistlicher Weise mit Lazarus von den Todten; was aber die Schwestern feierten und erlebten, glich eher einer Himmelfahrt, als einer Auferstehung.
Noch einmal führt die heilige Geschichte das liebe Geschwisterkleeblatt, und namentlich die Maria uns vor, und diese in einer Handlung, welche in ihr verborgenstes Innere uns fast noch tiefere Blicke thun läßt, als alle früheren Scenen. Der Herr, auf seinem letzten Gange nach Jerusalem begriffen, weilt, sechs Tage vor Ostern, wieder in Bethanien, wo die dortigen Jünger und Freunde, und zwar diesmal im Hause des durch ihn geheilten Simons, „des Aussätzigen,“ ihm ein Fest- und Ehrenmahl bereitet haben. Martha erscheint auch in dem befreundeten Hause wieder als die dienende, aber in gar anderm Sinn und Geiste jetzt, wie weiland. Lazarus, den vom Tode auferweckten, dürfen wir uns beim Mahle vielleicht zur Rechten, Simon, den Hauswirth, zur Linken des Meisters denken, so daß Dieser inmitten zweier lebendiger Siegeszeichen erscheint. Maria hängt mit stiller Seligkeit an ihres Freundes Blick und Munde. Ehe man sich’s aber versteht, erhebt sie sich von ihrem Sitze, und nachdem sie leise und unvermerkt dem Manne, der ihre ganze Seele ausfüllt, sich genähert, nimmt sie das Köstlichste, was sie besitzt: ein Salbenfläschlein mit edler unverfälschter Narde, zerbricht es über des Meisters Haupt, und salbet ihm nicht dieses nur, sondern überreichlich, in Demuth niedersinkend, auch die Füße, die sie dann mit ihrem aufgelösten Haare wieder trocknet. Diese Handlung, symbolisch durch und durch, deutet jedem sinnigen Gemüthe schon sich selbst. Wer verkennt darin einen Art rückhaltloser Herzensübergabe an den Herrn, und athmet nicht mit dem süßen Duft der ausgeschütteten Narde, der das ganze Haus erfüllt, zugleich den noch viel köstlichern Wohlgeruch der unbegrenzten Verehrung, feurigen Dankbarkeit und zärtlichen Liebe, wovon Mariens Herz hier überwallt. Mit ihrer Narde gießt sie hier huldigend und opfernd ihre ganze tief bewegte Seele zu Jesu Füßen aus. Unverkennbar aber geht durch ihre freudige Feierstimmung zugleich ein Hauch verborgener Wehmuth. Ein leises Ahnen sagt ihr, daß sie den Meister so in der Gegenwärtigkeit seiner leiblichen Erscheinung nicht lange mehr besitzen werde. Sie weiß ihn auf dem Wege nach Jerusalem, und es bangt ihr vor den Dingen, die dort seiner harren dürften. Doch auch das ist ihr bewußt, daß auch zu diesem verhängnißvollen Gange nur die Liebe ihm räth, die rettende Sünderliebe, und dieser Gedanke steigert die Inbrunst ihrer Gegenliebe vollends zu lodernder Opferflamme.
Ungern leihen wir unser Ohr dem schreienden Mißklang, der, und noch dazu von einer Seite her, von wannen man ihn nicht hätte erwarten sollen, die liebliche Harmonie der sinnigen That Mariens für einen Augenblick stören und unterbrechen durfte. Judas Ischarioth, unfähig, eine That, wie jene, in ihrer Schönheit und Tiefe zu verstehn, erfrechte sich, das Wort zu nehmen, und sprach – (auf eine Untersuchung der verabscheuungswürdigen Motive seiner herzlosen Rede lassen wir uns hier nicht ein): „Was soll diese Verschwendung? Diese Salbe hätte besser mögen um dreihundert Denarien verkauft und den Armen gegeben werden!“ – So der finstre Egoist, und leider!, freilich ohne dieselbe böse Absicht, stimmten mehrere der andern Jünger, vorübergehend von Jenes Gifthauch angesteckt, in des unglückseligen Gesellen heuchlerische, schneidend kalte Worte ein. Da aber wirft sich für die Schwergekränkte, damit sie an sich selbst und ihrer That nicht etwa irre werde, der Herr in den Riß. „Was,“ beginnt er, mit ernster und zugleich wehmuthsvoller Rüge wider die unberufnen Tadler, „bekümmert ihr dies Weib. Lasset sie mit Frieden, sie hat ein gutes Werk an mir gethan. Arme habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit.“ – Dann, hindeutend auf den tiefern Sinn der That Maria’s, und nicht ohne leise prophetische Anspielung auf seine eigne Auferstehung, fügt er hinzu: „daß sie diese Salbe auf meinen Leib gegossen hat, damit ist sie zuvor gekommen, mich zum Grabe zu bestatten;“ und schließt dann seine Rede mit der Versichrung: „Wahrlich, ich sage euch, wo dieses Evangelium geprediget wird in der ganzen Welt, da wird man auch sagen zu ihrem Gedächtniß, was sie gethan hat.“
So setzte der Herr seiner innigen, demüthigen Jüngerin selbst ein Denkmal, das, „dauernder, als Erz,“ bis heute steht, und ewig nicht verwittern wird, noch kann. Wo hinfort sein Evangelium ertönt, da wird auch deß gedacht, was Maria im Drange heiligsten Gefühles einst dem Herrn that, und an ihrem Bilde erneut sich immer wieder das Bewußtsein, daß es für jeden vor allem Andern Eine gelte: die unbedingte Hingabe des ganzen Herzens an Jesum, den Herrn der Herrlichkeit, und daß, was die reine Liebe thut, sie, die das Vorrecht hat, die Formen ihrer Bethätigung sich unbeschränkt zu wählen und zu fordern, daß man nur nach ihrem eigenen Gesetz sie richte, unnachahmlich sei und unantastbar, über jede Bekrittlung erhaben, und in Gottes Augen köstlich, wie nichts Anderes.
F. W. Krummacher in Berlin.