„Wenn der Eifer für Frömmigkeit, wenn die Liebe zum eigenen Heil, wenn die Ermahnung christlicher Theilnahme etwas bei euch vermag, ihr Freunde der christlichen Religion, so beschwöre ich euch bei Jesus Christus, durch dessen Blut ihr erkauft seid, daß ihr die Schriften leset, welche Christum lehren und zur göttlichen Liebe entflammen, und dagegen verwerfet alle zugespitzten Schultheologen, die aufblähen und nicht erbauen, den Verstand bilden und das Gemüth verdunkeln. Unter jenen ist einer der vorzüglichsten derjenige, den ich unter Gottes Leitung aufgefunden und euch nun darbiete, Johannes Goch, ein Mann von seltener Gelehrsamkeit, gegen keinen in seiner Zeit zurückstehend, der eifrigste Vorkämpfer der christlichen Freiheit, der fleißigste Ausleger des göttlichen Gesetzes; diesen leset bei Tag und bei Nacht, zumal wenn ihr feiert von der Lesung der heiligen Schrift, welcher freilich immer der Vorrang gebührt.“
So schrieb um die Zeit des Wormser Reichstages ein Mann – er hieß Cornelius Grapheus – der selbst unter die ersten erleuchteten Bekenner des Evangeliums in den Niederlanden gehörte; und was er vor mehr als dreihundert Jahren von Johann Goch bezeugte, als er dessen Tractat von der Freiheit der christlichen Religion zuerst ans Licht zog und in den Druck gab, das müssen auch heute noch alle die bestätigen, welche mit offenem Sinne die Schriften jenes ebenso innig frommen als freimüthigen Vorgängers der Reformation gelesen haben.
Johann von Goch hieß mit seinem Familiennamen Pupper, scheint aber diesen Namen nicht geführt zu haben, sondern wurde der damaligen Sitte zu Folge gewöhnlich nach seinem Geburtsorte benannt, der kleinen Stadt Goch im Herzogthume Cleve, wo er zu Anfang des 15. Jahrhunderts zur Welt gekommen war. Es mag eine geringe Familie gewesen sein, aus der er stammte; wenigstens ist uns gar nichts von derselben überliefert. Ueberhaupt verhält es sich mit Goch wie mit manchen unter den trefflichsten Männern des Mittelalters, den Schöpfern zum Theil herrlicher und gewaltiger Werke: wir wissen fast nichts von ihren Lebensumständen; die Personen mit ihren Ansprüchen traten damals weit mehr als jetzt in den Hintergrund gegen die Sachen nach ihrem innern Werthe. So kennen wir auch Johann von Goch hauptsächlich nur aus den geistvollen Schriften, die uns von ihm geblieben sind. In diesen erscheint er als ein, auch von gelehrter Seite, wohl ausgestatteter Mann und daraus schließen wir, daß er gute Bildungsanstalten besucht haben müsse. Ueber das Einzelne aber fehlt es an sicherer Kunde. Vermuthen können wir nur, daß es eine Anstalt der Brüder vom gemeinsamen Leben war, wo er den ersten Unterricht empfing, und daß er dann auf den Universitäten Löwen und Paris seine Studien fortsetzte.
Auf eine Verbindung mit der Genossenschaft des gemeinsamen Lebens deutet der Geist hin, der die Schriften Gochs durchdringt. Auch soll er mit einem noch gelehrteren und berühmteren Zögling ihrer Anstalten, mit Johann Wessel, befreundet gewesen sein. Ja es ist nicht unwahrscheinlich, daß er selbst eine Zeit lang zum Verbande der Brüder gehörte. Als erster Vorsteher des Bruderhauses zu Harderwyk, welches um 1448 seine Entstehung erhielt, wird uns neben Gottfried von Kempen ein Johann von Goch genannt – höchstwahrscheinlich der unsrige – und beiden wird nachgerühmt, daß sie mit dem Schulrector Hermann von Schurrenburgh die Anstalt zu bedeutender Blüte erhoben hätten.
Mit geschichtlicher Bestimmtheit wissen wir, daß Goch um 1451, damals etwa 50 Jahre alt, zu Mecheln in Brabant ein Priorat von Kanonissinnen gründete, welches den Namen Thabor erhielt, weil die ihm angehörigen Frauen zu Ehren des h. Erlösers auf dem Berge Thabor nach der Regel Augustins ein gottseliges Leben führen sollten. Mecheln, als erzbischöflicher Sitz und schon seit 400 Jahren unter dem Krummstabe stehend, war ganz besonders reichlich mit Klöstern und geistlichen Stiftungen versehen, unter denen die zum Theil der christlichen Mildthätigkeit gewidmeten Frauenvereine eine bedeutende Stelle einnahmen. In diese Richtung griff Goch auf der einen Seite, soweit sie einem wirklichen Bedürfnisse der Zeit entsprach, fördernd ein; auf der andern Seite -aber wußte er auch im Geiste einer tieferen, evangelisch freiern Frömmigkeit das Klosterleben seinem wahren Werthe nach zu würdigen und der falschen Schätzung wie den Ausartungen desselben kräftig zu begegnen. So stand Goch, gleich seinem trefflichen Zeitgenossen Thomas von Kempen ein klösterliches Stillleben führend, dem unter seiner beichtväterlichen Leitung blühenden Frauenhause 24 Jahre lang vor. Er starb am 28. März 1475, vier Jahre nach Thomas von Kempen und vierzehn Jahre vor Johann Wessel, zwischen welchen er in seiner Geistesrichtung eine Art von Mittelglied bildet, indem er jenem durch seine Innerlichkeit, diesem durch seinen reformatorischen Sinn verwandt war und beides auf eine Weise verschmolz, wie wir es gerade nur bei ihm finden.
Johann von Goch war ein Mann von eindringendem Tiefsinn und gewandtem Scharfsinn. Er wußte die Erscheinungen des religiösen Lebens in ihrer verborgenen Wurzel zu erfassen, doch fehlte ihm auch nicht der gesunde, klare Blick in die Wirklichkeit. Sein mildes, zartes Gemüth zog ihn mehr zur stillen Betrachtung hin; aber durch die offen und frei ausgesprochenen Ergebnisse seiner Schriftforschung, seines theologischen Nachdenkens und seiner Weltbeobachtung griff er zugleich fruchtbringend und reformatorisch ins Leben ein. So gehört er unter die, welche den Grund zur Reformation im Innern der Gemüther legten, weniger durch That und Kampf, mehr durch das eigene ruhig wirkende Vorbild, durch das lebendige Wort und evangelisch erleuchtete Schriften. Wir haben Don ihm noch zwei bedeutende Abhandlungen, beide in lateinischer Sprache: einen Tractat „über die Freiheit der christlichen Religion“, vorzugsweise seine positiven Ueberzeugungen enthaltend; und einen andern „über die vier Irrthümer in Betreff des evangelischen Gesetzes“, mehr die Streitgedanken Gochs gegen die falschen Zeitrichtungen und das Verderben der Kirche in sich fassend. Daraus können wir Folgendes als das Wesentliche hervorheben.
Nach der positiven Seite stellt sich Goch im entschiedenen Gegensatz gegen die philosophische Schultheologie seiner Zeit ganz auf den Grund der h. Schrift. Der Inbegriff der Heilswahrheit liegt ihm in der Offenbarung Gottes in Christo und davon findet er wiederum den reinen und vollen Ausdruck in der Schrift, welche ihm eben darum die kanonische ist. Jede andere Lehre über höhere Dinge muß auf dieses Maaß zurückgeführt werden und hat nur Geltung, soweit sie damit übereinstimmt. Der Kern der Schrift aber ist nicht eine Summe von Gesetzen und Vorschriften, sondern das rechte Licht über Natur und Gnade, Sünde und Erlösung, der wahre Weg des Glaubens und der Liebe. Alles, was Goch will, läßt sich in die Worte zusammenfassen: aus Gott durch Gott zu Gott. Gott ist die einzige Quelle nicht nur alles Seins, sondern auch alles Gutseins. Auch der Mensch ist ursprünglich aus Gott, seine höchste Bestimmung, Gemeinschaft mit Gott durch freie Liebe; aber diese Bestimmung erreicht er nur durch die Mittel, welche der Geist Gottes, die göttliche Gnade ihm darreicht. Diese Mittel hatte Gott ursprünglich als die edelste Gabe in die Natur des Menschen gelegt; durch die Sünde ist jedoch die Natur des Menschen verdorben worden, und jetzt kann er zu Gott und zum Guten nur gelangen durch Wirkung der wiederherstellenden Gnade. Der Mittler der göttlichen Gnade ist Christus, der einzig vollkommne Gerechte und Sündlose, der Einzige, der wirklich ein Verdienst vor Gott für sich und andre erwerben konnte. Durch diesen Einen werden alle Sünder mit Gott versöhnt, nicht so, daß eine Feindschaft Gottes wider die Menschen aufgehoben, sondern so, daß das Gottwiderstrebende im Menschen, die Sünde, getilgt und an deren Stelle das Gottvereinigende, die Liebe, gepflanzt wird. Indem dieß aus Gnade geschieht, ist sie die Ursache alles Guten, wie der geschaffene Wille die Ursache alles Bösen ist. Durch die Gnade wird die Liebe ausgegossen in die Herzen der Gläubigen, und die Liebe wird die Quelle alles Guten: denn nur, was aus der Liebe kommt, ist frei und nur was aus Freiheit geschieht, ist wahrhaft gut. Nicht daß der Mensch an sich Gutes thue, ist seine Aufgabe, sondern daß er das Gute auf gute Weise thue; und dieß geschieht dadurch, daß sein Wille durch die Liebe auf freie Weise mit dem göttlichen vereinigt wird und gleichsam in den göttlichen aufgeht, daß er in der vollen Abhängigkeit von Gott die höchste Freiheit bewährt.
Von dieser Grundlage aus mußte Goch nothwendig auch Widerspruch erheben gegen äußere Gesetzlichkeit, gegen sogenannte gute Werke und deren Verdienstlichkeit, gegen den Werth der Gelübde und andrer kirchlicher Verpflichtungen und zuletzt gegen die Kirche selbst, insofern sie das alles anordnete und darauf einen besonderen Werth legte. Bei diesem Widerspruch faßte er aber nicht bloß einzelne Gebrechen ins Auge, sondern, wie kein Anderer, ging er auf das Ganze und Innerlichste des kirchlichen Lebens ein und bekämpfte den verdorbenen Gesammtgeist damaliger Kirche und Christenheit. Die Quelle des allgemeinen Verderbens fand er vornehmlich in vier falschen Grundrichtungen: in der unevangelischen Gesetzlichkeit, in der gesetzlosen Freiheit, im falschen Selbstvertrauen und in der selbstgemachten äußerlichen Frömmigkeit; und zwar bleibt er nicht dabei stehen, nur diese Grundverirrungen aufzudecken, sondern er stellt auch jedem Irrthum das Gegengift der Wahrheit gegenüber: der Gesetzlichkeit die evangelische Freiheit; der Freigeister die sich selbst beschränkende Gesetzmäßigkeit; dem fleischlichen Selbstvertrauen das unabweisbare Bedürfniß der Gnade; dem gemachten Formenwesen des Christenthums den ursprünglichen, innerlichst freien Geist desselben. Von der Kirche seiner Zeit, die jene falschen Richtungen in sich aufgenommen hatte, sagte er: sie sei keineswegs über jeden Irrthum erhaben und es ergehe ihr, der Mutter der Gläubigen, wie andern Müttern: sie habe oft mehr Liebe als Einsicht. Dagegen fand er die wahre Kirche da, wo Christus ist, das Haupt, welches allen Gliedern Leben und Bewegung mittheilt. Dem Haupte muß auch der Leib entsprechen; den Geist Christi sich anzueignen und fortzupflanzen, das evangelische Leben zu verwirklichen, das ist die Hauptbestimmung der Kirche.
Es ist an Goch zu vermissen, daß er die Lehre von der Versöhnung durch Christum noch nicht in ihrem ganzen Umfang und die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben noch nicht in ihrer ganzen Tiefe und Bedeutung erkannt hat. Aber indem er Alles einerseits auf die Schrift, andrerseits auf die Gewißheit der Gnade Gottes in Christo gründete, indem er dem Dienste der Werke stets den Geist der freien Liebe entgegenstellte, und die sittlichen Dinge überall nicht nach der äußeren That, sondern nach dem inneren Grund und der sie erzeugenden Gesinnung würdigte, hat er doch „in das Herz der evangelischen Wahrheit getroffen“ und ist innerhalb der Schranken, die ihm durch seine Eigenthümlichkeit und seine Lebensstellung gesetzt waren, ein treuer und werther Zeuge derselben geworden. Dafür verdient sein Andenken von allen, welche die Erscheinung des Herrn lieb haben, zu aller Zeit im Segen erhalten zu werden.
C. Ullmann in Heidelberg, später in Carlsruhe
Evangelisches Jahrbuch für 1856 Herausgegeben von Ferdinand Piper Siebenter Jahrgang Berlin, Verlag von Wiegandt und Grieben 1862