Aurelia

Aurelia ist eine jener Nebelgestalten, wie dieselben die Vorgeschichte der Einführung des Christenthums in verschiedenen Ländern häufig zeigt. Diese Gestalten wurden um so leichter zu Heiligen erhoben, je unbestimmter sie waren; die Phantasie übte leicht ihr frommes Spiel da, wo Niemand nähere Kunde zu geben im Stande war. Doch der Herr kennet die Seinen und wir gönnen ihnen den Himmel, wenn sie ihn aus Gnaden empfangen haben.

Von Aurelia wissen wir nicht Eine hervorstechende That, ja nicht Ein eigenthümliches Wort, sondern bloß den Namen und kaum etwas mehr. Die Legende erzählt: Aurelia sei eine der eilftausend Jungfrauen gewesen, die unter Anführung der Ursula von Rom nach Cöln am Rhein zogen, man weiß nicht recht wann? dort von den Hunnen unter Attila überfallen und wegen ihres Christenglaubens niedergemetzelt wurden. Aurelia aber habe Cöln nicht erreicht, sondern sei zu Straßburg erkrankt und gestorben. Diese Sage von Aurelia, Ursula und den 11 tausend Jungfrauen findet man schon im 6ten Jahrhundert erwähnt, aber erst im 12ten Jahrhundert wurde sie ausgeschmückt durch Gerlach, Abt von Deutz, und Elisabeth, Aebtissin von Schönau, und noch in der Mitte des 17ten Jahrhunderts schrieb der Jesuit Crombach in Cöln einen dicken Folianten zur Vertheidigung der Ursula und ihrer 11 tausend Gefährtinnen. Besonders in der Gegend von Cöln glaubte man fest an diese wahrhaft grandiose Dichtung, die es mit den Zahlen nicht genau nahm und die wohl ihren Grund in einem Unwissenheitsfehler bat, wie er im 9ten Jahrhundert sehr erklärlich ist, wo man nämlich die Inschrift: XI M. Virgines (11 Märtyrerjungfrauen) ins Ungeheure steigerte und daraus XI Mille Virgines machte.

Beim Wiedererwachen des Forschungsgeistes im 16ten Jahrhundert scheute sich der katholische Schullehrer zu Hagenau, der gelehrte Hieronymus Gebweiler nicht, diese Sache für eine lächerliche Fabel zu erklären. Spätere Kirchengeschichtschreiber als: Baronius, Balthasar Bebel in Straßburg, Mosheim, Grandidier u. s. w. stimmen vollkommen ein. Es fragt sich nun, was wissen wir von Aurelia? Da die 11tausend Jungfrauen nicht existierten, war sie wenigstens eine Gefährtin der Ursula? Auch dies beruht nur auf einem sehr unbestimmten und späten, zweifelhaften Zeugnis des Petrus de natalibus, der eine gewisse Aurea unter den 11 tausend Jungfrauen, als Tochter einer Königin von Sicilien nennt. Allein mag Aurelia die Gefährtin der Ursula gewesen sein, oder nicht, ihre Verehrung als Heilige ist in der Rheingegend uralt, muß also doch wohl einen geschichtlichen Grund haben. Als der heil. Gallus am Ende des 6ten Jahrhunderts nach dem freilich zerstörten Bregenz kam, fand er dort schon eine Aureliencapelle, zwar durch heidnische Bräuche entheiligt, die er aber wieder weihte; und Königshofen berichtet, daß bereits um das Jahr 500 außerhalb der Mauer der damaligen Stadt Straßburg eine Kirche zu Ehren der Aurelia erbaut ward. Das geschichtlich zu Erweisende mag etwa dieses sein: Aurelia war eine Römerin, darauf deutet ihr Name; ihr Leben fällt in die letzte Zeit der Römerherrschaft am Rhein; durch die Römer aber war das Christenthum zuerst unsern Vorfahren am Rhein, keltischen Stammes, bekannt geworden. Seit dem 9ten Jahrhundert findet sich Aurelia in unseren Martyrologien, Brevieren, Ritualbüchern als Jungfrau bezeichnet. Sie kam in Begleitung einiger gleichgesinnter Frauen (die Sage nennt Einbeth, Warbeth, Witbeth, deutschklingende Namen) in unsre Rheingegend. Sie mag durch irgend eine That oder ein Streben des Glaubens oder der Liebe dem Christenvolke werth geworden sein, also daß ihr Andenken die Zerstörung der ersten römischchristlichen Einrichtungen durch den Alemannensturm im 5ten Jahrhundert überdauerte. Sie soll an einem 15. October zu Ende desselben Jahrhunderts zu Straßburg gestorben sein. Ihr Sarg und Reliquien wurden in der Kirche St. Aurelien zu Straßburg aufbewahrt und wurden vom Volk als wunderwirkend verehrt. Zur Stärkung dieses Wunderglaubens wurde in späteren Zeiten allerlei Schauerliches erzählt, z. B. als einer den Sarg der Aurelia aufbrechen wollte, sei der Teufel in ihn gefahren, so daß er in seiner Wuth seine eigenen Hände und Füße aufgefressen; ein andermal war ein Haufe von Straßburger Bürgern, das Fest der heiligen Aurelia verachtend, am 15. October, dem Aurelientage, hinaus an die Rothe Kirche gegangen, um einen Graben vom Schlamm zu säubern, mehr als zwanzig derselben aber starben plötzlich. So suchte der Aberglaube von jeher die Menschen weit eher zu fürchten, als sie zu trösten.

Die Kirche St. Aurelien zu Straßburg stand lange Zeit außerhalb der Ringmauern und sagt Königshofen: „Was gar schön und luftlich und gemühtig von mitten wasser und weiden.“ Bischof Ruthard soll dieselbe um das Jahr 910 haben neu erbauen lassen und übergab das Patronat und die Gefälle derselben dem Stift St. Thomä. Bischof Heinrich von Bahringen und Papst Honorius III, bestätigten 1249 diese Schenkung.

St. Aurelien blieb nun die Pfarrkirche der Gärtner jenes Stadttheils. Diese nahmen in der Reformationszeit die evangelische Lehre mit heißem Eifer an. Martin Butzer ward ihr erster Prediger. Im Jahr 1524 wurde der Sarcophag der heiligen Aurelia aufgebrochen; man fand darin eine Menge Knochen, die nie zu einem menschlichen Körper gehört haben konnten. Die Knochen und der Sarcophag wurden weggeschafft und die Krypte zugeworfen. An die Stelle der alten baufälligen Kirche wurde in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine neue schöne, evangelische Kirche erbaut und im Mai 1765 eingeweiht; nur der alte Thurm steht noch zum Zeugnis für Aurelia. Heil dem, dessen Namen bleibt ewiglich, wenn auch seiner Werke hienieden vergessen wird! und wenn selbst unsers Namens auf Erden nicht mehr gedacht wird, so möge er doch im Himmel angeschrieben sein!

T. W. Röhrich in Straßburg.