Maria Magdalena

Unter den Jüngerinnen und Begleiterinnen des Herrn auf seinen Wanderzügen durchs gelobte Land gab es, außer seiner Mutter, mehrere Marien: Maria, die Mutter Jacobi und Joses Matth. 27,56, Maria, Cleophas Weib Joh. 19,25, Maria von Bethanien, die Schwester der Martha und des Lazarus Luk. 10,42; Joh. 11 und 12 und Maria Magdalena. Unstreitig ragt letztere unter allen am bedeutendsten und auf eigentümliche Weise hervor. Was Petrus unter den Jüngern ist, das ist Maria Magdalena unter den Jüngerinnen, nicht nur eine große Sünderin, von welcher Jesus sieben Teufel ausgetrieben, sondern auch eine feurige, übersprudelnde Liebhaberin des Herrn und die erste Evangelistin am Auferstehungsmorgen. Franciscus von Sales nennt sie die Königin der reuigen Sünder.

Es ist viel in der Kirche darüber gestritten worden, ob Magdalena, die Maria von Bethanien und die große Sünderin (Luk. 7) eine und dieselbe Person seien. Die ältesten Kirchenväter, Irenäus, Tertullianus, Clemens von Alexandrien, hielten sie für verschiedene Personen; erst Papst Gregor der Große machte aus diesen dreien nur eine, und seitdem ist es bei dieser Auffassung in den Gesängen und im Brevier der römischen Kirche geblieben. Die Theologen der protestantischen Kirche haben meist das Gegenteil behauptet und in ihren Schriften erwiesen, wenigstens allgemein Maria Magdalena und Maria von Bethanien auseinander gehalten; das hatte denn die Folge, dass auch in der römischen Kirche Viele die Unhaltbarkeit jener Meinung anerkannten und ihr öffentlich widersprachen. Für die Identität der Sünderin und der bethanischen Maria spricht nichts als die Gleichheit der Salbung und des Wirtsnamens, Simon; wie groß ist dagegen der in die Augen springende Unterschied! Schon die Zeitdifferenz: jene Salbung fiel in das erste Jahr des öffentlichen Lebens Jesu, diese ins letzte, kurz vor seinem Tode! Jene war das Erzeugnis der tiefsten Reue, diese die Frucht der herrlichsten Dankbarkeit für die Auferweckung des geliebten Bruders Lazarus! Jene Maria benetzte die Füße Jesu mit ihren Tränen, diese nicht! Jene stammte aus Galiläa, diese aus Judäa! Ferner ist offenbar der Simon, bei welchem das Mahl zu Bethania Statt fand, ein Freund des Lazarus, somit auch Christi gewesen; er heißt Matth. 26,6 der Aussätzige, vielleicht weil ihn Jesus von dieser Krankheit geheilt hatte und er dem Herrn seitdem mit treuer Dankbarkeit zugetan war – während der Pharisäer Simon (Luk. 7) die Salbende wie den Gesalbten beargwöhnt und verdächtigt. Der Name Simon kam oft bei den Juden vor; befanden sich doch sogar zwei Männer dieses Namens unter den zwölf Aposteln; auch ist Judas Ischarioth eines Simons Sohn. Das Zusammenwerfen dieser beiden Geschichten in eine ist eine ähnliche Vermengung, wie die des Hauptmanns zu Kapernaum Matth. 8 mit dem Königischen Joh. 4.

Eine andere Frage ist die: Ist die große Sünderin (Luk. 7) und Maria Magdalena eine und dieselbe Person? Bekanntlich nimmt die kirchliche Überlieferung es an, und die Kunst stellt bis auf den heutigen Tag Magdalena nicht anders als eine Büßende dar, und versteht unter den Magdalenen-Orden und Magdalenen-Stiften Anstalten zur Rettung und sittlichen Besserung gefallener Mädchen. Gegen die Gleichheit beider Personen scheint der Umstand zu sprechen, dass Lukas erst Kap. 8,2 die Maria Magdalena in die Geschichte einführt nach der Geschichte Kap. 7, scheinbar als etwas ganz Neues, als eine früher Besessene, von welcher Jesus sieben Teufel ausgetrieben hatte; dass ferner es zwei ganz verschiedene Zustände sind, besessen oder von den Banden der Finsternis geistig und körperlich gebunden sein wider Willen, und mit Bewusstsein und Willen sich dem Laster der Unzucht ergeben; zwei verschiedene Zustände, Übles tun und sündigen; die Besessenen besaßen nicht mehr den freien Gebrauch ihrer Vernunft und konnten weder Buße tun noch glauben, weshalb ihnen Jesus weder Buße noch Glauben und Bekehrung predigt, sondern den bösen Geist in ihnen bedräut und sie durch seine Allmacht heilt, damit sie durch die Heilung erst der Buße und des Glaubens fähig würden; die Unzüchtigen und Ehebrecher dagegen waren zurechnungsfähig, und für die Gnade des Herrn offen, wenn sie reuig und gläubig Ihm nahten. – Für die Identität beider Personen spricht außer der kirchlichen Überlieferung der Umstand, dass sich leicht erklären lässt, warum die Evangelisten wohl die spätere Jüngerin, aber nicht die frühere Sünderin mit Namen nennen und verewigen wollten; ferner die Voraussetzung, dass jene Sünderin, welche mit solcher Hingebung und Wärme die vergebende Gnade Christi pries, sich unter den Frauen und Jüngerinnen gewiss irgendwo wiederfinden wird; und endlich, dass eine Person, welche Jesus von so schweren Sünden gerettet hatte, im Frauenkreise der Jüngerinnen wohl von sich sagen konnte, Er habe sieben Dämonen von ihr ausgetrieben. Jede Sünde hängt ja mit dem Satansreich eng zusammen, und das Besessen sein erscheint in der Schrift meist durch die Sündhaftigkeit des Kranken bedingt; die Zahl sieben aber ist nicht nur eine heilige Zahl, sondern bezeichnet oft auch den äußersten, entsetzlichsten Grad einer Sache, z. B. Matth. 12,45; Luk. 11,26. – Es wird unter diesen Umständen immerdar schwer bleiben, die Sache zur vollen Entscheidung zu bringen. An der Tradition festhaltend, wollen wir bei der Identität verharren.

Über die Geburt, die Kindheit und Jugend der Maria Magdalena schweigt die heilige Geschichte. Eins wissen wir nur, dass sie den Beinamen Magdalena von ihrem Geburtsort Magdala trägt, einem galiläischen, am östlichen Ufer des Sees Genezareth, im Gebiet der Gadarener gelegenen Orte. Die Berge steigen (nach Strauß Sinai und Golgatha S. 358) hier so dunkel und grausig, steil und in Klippen zerrissen auf, dass sie an die schauerlichen Gebirge Moabs am toten Meere erinnern; sie bilden den Rand der Hochebene, auf der Gadara lag, Om-Keis, wo die Besessenen Jesu aus den Gräbern entgegen kamen, Matth. 8. Wo aber die Berge von Tiberias aus schroff abfallen und wie eine steile Mauer vor der reizenden Ebene zurücktreten, liegt das Dörflein el Mejdel oder Magdala, ein Bild des himmlischen Friedens, mit welchem der Herr Marias Herz erfüllt hatte. Malerischer Kontrast! Und die Natur ein treffendes Sinnbild des Gnadenreichs!

Schrecklich war der Zustand einer Besessenen in Israel! Sie war weder ihres Leibes noch ihres Geistes mächtig, sondern anderen Geistern untertan, die an ihr zerrten und ihre Gesundheit zerrütteten. Auf ihre Umgebung machte sie den Eindruck einer Wahnsinnigen und erregte das tiefste Mitgefühl. So auch war Magdalenas Lage vorzugsweise unglücklich. Umso glänzender jedoch offenbarte sich an ihr die Kraft des Erlösers, des großen Leibes- und Seelenarztes der Menschheit. Kaum hatte der Herr der Geister ihre Gebundenheit gebannt und ihrem Geist die Freiheit, ihrem Körper die Gesundheit wiedergegeben. da ist sie auch ganz Liebe und Dankbarkeit, und lauert nur auf eine Gelegenheit, sie recht ausdrucksvoll an den Tag zu legen.

Diese Gelegenheit findet sich denn auch bald. Eines Tages ist Jesus von einem Pharisäer – ob in Nain oder in Magdala selbst oder wo sonst, ist nicht angegeben – zu Tische geladen. Er ist der Einladung gefolgt. Warum sollte er die Pharisäer zurückstoßen, wo sie Ihn selber suchen? Warum nicht auch diese ungesucht dargebotene Gelegenheit, fürs Reich Gottes zu wirken, benutzen? Die Menschen sind ja nie empfänglicher für Liebe, als wenn sie Anderen Liebe erweisen, und wie manchmal ist schon ein Gespräch bei Tische die erste Veranlassung gründlicherer Bekanntschaft mit den Wegen des Heils gewesen! – Was aber geschieht? Wie der leutselige Heiland der Sünder bei Tische sitzt, Irdisches empfangend und Himmlisches spendend, tritt ein Weib in den Saal – Lukas sagt: „die war eine Sünderin“; er bezeichnet die Art und Schuld ihrer Vergehungen nicht näher: somit haben wir auch nicht weiter danach zu forschen. Wie lange mochte sie dem Fürsten der Finsternis gedient, wie oft ihr Unglück und ihre Verschuldung gefühlt und nach Vergebung und Heilung geseufzt haben! Da hat sie von Jesu gehört, von seiner Liebe und Macht, und in dem Namen ist ihr eine neue Welt aufgegangen, sie hat es gewagt, Ihm zu nahen, und ihre Ahnung hat sie nicht getäuscht; sie hat gefunden, was sie gesucht, und es ist ihr Heil widerfahren. Jetzt muss sie dafür dem geliebten Helfer ihre Anerkennung öffentlich an den Tag legen. Gleichviel, was die Leute über sie sagen werden, und ob man sie dulden oder heraustreiben wird; ach, sie weiß es ja, dass reuige Sünder in der Regel von den früheren Genossen ihres Lasterlebens verspottet, von den Tugendhaften und Frommen aber meist verachtet werden; aber gleichviel, sie folgt lediglich dem Zuge ihres Herzens, scheut die demütigenden und geringschätzenden Blicke der anwesenden Gäste nicht, kehrt sich an keine Bedenklichkeit des Orts, der Zeit und der Personen, sie fühlt nur Eins, ihre Sünde und Jesu Gnade, Schmerz über sich selbst und Freude an Ihm, wie sie verloren und unselig ist durch eigne Schuld und nicht Gott, sondern nur sich gesucht hat in allem Genuss des Lebens, und nichts gefunden hat als Zerrüttung der Seele und des Leibes, und satanische Tyrannei, und wie sie keinen Trost mehr hat, als sich Jesu auf Gnade und Ungnade zu ergeben. Der Herr hat ihr bereits vergeben und sie von den dämonischen Einflüssen befreit; aber sie kann sich noch nicht vergeben, was sie getan, so wenig wie David, nachdem ihm der Prophet Nathan erst Strafe, dann auf sein reuiges Bekenntnis Begnadigung angekündigt, sich vergeben konnte, sondern nun erst recht im Sack und in der Asche Buße tat und den 51sten Psalm dichtete; ihr Schmerzgefühl ist zu tief: sie hat ja den Bund mit Gott verletzt, die heilige Furcht des Herrn aus den Augen gesetzt, den unreinen Geistern ihr Herz zur Wohnung eingeräumt, statt der reinen Liebe Gottes die unreine Fleischesliebe erwählt. Indes nicht in den Tempel, nicht an den Altar, nicht zum Priester eilt sie in ihrer Zerknirschung; sie hat bereits den wahren Hohenpriester der Menschen, Jesum Christum, kennen gelernt und seine hilfreiche Gnade erfahren. Somit eilt sie zu Ihm hin, Ihn öffentlich mit dem zu ehren, was ihr Sündenwandel bisher zur Eitelkeit und sündlichen Lust missbraucht hatte. Aber wie sie nahe steht, um ihre Huldigung darzubringen, kann sie es nicht; sie bricht in lautes Weinen aus, sinkt kniend zu Jesu Füßen nieder, denn sie achtet sich nicht wert, vor seinem Angesicht zu erscheinen, und ihre Tränen strömen auf Jesu Füße; es waren Tränen göttlicher Traurigkeit über ihre Sünden und heiliger Sehnsucht nach einem Gnadenblick des Herrn. Da will sie es wieder gut machen, dass sie Jesu Füße mit ihren Tränen benetzt hat, und sie abtrocknen; aber ach, sie hat kein Tuch bei der Hand; doch sie weiß sich zu helfen, das schöne, wallende Haupthaar, durch welches sie früher vielleicht manchen verführt hatte, der eitle Schmuck und Strick ihrer Sünde, es mag jetzt als Handtuch dienen. Doch bald bemerkt sie, dass dazu ihr Haupthaar sich doch nicht recht eignet und sie Jesu Füße doppelt verletzt hat, mit ihren Tränen und mit der Abtrocknung durch ihre Haare: die Liebe ist erfinderisch und an Mitteln unerschöpflich; nun beginnt sie im überwallenden Gefühl die Füße des Herrn mit ihren Küssen zu bedecken. So folgt ein Zug der Macht ihrer Liebe zu Jesu dem anderen; zuletzt nach allem öffnet sie ihr mitgebrachtes Alabastergefäß mit Myrrhensalbe und salbt die Füße des Herrn, und sagt es Ihm stumm und doch so beredt durch das symbolische Zeichen ihrer opfernden Hingebung: „Herr, alles, was ich habe, ist jetzt Dein; meine Augen, meine Lippen, alle meine Glieder und Güter sind Dein Eigentum; verfüge Du von nun an darüber; und möchte ich mit meinem Wesen Dir auch ewig dienen, Du hast es um mich verdient, und ich wäre dann unbeschreiblich beglückt, nichts fragt ich weiter nach Himmel und Erde.“ Es war ein Augenblick, so heilig und innig, dass die Engel im Himmel sich haben darüber freuen müssen.

Kein Wunder, dass die Hölle voll Neid und Bitterkeit sich an der heldenmütigen Liebestat ärgert. Dem Pharisäer war es schon zuwider gewesen, dass das Weib sich in sein Haus eingedrängt hat; noch mehr missbehagt es ihm, dass sie seinen Gast mit solcher vergötternden Auszeichnung behandelt. Anstatt zu denken: „Die Sünderin muss sich wohl geändert haben, dass sie herkommt und sich so rücksichtslos demütigt, ich will mich auch ändern“, schmollt er gegen sie wie gegen den Herrn, und ist erbost eben so sehr über ihre Bekehrung wie über Jesu Gnade. Daraus, dass Jesus dies dulden und eine so berüchtigte Sünderin annehmen konnte, macht er den Schluss, dass Jesus wohl nicht wisse, was sie für eine Person sei, mithin die Geister nicht zu unterscheiden vermöge und kein Prophet sei, und äußert sich eben so blind, wie selbstgerecht und grausam gegen das Weib: „Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und welch‘ ein Weib das ist, denn sie ist eine Sünderin.“ Nun, Simon sollte gleich erfahren, dass Jesus wirklich ein Prophet war und die Sünderin kannte, zu seiner tiefen Beschämung. Jesus nimmt sich nämlich sofort der verkannten Maria an und erwidert: „Simon, ich habe dir was zu sagen“, und als der Pharisäer seine Bereitwilligkeit zu hören erklärt hat, fährt Er in einer Gleichnisrede fort: „Es hatte ein Rentner zwei Schuldner; einer war ihm schuldig 500 Denare, der andere 50; da sie aber nicht hatten zu bezahlen, schenkte er’s beiden. Sage an, welcher unter denen wird ihn am meisten lieben?“ Simon, nicht merkend, dass er sich selbst richte, urteilt ganz richtig: „Ich achte, dem er am meisten geschenkt hat.“ „Du hast recht geurteilt“, entgegnete der Herr, und sich mit unbeschreiblicher Huld dem Weibe wieder zuwendend, spricht Er zu Simon: „Siehst du dies Weib? Ich bin gekommen in dein Haus, du hast mir nicht Wasser gegeben zu meinen Füßen; diese aber hat meine Füße mit ihren Tränen genetzt und mit den Haaren ihres Hauptes getrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber, nachdem sie hereingekommen ist, hat sie nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt, sie aber hat meine Füße mit Salben gesalbt. Derhalben sage ich dir: Ihr sind viele Sünden vergeben, denn (d. h. darum) hat sie viel geliebt; welchem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ Welche Antwort! Zwei Schuldner: der Pharisäer mithin eben so schuldig vor Gott wie die Sünderin! Beide in gleichem Maße der göttlichen Gnade bedürftig! Aber der eine ihrer fähig und empfänglich durch Buße und Demut, der andere ihr verschlossen durch Unbußfertigkeit und Selbstgerechtigkeit. Jener, das Weib, erhält daher Vergebung und liebt innerlich und wahrhaft, in aufrichtiger Dankbarkeit; diesem, dem hochmütigen Pharisäer, dagegen wird die Sünde behalten und er kennt nur den Hass und den Ärger. „Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie liebt viel“, d. h. an ihrer großen und herzlichen Liebe kann man erkennen, dass ihr viel vergeben ist, – grade wie wir auch sonst zu sagen pflegen: es will Sommer werden, denn die Bäume schlagen aus, oder: der Baum ist voll Saft, denn er hat grüne Knospen und Blätter, oder: es ist ein großes Feuer, denn es steigt ein starker Rauch auf; wo das denn allemal das Kennzeichen und die Frucht, aber nie die Ursache und den Grund angeben soll.

Nachdem Jesus die Vornehmtuerei des stolzen Pharisäers getadelt, ruft er dem zerknirschten Weibe das süßeste Wort zu, das jetzt zu ihr konnte gesprochen werden, und das es überhaupt für das menschliche Herz gibt: „Dir sind deine Sünden vergeben, zweifle keinen Augenblick länger daran, es ist gewiss“, und erteilt ihr zur Stärkung ihres Glaubens die Versicherung der erhaltenen Vergebung. Er erscheint in dieser Zusage als der göttliche Gnadenstuhl, bei welchem jeder bußfertige Sünder Trost und Ruhe findet, und als der rechte Seelenarzt, der die zerbrochenen Herzen verbindet und die betrübten Seelen tröstet, und ist diese Geschichte der lebendigste Kommentar zu der herrlichen Parabel vom verlorenen Sohn. Natürlich erwacht darüber neuer Ingrimm in den Herzen der anwesenden pharisäischen Gäste, und sie sprechen in ihrem Innern Jesu die Befugnis ab, Sündenvergebung zu erteilen. Er aber kümmert sich um ihr Murren weiter nicht, sondern, als wollte Er das bekümmerte Herz vollends mit Gnadenströmen überschütten, schließt er die Verhandlung mit den entscheidenden, richterlichen Worten: „Dein Glaube hat dir geholfen, gehe hin mit Frieden.“

Wie muss dem Weibe unter solcher Behandlung gewesen sein! Von nun an kann es ihr Flammenherz nicht mehr ohne den Erlöser aushalten; Ihn muss sie mit den übrigen heiligen Frauen der evangelischen Geschichte begleiten auf allen seinen Wegen, Ihn muss sie bedienen und unterstützen mit ihrem Hab und Gut; sie kannte fortan keine größere Freude, als die, die himmlisch-menschlichen Züge ihres göttlichen Erlösers zu betrachten, seinen holdseligen Worten zu lauschen, seine Wundertaten zu bewundern, mit der Speise des göttlichen Worts ihre Seele zu nähren, und sich an den Äußerungen des Staunens und der Dankbarkeit im Volke über die Heilungen Jesu zu erquicken. Tag und Nacht steht Er vor den Augen ihres Geistes. Sie hat im Leben nur noch Eine Passion, für die sie glüht und lebt, das ist Er, Er! Auch als Jesus nach Golgatha geführt wird und am Kreuz hängt, kann sie nicht von seiner Seite weichen. Was mochte sie da empfinden? Aber sie muss mit dem Geliebten alle Schmach und alle Schmerzen teilen, sie muss durch den Anblick ihrer Treue seine letzten bitteren Stunden versüßen, seine letzten Worte hören und bei Ihm aushalten bis zum letzten Atemzug. Endlich ist die heilige Leiche durch Joseph von Arimathia und Nikodemus abgenommen und ruht im Grab. Nun geht sie heim, nur die Nacht und der folgende Sabbat vermögen sie vom Trost ihrer Seele zu entfernen. O welche Liebesglut!

Aber noch ist ihre Liebe nicht müde. Wie sie die letzte gewesen bei Jesu Beerdigung, so ist sie auch die erste am Ostermorgen bei seiner Auferstehung. Kaum hat der Tag gegraut, da macht sich schon in aller Frühe Maria Magdalena – denn überall wird sie unter den heiligen Frauen zuerst genannt – und Maria Jacobi und Salome mit der Spezerei, welche sie am Sabbat Abend noch eingekauft hatten, auf den Weg zum Grabe, das ihnen mehr wert ist als die ganze Welt. Erst unterwegs fiel ihnen die Schwierigkeit ein, wer den schweren Stein vom Grabe abwälzen solle. Doch wunderbar, er ist bereits abgewälzt, und Engel verkündigen den überraschten Frauen die Tatsache der Auferstehung des Herrn. Entsetzt fliehen sie von dannen, sowohl ob der gehabten Erscheinung als der empfangenen Botschaft. Unterwegs begegnen ihnen die Apostel Petrus und Johannes, auf demselben Gange begriffen; die Frauen erzählen ihnen, was sie gesehen und gehört, und Magdalena kehrt mit ihnen um. Es ist ihr nicht möglich, sich vom Grabe zu trennen, nicht möglich, ohne die heilige Leiche zu sein, und sie muss herausbringen, wo sie geblieben ist. Insbesondre mochte sie zu Petrus, dem büßenden und kräftigen Apostel, sich hingezogen fühlen. Indessen die Apostel untersuchen Grab und Leichentücher; da sie aber weder den toten noch den lebendigen Christus vorfinden, eilen sie befremdet wieder von dannen. Nur Magdalena bleibt, sie kann das Grab noch nicht verlassen. Hier war ja ihr Eins und ihr Alles begraben worden; eher hätte sie ihr Leben ausgehaucht, als den Ort geräumt, wo sie Ihn zum letzten Male gesehen. So steht sie denn draußen vor dem Grabe und weint. Plötzlich blickt sie mit ihren tränenfeuchten Augen hinein, und gewahrt zwei Engel, die sie fragen: „Weib, was weinst du?“ Sie möchten sie so gern trösten. Maria hätte Grund gehabt zu weinen, wenn sie nur seinen Leichnam vorgefunden hätte; da Jesus aber als der Überwinder des Todes das Grab bereits gesprengt hatte, hörte jeder Tränengrund auf, und die Frage der Engel: Weib, was weinst du? hatte den Sinn: warum weinst du noch, du hast ja nur Ursache, dich zu freuen. – Was gehen Maria die Engel an mit ihren Trostworten? Sie sucht Jesum; den will sie haben, seine Person, seinen Leib: „Sie haben meinen Herrn weggenommen und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben“, d. h. warum sollt ich nicht weinen, Er fehlt mir ja, und so lange ich Ihn nicht wieder habe, ist mir die ganze Welt ein ödes Grab. Gleich darauf wendet sie sich wieder von ihnen weg, nur die geliebte Leiche suchend. Da erblickt sie Jesum, weiß aber nicht, dass es Jesus ist. Warum nicht? Vielleicht weil sie nicht recht aufsieht, in ihrem tiefen Schmerz Ihn nicht recht ansieht; vielleicht, weil die schweren Todesleiden Jesu Züge entstellt hatten oder die schon eingetretene Verklärung ihnen einen erhöhteren Ausdruck gegeben; vielleicht weil sie zu tief in ihre trüben Gedanken versenkt war und darum keinen klaren Blick hatte in die eigentliche Wirklichkeit. So hält sie Jesum denn für den Gärtner. Warum gerade für den Gärtner? Gewiss weil sie wünscht, dass es der sein möchte, da er nach ihrer Meinung ihr allein Auskunft geben könnte über den Verbleib der Leiche. Mit diesem Wunsch geht der erste Strahl der Hoffnung in ihrer Seele auf, der treue Gärtner werde gewiss den Leichnam vor den entsetzlichen Nachstellungen der Feinde in Sicherheit gebracht haben. Als Jesus sie daher fragt: „Weib, was weinst du? wen suchst du?“ – das erste Wort aus dem Munde des Auferstandenen, ein Trostwort für die Weinenden! – erwidert sie auf der Stelle: „Herr, hast du Ihn weggetragen – Ihn, sie nennt Ihn nicht, sie setzt voraus, alle Welt verstehe schon, wen sie in ihrem Liebesschmerz meine, – so sage mir, wo hast du Ihn hingelegt, so will ich ihn holen.“ Maria kann sich nicht zufrieden geben, dass sie die Leiche nicht findet, es dünkt ihr härter als der Tod. Da konnte Joseph sich nicht länger halten, als die Brüder vor ihm auf den Knien lagen, und gab sich ihnen zu erkennen. Jesus spricht: „Maria“ und in diesem einen Worte, und in dem Ton, mit welchem Jesus ihren Namen zu nennen pflegte, kommt Maria Magdalena augenblicklich zu sich selbst. Jesum anschauen, erkennen, zu seinen Füßen niedersinken, diese Füße krampfhaft umklammern und mit ihren bebenden Lippen stammeln: „Rabbuni, Meister! Gott sei gelobt, dass Du wieder lebst!“ – das ist das Werk eines Augenblicks. Mit dem einen Worte „Maria“ war ihr umnachteter Geist erhellt, ihre Trauer in Freude verwandelt. Sie hat Ihn wieder, und will Ihn nicht lassen. Indes im Übermaß dieser ihrer Freude lag etwas zu Menschliches, zu Sinnliches und Leidenschaftliches, das zu der Stellung des Auferstandenen zu den Menschen nicht mehr passte. Jesus beschwichtigt deshalb den Sturm ihrer Gefühle und fordert sie zur Tatkraft auf mit den inhaltreichen Worten, mit welchen diese Geschichte schließt: „Rühre mich nicht an“, mäßige dein Verlangen nach mir, und stehe ab von allen Erweisungen körperlicher Zärtlichkeit, du kannst fortan nicht mehr so wie früher mit mir umgehen; mit dem Umfassen meiner Füße, mit dem Salben derselben ist’s jetzt vorbei, du musst dir alle Erweisungen menschlicher Vertraulichkeit abgewöhnen; denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater, ich bleibe noch längere Zeit bei euch, verkehre aber nicht mehr so mit euch wie ehedem, und meine Himmelfahrt und Vollendung steht bald bevor. Dann wird ein Neues eintreten, keine leibliche Berührung mehr, wohl aber eine geistliche. „Gehe aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.“ Maria Magdalena ergriff den hohen Beruf mit Freuden, welchen ihr der Herr gegeben hatte, und eilte, die erste Botin seiner Auferstehung im Jüngerkreise zu werden und denjenigen auch ein Osterfest zu bereiten, welche noch um Jesum weinten und Leide trugen.

Von da an schweigt die evangelische Geschichte über Maria Magdalena, und es existieren nur unzuverlässige Legenden über sie in der Kirchengeschichte. Den Angaben der griechischen Schriftsteller des siebenten Jahrhunderts zufolge soll sie zu Ephesus selig entschlafen und daselbst begraben worden sein. Kaiser Leo der Philosoph ließ ihre Reliquien nach Konstantinopel übertragen und sie um das Jahr 890 in der Kirche zum h. Lazarus beisetzen. Dermalen glauben die Römer, den Leib derselben, mit Ausnahme des Hauptes, in der Hauptkirche zum h. Johannes im Lateran zu besitzen. Auch andere Städte in Frankreich behaupten, Reliquien von ihr zu haben.

Die Griechen und die Lateiner feiern ihr Fest am 22. Juli, in einigen Kirchen ist es sogar gebotener Feiertag. Seit wann man aber angefangen hat, sie durch einen Gedächtnistag zu ehren, lässt sich nicht genauer bestimmen; doch muss es schon vor 1109 geschehen sein, da Anselmus von Canterbury, der in diesem Jahre starb, ihn bereits erwähnt. Das Konzil zu Toulouse 1229 nahm ihn unter die allgemein zu feiernden Festtage auf, und die evangelische Kirche hat ihn, weil er auf biblischem Grunde beruht, beibehalten. Das Evangelium des Tages ist Luk. 7,36-50, die Salbung der Sünderin, und die Epistel Spr. 31,10-31, die Schilderung eines tugendhaften Weibes.

Maria Magdalena ist eine Patronin reuiger Sünderinnen. Schon vor dem Jahre 1215 traten mehrere Sünderinnen, die wie sie Reue empfanden und auf Vergebung ihrer Sünden hofften, in Deutschland zu einem Orden zusammen, der auch im übrigen Europa, ja sogar in Indien Verbreitung fand. Sie nannten sich Klosterfrauen von der Buße der Magdalena, Büßerinnen, in Frankreich Madelonetten, nahmen die Regel des h. Augustinus an, und teilten sich in mehrere durch Farbe der Kleidung und mannigfaltige Grade der Strenge in ihrer Lebensart verschiedene Kongregationen. Nach und nach wich jedoch der Orden von dieser Norm ab, nur gefallene Mädchen aufzunehmen, und die jetzigen Magdalenenstifte in der katholischen Kirche beschäftigen sich fast nur mit der Krankenpflege. Dagegen hat die evangelische Kirche in der neuern Zeit in England, Nordamerika, Deutschland rc. zur Besserung gefallener Mädchen ähnliche Asyle unter gleichem Namen hervorgerufen. Die erste Gesellschaft dieser Art wurde 1758 in London vom Doktor Dodd gestiftet.

In der Kunst haben die Gemälde der büßenden Magdalena von Korreggio, Guido Reni, Domenichino und Titian Berühmtheit erlangt.

F. Arndt in Berlin.