August Hermann Francke

August Hermann Francke.

„Gott kann machen, dass allerlei Gnade unter euch reichlich sei, dass ihr in allen Dingen volle Genüge habt und seid reich an allerlei guten Werken“ (2 Kor. 9,8.). – Dies Wort hatte der selige Francke eben in seinem Herzen erwogen, als ihm die Nachricht von der großen Not eines Freundes zuging. Da hat er nun in seinem Herzen gesorgt und überlegt, wie Gott auch ihn reich machen könnte: er hat nicht, wie manche tun, bloß nach oben geblickt, sondern auch in sich und um sich, ob ihm nicht vielleicht das Grabscheit, um Schätze zu graben, schon in die Hand gegeben sei. Da hat er sich hingesetzt und hat – weil der ganze übrige Teil des Tages schon andern Arbeiten gehörte. von seinem Abendbrot die Zeit sich abgebrochen, um seine Observationes biblicae zu schreiben und innerhalb eines Jahres war der Ertrag davon für seinen Freund nicht weniger als anderthalbhundert Taler gewesen! Was Francke geworden für die Christenheit und für die Menschheit, das ist er vorzüglich durch seine Treue geworden. Er sagte, wie er an jedem Morgen sich vorzustellen pflege, eigentlich hätte die vergangene Nacht die letzte für ihn sein sollen. Einen Tag habe Gott aus Gnaden ihm noch als Zugabe verstattet, und als eine solche letzte Zugabe habe er jeden Tag zu verwenden gesucht. Das Leben so angesehen lässt sich allerdings die Treue im Kleinen lernen. Darum dieses Leben vor allem mit dieser Frage an das Gewissen jedes Christenherzen bringt: wie steht es um deine Treue? Denn die vom Herrn selbst diesem Leben gesetzte Überschrift lautet: Wie ein großes Ding ist es um einen treuen, und klugen Haushalter! (Luc. 12,42.)

 

Was ein Einzelner für seinen Herrn wirken kann, hängt allerdings nicht allein von ihm ab, sondern auch von der Zeit, in die er hineingeboren worden. Es gibt fruchtbare und uns fruchtbare Jahrgänge in der Kirche. Als A. H. Francke in die Welt trat, hatte eben ein guter Jahrgang für die Kirche begonnen. Eine Lebenserweckung der lutherischen Kirche hatte gegen Ende des 17ten Jahrhunderts angefangen: es waren solche lebendige Zeugen erweckt worden wie Arndt, Spener, H. Müller, Scriver, und auch unter den Laien regte es sich hie und da. Er war in Lübeck 1663 geboren, aber mit seinem Vater, einem Doktor der Rechte, nach Gotha, wo damals Herzog Ernst der Fromme eifrig die Kirche seines Landes zu bauen suchte, in seinem dritten Jahre übergesiedelt. Von Vater und Mutter aus ging der Lebensodem der Frömmigkeit auf das Kind über; schon im zehnten Jahre bat er sich von seiner Mutter ein Kämmerden aus, um in der Stille zu lernen und zu beten, und öfters tat er dies Gebet: „Lieber Gott! es müssen ja allerlei Stände und Hantierungen sein, die doch endlich alle zu Deiner Ehre gereichen, aber ich bitte Dich, Du wollest mein ganzes Leben bloß und allein zu Deiner Ehre gerichtet sein lassen. Aber die Reichen kommen schwerlich ins Himmelreich das ist auch von den „Reichen an Wissen und Gelehrsamkeit“ gesagt: so musste Francke erfahren, dass mit seinem Wissen auch der Ehrgeiz wuchs, und die zarte Pflanze der Frömmigkeit nicht mehr recht gedeihen wollte. Im sechzehnten Jahre 1679 bezog er die Universität Erfurt, ging in demselben Jahre nach Kiel und später, da ein wohlhabender Theologe in Leipzig einen Stubengesellschafter begehrte, auf dessen Antrag im Jahre 1684 nach Leipzig. In Sachsen hatte Spener angefangen, die toten Glieder der lutherischen Kirche zu beleben; Francke fand sich in Leipzig mit fromm gesinnten theologischen Freunden zusammen, mit denen er ein Collegium philobiblicum gründete, zur gelehrten, doch auch zur erbaulichen Auslegung der Schrift. Aber, wie er bekennt, konnte er damals noch nicht sprechen: Der am Kreuz allein ist meine Liebe! Christus war noch nicht sein Ein und alles, sondern die Ehre und die guten Tage in der Welt waren noch neben dem Herrn das Ziel seines Strebens. Erst in seinem 24sten Jahre während eines Aufenthalts in Lüneburg bei dem frommen und gelehrten Superintendenten Sandhagen ist er tiefer in sich gegangen und hat in jener Zeit das Bekenntnis abgelegt: „Mir kam mein ganzes bisheriges Leben vor Augen wie Einem, der auf einem hohen Turme die ganze Stadt übersieht. Erstlich konnte ich gleichsam die Sünden zählen; aber bald öffnete sich auch die Hauptquelle, nämlich der Unglaube oder bloße Wahnglaube, womit ich mich bisher selbst so lange betrogen hatte.“ So lange Einer sich selbst noch nicht recht erkannt hat, dünkt einem wohl der Glaube an einen gnädigen Gott ein Kinderspiel. So war’s auch eine Zeit lang mit Francke. Als aber dem Jüngling erst der Eigenwille und die Unreinheit seines Herzens recht aufgegangen war, da stellte auch die Angst seines Gewissens sich zwischen ihn und seinen Gott, dass er schreien musste: „Gott, wenn Du bist, so offenbare Dich mir!“ Der Mann, der nachher über sein Waisenhaus setzte: „die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffliegen wie Adler“, der hat, wie er’s uns selbst erzählt, in der Tat eine Zeit gehabt, wo er so hat beten müssen. Keine Predigt hat mehr über seine Lippen gehen wollen, und nur erst nach schweren Geburtswehen kann die selige Gewissheit in sein Herz, trotz aller Ankläger in seinem Herrn Jesu Christo einen versöhnten Gott zu haben.

 

Der im Glauben selig gewordene Christ fühlt nun auch jenes „Wir können es ja nicht lassen“ der Apostel. So kehrt er nun 1689 nach Leipzig zurück mit dem Durst, seinem Herrn Seelen zuzuführen. Auf unglaubliche Weise hatten die lutherischen Theologen jener Zeit über ihren trocknen dogmatischen Streitigkeiten die grünen Auen der heiligen Schrift vergessen und vernachlässigt; Spener sagt: „Ich weiß Personen, die sich 6 Jahre auf Universitäten aufgehalten, ohne ein einziges exegetisches Kolleg zu hören“ und Francke berichtet sogar, dass man zu seiner Zeit in Leipzig keine Bibel und kein neues Testament im Buchladen finden konnte. So kündigte er nun exegetisch-praktische Vorlesungen über das Neue Testament an, nach denen bald ein solcher Hunger und Durst entstand, dass auch viele Bürger sich dabei einfanden und in den Hörsälen es am Raum gebrach. Sobald sich nun auch das Leben aus Gott dabei regte, erwachte zugleich die Feindschaft mit; es ward der neue Sektenname der Pietisten erfunden, Francke als ihr Haupt bezeichnet, und wurden 1690 ihm seine Vorlesungen untersagt. Erst wollte er dennoch auf seinem Platz ausharren, aber ein anderer war ihm schon vom Herrn bereitet. Durch seinen gleichgesinnten Freund, den Pastor Breithaupt in Erfurt, erhielt er einen Ruf nach dieser Stadt, den er auch annahm. Gleich hier erwies er, wie die rechte Liebe zum Herrn und seinen Erlösten erfinderisch macht. Bei Weitem war es ihm nicht genug, bloß auf dem durch seine Amtsverpflichtung ihm vorgeschriebenen Weg, d. h. in Predigt, Beichtstuhl und Kinderlehre den Seelen nachzugehen. Zu Besten der Erfurter Studierenden hielt er täglich praktische Vorlesungen über die Bibel; mit den Gemeindegliedern stellte er in ihren Häusern Wiederholungen ihrer Predigten an; er verschrieb und verteilte das N. Testament, Arndt’s wahres Christentum und andere erweckliche Schriften. So wie Leben erwachte, erwachte indes auch hier die Feindschaft gegen das Evangelium: die katholische Einwohnerschaft wusste ein churfürstliches Reskript von Mainz auszuwirken, wodurch Francke nach segensreichster Wirksamkeit von Einem Jahr 3 Monaten die Stadt zu räumen genötigt wurde. Aber auch diesmal war ihm vom Herrn schon wieder sein Plätzchen bereitet worden. Durch seinen nunmehr nach Berlin versetzten Freund Spener ward ihm an demselben Tag, wo der Befehl binnen zwei Tagen Erfurt zu verlassen, einlief, eine Einladung in die kurbrandenburgischen Lande und bald darauf der Beruf als Professor an die eben in Gründung begriffene Universität Halle.

 

In dieser Stadt ist es nun, wo die göttlich-erfinderische Liebe des teuren Mannes vom Jahr 1692 an sich je länger desto mehr einen Schauplatz des mannichfaltigsten Wirkens eröffnet und ein unvergängliches Gedächtnis gestiftet hat. Als Prediger, als Professor, als Erzieher, als Waisenvater, als Missions- und Bibel-Anstalt-Direktor bricht seine erfinderische Liebe auf allen diesen Gebieten neue Bahn. Zum Predigtamt der mit Halle verbundenen Stadt Glaucha ernannt, tritt er hier in ein völlig wüst liegendes Feld, ein. Da, wo jetzt auf dem Waisenhausplatze die Front der Reihe von Gebäuden sich erhebt, denen er den Ursprung gegeben, mit der Überschrift: „Die auf den Herren harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler“, standen damals nur die ärmlichsten Hütten und ein Bier- und Tanzhaus neben dem andern – unter anderen auch eines zum Adler bewohnt von einem durchaus rohen und verwahrlosten Volkshaufen. Diesem Haufen predigte er Buße und das Evangelium nach jenem seinen Grundsatz: keine Predigt, in welcher nicht so viel vom Heilsweg, dass, wenn einer auch nur die einzige Predigt hörte, sie genug wäre, um zum Heil zu führen. Aber in der Predigt wird der Same mehr gestreut als begossen und gepflegt, obwohl sie auch dies kann und soll. Zum Begießen und Pflegen ist aber namentlich die unaussprechlich heilsame Anstalt des Privatbeichtstühle, wo sie noch stattfindet; im Beichtstuhl wird der allgemeine Inhalt der Predigt dem einzelnen Gewissen angepasst. Francke machte den Beichtstuhl zur Kanzel für die einzelnen Gewissen, und, zu der Einsicht gelangt, dass Viele durch den Beichtpfennig vom Sakrament sich abhalten ließen, gibt er nach kurzem Bedenken in selbstverleugnender Aufopferung diesen Teil seiner geringen Einnahme auf. Ein anderer Kanal, neben dem der Predigt, das Lebenswasser in die Gemeinde zu leiten, ist die Kinderlehre. Bis auf Spener war dieser Kanal wieder verschüttet worden, Die Geistlichen dünkten sich zu vornehm, die Lehrer der Kleinen zu werden. Der kindliche Sinn Francke’s dagegen hatte seine Lust an den Kleinen. Aber auch die Erfahrung, wie wenig von den Erwachsenen der Inhalt der Predigten verstanden wurde, trieb ihn zu fleißigem Katechismusunterricht zu Hause und in der Kirche. Auch Betstunden wurden angefangen, zuerst in seinem eigenen Haus, dann auf andringen der Gegner in der Kirche.

 

Als akademischer Lehrer zuerst seit 1692 Professor der griechischen und orientalischen Sprachen, dann seit 1698 ordentlicher Professor der Theologie, machte er zu seinem Hauptzweck, da die theologische Wissenschaft nur durch den lebendigen Glauben recht verstanden werden könne, jene selbst andererseits als Mittel zu gebrauchen, um neben den anderen Heilsmitteln auch durch sie das Glaubensleben zu wecken und zu fördern. Niemals betrachtet er die Wissenschaft als Selbstzweck, immer nur will er durch sie als Mittel einen ihm höheren Zweck erreichen, die eigene Gründung seiner Zuhörer in Christo und die erhöhte Tüchtigkeit, die Gemeinden zu ihm zu führen. So verbindet er denn nun auch mit seinen an sich schon überall auf praktische Erweckung gebenden Vorlesungen „paränetische Lektionen“ mit dem noch bestimmteren Zweck, „zu zeigen, was angehende Theologen im Christentum und im Studieren an Erreichung ihres Zweckes hindere, und wie sie solche Hindernisse zu überwinden hätten.“ Donnerstags von 10-11 wurden im großen Hörsaal der Fakultät in einer Stunde, wo alle übrigen theologischen Vorlesungen ausfielen, damit alle Theologie Studierenden Teil nehmen könnten, diese Vorträge gehalten, in denen der selige Mann mit Freimut auf alle Gebrechen und Sünden des Studentenlebens einging, und von denen, wie er sagt, er mehr Segen erlebt hat als von allen andern.

 

Was seinen Namen mehr als alles Andere weltberühmt gemacht, sind indes seine Waisenhausanstalten. Wie Alles, was im Geist des Herrn geschieht, die Senfkornart an sich trägt und von kleinem Anfang an hinaufwächst – so auch dieses große Unternehmen der christlichen Menschenliebe – war die Gewohnheit der Bettler, an einem bestimmten Tag an den Häusern sich Almosen zu erbitten. Nicht bloß leibliches Brot zu brechen, ließ sich der Mann Gottes genügen, Alte und Junge fing er zu katechisieren an. So groß war nun die Unwissenheit in der Heilserkenntnis, die sich bei ihnen fand, dass sie den Gedanken, eine Armenschule zu gründen, in ihm erweckte. In einer ausgehängten Büchse sammelten sich zu diesem Zweck kleine Beiträge, und als einst 4 Taler und 16 Silbergroschen auf einmal dafür gegeben wurden, begann er mutig seine kleine Armenschule zunächst in seinem eigenen Studierzimmer. Nach kaum einem Jahre war jener Raum schon zu klein geworden; es wurde aber auch von ihm mit Schmerzen bemerkt, wie das Häusliche Leben wieder einriss, was die Schule aufbaute: so entstand in demselben Jahr 1695 der Gedanke, einige Kinder ganz in Erziehung zu nehmen. Für die Armenschule war ein Haus angekauft worden; 12 Waisenkinder, zu welcher Zahl die anfänglichen vier schnell herangewachsen waren, wurden in dieses Haus mit aufgenommen. Schon im folgenden Jahr musste ein neues Haus gekauft werden, es wurden die in Unterricht genommenen Bürgerkinder von der Armenschule getrennt und für diejenigen, welche in gelehrten Studien unterrichtet zu werden wünschten, wieder eine eigene Abteilung angelegt, wozu dann auch im Jahr 1699 die zu gelehrtem Unterricht befähigten Waisenkinder hinzukamen. So entwickelte sich das Gymnasium des Waisenhauses, die sogenannte lateinische Schule, welche schon 1709 von 256 Schülern, worunter 64 Waisen, besucht wurde. Die bisherigen beiden Häuser erwiesen sich für die wachsenden Zahlen so unzureichend, dass 1698 der Grund zu dem neuen Gebäude des gegenwärtigen Waisenhauses gelegt werden musste. Kein Kapital war vorhanden, auf welches dieses neue Werk sich gründen konnte, als allein das des Glaubens, wie Francke selbst schreibt: „Von Woche zu Woche, von Monat zu Monat hat mir der Herr zugebröckelt, wie man den kleinen Küchlein das Brot zubröckelt, was die Notdurft erfordert.“ Manche Andere haben seitdem es ihm nachtun wollen, und es ist ihnen gegangen, wie von dem Mann geschrieben steht, der da anhub, einen Turm zu bauen, und konnte es nicht hinausführen, so dass die Leute seiner spotteten. „Leer Dich aus, ich will dich füllen!“ ist die erste Lehre für den, welchen Gott reich machen soll. Wo die Demut, die auf alles Eigene verzichtet, nicht eben so groß als der Glaubensmut, kann es nicht gelingen.

 

Wie ein guter Gedanke und Anschlag den andern weckt, so blieb nun die erfinderische Liebe, nachdem der Herr so viel hatte gelingen lassen, dabei nicht stehen. Zuerst schlossen noch folgende Wohltätigkeitsanstalten an das Waisenhaus sich an. Von einem bemittelten Wohltäter waren dem Stifter des Waisenhauses 4000 Taler anvertraut worden, um ein Stift für adlige und bürgerliche fromme ledige Frauenzimmer zu gründen. Abermals wurde eines der Glauchaschen Wirtshäuser, im Jahre 1704 angekauft und in ein diesem Zweck gewidmetes Gotteshaus verwandelt. Ferner hatte im Jahr 1698 der fromme Baron Canstein in Glaucha ein Haus für fromme Witwen angekauft und dem Direktorium des Waisenhauses übergeben. Neben den genannten Unterrichtsanstalten für die Waisen, die Armen- und Bürgerkinder entstand noch ein Pädagogium zunächst für Adlige und Begüterte bestimmt. Auch dabei ein kleiner, ungesuchter Anfang: eine adlige Witwe erbat sich von Francke einen frommen Hauslehrer, er erbot sich die Kinder in Halle unter seiner Leitung unterrichten zu lassen. Auch die Zahl dieser Schüler, unter Leitung berühmter Lehrer wuchs so, dass bis 1713 das eigene stattliche Gebäude für diese Lehranstalt errichtet wurde. In Verbindung mit der Universität wurde ein collegium catecheticum errichtet, die Studierenden bei den Schülern des Waisenhauses in der so vernachlässigten Kunst des Katechisierens zu üben, und ein Collegium orientale theologicum, worin Männer für die höheren Ämter der Kirche durch gründliche Kenntnis des Griechischen, Hebräischen und der morgenländischen Dialekte gebildet werden sollten. Je mehr das Pädagogium gedieh, regte sich der Wunsch, auch für Töchter adliger und begüterter Familien eine eben solche Anstalt zu besitzen: es wurde 1709 eine solche eingerichtet, mit dem ausdrücklichen Zweck, auch diese jugendlichen Seelen dem Herrn zuzuführen.

 

Alle diese Anstalten bedurften vieler jungen Lehrkräfte, und wie, wenn einmal der Glaube angefangen hat, alle seine Kräfte für den Herrn auf’s Spiel zu setzen, immer eine Hand der andern hilft, so wurde nun auch wieder Franckes akademische Tätigkeit aufs Schönste dadurch gefördert, dass so viele junge Studierende mit der Gelegenheit, unter seiner und der ihm geistesverwandten Freunde Aufsicht ihre Lehrgaben zu üben, zugleich Unterstützung erhielten. Im Jahr 1690 wurde ein Freitisch für 24 Studiosen eröffnet, welche in den Schulen Unterricht gaben, und wie diese Zahl wuchs, wurde dieser Tisch auch für solche dürftige Studenten gedeckt, die an den Unterrichtsanstalten weiter keinen Teil hatten – im Jahr 1714 gibt Francke die Nachricht, „dass damals 150 Studiosi theol. den ordentlichen Tisch für 2 Stunden täglichen Unterrichts zu genießen hätten, und an dem extraordinären Tisch des Mittags für 144 arme Studierende zugerichtet würde, denen keine besondere Arbeit dafür auferlegt sei.“

 

Im Jahr 1705 war die Zahl der Waisenkinder auf 125 angewachsen, die der Schulkinder auf 804 und blieb von der Zeit an bis gegen die Mitte des Jahrhunderts fortwährend im Steigen. Es hatten die Feinde selbst dazu beitragen müssen, denn eine auf Betrieb derselben von den Landständen des Herzogtums Magdeburg im Jahr 1700 veranstaltete Untersuchung der Schulanstalten schlug nur zu deren Ehre aus. Im Mai 1714 wurden 1075 Knaben und 760 Mädchen unter 108 Lehrern unterrichtet. Dieser Anwachs machte denn nun auch mancherlei andere zum besonderen Dienst des Personals des Waisenhauses bestimmte Anstalten nötig, die allmälig in sich selbst eine weitgreifende Bedeutung erhielten. Namentlich gilt dieses von der Waisenhaus-Apotheke. Gewisse arcana, die in chemischen Manuskripten, von gottesfürchtigen Leuten dem Stifter des Waisenhauses anvertraut, niedergelegt waren, wurden, nach einigen vergeblichen Versuchen, mit Erfolg bereitet, z. B. die noch jetzt bekannte essentia amara und dulcis, und mit außerordentlichem Segen gebraucht. Unter Leitung des tiefgottesfürchtigen und gelehrten Arztes G. F. Richter, der Francke, seinem geistlichen Vater, den Ertrag seiner Versuche, wie selbst sein väterliches Erbteil gänzlich überlassen hatte, gewann diese Apotheke mit ihren Medikamenten einen solchen Aufschwung, namentlich durch das Vertrauen, welches sie bei allen Kindern Gottes besaß, dass ihre Heilmittel weit über die Grenzen Deutschlands hinaus selbst nach Amerika und Afrika verlangt und verschickt wurden, und der Ertrag derselben in späterer Zeit einen großen Teil der Ausgaben der Anstalt deckte. Teilweise durch das Bedürfnis der gelehrten Schulen selbst und die zahlreichen von Francke selbst herausgegebenen Schriften veranlasst entstand auch eine Waisenhausbuchhandlung, die unter dem ausgezeichneten Knecht Gottes, dem Mann, der alles sein Einkommen der Waisenhauskasse übergab und sich begnügte, Kleidung und Nahrung von ihr zu nehmen, H. J. E. Elers, sich so aufschwang, dass die Handlung auch in anderen Städten, in Stettin, Berlin, Niederlagen anlegte.

 

In minder unmittelbarem Zusammenhang stehen mit den Waisenhausanstalten, wiewohl dadurch ebenfalls wesentlich gefördert, zwei andere große Unternehmungen. Es entstand die Stiftung einer Bibelanstalt zur Verbreitung wohlfeiler Bibeln unter den Armen, welcher Gedanke zuerst vom Baron v. Canstein ausgegangen war: im Verein mit Francke und durch Benutzung der Pressen des Waisenhauses gegründet, wurde sie 1719 nach dem Tode Cansteins von Francke selbst übernommen. Es gelang vermöge des Drucks mit stehenden Buchstaben, dass für die Armen Exemplare des N. T. zu 2 gute Groschen, der Bibel in 10-12 guten Groschen geliefert werden konnten, aber noch über Deutschland hinaus griff die Liebe; auch in estnischer, böhmischer, polnischer Sprache wurden Bibeln und Testamente für die Evangelischen jener Gegenden mit der Unterstützung wohltätiger Christen gedruckt, und für die immer mehr sich ausbreitende Unternehmung wurde 1727 ein erstes, 1734 ein zweites massives Haus erbaut. Ebenfalls auf ungesuchte Weise entstand unter Francke’s Mitwirkung die dänisch-ostindische Missionsanstalt. Durch die Frömmigkeit König Friedrichs IV. von Dänemark war dieselbe begründet worden, vom hallischen Waisenhause gingen aber, von Beiträgen frommer Christen Deutschlands unterstützt, die Missionarien aus und mit besonderer Angelegenheit hatte Francke auch diesem Werk der Menschenliebe sein Herz zugewandt. Im Jahr 1705 wurden die ersten hallischen Kandidaten in Kopenhagen für diese Mission ordiniert, Ziegenbalg und Plütschau, und eine große Zahl der würdigsten Männer, großenteils aus dem Lehrercollegio des Pädagogiums hervorgegangen, sind ihnen gefolgt, bis in die ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts herab. –

 

Endlich verdankt auch die Deutsch-amerikanische Kirche in den vereinigten Staaten ihre eigentliche Gründung den hallischen Anstalten, welches Verhältnis sich indes erst unter dem Sohn des seligen Stifters angeknüpft hat, indem auf die flehentlichen Bitten der von geistlichem Beistand verlassenen Deutschen G. Francke im Jahr 1742 zuerst die Pastoren Mühlberg und Brunnbolz dorthin abordnete, denen, abermals von deutschen Liebesgaben unterstützt, nachher noch andere folgten.

 

Nehmen wir zu dieser ausgedehnten praktischen Tätigkeit des unermüdlichen Arbeiters noch hinzu seine zahlreichen Schriften, teils gelehrte, teils erbauliche, von denen manche, wie seine Anweisung zum fruchtbaren Bibellesen, die weiteste Verbreitung erlangten und durch die Pressen des Waisenhauses in immer neuen Ausgaben vervielfältigt wurden, endlich seine mehrfachen weiten Reisen, auf denen ebenso wenig als zu Haus seine rastlose Tätigkeit für seinen Herrn ruhte – seinen nach allen Gegenden der Welt hin in den mannichfachsten Angelegenheiten ausgedehnten Briefwechsel.

 

Es scheint zu viel für ein Menschenleben, aber seine Treue zeigt uns, wie Gott machen kann, „dass allerlei Gnade unter uns reichlich sei, und wir reif werden zu allerlei guten Werken.“ Als man seinen Freund Elers einst fragte, wer ihn denn das alles gelehrt habe, gab er zur Antwort „Meine Mutter die Liebe. Die Liebe ist auch Franckens Lehrmeisterin gewesen. Ohne helfende und stärkende Hände wäre ihm indes doch nicht so vieles gelungen, aber das ist eben so etwas Erhebendes, mit anzusehen, wie, wo in der Liebe des Herrn ein großes Licht entbrannt ist, gleich eine Anzahl kleinere Lichter rings herum mit zu brennen anfangen. Seine scheinende und brennende Liebe hatte um ihn her solche Geister mit angezündet wie ein Richter, ein Elers, ein Canstein, ein Neubauer, ein Freylinghausen und wie viele Andere! Als König Friedrich Wilhelm der Erste 1713 das Waisenbaus besah und im Buchladen und dessen Niederlagen herumgeführt wurde, geriet er über das große Werk so in Verwunderung, dass er an Elers die Frage richtete: Was hat Er denn aber von dem allen? Ihro Majestät, antwortete er, wie ich geh und stehe.“ Da klopfte der König Francken auf die Schulter und sagte: Nun begreife ich es wohl, wie Er so etwas zu Stande bringt, ich habe solche Leute nicht.

 

Das Ende eines so unermüdlich im Dienst des Herrn verwandten Lebens nahte im Jahr 1727 heran, wo der treue Knecht Gottes in einem Alter von 64 Jahren fruchtbeladen zu seinem Herrn einging, nachdem er noch auf dem Krankenlager aufs Erbaulichste seinen Glauben an den Tag gelegt. In diesem seinen Todesjahr zählte das Pädagogium 82 Scolaren, die lateinische Schule 400, die deutschen Bürgerschulen 1724, das Waisenhaus 134 Waisen; als Tischgenossen wurden außer den Waisenkindern aus der Kasse des Waisenhauses gespeist 255 Studiosi und 360 arme Schüler. Außerdem befanden sich noch in dem Fräuleinstift 15 Fräulein, in der Pension für junge Frauenzimmer 8, in dem Witwenhause 6. Noch lebt die großartige herrliche Stiftung als eine lebendige Predigt für die Stadt, Halle, noch genießen auch ihre Anstalten einen weitverbreiteten Ruhm und große Frequenz. Das Pädagogium zählt 100 Schüler und 18 Lehrer, die lateinische Schule 389 Schüler und 24 Lehrer, die gewerbliche Realschule 378 Schüler, die deutschen Schulen in der Präparandenanstalt für Seminaristen 10 Schüler und 8 Lehrer, die Bürgerschule für Knaben 700 Schüler mit 35 Lehrern, die höhere Töchterschule 130 Schülerinnen mit 12 Lehrern und 4 Lehrerinnen, die Bürgerschule für Mädchen 400 Schülerinnen mit 17 Lehrern und 6 Lehrerinnen, die Freischulen 680 Schüler und Schülerinnen, das Waisenhaus 130 Waisenkinder. Es wird von dem seligen Stifter erzählt, er habe kindlich seinen Herrn gebeten, der Anstalt doch in allen Zeiten wenigstens Einen Mann zu erhalten, der ein Zeuge des seligmachenden Glaubens wäre: und so viel bekannt, hat auch in der Zeit der Herrschaft des Rationalismus diese Bitte ihre Erhörung gefunden, und die Zahl der Lehrer, welche gegenwärtig im Glauben und in der Liebe Christi daran wirken, ist nicht gering.

 

Man wird es von selbst abnehmen, dass der Einfluss einer solchen Wirksamkeit weit über die Grenzen Halle’s hinaus über ganz Deutschland. sich erstreckte. Nach allen Weltgegenden bin ist von den Schülern des Waisenhauses und von den Studierenden der hallischen Universität der von Francke und seinen Mitarbeitern gestreute Same der Frömmigkeit ausgetragen worden. Nach Amerika und von den in den Handelsstädten Asiens zerstreuten deutsch-evangelischen Gemeinden, ja selbst in die griechischen Klöster des Berges Athos wurden badische Theologen als geistliche Hirten und Lehrer begehrt. Wo neue Lehranstalten entstanden und Lehrkräfte bedurften, wo irgend gottesfürchtige Familien Hauslehrer nötig hatten, wurden sie von Halle verschrieben. Wenn sich behaupten lässt, dass keine andere Periode ist, wo Deutschland und die deutsch-evangelische Kirche überhaupt eine so große Anzahl in treuem Glauben wirkender Geistlichen besessen, als gegen die Mitte des 18ten Jahrhunderts hin, A. H. Francke’s Same ist es, der in ihnen aufgegangen. Selbst die katholische Kirche Deutschlands und Frankreichs blickte mit neidischer Bewunderung zu dem Mann auf, den sie, wenn er zu den Ihrigen gehört hätte, unter die Heiligen erhoben haben würde.

  1. Tholuck in Halle.