Niemand hat der Apostel Paulus mit mehr inniger und väterlicher Liebe umfaßt, wie seinen Gehülfen in der Heidenbekehrung, Timotheus aus Lykonien (der Stadt Derbe oder Lystra), eine der lieblichsten und erquickendsten Erscheinungen in der apostolischen Zeit.
Die Pflege seines kindlichen Alters fiel einer frommen jüdischen Mutter, Eunike genannt, anheim, der Gattin eines heidnischen Mannes und Tochter einer ebenfalls durch Gottesfurcht ausgezeichneten Frau, Namens Lois, 2 Tim. 1,5. Schon durch den Namen des Kindes (zu deutsch Ehregott) hatten sie vielleicht, wie ihre Wünsche, daß er von Herzen Gott ehren möge, so ihre eigene Sehnsucht ausgesprochen. Im Glauben ihres Volkes zogen sie ihn auf und erfüllten ihn mit dem Inhalt der heiligen Schriften. Noch aber stand er im ersten jugendlichen Alter, als der Apostel Paulus von Barnabas begleitet in jenen Gegenden, das Wort vom Heil durch Christus zu verkünden, erschien und durch seine begeisterten und ergreifenden Reden vieler Herzen für das Evangelium gewann. Auch Eunike ward dem Christenthum zugeführt und mit ihrer Mutter und ihrem Sohne getauft, Ap. Gesch. 14, 6. „Du aber bleibe“, so schrieb ihm später der Apostel, 2 Tim. 3, 14 ff. „in dem, das du gelernet hast und dir vertraut ist; sintemal du weißest, von wem du gelernt hast. Und weil du von Kind auf die Heilige Schrift weißest, kann dich dieselbige unterweisen zur Seligkeit, durch den Glauben an Christus Jesus.“ Als Paulus (um das Jahr 52 der christlichen Zeitrechnung) zum zweitenmal in seiner apostolischen Wirksamkeit in jene Gegenden kam, fand er in Timotheus bereits einen Christen, der die Aufmerksamkeit seiner Glaubensgenossen von Lystra und Ikonium erregt hatte, und ward von inniger Theilnahme für ihn ergriffen, Ap. Gesch. 16,3. Die Thränen, die er damals vergossen, 2 Tim. 1,4. und die Weissagungen, welche etwas Großes von ihm erwarten ließen, 1 Tim. 1,18. blieben in des Paulus Erinnerung lebendig und erhielten die gegenseitige, innige und reine Liebe und Hingebung für immer. Der Apostel faßte den Entschluß, den hoffnungsvollen Jüngling aus trefflicher Familie dem engen Kreise der einzelnen Gemeinde zu entziehen, ihn auf seiner weitern Missionsreise als Begleiter bei sich zu behalten und so für das Werk der Verbreitung des Evangeliums unter den Heiden zugleich zu benutzen und anzuleiten. Jetzt war es, als er ihn in Gegenwart und unter Mitwirkung der gewählten Kirchenvorsteher durch Händeauflegen zur Uebernahme des Berufes eines Evangelisten feierlich weihen ließ, 2 Tim. 1,6. 1 Tim. 4,14. Aus Schonung aber gegen die dortigen Juden, die seinen heidnischen Vater gekannt hatten, ließ er ihn, den Sohn einer Jüdin, gegen seine sonstige Gewohnheit beschneiden, um so auch den Juden jedes etwaige Aergernis zu ersparen. So verließ Timotheus den südöstlichen Theil von Kleinasien, dem er durch seine Geburt angehörte, mit dem Apostel, nahm mit jugendlicher Bereitwilligkeit an allen seinen Leiden und Freuden Theil und gelangte bis Korinth, wo er mit ihm an der Gründung der Gemeinde arbeitete. Auf dem Wege dahin hatten sie auch Thessalonich besucht, dessen damals von Paulus in das Leben gerufene Gemeinde viel Schönes und Erfreuliches an Werken des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung vollbrachte, bald aber auch von Zweifeln und Bedenken ergriffen wurde, welche die Sorge des Apostels Paulus für sie wach erhielt. Timotheus war es, mit dem er sie freudig theilte. Er ward der Ueberbringer des ersten Briefes an die Gemeinde des ältesten, den wir überhaupt von ihm haben, in welcher er ihr bezeugt, daß das Evangelium bei ihnen gewesen sei, 1 Thess. 1,5. nicht allein im Wort, sondern beides, in der Kraft und in dem heiligen Geiste und in großer Gewißheit, und sie als seine und des Herrn Nachfolger begrüßt, welche das Wort unter vielen Trübsalen mit Freuden im heiligen Geist aufgenommen haben und dadurch ein Vorbild der Gläubigen in Macedonien und Achaja geworden seien. Und als nach Timotheus Rückkehr ein zweiter Brief nothwendig wurde, nennt Paulus nach seiner schönen Sitte auch ihn als Mitverfasser und läßt ihn auch auf diese Weise an seiner apostolischen Thätigkeit Antheil nehmen. Mehr als einmal bezeichnet er in diesen Briefen den jüngeren Mann als Diener Gottes, seinen Bruder und Gehülfen am Evangelium Christi und läßt ihn in nicht minderer Bedeutung, als sich selbst, erscheinen.
Und so blieben beide auch ferner vereinigt, traten gemeinsam die Rückreise nach Jerusalem an, und weilten mit einander in Asien, von wo Paulus, der die geliebte korinthische Gemeinde auch da nicht aus den Augen verlor, den Timotheus wieder zu ihr sendete, 1 Kor. 4,17. nicht ohne ihn zugleich im verschiedenen Gemeinden, die auf dem Wege lagen, zu beschäftigen. Eben dies aber hielt ihn ab, wirklich nach Korinth zu gehen: bald kehrte er zu dem Apostel selbst nach Asien zurück.
Und so sind ihre Wege auch fortan vielfach verbunden geblieben. Außer dem schon genannten Sendschreiben tragen auch der zweite Brief an die Korinther, der Brief an die Philipper und Kolosser die Namen der beiden innig verbundenen apostolischen Männer an der Stirn. Denn selbst nach Rom, an den Ort der Gefangenschaft des Paulus, war er seinem väterlichen Freunde freudig gefolgt und blieb ihm mit der entschiedensten Treue zu allen Diensten gewärtig.
Erst in den letzten Lebensjahren des Paulus trennten sie sich auf eine längere Zeit, aber nur, um auch dadurch das Werk des Herrn zu fördern. So entstanden jene beiden Paulinischen Sendschreiben an ihn selbst, welche den herrlichen Briefschatz der Kirche in ausgezeichneter Weise vermehren. Nie sind Briefe eines älteren Mannes an einen jüngern mit mehr Liebe geschrieben worden. Unendlich wohlthuend ist die Wärme, mit welcher er ihm die Hauptsumme des Gebotes, die Liebe von reinem Herzen und von gutem Gewissen und von ungefärbtem Glauben, zugleich empfiehlt und in seinem Beispiele darlegt. Man wird unmittelbar mit hineingezogen in dies brüderliche Verhältniß; man empfindet, wie er im Gedanken an den Freund, der seine Stelle vertritt, die tiefsten Ausdrücke für die göttliche Wahrheit, die ihn erfüllt, mit Leichtigkeit wählt; man wird mit dem Jünger gegen die Fehler jener Zeit gestählt und in die einfache christliche Wahrheit klar und entschieden eingeführt. „Denn das ist je gewißlich wahr und ein theuer werthes Wort“, schreibt er ihm, „daß Christus Jesus gekommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen, unter welchen ich der vornehmste bin“, 1,1,15. „Es ist Ein Gott und Ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat für Alle zur Erlösung“, 1,2,5 f. „Und kündlich groß ist das gottselige Geheimniß. Gott ist offenbaret im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, geprediget den Heiden, geglaubet von der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit“, 1,3,16. „Aber du Gottesmensch, fleuch solches! jage aber nach der Gerechtigkeit, der Gottseligkeit, dem Glauben, der Liebe, der Geduld, der Sanftmuth; kämpfe den guten Kampf des Glaubens: ergreife das ewige Leben, dazu auch du berufen bist und bekannt hast ein gut Bekenntniß vor vielen Zeugen“, 1,6,11 ff. „Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Glauben gehalten. Hinfort ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit“, 2,4,7. Und mitten unter diesen und vielen andern köstlichen Aussprüchen, welche die ganze Größe des Apostels an den Tag legen, vergißt er auch nicht der geschwächten Gesundheit seines Bruders, um ihn zu leiblicher Pflege zu mahnen, 1,5,23.
In der Zeit der letzten Gefangenschaft des Paulus, die mit dessen Märtyrertod endigte, ward auch Timotheus derselben gewürdigt; während aber der Meister dem Wunsche seines Herzens gemäß für seinen Herrn starb, ward Timotheus befreit und zu neuer Thätigkeit entlassen, Hebr. 13,23. Ob er aber Bischof in Ephesus gewesen und daselbst zulegt den Märtyrertod erlitten habe, ist unsicher.
Gewiß aber hat er den Erwartungen, welche seine Jugend erweckte, in jeder Beziehung entsprochen. Von Großmutter and Mutter war er in den Worten des Glaubens und der guten Lehre aufgezogen worden, 1 Tim. 4,6. Dabei blieb er immerdar. Der in sein jugendliches Herz niedergelegte Same reifte und gedieh zu reichlicher, herrlicher Frucht, an welcher auch wir späte Nachfolger Christi uns laben.
Ranke in Berlin.