Wie die vorher erwähnten Märtyrer Florianus und Quirinus starb in der Diocletian’schen Verfolgung, wahrscheinlich im Jahr 304, nach den alten Martyrologien am 2. November, auch Victorinus, Bischof von Betavio im südlichen Noricum an der Grenze Pannoniens (jetzt Pettau an der Drau in Steiermark) den Tod für Christus und bezeugte dadurch, daß er seinen Glauben unter allen Gütern für das köstlichste achtete. Die näheren Umstände und die Art des Märtyrertodes, welchen er – wahrscheinlich zu Pettau selbst – erlitten, sind in Dunkel gehüllt. Vielleicht wurde an ihm gleichfalls die Strafe des Ertränkens (in der Drau) vollzogen, welche, wie wir aus den Passionen Florian’s und Quirin’s sehen, in jenen Gegenden nicht ungewöhnlich gewesen zu sein scheint.
Victorinus war eine hervorragende Persönlichkeit, berühmt in der alten Kirche. Doch wie so mancher ausgezeichnete Mann des christlichen Alterthums, von seinem Zeitalter bewundert, ward er von der Nachwelt fast vergessen. Das Wenige, was wir über ihn wissen, hat vornehmlich Hieronymus überliefert, einige Jahrs zehnte nach Victorin’s Tode zu Stridon in Niederpannonien (an der Grenze gegen die südliche Steiermark) geboren. Dieser gelehrteste unter den lateinischen Kirchenvätern redet von Victorinus, dem „Märtyrer gesegneten Andenkens“, stets mit unbedingter Anerkennung, die er ihm zollt wegen seiner Verdienste um die Kirche und ihre Wissenschaft.
Von Geburt war Victorinus ein Grieche, aus Griechenland oder einem griechischen Grenzlande stammend. Auch nach seiner Uebersiedelung in’s Abendland hat er seine Abstammung nicht verläugnet, dafern er die lateinische – durch Noricum und Pannonien allgemein verbreitete – Sprache sich niemals so vollkommen aneignete, als er der griechischen kundig war. Ob aus ansehnlicher Familie entsprungen oder nicht, jedenfalls hat er literarische Bildung empfangen. Er wählte den Beruf als (griechischer) Rhetor. Später trat er aus dem Leben der Heidenwelt zum Christenthum über; es eröffnete sich ihm ein neues Leben. Damals herrschte im Orient auf theologischem Gebiet Origenes, der Vater einer zahlreichen Jüngerschaft, das Vorbild der angesehensten Theologen der griechischen Kirche; mit einem Säemann hat man ihn verglichen, der geistigen Samen ausgestreut in die verschiedenen Gebiete der Theologie und nach allen Gegenden hin. Fünfzig Jahre waren seit seinem Tode verflossen, als Victorinus die Märtyrerkrone errang. Auch dieser, obwohl nicht ein unmittelbarer Schüler des Origenes, erfuhr dessen Einwirkung auf sich, so zwar, daß er, wie mancher große Kirchenvater, der Origenes als seinen Lehrer in der Theologie verehrte, die eigenthümlichen Meinungen desselben, welche die herkömmliche Lehrweise der Kirche zurückwies, sich nicht aneignete: weshalb Hieronymus (in einem Schreiben an Pammachius und Oceanus über die Irrthümer des Origenes) nicht ansteht seine eigene Rechtgläubigkeit mit der unseres Victorinus in Parallele zu stellen. Origenes hatte tiefe Ehrfurcht vor der heiligen Schrift und legte sie allegorisch aus. Er lehrte: wie der Mensch (nach der platonischen Dreitheilung) aus Leib, Seele und Geist besteht, so verhält es sich mit der heiligen Schrift, die zum Heile der Menschen gegeben; die Gläubigen auf den verschiedensten Stufen sollen Unterricht daraus schöpfen. Zwar hat der buchstäbliche Sinn (der Leib) seine Geltung, und auch er erbaut die Menge der einfältigen Gläubigen. Jedoch darf man bei ihm nicht stehen bleiben. Der moralische Sinn (die Seele) führt das im buchstäblichen Sinne Vorliegende auf das sittliche Verhalten des Menschen über, z. B. 1. Korinth. 9,9f Dem Vollkommenen aber schließt sich ein tieferer Sinn auf; er dringt durch die äußern Verhältnisse hindurch zu den Ideen, welche in der Hülle des Buchstabens vorliegen, zu dem Uebersinnlichen, als dessen Abbildung das Irdische erscheint. Das ist der mystische Sinn (der Geist), und auf ihn führt die allegorische Auslegung. Hieronymus bezeugt ausdrücklich, Victorinus habe sich Origenes gerade in der Auslegung der heiligen Schrift zum Vorbild genommen. Und hauptsächlich auf diesem exegetischen Gebiete war er, unter fleißiger Benutzung des Origenes, schriftstellerisch thätig. Er schrieb nach Hieronymus Angabe (zehn) Commentare, deren einige auch Cassiodorus (gest. 563) erwähnt: zu den drei ersten Büchern Mosis, zu den Propheten Jesaias, Ezechiel, Habakuk, zum Prediger Salomo’s, zum Hohenlied, zum Evangelium Matthäi, zur Offenbarung Johannis. Man kann ihn den Vater der Schriftauslegung in der lateinischen Kirche nennen; denn in letzterer waren bis dahin eigene Commentare, in lateinischer Sprache, nicht hervorgetreten.
Wir wissen auf Grund einer Andeutung Cassiodor’s, der unsern Victorin nicht etwa mit einem Andern desselbigen Namens verwechselt, daß er nach Aufgabe des Rhetoramts, sowie nachmals Hilarius und Ambrosius, ohne erst ein geistliches Amt als Diaconus oder Presbyter verwaltet zu haben, sofort aus dem Laienstande zur bischöflichen Würde gelangte. Wie man aus der chronologischen Stellung bei Hieronymus schließen darf, die ihm. unter den übrigen Häuptern der Kirche zugetheilt wird, zwischen Anatolius von Alexandria (gest. um 280) und Pamphilus von Cäsarea (gest. 309), ist er in diese Würde etwa zwei Jahrzehnte vor dem Ausgang des dritten Jahrhunderts berufen worden.
Uebrigens beweist seine Erscheinung in Pettau die enge Verbindung der christlichen Gemeinden Noricums und Pannoniens mit dem griechischen Osten. Daß er in seiner Stellung sehr thätig gewesen für die christliche Sache, indem er dieselbe durch Wort und Schrift nicht nur weiter zu verbreiten, sondern auch in den Gemüthern ihrer Anhänger fester zu begründen suchte, läßt sich nicht läugnen. Hieronymus nennt ihn eine Säule der Kirche. Derselbe rühmt seinen milden Sinn, der Niemand wehe that.
Was die schriftstellerischen Erzeugnisse Victorin’s betrifft, so sind sie in lateinischer Sprache abgefaßt, als der Sprache des Landes, in welchem er lebte. Wie Hieronymus versichert, waren sie reich an tiefen Gedanken, aber nicht ausgezeichnet in der Diction, so daß Victorinus mit dem Apostel habe sagen können: „Bin ich auch unkundig in der Rede, so bin ich’s doch nicht in der Erkenntniß“ (2. Korinth. 11,6). Er war eben als geborener Grieche der lateinischen Sprache minder mächtig und konnte deshalb in ihr nicht immer den entsprechenden Ausdruck für seine Gedanken finden. Ueberdies stellte die lateinische Sprache damals, wie wir auch an Tertullianus bemerken, dessen Muttersprache sie gewesen, den neuen Ideen noch manche Schranke entgegen. Außer den erwähnten Commentaren verfaßte Victorinus noch eine Polemik gegen alle Redereien und, wie derselbe Gewährsmann beifügt, „viele andere Schriften.“ Sie sind sämtlich untergegangen, mit Ausnahme des Commentars über die Offenbarung Johannis. Wohl haben zwei gelehrte Engländer, Cave gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts und neuerdings Routh, aus einer alten Handschrift unter Victorin’s Namen eine Abhandlung geringen Umfangs über die Schöpfung der Welt in einem sehr verderbten Texte veröffentlicht und dieselbe für ein Bruchstück aus dem Commentar über das erste Buch Mosis gehalten. Allein, von Anderem abgesehen, einmal wird unser Victorinus (es gab mehrere Schriftsteller dieses Namens im christlichen Alterthum) in jener Handschrift nicht bestimmt als Verfasser genannt, und dann steht der Anfang jener Abhandlung entschieden der Annahme entgegen, daß sie ein Fragment von dorther sei. An der Aechtheit des (scholienartigen) Commentars über die Offenbarung Johannis haben wir nicht zu zweifeln; doch enthält er manche, zum Theil klar in die Augen springende Einschiebsel aus späterer Zeit. Derselbe ist auch darum merkwürdig, weil er über diese neutestamentliche Schrift als der erste erscheint, von dem wir überhaupt in der Kirche hören. Ein besonderes, schon früher (griechisch) abgefaßtes Werk des Hippolytus über die Offenbarung ist verloren gegangen; es hatte auch nicht die Form eines Commentars.
Origenes, der selber einen Commentar über die Offenbarung Johannis nicht geschrieben, bestritt auf’s Entschiedenste den Chiliasmus, d. i. die Erwartung der Wiederkehr Christi zur Aufrichtung eines tausendjährigen Reichs; er bestritt ihn, selbst in der edlern Gestalt, als reinen Buchstabenglauben, ohne deshalb jene Schrift des Neuen Testaments, aus der man ihn zu rechtfertigen suchte (20,4ff.), für unapostolisch zu halten. Immer wieder wies er insbesondere für die Auslegung der prophetischen Bücher und ausdrücklich der Offenbarung Johannis darauf hin, daß Alles, was – nach dem Buchstaben derselben fleischlich laute, nur geistig verstanden werden könne, widrigenfalls man in ihre Mysterien, ihren wesentlichen Inhalt, nicht eindringe. Auch im vorliegenden Commentar ist Victorinus seinem Vorbilde gefolgt: er hat die Offenbarung nicht chiliastisch ausgelegt. So bemerkt er zu 19,1 ff., daß die Zahl 1000 nach ihrer Auflösung in 10 mal 100 einen mystischen Sinn habe, indem die Zahl 10 den Dekalog (die zehn Gebote) und die Zahl 100 die Virginität (die Reinheit in Glauben und Sitte) bedeute. Wer gewissenhaft nach jenen handele und unversehrt diese bewahre, der sei wahrhaftig ein Priester Christi und herrsche mit ihm in der geistigen Erfüllung jener Zahl. Das ist eine durchaus antichiliastische Auslegung, wie man sie von einem Exegeten aus Origenes Schule nicht anders erwartet. Das Antichiliastische tritt besonders in den Bemerkungen zu Offenb. 20, 3 u. 5. hervor, sowie am Schluss des Commentars, wo Victorinus ausdrücklich erklärt: „man dürfe nicht auf die hören, welche wie Cerinth behaupten, das tausendjährige Reich sei ein irdisches.“ Demnach ist es schwer zu begreifen, wie Hieronymus ihn zu den Chiliasten rechnen konnte. Vielleicht hat er die Erörterungen Victorin’s, auf welche er sich zum Beweise seiner Behauptung beruft, ohne die betreffenden Stellen selbst anzuführen, zu flüchtig angesehen, wie dies dem Vielgeschäftigen zuweilen geschah, und nicht gründlich erwogen. So klingt es allerdings auch in unserm Commentar chiliastisch, – und derartige Stellen hat Hieronymus wahrscheinlich im Auge, – wenn Victorinus zu Offenb. 1,15. die Worte Psalm 131,7: „Wir wollen anbeten an dem Orte, wo seine Füße standen“ in der Art auslegt: „Weil da, wo die Füße der Apostel zuerst standen und die Kirche gründeten, d. h. in Judäa, alle Heiligen sich vereinigen und den Herrn anbeten werden.“ Aber es ist – um die Worte eines Theologen zu gebrauchen, der das umfassendste und gründlichste Einleitungswerk zur Offenbarung des Johannes geschrieben, nicht nothwendig chiliastisch, sondern läßt sich recht gut so fassen, daß wie Rom der Ort der antichristlichen Macht ist, so Judäa als derjenige Ort gedacht wird, wo die gläubige Christenheit sich nicht zur Aufrichtung eines irdischen Reiches, sondern zum Beginn des die Welt verwandelnden ewigen Reiches Christi versammelt.
Die deutsche Kirche soll sich Victorin’s, des von ihr fast gänzlich vergessenen, immerdar erinnern als des ersten hervorragenden Glaubens- und Blutzeugen in Deutschland.
Joh. Carl Th. Otto in Wien.