Nordwestlich von der gefeierten Akropolis Athens mit ihrem Reichthum an Wunderwerken der Kunst erhebt sich, durch ein tiefes Thal davon geschieden, ein schmaler nackter Rücken von Kalksteinfelsen, der im Norden allmählich emporsteigt, im Süden dagegen steil abfällt. Das ist jener alte Hügel des Ares (Areopag), auf dem einst in Griechenlands alten Tagen, nachdem mit der Einführung des Apollocultus das Gesetz der Blutrache allmählich verstummt war, die Pflege sittlicher Gerechtigkeit von Seiten des Staats begonnen hatte und Jahrhunderte lang über peinliche Verbrechen Gericht gehalten war. Noch jetzt sieht man auf der Spitze die Sitze der Richter und der Partheien in den Felsen gehauen, und im Südwesten führt eine gleichfalls in den Felsen gehauene Treppe in das Thal hinab.
Wahrscheinlich diese Treppe war es, auf welcher, von dem alten Markte her, der zwischen jenem Felsrücken und dem Versammlungsplage des freien atheniensischen Volkes, der Pnyx, lag, der Apostel Paulus bei seinem ersten Missionsbesuche den Areshügel hinangeführt wurde. Dort stand er nun, umgeben von den Weisen und Gebildeten des Volks, das alle Bahnen wissenschaftlicher und künstlerischer Bildung durchmessen zu haben schien, und nun, des eigenen Reichthums satt und überdrüssig, nur nach Neuem verlangte, mit jener ewig denkwürdigen Predigt des Evangeliums, die uns Lukas in der Apostelgeschichte 17,22-31. aufbewahrt hat. Es ist mit derselben ein gewaltiger Umschwung im Gebiete der Geister, eine weltgeschichtliche Aufgabe bezeichnet, an deren Lösung die christliche Kirche fort und fort zu arbeiten hat.
Der Erfolg des wunderbaren Worts war ein sehr verschiedener. Etliche hatten’s ihren Spott, etliche aber sprachen: „Wir wollen dich davon weiter hören“, vielleicht weniger von aufrichtigem Verlangen getrieben, als unbewußt ergriffen von jener Gewalt, mit der der heilige Geist in den Dienern des Herrn die Welt richtet um der Sünde willen, wie sie über den Landpfleger Felix kam, als er sprach: „Gehe hin auf dies Mal; wenn ich gelegene Zeit habe, will ich dich her lassen rufen.“ Wenigstens fügt Lukas seinem Berichte weiter hinzu: „Also ging Paulus von ihnen.“, „Etliche Männer aber“ – folgt dann zuletzt „hingen ihm an und wurden gläubig, unter welchen war Dionysius, einer aus dem Rath.“
Es liegt ein beredtes Schweigen auf dieser Stelle. Das Samenkorn ruht ja eine Weile in der Erde, – darnach gehet es auf. Die Wirksamkeit des Paulus war darum keine geringere, sie war langsamer, aber vielleicht nachhaltiger. Jenen Dionysius, den „Areopagiten“, Mitglied des höchsten Gerichts also, macht die von Eusebius aufbewahrte kirchliche Sage zum ersten Bischof der christlichen Gemeinde in Athen, den Paulus selbst zu solchem Amte eingelegt habe; ja, dieselbe läßt ihn auch nach anderweitigen Zeugnissen dort am Ende den Märtyrertod erleiden. Sonst ist von seiner Person wenig oder nichts überliefert; die unter seinem Namen gebenden Schriften, von denen die ersten fünf Jahrhunderte der christlichen Kirche nichts wissen, an deren Echtheit dann aber Jahrhunderte lang kein Zweifel gehegt wurde, gelten nunmehr lange schon für unecht, wenn auch Gedanken, wie die nachfolgenden, die uns Johannes Damascenus „vom echten Glauben“ aufbewahrt hat, eines Apostels der feinen Athenienser wohl würdig wären: „Gott ist die Ursache und der Grund aller Dinge, das Wesen der Wesen, das Leben der Lebenden, die Vernunft der Vernünftigen, der Verstand der Verständigen, die Wiederbringung und Auferstehung derer, die sich davon verirrt haben, die Erneuerung und Umbildung derer, welche die Natur verdorben haben, die heilige Befestigung derer, welche durch einen unheiligen Trieb in Bewegung gesetzt werden, die Sicherheit derer, die da stehen, der Weg und die zurechtweisende Handleitung derer, die dahin aufsteigen wollen.“
Es gab noch andere Diener der ältesten christlichen Kirche, die den Namen Dionysius trugen und mit dem hier bezeichneten nicht zu verwechseln sind, unter welchen vor den übrigen derjenige hervorragt, welcher für den Apostel von Gallien gilt. Aber keiner von ihnen hat die vorzügliche Beachtung verdient, wie derjenige, in welchem das Samenkorn der Paulinischen Predigt an die bildungsuchende und bildungsstolze Welt, die von der altberühmten Mutter der feinsten und gesuchtesten Erkenntniß repräsentiert wird, die erste reife Frucht trug. In ihn haben wir den Widerschein jener Strahlenbrechung, welche entsteht, wenn das Licht der ewigen Wahrheit durch die Wolken menschlicher Bildung fällt.
Nicht mit Unrecht hatte die Stadt Athen in dem Munde eines ihrer frömmsten und sinnvollsten Dichter den Namen der gottesfürchtigsten unter den hellenischen Städten geführt. Auch der Apostel Paulus bezeugt es ihr, daß die Spuren eines ununterbrochenen Suchens nach der gefürchteten höheren Macht überall in ihr unverkennbar seien; aber je mehr denn nun gesucht worden ist und nicht gefunden, desto lebendiger tritt die Mahnung heran, den zu ergreifen, der sich selber darbietet und offenbart. Und als ob die Athener ängstlich gefürchtet, daß sie noch eine ihnen dunkel gebliebene Kundgebung göttlichen Wesens ohne Zeichen der Verehrung gelassen hätten, haben sie auch dem unbekannten Gotte seinen Altar gebauet. Sie haben gemeint, die Fülle des Ewigen und Unsichtbaren durch die Formen des Endlichen und Unsichtbaren erschöpfen und würdig darstellen zu können; so wurde ihr Cultus veräußerlicht und aller wahrhaftigen Erkenntniß und thatkräftigen Liebe entblößt. Sie haben darnach gerungen, Gott und die Welt klar von einander zu unterscheiden; aber sie sind so dahin gerathen, Gott und die Welt völlig von einander zu trennen und haben hinwiederum zuletzt beide nur um so vollkommener mit einander vermischt und so die Gottheit in die Schranken der natürlichen Welt beschlossen. Gott hatte es ihnen freigelassen, den Umkreis ihrer selbsterzeugten religiösen Gedanken und sittlichen Grundsätze nicht innerhalb der festen Schranken einer mit Mauer und Zaun umgebenen Nationalität zu halten, aber sie haben darum auch nicht vermocht, über den Gegensatz von Grieche und Barbar hinauszukommen, blieben also ohne die Ahnung einer das menschliche Geschlecht umfassenden Gemeinschaft, in welcher Gott mit seinem ewigen Regimente Alles geordnet und nach Völkern und Zeiten weislich vertheilet hat. Und über dem Allen hatte er ihnen das vollste Maß geistiger Gaben und Kräfte gegeben, damit sie ihn suchen sollten, ob sie ihn fassen und finden möchten; aber das Verlangen und die Sehnsucht, die er in der Tiefe ihrer Seele Wurzel schlagen ließ, waren größer als das Vermögen, die rechte Befriedigung dafür zu schaffen. Ja, sie wurden ihrem eigenen besseren Sinne selbst ungetreu: ungeachtet der von ihren Dichtern bezeugten Ahnung einer Gottesverwandtschaft, die freilich als ein unverstandenes Räthsel vor ihnen lag, zu welchem erst die Offenbarung in der uns anerschaffenen göttlichen Ebenbildlichkeit die Lösung fügen konnte, haben sie doch nicht einmal zu der selbstbewußten freien Persönlichkeit mit ihren Göttern sich erheben können, sondern sind zu den Gebilden menschlicher Hand hinabgesunken und so in die unwürdigste Knechtschaft des Götzendienstes gerathen.
Um die Mitte des ersten christlichen Jahrhunderts stand Athen am Grabe aller seiner Hoffnungen: seine bürgerliche Freiheit war geknechtet, seine geistige Blüthe verwelkt, das stolze Gebäude seiner die Welt umfassenden Gedanken zertrümmert. Ausgegangen von dem Jenseitigsten und Fernsten, dahin die menschliche Betrachtung sich verlieren kann, war es bei dem Unmittelbarsten und Nächsten zuletzt wieder angekommen, und hatte in diesem ganzen Kreislauf den Trost und die Wahrheit nicht gefunden, wonach es rastlos gesucht. Grade in der schwersten Aufgabe, auf dem allein möglichen Wege, der dem Menschen durch die selbstbewußte Einheit seines leiblich-geistigen Wesens erleichtert wird, nemlich in der lebendigen Zuversicht des Glaubens die Brücke vom Endlichen zum Unsichtbaren hinüber zu schlagen, waren die Griechen endlich wieder bei dem Punkte angekommen, wo sie, in den Dienst der Sinne und des endlichen Wesens festgebannt, jede Fähigkeit zur Lösung eingebüßt hatten. Eben darum war in einer Zeit, wo das Suchen vorüber und nun mit dem Annehmen eines Gegebenen ganzer Ernst zu machen war, die Verkündigung des menschgewordenen Gottes, der selber auf das Klarste das Ewige mit dem Endlichen verbunden und aus dem Tode wiederum das Leben genommen hatte, wie den Juden ein Aergerniß, so den Griechen eine Thorheit.
Aber in der Seele Einzelner ging die mächtige Umwälzung vor sich; als ihren Erstling und Vertreter ehrten die Jahrhunderte den Areopagiten Dionysius. Und als Raphael zu den in Flandern gewirkten Tapeten, die zum Schmuck der sixtinischen Capelle bestimmt waren, seine unsterblichen Cartons arbeitete, da wählte er unter den bedeutendsten Momenten aus der Gründungsgeschichte der christlichen Kirche auch die ewig denkwürdige Predigt auf dem Areopag.
Friedr. Lübker in Parchim.