Justin der Märtyrer wurde zu Flavia Neapolis (dem alten Sichem) in Palästina geboren. Seine Geburt fällt wahrscheinlich noch in das Jahrhundert der Apostel. Von seinen Eltern wissen wir nur dieß, daß sie griechischer Abkunft waren. Daß er im Glauben des Heidenthums großgezogen sei, erzählt er selbst. Alle diese Umstände waren von entscheidendem Einfluß auf seinen Bildungsgang. Was zunächst das römische Heidenthum betrifft, so konnte es ihm auf der Stufe seines damaligen völligen Verfalles keine Befriedigung gewähren. Denn nach dem Erlöschen der ursprünglichen Sitteneinfalt bildete Erwerben und Genießen für die Meisten die alleinige Losung. Das Sittenverderben stand auf einer Höhe, daß die bessern Zeitgenossen für dieses Nachtgemälde die Farben nicht dunkel genug finden können. Eine ähnliche Schilderung gibt der Apostel Paulus in seinem Römerbrief (1, 21. ff,). Das Mährchenhafte der alten Götterlehre war längst selbst den Kurzsichtigsten kein Geheimniß. Indeß das Volk sich dem rohesten Aberglauben in die Arme warf, galt den Gebildeten ein herzloser Unglaube als die höhere Weisheit. Selbst Priester lächelten, wann sie sich begegneten. Ernstere Gemüther suchten Trost in gehäuften Gottesdiensten, Ceremonieen oder Kasteiungen. Man hoffte die Wahrheit von der Mischung der verschiedenen Religionen und Weisheitslehren. Die am meisten Heißdürstenden sah man Länder und Meere durchziehen, um Frieden und Gewißheit in göttlichen Dingen zu finden. Zur Klasse solcher Suchenden gehörte Justin. Von früh auf beseelte ihn ein brennender Wissenstrieb und, über das verborgene Wesen Gottes Aufschluß zu erhalten, war ihm Herzensbedürfniß, In dieser Absicht wandte er sich an die damals berühmtesten Weisheitslehrer. Nach vielfacher Täuschung schien er am Ziel. Denn die Schule des alten griechischen Philosophen Plato verhieß ihm das endliche Anschaun der Gottheit. Um dieselbe Zeit zog ihn zum ersten Mal die Hand des Herrn. Die Standhaftigkeit und Heiterkeit, mit welcher er die Christen für ihren Glauben in Marter und Tod gehen sah, erregte seine Aufmerksamkeit. Er begriff, daß Lüstlinge und Menschenfresser (wie der heidnische Volkshaß die Christen sich vorstellte) dem Tod nimmermehr furchtlos ins Angesicht blicken würden. Diese Begeisterung für ein unsichtbares, überirdisches Gut, nach welchem er selbst voll Sehnsucht rang, ließ ihn bereits in der Religion des Kreuzes etwas Göttliches ahnen. Aber sei’s, daß dieser Eindruck ein noch zu flüchtiger oder sein Vertrauen auf die menschlichen Lehrer ein noch zu mächtiges war: – diese früheste Berührung mit den Christen hatte zunächst keine weitere Folge. Allein das Herz war für den zweiten Gnadenzug der rettenden Liebe vorbereitet. Um sich ungestört dem Nachdenken über das Göttliche widmen zu können, begab sich Justin meist an einen menschenleeren Ort. Hier traf er mit einem Greise von mildem, ehrwürdigen Aussehn zusammen. Das Unverhoffte dieser Begegnung führte zu einem Gespräch. Der Greis, ein Christ, der alsbald an dem Philosophenmantel abnahm, daß Justin ein Liebhaber der Weltweisheit sei, nahm davon Veranlassung, ihm das Unbefriedigende dieser wie aller bloß menschlichen Weisheit vor Augen zu stellen. Als Justin über diese Entdeckung seinen Schmerz äußerte, verwies ihn der Greis auf die wahren Weisheitslehrer, die vom Geiste Gottes erleuchteten Propheten des Alten Testaments, bei denen er den vollesten Aufschluß über alles zur Seligkeit Wissenswerthe finden würde, und entließ ihn schließlich mit der Ermahnung: „vor Allem aber bete, daß dir die Pforten des Lichtes aufgethan werden; denn Niemand kann diese Wahrheiten verstehen ohne Erleuchtung durch Gottes und Christi Geist.“ Noch während der Greis so sprach, geschah’s dem Justinus, wie einst den Jüngern auf dem Wege nach Emmaus. Es brannte das Herz in ihm, da er den Herrn sah, den er doch nicht kannte. Eine nähere Vertiefung in die heiligen Schriften des Alten Bundes und die Bekanntschaft mit den „Freunden Christi“ vollendete den Durchbruch seiner Bekehrung. Aus dem Alten Testament trat ihm überall Geisteshoheit, Einfalt, Uebereinstimmung und Voraussicht des Zukünftigen entgegen. Im Verkehr mit den Christen fesselte ihn das Majestätische und Beseligende der Reden Christi. Die ernst fortgesetzte Prüfung schloß mit der Ueberzeugung, daß allein das Christenthum die wahre und heilbringende Philosophie sei.
Zugleich fand er in dieser Ueberzeugung den himmlischen Fingerzeig, der über seinen künftigen Lebensberuf entschied. Nach dem Grundsatz, daß, „wer die Wahrheit verkündigen könne und nicht verkündige, Gottes Gerichten verfalle“, stand ihm sofort der Entschluß fest, als reisender Evangelist Mitgehülfe an dem Bau des Reiches Gottes zu werden. Für diesen Zweck durchzog er, unermüdlich bis an seinen Tod, die Hauptländer des römischen Reiches. Das größeste und lockendste Feld zur Arbeit bot Rom selbst. Deshalb hielt er hier sich am längsten auf und errichtete für junge Griechen eine Missionsschule. Auf allen Reisen behielt er seinem Philosophenmantel bei, weil diese Kleidung ihm die Gelegenheit zur Anknüpfung religiöser Unterredungen erleichterte. Von welchem Erfolge diese vielseitige Wirksamkeit gewesen, läßt sich bei der Spärlichkeit der Nachrichten zwar mit Sicherheit nicht entscheiden. Allein wenn es wahr ist, daß ein gutes Wort meist eine gute Stätte findet, und wenn die ausgezeichnete Verehrung, welche Justin im Andenken der spätern Kirche genießt, einen Rückschluß begründet: so gehörte Justin zu den bedeutendsten Rüstzeugen der Kirche. Allerdings besaß er die Gabe, wie ein Paulus mit Zungen zu reden, nicht. Seine Rede hat niemals den Schwung, der, überwältigend wie der Bergstrom, welcher aus verborgenen Klüften springt, Alles mit sich reißt. Dagegen quillt seine Beredtsamkeit stets aus einem für das Evangelium begeisterten Herzen. Was ihr daher an Schwung abgeht, ersetzt sie durch Wärme und Klarheit.
Die Schriften, welche wir von Justin noch übrig haben, sind insgesammt christliche Vertheidigungs – und Streitschriften. Denn um den Anfang des zweiten Jahrhunderts galt es vor Allem die Einführung des Christenthums in die Welt. Tausend Mißverständnisse, Leidenschaften und Verhältnisse stellten sich seiner Aufnahme entgegen. Daß man die neue Heilslehre einfach verkündigte und die Unschuld der Christen betheuerte, konnte nicht genügen. Man mußte das Unhaltbare der seitherigen Religionen und Gottesdienste darthun. Dazu kam, daß damals sich zuerst gebildete Heiden in größerer Anzahl dem Evangelium zuwandten und gelehrte Feinde dessen Lehren und Verheißungen angriffen. Die zweite Hauptaufgabe war also die, daß man die göttliche Wahrheit des Christenthums nachwies. In dieser Sachlage hat es, seinen Grund, sowohl daß Justin vorzugsweise als Vertheidiger des Evangeliums auftrat, als auch daß er diese Vertheidigung durch wissenschaftliche Begründung desselben führte. Obenan stellte er bei diesem Geschäft die prophetischen Zeugnisse und Vorbilder des A. T. auf Christus. Denn in diesem Verhältnisse zwischen Weissagung und Erfüllung schien ihm Gottes Finger vorzüglich sichtbar. „Wer sollte“ – fragt er sogar einmal – „einem gekreuzigten Menschen glauben, daß er der erstgeborene Sohn Gottes sei und dereinst über das Menschengeschlecht Gericht halten werde, wenn nicht Zeugnisse aus der Zeit vor seiner Menschwerdung vorlägen?“ Diesen Beweis aus den Weissagungen unterstützte überdieß die Neigung des ganzen Alterthums. Die Kirche nannte ihn mit Vorliebe den Beweis des Geistes. Ein gebildeter Heide setzt den Unterschied zwischen Gott und dem Menschen beinahe ausschließlich darin, daß Gott allein die Voraussicht des Zukünftigen habe. Aber ein gleich offenes Auge hatte Justin für die sittliche Herrlichkeit des Evangeliums. Ja so oft seine Rede einen höhern Aufflug nimmt, geschieht dieß, wo er die Wirkungen desselben auf die Wiedergeburt der Menschheit beschreibt. „Das hat Gottes Kraft und nicht menschliche Beredtsamkeit bewirkt!“ so ruft er bei solcher Gelegenheit aus. Gern stellt er die Sittenreinheit der Christen mit der Entsittlichung des Heidenthums in Vergleich. „Die wir einst an der Wollust unsere Freude hatten,“ rühmt er in dieser Hinsicht, „leben jetzt ausschließlich der Keuschheit; die wir lose Künste trieben, dienen dem guten Gott; die wir Geld und Gut über Alles stellten, überlassen unser Vermögen der gemeinen Wohlfahrt; die wir einander mit Haß und Mord verfolgten, leben an Einem Tische und beten für die Feinde. Denn nicht in Worten, sondern in Werken besteht unsere Frömmigkeit.“ Oder er sammelt Aussprüche des Herrn, um darzuthun, auf welch‘ hohen Posten Gott die Christenheit gestellt habe. Schon hieraus erhellt, welch‘ fleißigen Gebrauch Justin überall von dem Worte Gottes macht. Die Schrift ist das Herzblut, an welchem sein geistiges Leben sich nährt. Einen höhern Beweis der Wahrheit kennt er nicht, denn daß etwas in der Bibel steht. „Man kann,“ so äußert er sich, „mit Recht nichts tadeln von all‘ dem, das die Propheten geredet oder gethan haben, wenn man nur das rechte Verständniß hat. Denn erfüllt vom heiligen Geist, haben sie nur geredet, was sie gesehn oder gehört haben.“ Von besonderer Wichtigkeit ist diese Benutzung der heiligen Schrift für die Evangelien des Neuen Testamentes, weil sie uns die Gewißheit gibt, daß schon in so früher Zeit – Justin schrieb mehrere seiner Werke vor dem J. 140 n. Chr. – diese Evangelien als Werke der Apostel und Apostelschüler anerkannt und deshalb in allen Hauptkirchen zu gottesdienstlichen Schriftlectionen gebraucht waren.
Zu den erbittertsten Feinden der Christen in den Tagen Justin’s gehörten die cynischen Philosophen. Denn die weltverachtende Erhabenheit über die irdischen Bedürfnisse, welche diese Philosophen damals mit oft schmutziger Gemeinheit bloß heuchelnd zur Schau trugen, leuchtete bei den Christen in ungekünstelter Herrlichkeit. Ueberall machten jene Scheinheiligen es sich zum Geschäft, das Hohe und Heilige, wo sie es trafen, in den Staub zu ziehn. Und da Religion für sie höchstens als Mittel für selbstsüchtige Zwecke Werth hatte, so befeindeten sie die durch ihre Frömmigkeit lästigen Anhänger des Gekreuzigten, schon weil sie dafür auf den Beifall des heidnischen Pöbels rechnen durften. Ein Weltweiser der Art war der Cyniker Crescens in Rom. Als er einst nach seiner Weise die dortigen Christen zur Belustigung der Menge als Gottesleugner lächerlich machte, deckte Justin dem Volk mit Freimuts) die Quelle auf, aus welcher diese gehässige Anklage fließe. Oft schon hatte er Gelegenheit gehabt, den scheinheiligen Volksverführern die Maske vom Gesicht zu reißen. Er nannte auch jetzt den Verläumder ohne Rückhalt einen ehrgeizigen Lärmmacher, dem der Menschenbeifall Alles, die Wahrheit Nichts gelte. Die Antwort des beschämten Philosophen blieb nicht aus. Auf sein Anstiften wurde Justin als Verächter der römischen Götter mit noch sechs andern Genossen öffentlich angeklagt. Der Bericht, welchen wir über diese letzten Stunden Justin’s noch haben, zeigt denselben Geistesadel und Glaubensmuth, der uns das Bild des Kirchenvaters auch sonst so verehrungs- und liebenswürdig macht. Als der heidnische Richter die Angeklagten nach der Lehre der Christen befragte, erwiederte Justin: „Wir glauben an Einen Gott als Schöpfer aller Kreatur, der, unsichtbar und erhaben über den Raum wie er ist, Himmel und Erde erfüllt, und an Jesus Christus als Sohn Gottes und Lehrer der Wahrheit, wie schon die Propheten geweissagt haben!“ Auf die weitere spöttische Frage des Präfekten, ob er an seine Auffahrt gen Himmel wohl auch dann noch glaube, nachdem er geköpft sei, gab er die demüthig hochherzige Antwort: „Ich glaube, daß, wenn ich dieß gelitten, ich Christi Gnadengabe empfangen werde; ja ich weiß es so gewiß, daß kein Zweifel statthat.“ Der Präfekt, um durch Martern einzuschüchtern, gebot hierauf, daß die Angeklagten den Göttern opferten. Diesem Ansinnen setzte Justin das Bekenntniß entgegen: „Wir wünschen nichts mehr als für unsern Herrn Jesus Christus zu leiden; denn das gibt uns Freudigkeit vor seinem furchtbaren Gericht, vor welchem alle Welt erscheinen muß.“ Hiermit war die Geduld des Richters erschöpft. Er erkannte nach den Gesetzen über die Widerspenstigen die Todesstrafe und Justin mit seinen Gefährten starb den Märtyrertod durch das Schwert (166 n. Chr.). So streute Justin auch noch durch sein Blut eine Aussaat für die Kirche. Er hatte einst die Versicherung gethan: „Wenn man uns tödtet, freuen wir uns.“ Dieses Pfand löste sein Tod, würdig eines christlichen Philosophen. Und wenn ein gleichzeitiger Kirchenlehrer die Kirche mit einem Thurm vergleicht, der aus den lebendigen Gliedern der Gemeinde sich auferbaut; so gehört Justin unfehlbar zu den weißen Quadersteinen, mit welchen der geistliche Bau anhebt.
K. Semisch in Greifswald.