Hofprediger in Stuttgart.
(Geb. 31. August 1685, gest. am 20. April 1772).
„Fürchte dich nicht, sondern rede und schweige nicht! Denn ich bin mit dir.“ (Apgsch. 18, 9.)
Samuel Urlsperger wurde am 31. August 1685 zu Kirchheim unter Teck geboren. sein ältester Bruder Esaias Matthäus unterrichtete ihn so, daß er vom Jahre 1699 an die gelehrten Schulen durchmachen, und schon 1705 im Stift zu Tübingen Magister werden konnte. Der Herzog von Württemberg ließ den begabten Jüngling nach Vollendung seine Studien gelehrte Reisen in’s Ausland machen. In dem kalten Winter des Jahres 1709 reiste er über Jena, Halle und Leipzig nach Holland. Das Schiff, das ihn nach England bringen sollte, wurde durch einen heftigen Sturm im Kanal wieder an die holländische Küste zurückgeworfen. In dieser Lebensgefahr mitten in den tobenden Wellen fühlte er sich mächtig zu dem lebendigen Gott hingezogen, und klammerte sich fest an diesem Felsen an. er blieb nun eine Zeit lang in Utrecht, bis er in der Einladung eines Schiffsgefährten, des Hofpredigers Böhm, in der lutherischen Savoy-Kirche und in der Kapelle zu St. James zu London zu predigen, einen Wink Gottes sah, England zu besuchen. Zwei Jahre hielt er sich in England auf, und gewann sich große Achtung bei geistlichen und weltlichen Personen. Im Jahre 1712 trat er seine Rückreise über Hamburg, Hannover und Berlin an. Er lernte hier den frommen Baron von Canstein, den Gründer hallischen Bibelanstalt, zu seinem Segen kennen. In Halle war es besonders August Hermann Francke, zu dem er sich hingezogen fühlte. Ins Vaterland zurückgekehrt, wurde er Vikarius, aber schon im Jahre 1713 erhielt er die Pfarrei Stetten im Remsthale. Kaum hatte er sich mit Jakobine Sophie von Jägersberg verheirathet, so wurde er auf Veranlassung der berüchtigten Mätresse des Herzogs, von Grävenitz, als Hofkaplan nach Stuttgart berufen, und im Jahre 1715 war er schon Oberhofprediger und Consistorialrath. Das schien kein gutes Zeugniß für ihn zu seyn; denn an dem Hofe des Herzogs Eberhard Ludwig war eine heillose Wirthschaft. Menschenfurcht und Menschengunst lähmte die Zunge des jungen Oberhofpredigers. Zwar verkündigte er die lautere evangelische Wahrheit; er war auch recht thätig für die Mission, aber er berührte gar nicht die Sünden des Hofes, wie der gewaltige Zeuge Christi, Hedinger, es gethan hatte. Im Jahre 1717 kam Francke nach Stuttgart, welcher von seiner Menschenfurcht gehört hatte. Vor Allem ging er in die Predigt Urlsperger’s, um sich selbst zu überzeugen, ob jenes sich wirklich so verhielte. Er fand es so. Voll Schmerz ging er nach der Predigt zu seinem Freunde. „Ich höre, Bruder, redete er ihn mit hohem Ernste an, daß deine Vorträge evangelisch sind, aber die Sünden deines Hofes berührst Du mit keinem Wort. Ich komme also, dir im Namen Gottes zu sagen, daß du ein stummer Hund bist; und wenn du nicht umkehrst, und als öffentlicher Lehrer die Wahrheit frei heraussagst, so gehst du verloren, trotz aller deiner Erkenntniß.“ Das Wort des treuen, väterlichen Freundes machte einen tiefen Eindruck auf Urlsperger.
Am Charfreitage 1718 spürte der Herzog die Macht der verkündigten Wahrheit. Aber sie diente nicht zu seiner Demüthigung und Besserung; sondern er ließ seinem Hofprediger sagen, er habe im Sinne gehabt, ihn von der Kanzel herunter zu schießen. Am nächsten Sonntage solle er wiederrufen; widrigenfalls klage er beim Reichskammergericht, und er würde, weil ein Majestätsverbrechen vorliege, zum Tode verurtheilt werden. Aber Urlsperger erklärte, er könne nicht widerrufen, und müsse es Sr. Durchlaucht überlassen, zu handeln, wie sie für gut fände. Darauf wurde er gefangen genommen, und Anstalt zu seiner Verurtheilung getroffen. Es wurde ihm für die nächste Woche der Todestag bestimmt. Da ließ er seine Frau und vier Kinder zu sich kommen. „Was sagt ihr dazu?“ fragt er sie. „Lieber Mann, antwortete die Frau, dein Tod wird mich und die Kinder in das größte, leibliche Elend stürzen; ich bitte dich aber um Gottes willen, verläugne die Wahrheit nicht, sonst bliebe der Fluch auf mir und meinen Kindern liegen.“ Dadurch getröstet ließ er dem Herzog sagen, „kein Kopf stehe im alle Tage zu Dienst.“ Als aber der Herzog das Todesurtheil seinem Minister von Schütz zur Unterschrift vorlegte, übergab dieser ihm Amt und Degen mit den Worten: „Ew. Durchlaucht, hier ist mein Amt und meine Ehre, ich unterschreibe keine Blutschulden.“ Seinen Minister wollte er nicht gern verlieren. Er setzte aber den Oberhofprediger ohne allen Gehalt ab, und verbot ihm sogar, auswärtige Dienste zu suchen.
Nach zwei Jahren war der Herzog mit seinem Minister auf der Wachtparade. Urlsperger ging vorüber. „Ew. Durchlaucht hatte, sagte Schütz, so lange dieser Mann noch im Dienste war, Glück und Segen; aber seitdem wir einen Schmeichler hier haben, geht Alles unglücklich. Wollen Sie das Böse wieder gut machen, so suchen Sie ihn wenigstens zu versorgen.“ Dem Herzog ging das Wort zu Herzen, und der berief Urlsperger zum Stadtpfarrer und Dekan von Herrenberg im Jahre 1720. Doch blieb er hier nicht lange. Er hatte auf einer Reise zu Augsburg gepredigt. Diese Predigt und die ganze Persönlichkeit des Mannes hatte solchen Eindruck hinterlassen, daß er nach dem Tode des Seniors und Pfarrers an der St. Annakirche, Renz, an dessen Stelle berufen wurde. Diesen Ruf nahm er im Jahre 1723 an, obschon zu gleicher Zeit ihm Stele seines verstorbenen Freundes, des Hofpredigers Böhm zu London angetragen wurde. In Augsburg wirkte er noch ein halbes Jahrhundert mit großem Segen. Die Mission blieb ihm Herzenssache. Als im Jahre 1730 die um ihres Glaubens willen vertriebenen Salzburger zu Tausenden nach Augsburg kamen, sorgte er auf’s Liebreichste für sie, sammelte aller Orten, empfahl sie dem Könige von Preußen, und wirkte für Anlegung einer Colonie in Pennsylvanien. Er schrieb auch Schriften zum Besten der bedrängten Glaubensgenossen. Seit dem Jahre 1728 hielt er in seinem Hause gesegnete Erbauungsstunden.
Urlsperger mußte als ein rechter Jünger Christi auch durch viele Trübsale hindurchgehn. Sein ältester, hoffnungsvoller Sohn wurde ihm auf der Heimreise zum Vaterhaus durch den Tod hinweggenommen. Der Tod forderte noch mehrere geliebte Glieder seiner Familie; aber er tröstete sich des Worts: „Gott führt es herrlich hinaus!“ Von seinen Söhnen blieb ihm nur ein einziger übrig, sein Amtsgehülfe Johann August, welcher später der Stifter der reichgesegneten Christus-Gesellschaft wurde. Mit großer Treue wirkte er fort für seinen Herrn, und durfte am 31. August 1763 sein fünfzigjähriges Amtsjubiläum feiern. An diesem Tage liefen von den verschiedensten Gegenden Deutschlands Glückwünschunngsschreiben ein; denn bei Allen, denen die Sache des Herrn am Herzen lag, war sein Name hoch geehrt. Er selbst brachte den Tag auf das Erbaulichste zu. Er sang mit den Seinen das Lied, das er selbst gedichtet hatte: „Lobe, lobe, meine Seele,“ und seine Gebete gingen darauf hin, daß Gott ihn immer treuer in seinem Dienste werden lassen möge, damit, wenn sein letztes Stündlein schnell schlage, er als ein um seine Lenden gegürteter und wachender Knecht erfunden werde. Bis in’s höchste Alter, so lange es seine Leibeskräfte zuließen, wirkte er im Dienste Christi. Zuletzt trat er in den Ruhestand, bis ihn der Herr am 20. April 1772 im Alter von 87 Jahren zu sich rief.
Außer vielen gottseligen Liedern gab er im Jahre 1723 ein köstliches Erbauungsbuch für Kranke und Sterbende heraus, unter dem Titel: Der Kranken Gesundheit und der Sterbenden Leben, welches weithin segensreich wirkte, mehrere Auflagen erlebte, und im Jahre 1857 von Ferd. Riehm zu Ludwigsburg neu aufgelegt worden ist.
Dr. Theodor Fliedner,
Buch der Märtyrer,
Verlag der Diakonissen-Anstalt zu Kaiserswerth,
1859