Gerhard Tersteegen

Gerhard Tersteegen wurde geboren am 25. November 1697 zu Moers im Regierungsbezirk Düsseldorf als Sohn des Kaufmanns Heinrich Tersteegen und der Maria Kornelia Tersteegen, geborenen Triboler. Von acht Kindern, sechs Söhnen und zwei Töchtern, war Gerhard der jüngste; einer seiner Brüder war Prediger, die andern Kaufleute, unter welchen besonders einer Namens Johannes diesen seinen jüngsten Bruder vorzüglich liebte. Durch seine treffliche Begabung legte er die Gymnasialstudien auf dem Gymnasium zu Moers rasch und glänzend zurück und wurde von verschiedenen Seiten zum Universitätsstudium aufgefordert. Weil aber der Vater früh starb, so glaubte die Mutter auf diesen Vorschlag nicht eingehen zu können und bestimmte Gerhard zur Kaufmannschaft, welche er von seinem 15. Lebensjahre an in vier Jahren bei seinem Schwager zu Mülheim an der Ruhr erlernte.

In Mülheim war es, wo er schon in seinem 16. Jahr von Gottes Gnade merklich ergriffen und berührt wurde, indem er einen erweckten Kaufmann kennen lernte, welcher sehr segensreich auf ihn einwirkte. Ganze Nächte brachte er mit Beten, Lesen und frommen Betrachtungen zu. Er übergab sich völlig dem HErrn ohne Vorbehalt. Weil die Kaufmannschaft seinem ruhigen, stillen Wesen nicht recht zusagte, wählte er nach Beendigung seiner vier Lehrjahre sich einen andern, stilleren Beruf, nämlich das Bandweben, und blieb in Mülheim lebenslänglich wohnen.

Seine Lebensweise war äußerst einfach, seine Kleidung schlicht; seine Speisen, die er sich, weil er seine Lebenstage im ledigen Stande zubrachte, meistens selbst bereitete, bestanden zumeist aus Mehl, Wasser und Milch. Wie gering auch sein Einkommen sein mochte, so bewies er sich doch überaus freigebig gegen die Armen. Des Abends pflegte er in die Häuser der Dürftigen und Kranken zu gehen, und teilte ihnen mit, was er von seinem Verdienste nur immer entbehren konnte. Bei der Teilung der mütterlichen Erbschaft wiesen ihm seine Miterben ein Haus zu; von seinem Bruder Johannes erhielt er den Wert dieses Hauses in barem Gelde, welches er ebenfalls größtenteils an Arme hingab. Dabei genoss er die größte Zufriedenheit und dachte, kein König in der Welt könne so zufrieden leben, wie er.

Allmählich führte ihn der HErr in innere Leiden. Er musste durch manche Dunkelheiten, Versuchungen und Proben hindurch gehen. Gott entzog ihm seine Gnade, um seine Treue und ausharrende Geduld zu prüfen und ihn auf seine spätere Wirksamkeit vorzubereiten. Fünf Jahre lang dauerte diese Finsternis. Endlich ging ihm das Licht wieder auf, indem er die versöhnende Gnade Jesu Christi völlig erfasste, wodurch er in seinem Innern gründlich beseligt wurde. Bei dieser Gelegenheit dichtete er das schöne Lied im „Blumengärtlein“: „Wie bist Du mir so innig gut, mein Hoherpriester Du!“ Wohl um dieselbe Zeit hat er die Verschreibung an den Herrn Jesum mit seinem eigenen Blute vorgenommen. Durch solche gründliche Erleuchtung und Erfahrung wurde er so in der Erkenntnis Gottes gefördert, dass er später mit solch großer Kraft und Salbung davon hat reden und schreiben können.

Etwa ein Jahr nach jener Verschreibung (1725) nahm er einen gewissen Heinrich Sommer zu sich, um ihn das Bandweben zu lehren. Des Morgens um 6 Uhr kamen sie zusammen und arbeiteten bis 11 Uhr, hierauf sonderten sie sich ein Stündchen ab, um dem Gebete obzuliegen. Um 1 Uhr gingen sie wieder an die Arbeit, die bis abends 6 Uhr dauerte. Darauf machten sie Feierabend und verwendeten wiederum ein Stündchen zur Absonderung und zum Gebete. Die Zeit nach 6 Uhr abends brauchte Tersteegen zur Übersetzung und Abfassung erbaulicher Bücher und Gesänge. So übertrug er ins Deutsche Jean de Labadies((Jean de Labadie ist geboren den 13. Februar 1610 zu Bourg in Guyenne (Frankreich), studierte Theologie, besonders die Werke Augustins und Bernhards von Clairvaux (sprich: Klärwoh) (gest. 1153). Seine Begabung und sein Rednertalent verhalfen ihm bald zu großer Anerkennung, so dass er Prediger, Professor und Universitäts-Rektor zu Montauban ward. 1659 wurde er Prediger zu Genf, woselbst ihn Philipp Jakob Spener (gest. 1705 zu Berlin) kennen lernte. Labadie starb 1675.)): „manuel de piété,“ (Handbüchlein der wahren Gottseligkeit), Thomas von Kempens (Thomas a Kempis)((Thomas – sein eigentlicher Name ist Thomas Hämerken (Hämmerchen) – wird gewöhnlich genannt nach seinem Geburtsort a (=von) Kempis, d. i. Kempen (bei Köln), wo er 1380 geboren wurde, war Mönch in dem Augustinerkloster auf dem Agnesberge bei Zwolle in der Nähe von Utrecht (Holland), wo er 1471 starb. Unter seinen Erbauungsbüchern ist das über die „Nachfolge Christi“ („de imitatione Christi“) sehr berühmt geworden, welches bis auf die Gegenwart eines der beliebtesten Erbauungsbücher geblieben ist. Man hat es in alle gebildeten Sprachen übersetzt, wie es denn nach der heiligen Schrift das verbreitetste Buch der Welt sein dürfte. Der Zweck des goldenen Büchleins ist darzutun, dass die Nachfolge Jesu in der Abkehr von der Welt, in der Ertötung des Fleisches und in der unbedingten Hingebung an den HErrn bestehe. Dies wird mit der rührendsten Innigkeit klar und einfach in den drei ersten Büchern ausgeführt, worauf das vierte die rechte Begehung des hl. Abendmahls schildert.)): „de imitatione Christi“ (Nachfolge Jesu Christi), und anderes; er selbst verfasste den „Unparteiischen Abriss christlicher Grundwahrheiten“, „auserlesene Lebensbeschreibungen heiliger Seelen“ (neu herausgegeben 1887 bei C. F. Spittler in Basel), „die wahre Theologie des Sohnes Gottes“, „der Frommen Lotterie“, „Geistliches Blumengärtlein“, den Weg der Wahrheit“ und vieles andere.

Bei seiner großen Neigung zur Einsamkeit und Stille suchte er seinerseits keine Anlässe sich sehen und hören zu Lassen. Doch auf das Zureden seines Freundes des Kandidaten Wilhelm Hofmann, welcher in der von dem gesegneten Pastor Theodor Undereyk (geb. 1635 zu Duisburg) zu Mülheim gestifteten Versammlung und auch sonst redete, fing Tersteegen an, in den Erbauungsstunden erweckter Seelen Vorträge zu halten.

Durch die Fülle seiner Erfahrungen im Christenleben sowie durch seine Herzlichkeit und Redekraft stiftete er äußerst großen Segen. Viele Unbekehrte wurden dadurch zu dem HErrn bekehrt, Erweckte tiefer gegründet und weitergefördert. Doch nicht nur in der Nähe wirkte er mit vielem Segen, sondern auch, da er durch Veröffentlichung von Schriften immer mehr bekannt wurde und seine Gottseligkeit weithin leuchtete, in der Ferne. Von weither bekam er viele Briefe, darin Leute, die in allerlei Versuchungen, Prüfungen und Anfechtungen standen, mit dem größten Zutrauen bei ihm sich Rat einholten. Personen der verschiedensten Stände aus der Schweiz aus Holland, England, Schweden und Deutschland besuchten ihn zu Mülheim, wo in seinen Erbauungsstunden oft 300 bis 400 Menschen erschienen, dadurch sein Haus ganz angefüllt ward, so dass manche auf eine Leiter stiegen, um durch die Fenster ihn hören zu können. Um auswärtige Freunde, die ihn aufsuchten, beherbergen zu können, mietete er das Haus seines verstorbenen Freundes Hofmann, das deshalb auch „Pilgerhütte“ hieß. Ungeachtet seiner schwächlichen Körperbeschaffenheit war er rastlos tätig im Reden, Raten, Helfen und Schreiben. Von früh bis spät sah er sich den Tag über von solchen umringt, die Rat bei ihm suchten. War er wieder allein, so hatte er eine Menge Briefe zu beantworten oder er schrieb und übersetzte erbauliche Bücher. Nicht bloß in Mülheim, sondern auch in der Umgegend bat man ihn, Erbauungsstunden zu halten. Durch sein überaus liebreiches Wesen, durch seine schonende Geduld mit Schwachen, durch seine besondere Weisheit, jeden zur Offenherzigkeit zu bringen, durch seine innige Teilnahme an den Leiden andrer erwarb er sich das Zutrauen der Leute im höchsten Maße.

Befand er sich unter kindlichen und gottergebenen Seelen, so war er in seinem Element. Dann war er besonders liebreich und offenherzig, und wurde ihm eine Frage vorgelegt, so floss sein Mund von göttlicher Weisheit über. Seelen, die über ihre Seligkeit verlegen waren, machte sein demütiges und liebreiches Wesen so offenherzig, dass sie ihm ihr ganzes Herz entdeckten. Solche wies er eindringlich zu dem Heiland hin und überzeugte sie gründlich, dass sie nur allein bei ihm, in seiner Versöhnung, Vergebung, Gnade und Ruhe finden können. Zugleich wies er sie ernstlich darauf hin, dass sie nun auch ihrem HErrn aus Liebe und Dankbarkeit gehorsam werden und sich ihm völlig ergeben müssten. Dabei war er weit davon entfernt, den Seelen zu viele Vorschriften zu geben. Wer mit Seelen umgeht“, sagt er, „muss wie eine Kinderwärterin sein, die das Kind am Leitband hält, und es nur vor Gefahr und Fallen bewahrt, sonst aber dem Kinde seinen freien Gang lässt.“

„Es ist gottlob hier viel Erweckung und Bewegung unter den Menschen“, schreibt er. Seit einigen Wochen „hinter einander hat immer vom Morgen bis an den Abend der eine auf den andern warten müssen, um mich sprechen zu können. Manche müssen fünf bis sechs Mal wieder umkehren, ehe ein Viertelstündchen kann gefunden werden, um mich allein zu sprechen. Es kommt vor, dass ich 10, 20 ja 30 und mehr bekümmerte Seelen zugleich bei mir habe.“ „Die Erweckung hier hält noch immer an. Ich muss mich beinahe vom Morgen bis an den Abend dahingeben, um mich entweder mit einzelnen Seelen oder mit mehreren zugleich in ein Gespräch einzulassen. Vergangenen Donnerstag um acht Uhr wurde mir angesagt, dass ein ganzer Trupp Bauersleute ins Haus kommen wollten, um mich zu sprechen. Es dauerte denn auch keine halbe Stunde, und ich hatte bei 50 Menschen beisammen, die haben wollten, ich sollte etwas zu ihnen reden, was ich denn auch tat. Unter dem Reden über Jes. 55,10 ff. entstand bei den Zuhörern eine gewaltige Bewegung; zwei Leute gerieten in ein starkes Beben. Unter dem Sprechen kam einer von den hiesigen Pastoren, um mich zu besuchen. Man sagte ihm, ich sei eben am Reden, weil unvermutet viele Freunde zum Besuch gekommen wären; er möchte nur meinem Reden zuhören, weil es doch schiene, dass er gegen dergleichen Versammlungen ein Vorurteil habe.“

„Nach dem Reden ließ ich einige sehr bekümmerte Gemüter allein zu mir kommen, unter welchen sich auch eine Witwe befand, die sehr angstvoll aussah. Diese warf sich vor meine Füße nieder auf die Erde; ich hieß sie aber aufstehen. Da bekannte sie ungefragt ihre Sünden, wovon ich gestehe, dass sie schwer waren. Weil sie ganz außer Fassung war, ermutigte ich sie, mir alles zu sagen, was ihr auf dem Herzen liege, mit der Versicherung, es geheim zu halten.“ „Was,“ sagte sie darauf, geheimhalten? Sagt es nur der ganzen Welt. Ich fürchte die Schande vor den Menschen nicht, ich unterwerfe mich allen Leiden, und sollte ich auch als ein Totengerippe auszehren, wenn ich nur Gnade bei Gott finde.“

„Ich probiere es bisweilen, mich mit Gewalt zu entziehen, aber es hilft mich doch nichts. Verwichenen Sonntag war ich kaum aus dem Bette aufgestanden, da musste ich vor mehr als 60 Personen, die ins Haus gedrungen waren, reden, was ich denn tat über Matth. 21,5. Gestern, als am Mittwoch frühe, nachdem ich die ganze Nacht in einem Fieber gelegen, versammelten sich auf dem Kornboden des Hauses und dem daran gelegenen Zimmer zum wenigsten 250 Menschen, vor denen ich unter dem Beistand der Gnade Gottes über Gal. 1,3.5 sprach. Heute Morgen frühe habe ich schon wieder reden müssen, ohne dass ich es eine Viertelstunde vorher wusste. Nun aber bin ich doch recht abgemattet.“

„Stellte ich die Versammlungen regelmäßig zu bestimmten Zeiten an, wie es manche gerne wollten, dann würde der Platz überall zu klein werden. Man hatte bereits unsere Obrigkeit sehr in den Harnisch gebracht, welches doch nun wieder vorüber ist. Ich sagte zu unsrer Obrigkeit: „Findet ihr Freiheit in euerm Gewissen mir das Sprechen zu verbieten, so finde ich Freiheit, euch zu gehorchen, was ich nicht tun würde, wenn ich bei mir selbst eine Gewissheit davon hätte, dass es ein göttlicher Ruf sei.“ Man wollte mir es zwar nicht verbieten, sondern sagte nur, der Zulauf sei zu groß. Ich antwortete: „Ich heiße niemand kommen, werde aber auch niemand heißen wegbleiben.“

„Zwei von unsern Pastoren gingen zu der Regierung, klagten und baten, dass es möchte verboten werden. Ich wusste nichts darum, vermutete aber doch etwas und fand mich gedrungen einen Brief an unsern Amtmann zu schreiben, um ihm Bericht zu geben. Siehe, da war der Befehl schon bei dem Sekretär, um abgeschrieben und des folgenden Tages veröffentlicht zu werden. Der Amtmann, der mir sehr gewogen ist, und nicht wusste, dass ich mit in der Sache begriffen war, ließ den Befehl von dem Sekretär holen und sandte mir ihn heimlich zu mit einem eigenhändigen sehr freundschaftlichen Schreiben. Ich schrieb darauf an drei von unsern Pastoren und stellte ihnen ihr unbilliges Verhalten vor Augen, erbot mich auch, in ihrer Anwesenheit sprechen zu wollen mit der Versicherung, dass, wenn sie solchem mit aufrichtigem Herzen zustimmten, sie gar bald die Kirche wieder voller Menschen haben würden, weil das Volk alsdann sähe, dass sie der guten Sache zugetan seien, wo im Gegenteil jetzt die Kirche leer stände. Sie schienen sich damals noch auf unsern Richter zu verlassen, der ein Feind der Versammlungen war. Ich schrieb dann auch an diesen einen ziemlich scharfen Brief, und hielt ihm darin vor, wie übel er tun würde, wenn er gute Versammlungen verbieten, und dagegen Seiltänzer, Spiel- und Saufgelage erlauben wollte. Ich stellte ihm vor, wie er auf seinem Sterbebette desfalls gesinnt sein möchte? Kurz, der Richter und die andern der Regierung gaben nach und gestanden, dass ich recht hätte.“

„Die Freunde von Krefeld schickten eine Chaise((Kutsche)) hierher, um mich abzuholen. Sobald es nun ruchbar ward, dass ich in der Stadt sei, sandte das Konsistorium der Mennoniten zu mir und ersuchte mich, einen Tag zu bestimmen, da ich in ihrer Kirche predigen könnte, denn sie wussten, dass ich nicht über den Sonntag bleiben wollte. Dies Ersuchen kam mir fremd vor; gleichwohl entschloss ich mich in Gottes Namen es als einen Wink von seiner Hand anzunehmen. Des Mittwochs morgens, am 25. August (1751), kamen die beiden Prediger und begleiteten mich nach der Kanzel. Wie ich in die Kirche kam, war sie voll gepfropft von allerlei Konfessionen, doch meistens von Reformierten und Mennoniten, und Gott gab mir zu reden über 2 Petri 3,11. Die Menschen waren sehr gerührt und einige so stark, dass man hoffen kann, dass es haften bleiben wird.“

Wenngleich Tersteegen sehr wenig Zeit fand, sich auf seine Reden vorzubereiten, und meist nur aus dem Herzen sprach, so zeigten dieselben doch bewundernswerte Einheit, Ordnung und Klarheit. Eine seiner Reden schrieb er 1751, nachdem er sie gehalten, selbst auf und ließ sie drucken. Sie wurde so verbreitet, dass sie öfters gedruckt werden musste. Man ersuchte ihn, noch mehrere dem Drucker zu übergeben. Um diesem Wunsche zu willfahren, hielt er sich acht Schreiber oben im Hause, welche die Reden nachschrieben. Und so er schienen 30 Reden unter dem Titel: „Geistliche Brosamen“. Da die Zahl der Zuhörer so überaus groß wurde, musste er sich beim Sprechen sehr anstrengen, damit alle hören und verstehen konnten. Allein solche Anstrengungen konnte sein schwacher Körper nicht ertragen und es wurde ihm dadurch ein Leibschaden verursacht, wodurch er genötigt wurde, das Reden in allzu großen Versammlungen und weite Reisen zu unterlassen. Nur in die Nähe, nach Duisburg, Spelldorf, Essen ging er noch bisweilen, um seinem schwachen Körper eine Bewegung zu machen und um zugleich die Freunde daselbst zu besuchen. Manchmal ging er mit Freunden in den eine halbe Stunde entfernten Wald, wo sie unter gottseligen Gesprächen den Tee zu sich nahmen, ein geistliches Lied fangen und mit Gebet schlossen.

Um ihn der Nahrungssorgen zu überheben, boten ihm christliche Freunde wiederholt Unterstützungen an. So wollte ihm ein Kaufmann lebenslänglichen Unterhalt gewähren, eine Dame setzte ihn in ihrem Testamente zum Verwalter über 40.000 Gulden unter der Bedingung ein, dass er seine eigenen Bedürfnisse damit bestreiten solle. Ein Holländer bat ihn unter Tränen, den Betrag von 10.000 Gulden von ihm doch annehmen zu wollen. Aber alle diese und noch mehrere andere Anerbietungen schlug er aus und nahm nur, da er wegen Körperschwäche zur Handarbeit nicht mehr fähig war, milde Gaben von besonders nahe stehenden Freunden an. Um aber nicht ganz ohne Handarbeit zu sein, bereitete er, da er medizinische Kenntnisse besaß, Arzneien, die er an Freunde und Arme umsonst abgab und die so häufig gesucht wurden, dass er einen Freund zum Gehilfen nehmen musste. Auch die Juden holten Arzneien bei ihm, und haben für ihn, als er krank war, Betstunden gehalten.

Mit weltlich Gesinnten ging Tersteegen ohne Not nicht um. Musste er aber zuweilen mit solchen verkehren, so flößte seine Gottseligkeit sehr große Achtung und Ehrfurcht denselben ein. Gab es Gelegenheit, ein Wort der Ermahnung und Erbauung anzubringen, so ließ er sie nicht unbenutzt vorbeigehen; im großen und ganzen verhielt er sich aber im Umgang mit irdisch Gesinnten meistens stille. Als er auf einer Reise nach Holland im Omnibus mehrere Kaufleute vorfand, war er zuerst ganz still, lehnte den Kopf an die Wand des Wagens an, indem er die Augen schloss, als wenn er schliefe. Nach verschiedenen Erzählungen und Gesprächen wollten die Mitreisenden zum Kartenspiel übergehen. Da öffnete Tersteegen die Augen und sagte, er hätte eine schöne Karte in der Tasche. Auf Verlangen zog er das Neue Testament hervor. Als sie nun beim Anblick desselben sagten: „Da sollte man ja toll werden,“ antwortete Tersteegen: „Seid ihr Leute denn nicht toll?“ und wiederholte alle ihre nichtswürdigen, zeitverderbenden Reden und suchte sie aus ihren eigenen Worten und Reden davon zu überzeugen, wie töricht sie handelten, dass sie die edle Zeit so unnütz verschwendeten. Einige gaben ihm Beifall, die andern aber wurden wenigstens von ihrem Vorhaben abgehalten.

Gegen jedermann war er dienstfertig; er scheute keine Arbeit und Mühe, um Gottes Ehre, sein und andrer Seelen ewiges Heil zu fördern. Wie viele suchten Rat und Tat bei ihm für ihre kranke Seele, wie viele auch für ihren kranken Leib, weshalb man ihn mit vollem Recht einen Seelsorger und der Armen und Verlassenen Leibarzt nennen kann. Alle seine Körper- und Geisteskräfte verzehrte er im Dienst Gottes und des Nächsten. Als einst eine Freundin kam und sein Antlitz mit einem matten Schweiß bedeckt sah, sagte er zu ihr: „Ich bin so schwach, habe viele Besuche, auch habe ich schon vieles geschrieben und noch sechs Briefe unerbrochen daliegen, die noch beantwortet sein wollen.“ Tersteegen muss nicht geschont werden, er muss keine Ruhe haben.“ Und da er sah, dass sie mitleidig und traurig darüber ward, stand er auf, ging das Zimmer auf und ab und sang mit freudiger Stimme zwei Verse.

Durch sein väterliches Mitleid, sein gesalbtes Beten und seinen tröstlichen Zuspruch war er vielen Kranken in hohem Maße erbaulich und erquickend. Oft blieb er, der Kränkliche, halbe und ganze Nächte bei Kranken, die er durch seine Tröstungen derart im Vertrauen auf ihren HErrn und Heiland zu stärken wusste, dass sie im Frieden hinschieden. „Ich blieb über Nacht bei der Kranken und konnte manches mit ihr seufzen und reden. Sie blieb ruhig im kindlichen Vertrauen bis an ihr Ende. Sie verstand, was ich sprach und versiegelte alles mit Ja und Amen. Das Letzte, worauf sie Ja und Amen sagte, waren die beiden letzten Verse aus dem Liede: „So gehts von Schritt zu Schritt“, „ich lege meinen Geist;“ darauf sagte ich noch: So nimm denn, o Herr Jesu, in Gnaden auf den Geist Deines Kindes, das Du erlöst hast. Lass nun endlich Deine Dienerin im Frieden hinfahren, und ihre Augen Dich, ihren Heiland, anschauen. Und wie ich ihr die Augen am folgenden Morgen zugedrückt habe ich Gott für die gnädige Erlösung, den Beistand und Gnade herzlich gedankt. Dies ging noch alles ziemlich männlich mit mir her. Wie ich aber ihrem Bruder ein Wort zureden und der Schwester Vorbild anpreisen wollte, da überfiel mich die Weichlichkeit und Tränen erstickten meine Stimme. Ihr langes und schweres Leiden ist hoch gegangen, was ich mitfühlte, obgleich ich sie solches nicht merken ließ. Ihre stille Geduld ist so gewesen, dass man mit Verwunderung und Dank daran gedenken muss, und ihre ruhige Gemütsverfassung, ihr unwandelbar kindliches Vertrauen bis ans Ende bleibt mir zum beständigen und großen Trost. Ehre sei Gott, der alles gegeben.“

Mit wahrer Demut und mit aufrichtiger Bescheidenheit lehnte er allen Ruhm und Lobeserhebungen von sich ab. Rühmte jemand seine Frömmigkeit, so erklärte er: „Ich habe nötig in meiner Hütte zu sitzen und meine Sünden zu beweinen.“ Befand er sich unter erweckten Seelen, so pflegte er beim Abschied zu sagen: „Kinder, wenn ich unter euch sitze, so ist es mir, als ob ich dessen nicht wert sei, und so muss es euch auch werden.“

Einem holländischen Freund, der ihm von seinen um des HErrn willen erlittenen Verfolgungen, von seinen Erfahrungen erzählte, entgegnete er: „Hat man schon vieles erfahren und verkostet und ist man bereits durch viele Prüfungen hindurch gegangen, so muss endlich doch nichts anders, als ein kleines unschuldiges Kind daraus geboren werden.“ Gefragt, ob man ältere, erfahrene Christen „Väter“ nennen dürfe, antwortete er: „Dass man mich bisweilen ganz unverdient „Vater“ nennt, hat mir immer von Herzen missfallen und mich vor Gott gebeugt. Ich halte mich von Herzen für unwürdig und es demütigt mich, wenn mich ein Kind Gottes „Bruder“ nennt, geschweige, dass ich den Vaternamen begehren sollte. Ich wünschte von Herzen, dass der Name Tersteegen von allen Menschen vergessen und hingegen der Name Jesu in aller Herzen tief eingeprägt würde.“

Seine Geduld ist sehr bewundernswert. Hatte er doch zur Ausübung derselben beständig Gelegenheit, weil er von Jugend auf, besonders in seinen letzten dreißig Jahren mit vielen Krankheiten und Schmerzen behaftet war. Einem besuchenden Freunde sagte er: „Ich habe einen Ausschlag am ganzen Leibe; der Rücken ist ganz wund, so dass das Hemd daran kleben bleibt, und sonst habe ich noch große Schmerzen.“ „Heute acht Tage – schreibt er an einen Freund – bekam ich einen Fluss ins Haupt, der sich ganz fest setzte an der linken Seite in, hinter und um das Ohr. Ein Fieber kam dazu. Der Fluss senkte sich auf den Hals und die Brust, und ich musste sehr husten. Das Ende der Klagelieder ist: „Heimkommen“. „Am Freitag vor Pfingsten musste ich einen nötigen Brief schreiben, worüber ich an Haupt und an allen Gliedern ganz zitternd wurde. Abends kam ein Fieber und starke Gliederschmerzen, die Nacht aber setzte es sich zur völligen Gicht in die Beine, so dass ich vor empfindlich brennenden Schmerzen nicht recht liegen konnte; dennoch musste ich vier Freunde aus Kr. und drei aus E. vor mich ans „Bett kommen lassen. Gelobt sei Gott, der bisher geholfen.“ In den letzten Jahren konnte er wegen großer Schwäche des Magens die Speisen so wenig vertragen, dass er sagen musste: „Ich werde traurig, wenn ich höre, dass sie mir Essen bringen, indem mir die weichste Speise viel Beschwerden und Leiden macht.“

Außerdem hatte er sehr vieles zu leiden, sowohl von der Welt, welche ihn verspottete, als auch von Frommen, deren Unvollkommenheit Gott gebrauchte, um ihn vollkommener zu machen. Manche beneideten ihn wegen seiner Gaben und um der großen Ehre und Achtung willen, die er weithin genoss. Doch solches alles ertrug er mit außerordentlich großer Geduld.

Eben so groß war seine Nachsicht, Sanftmut und Friedfertigkeit. Er musste manchen Widerspruch, manche Bitterkeit und Feindschaft von seinen Gegnern erdulden; gleichwohl aber wusste er denselben jederzeit mit solcher Liebe zu begegnen, dass sie dadurch tief beschämt wurden. An jemand, der ihn sehr heftig und bitter behandelt hatte, schrieb er: „Tue das nicht mehr, dass Du einen Bruder so anfällst: es ist etwas hartes, etwas unbedachtsames; ich will es vergessen. Im Namen Jesu und in demütiger Hoffnung sage ich Dir und mir etwas vorher: dass, wenn wir einander lieben und dem Ziele unsrer Berufung nachjagen, wir uns bald vor dem Angesicht Jesu Christi umfassen und einander nicht das Geringste zu vergeben oder vorzurücken haben werden.“

Hörte Tersteegen, dass da und dort jemand von seinen Freunden untreu in seinem Wandel war, so verursachte ihm das oft schlaflose Nächte und presste ihm Seufzer aus. „O welchen Druck und welche Last machen mir die berufenen Seelen, welche untreu vor dem HErrn wandeln. Es gibt mir solche Not, dass ich mich oft auf mein Angesicht vor Gott niederlegen muss. O wüssten sie es, was es mir für Leiden verursacht, dass sie so sicher dahin gehen.“

Jemand, der solche Untreue in seinem Wandel beging, kam zu Tersteegen und dachte, er werde einen Verweis von ihm erhalten. „Allein sein Vaterherz kam mir,“ sagt derselbe, „mit der größten Freundlichkeit entgegen; er umarmte mich, wodurch mein Herz sehr gerührt und zerknirscht wurde. Dabei gab er mir die nötige Erinnerung, wie ich mich fernerhin zu verhalten hätte. Zu drei andern Freunden und zu mir sprach er einmal: „Kinder, seid vorsichtig und meidet die Gelegenheit zur Sünde.“„ Schwachen und Strauchelnden mit sanftmütigem Geiste wieder zurecht zu helfen, darauf war er stets bedacht. Anstatt gegen solche Seelen streng zu sein, war er, so zu sagen, mütterlich und ermahnte sie aufs liebevollste, die Sünden und die Gelegenheiten dazu als das größte Übel zu hassen und zu fliehen. Und so machte er ihnen wieder Mut, es aufs neue zu wagen und dem HErrn treulich nachzufolgen.

Tersteegen war weit davon entfernt, sich einen Anhang zu verschaffen. „Das lateinische Sprichwort,“ bekennt er, „Qui bene latuit, bene vixit (auf deutsch: wer wohl verborgen geblieben, der hat wohl gelebt) oder nach dem Blumengärtlein: „Nicht gelehrt und nicht geehrt“, wird mir alle Tage wichtiger. O wie so viele Zeit und Kraft nehmen uns auch die guten Geschöpfe weg! Wie so leicht bekommt man daselbst Schaden, auch da, wo man andern gedenkt nützlich zu sein.“ „Ach die Geschöpfe hindern uns oft, und wir hindern sie. Mein Grundsatz bleibt: Gern bei den Kindern, am liebsten aber bei dem Vater.“

„Dass ich eine Sekte oder einen Anhang suchen sollte, „hoffe ich nie bewiesen zu haben. Mein Gott! Du erkennst es, welch ein empfindliches Opfer es mir so lange gewesen, dass ich meine Kraft und Zeit, sowie meine liebe Einsamkeit andern hingab. Tue ich es nicht um deinetwillen, so gebrechlich es auch geschehen mag und aus Furcht, Dir zu missfallen, wenn ich es anders machte? Suchte ich etwas anders dabei, als die Seelen Dir, nicht aber mir, zuzuführen?“

Alle ernsten Seelen, die mit ihm im Verkehre standen, bezeugen einmütig, dass man in seiner Nähe unwillkürlich still und ernst wurde und eine ehrerbietige Scheu vor ihm empfand. Sein Beten sei innig, sanft, erquickend gewesen, sein Leben ein in Wahrheit mit Christo in Gott verborgenes; das Bild Jesu habe aus ihm hervorgeleuchtet, so dass seine Freunde oft denken mussten: „Gibt ein Strählchen solchen Schein, was muss erst des Lichtes Quelle sein?“ „In meinem Innern,“ sagte er zu einem Freunde, „ist so ein immerwährendes Beugen und Anbeten.“ Bei all dem hatte er aber jenes eigentümliche Siegel der Kindschaft empfangen, dass er von seiner innern Herrlichkeit nichts wusste.

Seine letzte Krankheit war die Wassersucht, die sich am Ende des Monats März 1769 einstellte und ihm große Engbrüstigkeit verursachte. Vom 1. bis 3. April musste er 47 Stunden im Lehnstuhl sitzen, in welchem er sich bald rückwärts auf den Stuhl, bald vorwärts auf ein Kissen, das auf dem Tische lag, lehnte. Obwohl er sehr große Schmerzen hatte, so hörte man doch kein ungeduldiges Klagen oder Jammern aus seinem Munde; man bemerkte an ihm nicht einmal eine ungeduldige Miene. Hatte er einige Minuten geschlafen und war er wieder erwacht, so seufzte er: „O Gott! Jesus! O süßer Jesus!“ Als ihm einige seiner Freunde die Nähe seines Heimganges anzeigten und von ihm Abschied nahmen, redete er jedem so erbaulich und herzlich zu, dass alle sehr gerührt und weinend weg gingen. Er selbst blieb immer gleichmütig, dem heiligsten Willen des HErrn mit kindlicher Zuversicht überlassen. Ein Geistlicher, der ihn besuchte, bat ihn beim Abschied um seinen Segen. Da erhob Tersteegen lächelnd seine Hände und sprach: „Jesus Christus, unser großer Hoherpriester, zur Rechten seines himmlischen Vaters, hebe seine Hände auf aus seinem Heiligtum und segne Sie mit Liebe und Frieden in Ihrem Herzen. Er gebe Ihnen Gnade und Weisheit in Ihrem Amte.“ Einem andern Abschied nehmenden Freunde rief er nach: „Jesu Versöhnung, Jesu Worte, Jesu Geist, Jesu Vorbild!“

Öfters hatte er Anfälle des Schlafs. In der Nacht vom 2. auf den 3. April wurde der Schlaf so fest, dass man ihn nicht mehr wecken konnte, und so schlummerte er fort, bis er am 3. April 1769 morgens früh um 2 Uhr zum Schauen dessen hinüberging, an den er hienieden geglaubt, und dem er mit ganzem Herzen in inniger Liebe ergeben war.

Joh. 7,38: Wer an mich glaubt, spricht der HErr, von dessen Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen.

Dan. 12,3: „Die Lehrer aber werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die, welche viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich“

Gerhard Tersteegen

Mit großem Wohlgefallen und mit herzlichem Danke gegen Gott sehen die Gläubigen auf diesen Mann, der uns so augenscheinlich zeigt, was das Christenthum in dem schwächsten Werkzeuge vermag, der durch ein edles, frommes, in Christi Nachfolge geführtes Leben als Muster aufgestellt werden darf und dessen Wirksamkeit in Wort, That und Schrift eine höchst bedeutende war, wie namentlich seine Lieder auch noch Tausenden zur Erbauung dienen. Möchte die Kirchengeschichte uns viele solcher Männer nennen können, und doch hat sie ihn bisher kaum der Erwähnung gewürdigt.

Gerhard Tersteegen wurde zu Moers in der Preußischen Rheinprovinz den 25. November 1697 geboren. Sein Vater war Kaufmann reformirter Confession, der bei seinem frühzeitigen Tode 1703 nicht soviel hinterließ, daß die Mutter den talentvollen Knaben, der schon in demselben Jahre in das später durch die Franzosen geschmälerte Gymnasium seiner Vaterstadt aufgenommen wurde, dem Studium der Theologie, wie Plan und Wunsch war, widmen konnte. Von seinen 7 Geschwistern wird uns nichts Erhebliches erzählt, sie starben alle früh, obwohl sie stark waren; der körperlich schwache Gerhard nahm sich der hinterlassenen Familie nach Kräften liebreich an und unterrichtete auch einige Kinder derselben, obwohl er von den Geschwistern wenig Liebe, ja wohl Verachtung erfahren hatte.

Nachdem Tersteegen die lateinische Schule besucht und sich besonders Kenntnisse in den alten Sprachen erworben hatte, wurde er zu einem Kaufmann in Mülheim an der Ruhr geschickt, bei welchem er die Lehrlingszeit aushielt. Die Sprachkenntnisse kamen ihm später zu Gute, und die nicht freundlichen vier Lehrlingsjahre waren für den phantasiereichen Jüngling eine heilsame Übungsschule. Nach Ablauf derselben und einigen fortgesetzten kaufmännischen Versuchen lernte er von einem frommen Leinweber dessen Handwerk und bald darauf, da dieses für seine Schwächlichkeit sich nicht eignete, das Seidenbandmachen, das er mehrere Jahre betrieb, bis er etwa 30 Jahre alt es aufgab, theils weil es ihm zu seinem Unterhalte nicht mehr nöthig war, theils weil er sonst genug und zwar wichtige Dinge zu thun hatte. Der Handwerker war nach gründlicher Erweckung ein tüchtiger Arbeiter im Weinberge seines Herrn und Heilandes geworden und in Seinem Dienste auch ein nicht unbedeutender Schriftsteller.

Er war von frommen Eltern erzogen, namentlich hatte die länger lebende Mutter großen Einfluß ausgeübt; in Mülheim wandte er sich immer mehr dem religiösen Leben zu, wobei ihm guter Umgang und Lektüre dienlich wurde. Bedeutenden Einfluß hatte der gleichfalls in Mülheim lebende Candidat der Theologie, Wilh. Hoffmann, der nie ein Amt bekleidete, in Erbauungsversammlungen aber auch außerhalb seines Wohnortes thätig war und befreundet mit dem bekannten Hochmann, in dessen Geiste, wenn auch stiller, wirkte, auch durch Schriften. Derselbe bestimmte ihn auch in den Übungen, wie damals die Versammlungen genannt wurden, zu reden, und erweiterte ohne Zweifel auch seine Kenntnisse in der hebräischen, lateinischen und griechischen Sprache; sie blieben Freunde bis zu seinem Tode 1746, auch in der letzten schmerzensvollen Zeit nicht getrennt, der eine durch Geduld und Glaubensmuth auch im Tode, der andre durch aufopfernde Liebe und Handdienste erquickend.

Tersteegen wurde durch Gottes Gnade früh erweckt; mannigfaltige zum Theil harte Verhältnisse förderten sein inneres Leben, er mußte durch Kämpfe hindurchgehen wie so viele Glaubenshelden, bis er endlich zu dem Frieden gelangte, den die Welt nicht geben kann und zu der festen Glaubensstellung, so daß er 1724 am Abende vor Charfreitag eine Verschreibung an seinen Heiland niederschreiben konnte, ihm treu zu sein bis an den Tod; er hat Wort gehalten und sein langes Leben hindurch einen weltüberwindenden Glauben bewährt. Christus war ihm das Leben und Sterben sein Gewinn. Wie Zinzendorf kannte er nur Eine Passion, die war sein Heiland. Von Ihm redete, schrieb er; in Mülheim war er der Seelenfreund Unzähliger, und dort wie an anderen Orten verehrten ihn viele als den, der sie zum Heiland geführt hatte. Tag und Nacht stand er seinen Mitmenschen zu Dienste. Er verstand auch einfache Arzneimittel zu bereiten, wobei er sich vorzüglich nach Richter in Halle richtete, und vertheilte sie unentgeltlich an Arme. Sie wurden von vielen begehrt und auch weithin verschickt. Trotz seiner geringen Mittel hatte er von jeher eine bedeutende Wohlthätigkeit ausgeübt und von seinem elterlichen Vermögen nichts behalten. Er lebte stets einfach und kannte den Genuß, Andre genießen zu lassen. Der arme Handwerker ging schon in frühen Jahren Abends, wenn er nicht bemerkt werden konnte, mit Gaben zu Armen und entzog sich was er andern schenkte, während so Viele mit den kleinen Gaben ihres großen Überflusses noch prunken und sie protokollieren lassen. Doch um das geistige Wohl Anderer war er am meisten bekümmert, und hierin hat er Unmögliches geleistet, so daß Jung Stilling behauptet, seit der Apostel Zeiten hätte Keiner so viel Seelen dem Herrn zugeführt. Die Liebe Christi drängte ihn, er hatte selbst Gnade erfahren. Man lese seine geistliche Lotterie, sein Blumengärtlein, das schon früh entstand, 1729 zuerst erschien und allmählig erweitert wurde; welch ein tiefes, frommes, kindliches Gemüth spricht sich überall aus! Das eigne Lob galt ihm nichts; Gott zu preisen und zu dienen, war seine Aufgabe; Ihm überließ er sich, von Ihm nahm er Alles, was sich ereignete, Leid und Freud, mit Dank und Vertrauen. So sagt er:

Wer etwas liebt und will, was Gott nicht selber ist,
Verlängert seine Qual und hindert seinen Frieden;
Rein ab bis auf den Grund, aufrichtig, ohne List;
Wer Gott will sein gemein, muß werden abgeschieden;

und an andrer Stelle:

Gott ist die Sonne; ich ein Strählchen Seines Lichts,
Trenn‘ ich von Ihm mich ab, bin ich ein finstres Nichts;
Halt‘ ich mich stets an Ihn, so wird mir Licht und Leben
Und alle Tugenden sein stiller Einfluß geben.

Der gebrechliche Mann, dessen Sinn auf stille Zurückgezogenheit ging, wollte doch selbst die mit Unruhe verbundene Thätigkeit nicht meiden und wirkte wo und wie er konnte; in jüngern Jahren mag er dem Quietismus sich in etwa zugeneigt haben, wie auch einem strengeren Separatismus. Auch seine Reisen waren missionsartig; jährlich ging er nach Holland, wo ein großer Freundeskreis war, zum Theil aus den höchsten Ständen. Ein dortiger Freund, Pauw, unterstützte ihn reichlich; er, der so viele glänzende Anerbieten ausschlug, nahm von ihm und einigen andern Freunden gern das Wenige, was er bedurfte, die meisten Gaben Dürftigen zuwendend; seine vielfachen Schriften mochten ihm wenig einbringen. Später reiste er oft nach Crefeld, wo er in der Mennonitenkirche auf vielfaches Bitten auch einmal die Kanzel bestieg, und ins Bergische, wo namentlich in Solingen, Wanne, Elberfeld, Gemarke ihm viele in christlicher Brüderlichkeit zugethan waren und ihn als ihren geistlichen Vater ehrten, auch noch nach seinem Tode, z. B. Engelbert Evertsen, Jac. Teshemacher und Wilh. Week. Es war ein lieblicher Brüderbund, alle dem Herrn dienend; Tersteegen, ihr gefeierter Mittelpunkt und ihre Stütze, blieb einfältig und demüthig; seine Liebe und Langmuth war nicht zu erschöpfen und zeigt sich auch in Tausenden von Briefen, die er nach allen Seiten schrieb. Viele sind gedruckt und werden noch mit Segen gelesen. An Anfeindungen fehlte es nicht, namentlich von Geistlichen; man kennt den dürren Zustand der damaligen Kirche und mancher mochte unserem Tersteegen seinen Ruhm und Zuspruch nicht gönnen, wie er wohl auch wegen Unlust an den unerquicklichen Predigten die Kirche nicht besuchte und auch am heiligen Abendmahle nicht Theil nahm, obwohl er andre nicht bestimmte, ein Gleiches zu thun. Er verkannte den damals so verdunkelten Werth der Kirche und führte mehr ein innerliches Leben und hatte eine kleinere Gemeinschaft mit gleichgestimmten Seelen. Mancher Prediger aber schätzte ihn sehr hoch und wandte sich an ihn, um sich seiner großen Erfahrung zu bedienen. Sein Leben floß segensreich für viele dahin, bis es 1750 noch bewegter wurde. Damals entstanden im Mülheimischen geistliche Bewegungen, wozu die Anregung von einem zu Duisburg Theologie studierenden Holländer Chevalier ausging. Tersteegen nahm Theil daran, weil er sie für gut hielt und sprach, nachdem frühere Versammlungen eingegangen waren, wieder öffentlich mit ungeheurem Beifall. Hunderte strömten in sein Haus, um ihn zu hören. Wir haben in den geistlichen Brosamen noch viele seiner damals gehaltenen Reden, in denen ein tiefer Ernst herrscht und eine große Herzlichkeit; aus seinen Gebeten weht den Leser der Hauch der innigsten frommsten Empfindung an. Bald erhob sich gegen ihn ein großer Sturm, indem die Mülheimer Geistlichkeit gegen ihn auftrat und seine Wirksamkeit zu hemmen suchte, besonders der ref. Prediger Wurn. Wir wissen, wie einem Arnd, Spener, Francke von Amtsbrüdern begegnet wurde; dem, Laien mußte es noch übler ergeben. T. vertheidigte sich mit aller Sanftmuth und wurde von der Obrigkeit geschützt. Auch gegen seine Schriften wurde sogar auf Synoden geeifert. An seinem Freunde, dem Oberkonsistorialrathe Heder in Berlin hatte er einen tüchtigen Beschützer und das Blumengärtlein erschien mit Preuß. Privilegium zu Duisburg; derselbe theilte auch ein jetzt unbekannt gewordenes Schriftchen von ihm „Gedanken über die Werke des Philosophen von Sanssouci“ dem großen Friederich mit, der über den Gegner seiner religiösen Ansichten die Worte aussprach: Können das die Stillen im Lande?

Der schwache in beschränkten Lebensverhältnissen lebende Mann blieb unverheirathet, wozu er auch Neigung haben mochte; er hegte sonst gegen den Ehestand wenigstens in spätern Jahren die größte Achtung, nur wünschte er, daß er nicht von Gott abführe. Man hat ihn wohl als Feind der Ehe angeklagt, wie auch als unkirchlichen Mystiker und Separatisten, wie schon oben angedeutet ist. 1. war kein Feind der Kirche und schätzte die tüchtigen Prediger, wie ihn z. B. der 1761 nach Mülheim berufene P. C. Engels; aber er verkannte nicht den damaligen Verfall und hielt sich zurück, eine Genossenschaft warmer Christen bildend, die der Kirche sehr heilsam wurde; auch jetzt noch zeichnen die Tersteegianer sich durch Kirchlichkeit aus und sind dem Separatismus und dem Sektieren feind, wie er es war. Er äußerte sich, er habe etwas wichtigeres zu thun, als eine Sekte zu stiften. Lebendige Christen aus allen Confessionen waren ihm liebe Brüder, er fragte nicht, woher sie kämen, sondern wohin sie gingen. Wollen wir ihn einen Mystiker nennen, so geschiehts im edelsten Sinne; er selbst schätzte den Lodenstein, de la Badie, Berniere, die Guion, wie die älteren Thomas a Kempen, Rusbroeck, Tauler und übersetzte manches aus ihren Schriften. Er hielt sich an die heilige Schrift als Richtschnur seines Glaubens und Lebens und blieb nüchtern, verständig, praktisch, auf die Hauptwahrheiten stets hinweisend ohne sich in dunkle Lehren zu vertiefen. Sein Leben war strenge wie es ein edler Pietismus fordern konnte, aber er blieb weit entfernt von allem mürrischen, sonderlichen Wesen. Vom heiligen Abendmahle hielt er sich zurück weil er mit Calvin und dem Heidelberger Katechismus glaubte, es mit offenbaren Sündern nicht genießen zu dürfen, doch ließ er Andern ihre volle Freiheit und sprach über die Heiligkeit der Sakramente mit großer Ehrfurcht. Er redet oft vom inneren geistigen Genusse des Abendmahles. Er war ein durch und durch religiöser Mann, sein Wandel im Himmel, sein Leben in Gott verborgen mit Christo. Sein Freund Stahlschmidt aus Freudenberg, der in früheren Jahren sich an ihn als seinen Seelenarzt gewendet und liebevolle Aufnahme gefunden hatte, urtheilte nach seinem Tode, er sei ein apostolischer Mann gewesen, in dessen Weltanschauung und Überzeugung alle Confessionen sich hätten wiederfinden und versöhnen können.

T. blieb bis zu seinem Tode in Mülheim wohnen und starb den 3. April 1769 mit ruhiger Ergebung und unter herzlichen Unterredungen mit vielen auch aus der Ferne zum Abschiede herbeieilenden Freunden. Ihr Trost war sein Glaube und seine Hoffnung, worin sie mit ihm übereinstimmten; sein Andenken blieb im Segen und noch nach vielen Jahren grüßten sie sich mit Sprüchen und Versen aus der Lotterie und dem Blumengärtlein, das ihnen von dem höchsten Werthe war, wie es noch ein Lieblingsbuch inniger Seelen ist, mit Recht gepriesen von einsichtsvollen Rennern, wie von Bunsen, Lange, Schubert, Knapp. Das Lied: Gott ist gegenwärtig rc. ist in viele Gesangbücher aufgenommen und bei Missionsfesten hat der Vers aus einem andern: Wann grünt Dein ganzer Erdenkreis rc. schon unzählige erquickt und spricht sein Gefühl für Mission aus, wie es die damalige Kirche nicht kannte. Im Gebiete der inneren Mission war er ein Held, ohne allen Glanz und Namen. Er ruht von seiner Arbeit und seine Werke folgen ihm nach. Allen Christen ist er ein theurer Bruder, sie danken und preisen Gott, daß er ein so herrliches Werkzeug ausgerüstet zum Dienste in der Kirche und zum Segen Vieler.

Das dankbare Mülheim hat ihm 1838 ein Denkmal gelegt bei dessen Einweihung alle evang. Prediger ihre Verehrung gegen den theuren Mann aussprachen. Die schon bald nach seinem Tode durch seinen in Homburg b. d. H. lebenden Freund Dr. Burcard verfaßte sehr bezeichnende Inschrift lautet:

Hier ruht ein Gottesmann, ein Menschenfreund und Christ,
Der recht durch Kreuz bewährt, nunmehr vollendet ist;
Ein Priester von Gott selbst, der stets vor ihn getreten,
Und tausend Seelen Heil durch Christi Geist erbeten,
Der Jesu nur gelebt und Jesum nur verklärt.
Ach daß ein solcher starb! Doch nein, es lebt Tersteegen
Und bleibt bei Zion hier im ew’gen Ruf und Segen.

G. Kerlen in Mülheim a. d. Ruhr.