„Siehe, mein geliebter Schüler Florentius, auf dem der Geist des Herrn ruht, wird euer Vater und Rector sein. Ihn haltet wie mich, ihm gehorchet! Denn ich weiß keinen, dem ich so sehr vertraute, den ihr, wie ihn, als einen Vater zu lieben und zu ehren hättet.“ So sprach bei seinem frühen Heimgange zu den das Todeslager umgebenden Brüdern der herrliche Gerhard Groot (s. S. 255), um dem Bruderhause zu Deventer einen würdigen Vorsteher und eben damit zugleich der Genossenschaft vom gemeinsamen Leben, die er gegründet, an seiner Statt ein neues gleich ‚ gesinntes Haupt zu geben. Und der Geist, aus dem der Sterbende gesprochen, war kein täuschender. Florentius, wie er neben Gerhard ein Mitbegründer der Bruderschaft gewesen, wurde nach dessen Tode durch eingreifende, weiterbildende Thätigkeit der zweite Stifter des Instituts. Das Wichtigste aber aus dem Leben und Wirken des hochverdienten Mannes können wir in folgendem kurz zusammen fassen.
Florentius, geboren um 1350, war der Sohn eines angesehenen wohlhabenden Bürgers zu Leerdam, Namens Radewin, und trug zur Unterscheidung gewöhnlich auch den Namen seines Vaters, Radewinssohn oder Radewins. Er studirte auf der damals ungemein blühenden Universität Prag und wurde dort Magister. Ins Vaterland zurückgekehrt, hörte er zu Utrecht den apostolischen Wanderprediger Gerhard Groot und wurde von demselben mächtig erfaßt. Alsbald trat er mit Gerhard in die innigste Gemeinschaft und zog auch andre christlich gesinnte und geistig strebende junge Männer in diesen Kreis, welcher, nach wahrhaft apostolischem Leben trachtend, ohne sich an eine bestimmte Regel zu binden, Gerhard als sein natürliches Haupt verehrte. Nachdem er dem Kanonikate bei St. Peter in Utrecht entsagt, zog Florentius zu Gerhard nach Deventer und wurde daselbst Vicarius bei St. Lebuin. Aus Veranlassung seiner Priesterweihe sagte Gerhard: „Nur einmal habe ich einen zum Priester ordiniren lassen; ich hoffe aber, es soll ein Würdiger sein.“
Als der Kreis der jungen Freunde Gerhards, die zugleich seine Mitarbeiter in christlichen Liebeswerken, vornehmlich in der geistlichen Pflege des Volkes und christlich wissenschaftlicher Heranbildung der Jugend waren, sich mehr und mehr erweiterte, war es Florentius, der den Anstoß zu geordnetem Zusammenleben und ineinandergreifender Gemeinschaftsthätigkeit gab und so die Bruderschaft vom gemeinsamen Leben hervorrief, in welcher er von Anfang an nächst Gerhard die hervorragendste Stelle einnahm.
Florentius war noch weniger, als Gerhard, ein eigentlicher Gelehrter, aber er besaß alle Eigenschaften eines practischen Mannes: unerschöpflichen Thätigkeitstrieb, große Gabe für die Einwirkung auf Andere, anziehende Liebenswürdigkeit und achtunggebietende Hoheit. Besonders wußte er der Jugend tiefe Ehrerbietung einzuflößen. Dieß bezeugt uns vornehmlich Thomas von Kempen, der unter Florentius‘ allseitig fördernder Leitung aufwuchs und die nachhaltigsten Eindrücke von dessen Persönlichkeit empfing. „So oft ich“, erzählt uns Thomas, „meinen Herrn Florentius im Chore stehen sah, wenn er auch nicht umherblickte, scheute ich doch seine Gegenwart wegen seiner ehrwürdigen Erscheinung so sehr, daß ich nie zu sprechen wagte. Einmal stand ich in seiner Nähe im Chor und er wendete sich zu mir, um mit uns aus einem Buche zu singen; da er nun seine Hände auf meine Schultern legte, stand ich wie eingewurzelt und wagte nicht, mich zu bewegen, vor Erstaunen über die Ehre, die mir widerfuhr.“ Derselbe Verfasser des gesegneten Büchleins von der Nachfolge Christi, in welches ohne Zweifel nicht Weniges vom Geiste des Florentius übergegangen ist, liefert uns noch folgende Züge von der Persönlichkeit seines väterlichen Meisters: Er war von edlen Sitten und in hohem Grade bescheiden, fröhlich unter Freunden, ansprechend und freigebig, von angenehmer Gesichtsbildung, mittlerer Größe und seinem Bau. Niemand erlaubte sich in seiner Gegenwart etwas Unziemliches, und wenn er nothgedrungen tadeln mußte, wagte keiner zu widersprechen. In frommen Uebungen so eifrig wie Gerhard, ging er in der Enthaltsamkeit noch weiter und versagte sich vielfach selbst das Nothwendige. Auch in Einfachheit der Kleidung that er das Aeußerste, so daß er einst zu dessen nicht geringer Verwunderung einen Schneider fragte: „Meister, könnt ihr auch ein schlechtes Kleid machen?“ Nehmen wir hierzu den Abscheu gegen jede Schmeichelei, die unermüdliche, bis ins Kleinste eigener Handreichung gehende, Fürsorge für Arme und Nothleidende, den thätigen Eifer für gründliche Erziehung der Jugend in Glauben und Wissenschaft, die Bereitwilligkeit, sich auch dem niedrigsten Geschäft in der Brudergemeinschaft zu unterziehen: so erhalten wir das Bild eines wahrhaft evangelischen Mannes, der, während seine Seele stets auf das Höchste gerichtet war, doch zugleich auch allen Anforderungen des thätigen Lebens, der erbarmenden, dienenden und rettenden Liebe genügte. Kein Wunder, daß ein solcher Mann von Personen aller Art, hohen und niedrigen, fortwährend um guten Rath und helfende That angegangen wurde. Dergestalt war bisweilen seine Thüre von Hülfesuchenden belagert, daß er kaum hinaustreten oder Zeit für seine frommen Uebungen und Bedürfnisse gewinnen konnte, und doch wurde keiner unbefriedigt entlassen.
Unter den Weisheitssprüchen des Florentius, welche uns Thomas von Kempen in der mit verehrungsvollster Liebe abgefaßten Lebensbeschreibung desselben aufbewahrt hat, heben wir folgende als besonders kennzeichnend hervor: „Dann ist dein Gewissen gut und deine Vernunft gesund, wenn du dein Leben ganz nach der heiligen Schrift führest, und diese nicht nach deinem eigenen Kopfe, sondern so verstehst, wie die Heiligen sie verstanden haben. – Die Bücher der heiligen Schrift sind zu bewahren als der höchste Schatz der Kirche. – Wenn du etwas Gutes thust, so thue es einfach und rein, zur Ehre Gottes, und suche nicht dich selbst darin auf irgend eine Weise. – Besser ist ein geringes Maaß des Geistes, als große Gelehrsamkeit ohne Frömmigkeit. – Jeder Arbeit schicke ein kurzes Gebet voran. – Sage nie etwas Schlimmes von Jemandem, wenn du damit nicht ihm oder einem Andern nützen kannst. – Tadle jeden mit aufrichtiger Theilnahme, als einen schwachen Bruder. – Wolle keinen beneiden, daß er frömmer ist oder mehr Ruf hat, als du, sondern liebe die Gaben Gottes in ihm und du wirst sie dadurch dir selbst zu eigen machen.“
In diesem Sinne führte Florentius die Leitung der Bruderschaft vom gemeinsamen Leben. Zwei Jahre nach dem Tode Meister Gerhards, im J. 1386, brachte er dessen letzten Lieblingswunsch in Erfüllung: er gründete unter Mitwirkung hoher Gönner, namentlich des Herzogs Wilhelm von Geldern, und mit Genehmigung des Bischofs von Utrecht, des nämlichen, der einst die Reisepredigt Gerhards untersagt hatte, das Kloster der regulirten Kanoniker zu Windesem als einen Mittel- und Anhaltspunct für den Verein des gemeinsamen Lebens, an welches bald ähnliche Stiftungen sich anschlossen, insbesondere das Kloster auf dem Agnetenberge bei Zwoll, in welchem der gottselige Thomas von Kempen seine irdischen Tage verlebte. Auch kamen in Deventer unter Leitung des Florentius und mit Begünstigung des Rathes noch mehrere Bruderhäuser zu Stande, vornehmlich i. J. 1391 ein sehr bedeutendes, in der Folge gewöhnlich das reiche Fraterhaus oder das Haus des Florentius genannt. Ueberhaupt aber zeigte sich die Genossenschaft, deren Haupt und Seele Florentius war, so segensreich und kam so sehr dem tieferen Bedürfnisse der Zeit entgegen, daß zu derselben Zeit noch zahlreiche Bruderhäuser in den bedeutenderen Städten der Niederlande und Niederdeutschlands gestiftet wurden.
Nachdem Florentius 16 Jahre an der Spitze der Genossenschaft gestanden, war auch er an das Ziel der Laufbahn gekommen. Er hatte schon vielfach, vielleicht in Folge seines allzu strengen Lebens, körperlich gelitten; nun erkrankte er tödtlich. Er genoß unter tiefen Empfindungen der Buße das h. Abendmahl, ernannte zu seinem Nachfolger einen vertrauten, zuverlässigen Freund, Aemilius van Buren, und starb um Mariä Verkündigung 1400, etwa 50 Jahre alt, nach den herzlichsten Ermahnungen an die Brüder, in deren Verlauf er unter andern sagte: „Bleibet in demüthiger Einfalt und Christus wird in euch bleiben.“
Als Florentius in der St. Lebuinskirche bestattet wurde, äußerte ein Bürger von Deventer: „Ob St. Lebuin ein Heiliger ist, weiß ich nicht, glaube es jedoch; das aber weiß ich gewiß, daß dieser Mann ein heiliger Bekenner Gottes ist.“ Und das war er auch, wie wir nicht zweifeln dürfen, im evangelischen Sinne. Hat er doch nicht bloß durch sein Wort, sondern durch die ganze Glaubens- und Liebesthat seines Lebens bezeugt, daß es für ihn nichts Höheres gab, als „das Leben vollständig nach der heiligen Schrift zu führen“, und zwar nach der nicht in selbstbeliebigem Sinne, sondern nach dem Verstande der Heiligen ausgelegten. Hat er doch in dieser heiligen Schrift „den höchsten Schatz der Kirche“ erkannt und verehrt, ganz wie Luther es nachmals that, wenn er in der 62sten unter seinen reformatorischen Thesen das große, folgenreiche Wort spricht: „der rechte, wahre Schatz der Kirche ist das heilige Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes.“ Hat er doch endlich in dem, was der Mensch thun mag, alles gethan wissen wollen „zur Ehre Gottes“ mit vollständiger Verleugnung alles Eigenen, gerade so, wie unsre Reformatoren es wollten, deren ganzes Werk darauf gerichtet war, gegenüber allem Menschlichen die Ehre Gottes in unantastbarer Majestät und Reinheit wiederherzustellen.
C. Ullmann in Carlsruhe