Anna Lavater

Lavater, der große Zürcher, ist einer der Sterne, welche der Menschheit zu dem neuen Tage voranleuchten und Armen und Reichen zu dem wiederleuchten sollten, der gestern und heute in Ewigkeit ohne Wechsel des Lichtes und der Finsternis alle Menschen erleuchten will, die in die Welt kommen. Sehen wir an wessen Seite er das wurde und wirkte, was er so vielen geworden und für so viele getan hat. Seine Gattin, Anna Schinz, war den 8. Juli 1742 in Zürich geboren, eines der jüngsten von drei und zwanzig Geschwistern. Ihr Vater war als obrigkeitlicher Beamter längere Zeit im Thurgau und von diesem Aufenthalte her behielt sie fortwährend eine große Vorliebe fürs Landleben. Ihre Mutter war eine ausgezeichnet verständige und fromme Frau, die das Geheimnis der Erziehung ganz in dem Geheimnis der Gottseligkeit und des Gebetes enthalten und ihre Kinder mit wenig Worten auf den rechten Weg zu leiten wusste. Anna hatte als Kind von zehn Jahren eine üble und leichtsinnige kleine Nachbarin; trotz den Warnungen der Mutter ließ sie sich mit derselben ein und zum Kaufen von Naschwerk verführen. Die Mutter erkannte auf den ersten Blick, dass auf dem Gewissen der spät erst heimkehrenden Anna eine Schuld liege. „Kind,“ sagte sie, „ich sehe, dass du etwas Unrechtes getan.“ Weinend bekennt Anna den Fehltritt. „Wir wollen nicht darüber reden, komm‘, wir beten!“ sagt die Mutter und führt das Kind mit ins Kämmerlein. Der Eindruck davon blieb der Tochter lebenslang und fortan war bei jeder Regung ihres Gewissens das herzliche Gebet ihre Zuflucht.

In denselben frühen Jugendjahren bemerkte die scharfsichtige Mutter, dass eine Anhänglichkeit ans Kartenspiel sich in der Kleinen rege. Als einmal Anna sich mit einem Bruder nach Tisch hinweggeschlichen, um im Stübchen das Spiel zu treiben, überrascht die Mutter die kleinen Spieler, hält ihnen mit kurzen Worten das jetzt wohl noch geldlose aber nicht schuldlose (und darum verheimlichte) Spiel mit seinen bösen Folgen vor und schließt: „Also liebe Kinder, nicht wieder!“ Der rechtzeitige Wink erreichte seinen Zweck auf Lebenszeit.

Anna war von Kind an überaus zum Wohltun geneigt. Als eine viele Jahre hindurch im Hause bekannte Arbeiterin durch Alter und Armut in die bitterste Not gekommen war, trug Anna einen guten Bissen, den sie etwa bei Tisch zugeteilt erhielt, in der Stille zu der armen Alten hinüber, um sie zu erfreuen. Hatte sie einige Erholungsstunden im Freien, so widmete sie gerne eine derselben, wohl auch einen ganzen Abend der Alten und brachte ihr dazu ihr eigenes Abendbrot mit.

So wuchs das Kind mehr im Umgang mit Armen und Leidenden als mit Büchern auf; sie erhielt keine wissenschaftliche aber eine desto tiefere Gemütsbildung, und so sehr sie den Mangel an Wissen später bedauerte, so sehr strahlte ihr bescheidenes reines Gemüt mitten in der gelehrten Umgebung, in welche sie versetzt ward. Zu einer Trösterin der Mühseligen und Beladenen wurde sie ganz besonders durch die Stunden und Zeiten gebildet, in denen ihr selbst um Trost bange war. Sie versank nämlich oft in Schwermut und aus der tiefen Nacht half ihr bloß das Gebet und das Lesen des neuen Testamentes nächst der vortrefflichen Behandlung ihrer weisen Mutter zum Lichte. Anna hatte sich im Schlossgarten ein einsames Plätzchen unter dem Schatten eines Gebüsches an der Seite eines kleinen Wasserfalls und mit weit offener Ausficht ins Land zur Stätte ihres stillen Umgangs mit Gott ausgesucht. Hier verlebte sie mit ihrem neuen Testamente viele Stunden und ihr kindliches Gebet schaffte ihr allemal neue Kraft zum dunkeln Gange. Ein jüngerer Bruder, der innig an ihrem Leiden Teil nahm, baute zu ihrer Überraschung ihr einmal ein Hüttchen an dem Plätzchen und legte auf das selbstgezimmerte Tischchen der lieben Schwester ein Neues Testament, diese Überraschung gehörte zu ihren lieblichsten Lebenserinnerungen. Die dunkle Zeit in der sie an Gottes Dasein und Güte, an der Erlösung und Allem zweifelte, ward ihr zur wichtigsten, an geistlicher Erfahrung und himmlischem Segen reichsten Zeit; als sie in einer ihrer bangsten Stunden im einsamen Kämmerlein auf die Knie hingesunken betete, strahlte mit Einemmale ein Friede in ihr Herz, und durchdrang eine Zuversicht der göttlichen Gnade ihre Seele, dass sie ein Gefühl hatte wie Jakob dort bei Bethel, wo er die Pforte des Himmels offen sah, und seine Seele genesen ist. Von fast tödlichem Eindrucke war für sie die Erkrankung und der Tod eines geliebten Bruders, sie fiel in einen Starrkrampf und wurde bereits als tot beweint, doch auch in dieses Dunkel sollte wieder Licht kommen, sie erwachte aus dem Scheintode, und wurde den Ihrigen und viel Hunderten zum Segen erhalten.

Eben in ihrem damaligen Landaufenthalte war sie die Trösterin aller Leidenden; der steile Berg hielt sie auch in Winterszeit nicht ab, ins Dorf hinab zu steigen, die Traurigen aufzusuchen und den armen Kranken Erquickung für Leib und Seele zu bringen. Ihre eigenen Erfahrungen hatten sie besonders zur Freundin der Gemütskranken gemacht; nach ihrer Verheiratung kamen viele solcher Kranken in ihr Haus, um Rat und Tat zu suchen, selbst auf Tage und Wochen behielt dann die erfahrene und liebevolle Frau arme Bauersleute bei sich um sie erheitert und gestärkt zu entlassen. Die Pflege solcher Mühseligen und Beladenen ist gewiss ein wichtiger Teil der rettenden Liebe und wer dazu die Liebeskräfte hat, mag sie wohl nach solchem Vorbilde üben. Einst kam eine schwermütige Bäurin, die durchaus nicht mehr arbeiten wollte und bat, doch einige Tage bleiben zu dürfen. Auf keine andere Bedingung, erklärte Frau Anna, als wenn sie wieder etwas arbeiten wolle. Nun musste das Spinnrad gebracht werden und so sauer es der Trübsinnigen ankam, sie musste dem Ernste und der Liebe, womit sie angehalten ward, nachgeben. So verließ die arme Frau nach einigen Tagen das Haus beruhigt und mit erneuerter Lust zu heilsamer Beschäftigung. Anna, so zart und schwächlich sie selber war, fürchtete sich nicht vor den Unglücklichen, ob sie auch dem Wahnsinne nahe waren. Ihr Ernst wusste diese Leute in Achtung zu erhalten und ihre herzliche Barmherzigkeit zog auch die Verirrten an, dass diese sie wie eine Mutter verehrten.

Anna Schinz war als gereifte Jungfrau mit ihren Eltern wieder nach Zürich zurückgekehrt. Sie war geschickt in jeder weiblichen Arbeit, sie verstand das Hauswesen, sie hatte eine gründliche Erkenntnis der Religion, sie war eine rechte Beterin, dazu sanft, bescheiden, schmiegsam, stillverständig – das war ihre Bildung. Hans Kaspar Lavater sah sie und gewann sie lieb. Nach kurzer aber ernster Prüfung vor Gott gab sie ihr Jawort und ließ sich auch gerne gefallen, dass gemäß der Lavatern eigenen Schnelligkeit in Ausführung wohl überlegter Entschlüsse schon in vier Wochen die Hochzeit sein sollte.

Lavater führte seine Gattin in das Haus seiner Eltern, wo in der auf acht volle Jahre sich ausdehnenden gemeinsamen Haushaltung aller Mut und Demut, alle Sanftmut und Schmiegsamkeit gegen die treffliche aber sehr selbständige Schwiegermutter zu üben war. Die Ordnungsliebe, die Klugheit und Wohlanstelligkeit, die Geschicklichkeit und Gewandtheit der bescheidenen Sohnsfrau gewann bald und immer mehr die Herzen der Eltern und der Geschwister Lavaters. Dieser selbst hatte eine etwas leidende Gesundheit und seine Reizbarkeit regte oft einen bedenklichen Husten auf, so dass der Vater, der Arzt war, wenn er ihn husten hörte zu sagen pflegte: „Hans Caspar, du hast Verdruss gehabt!“ Da bot nun Anna allem auf, vor Unangenehmem ihren Gatten zu bewahren und was sie nur konnte, auf eigenen Schultern zu laden; zu seinem spröden und feurigen Wesen fügte sich aufs Glücklichste ihre weiche, sanfte, nüchterne, treue Seele. Darum konnte Lavater auch schreiben: „Ich bin der glücklichste Ehemann, der unter der Sonne lebt. So übereinstimmend schafft Gott in einem Jahrhundert nur zwei Seelen. So zärtlich und so tugendhaft, so gefühlvoll, so erfindsam mich zu erquicken hätte keine andere, auch noch so vollkommen geglaubte Seele sein können.“ Sie wusste sich zu fügen, nachzugeben, zu schweigen und in letzter und höchster Beziehung Gott Alles anheimzustellen. Konnte sie ihrem einmal entschlossenen Gatten nicht anders beikommen, so nahm sie ihre Zuflucht zum Gebete für denselben. Dieses treueste Mittragen und Fürbitten war ihr so zur andern Natur geworden, dass sie gar nicht mehr ahnte, was sie tat. Große und was bekanntlich dem weiblichen Geschlechte schwerer fällt, kleine Opfer für ihren Mann zn bringen, war ihre Lust; ihre einzige Last war, dass die Zartheit ihrer Gesundheit ihr nicht erlaubte, noch gar manches für ihn zu tun, was ihr zartes Gemüt so gerne getan hätte.

Ein Beispiel, mit welchem Geschickt ihre Sanftmut seine Hitze zu dämpfen wusste, erzählte er selbst in seinem Tagebuche. „Während ich gerade in unmutiger Stimmung war, fragte mich die Magd, ob sie mein Zimmer kehren solle? Ja, aber dass sie mir die Bücher nicht berührt, und nichts von meinen Papieren durcheinander wirft! Kaum war sie einige Augenblicke weg, so eilte meine Frau, um einem etwaigen Verdruss zuvorzukommen, unvermerkt weg und befahl der Magd, Sorge zu tragen. „Ist die Stube noch nicht gekehrt,“ rief ich unten an der Treppe – allein statt die Antwort mit Gelassenheit zu erwarten, lief ich die Treppe hinauf, und da ich eben ins Zimmer trat, warf die Magd mit dem Kehrbesen ein Dintenfaß vom Büchergestell auf den Tisch herunter. Sie erschrak sehr; ich fuhr sie hart an: Was sie doch für ein dummes Vieh sei? Ich hätte es ihr doch ausdrücklich gesagt, dass sie sich in Acht nehmen solle. Meine Frau kam mir leise und furchtsam nach. Anstatt mich zu schämen, raffte ich mich noch zu neuen Ausbrüchen meines Zorns auf und klagte und jammerte, als wenn die werteste Schrift verdorben worden wäre, und die Dinte hatte doch nur altes Druckpapier getroffen. Die Magd suchte Gelegenheit, sich wegzuschleichen und mit furchtsamer Sanftmut trat meine Frau zu mir. „Ach! mein Lieber!“ – Ich sah sie mit Unmut an. – Sie umarmte mich. – Ich wollte ihr halb ausweichen. – Sie ruhte einige Augenblicke auf meinem Gesichte. – „Du schadest deiner teuren Gesundheit!“ sagte sie mit unaussprechlich sanfter Zärtlichkeit. – Nun fing ich an, mich zu schämen. Ich schwieg und endlich brach ich in Tränen aus: Wie bin ich doch ein armer Sklave meines Blutes! Ich darf meine Augen nicht mehr aufheben! Ich kann mich der Herrschaft dieser Sünde nicht entreißen. – Aber es vergehen doch, erwiderte meine Frau, Tage und Wochen, dass du dich niemals vom Zorn dahinreißen lässt? Komm mit mir, wir wollen mit einander beten! Sie führte mich in ihr Zimmerchen, betete aus dem Herzen so natürlich warm, dringend und weise, dass ich innigst dadurch erquickt, Gott recht herzlich für diese Stunde und für meine Frau dankte.“

Welch‘ eine unschätzbare Wohltat eine verständige und selbstlos liebende Gehilfin für den Mann ist, das erfuhr Lavater namentlich, seit er zu kränkeln angefangen hatte. Anna, die gegen alle Kranken und Leidenden immer so herzlich teilnehmend und darin so geschickt und erfahren war, wurde dem kranken Manne die unersetzbare Pflegerin. Im Mai 1799 musste er in die Bäder nach Baden gehen; hier hoffte denn auch Anna den Umgang mit dem ihr durch seine vielen Geschäfte so sehr entzogenen Gatten recht genießen zu können. Der erste Tag war auch voll stiller ungestörter Ruhe glücklichen Beisammenseins. Aber kaum graute der andere Morgen und noch war Lavater, der sehr heftig an Flüssen litt, und seine sehr gebrechliche Frau in ihren Betten, als drei Abgeordnete ins Zimmer traten, um alle seine Papiere wegzunehmen und ihn selbst nach Basel fortzuführen, weil er gegen die 1797 die Schweiz brandschatzenden Franzosen „Ein Wort eines freien Schweizers an die große Nation“ geschrieben hatte. Rücksichtslos versiegelten die drei Männer die Papiere; Lavater behielt die Ruhe, die sein gutes Gewissen ihm gab; als man ihn aber selber fortschleppen wollte, konnte die Frau sich nicht halten und rief aus ihrem Bette hervor, ihren kranken Mann möge man doch schonen, sie lasse ihn nicht fort, wenigstens solle man sie mitgehen lassen. Es half nichts, nur einen Schrank mit Briefen ihres Mannes, deren Wegnahme seinen Freunden hätte gefährlich werden können, vermochte sie durch ihre Geistesgegenwart zu retten. Sie benetzte die Kleider und Sachen, die sie eiligst für Lavater zusammenpackte, mit ihren Tränen und stärkte ihren Mut an der völligen Ruhe ihres Gatten. Aber von ihm sich zu trennen, schien ihr unmöglich, bis sie beim Anblicke der Bewaffneten und ihrer aufgepflanzten Bajonette händeringend in Ohnmacht fiel. Lavater, der edle Sohn seines Vaterlandes und der treue Diener des Evangeliums Jesu Christi, durfte kein weiteres Leid erfahren, er kehrte bald wieder zu der Gattin zurück, die zu den Füßen des Gekreuzigten in Geduld und Flehen seiner harrte.

Als Lavater sein erstes Amt, die Predigerstelle am Waisenhause bekleidete, war der Besuch und die Seelsorge der im Zuchthause Gefangenen mit seinem Berufe verbunden. Da scheute sich nun die zarte Frau nicht, ihn oft dahin zu begleiten, und auf die gefangenen Weibspersonen mit ihrem würdigen Ernste und ihrer sanften Menschenliebe einzuwirken. Gebildet in der Schule dessen, der da kam um die Verlorenen selig zu machen, war sie ganz geeignet zu dem hohen Berufe, selbst Verbrecher zu gewinnen. Unter den letzteren war eine junge, blühend schöne Kindsmörderin. Anna Lavater ging hin und wusste die Unglückliche bald so an sich zu ziehen, dass sie mit ungeheuchelten Tränen ihr ganzes Herz mit seiner Verirrung und seiner Reue, mit seinem Durste nach Gnade und Erbarmung von Gott ihr aufschloss. Lavater und seine Gattin hatten die trostvolle Gewissheit, durch ihren Umgang mit der Schuld- und Reuevollen diese als eine Gerettete des Herrn zu wissen, als sie zum Tode geführt wurde. Anna gehörte zu den seltenen Menschen, denen andere ihr ganzes Herz aufschließen; nicht dass sie dem Sünder Kissen unter die Schulter legte, im Gegenteil, sie sprach mit so tieftreffendem Ernste von der Sünde und warnte so eindringend, aber aus ihrem ernsten Blicke strahlte zugleich eine solche Milde, dass der Bestrafte nur Liebe fühlen, nur danken, nicht zürnen oder grollen konnte.

Ganz besonders zog sie junge Leute an. Es war die gleichmütige Ruhe, womit sie hören und Alles prüfen konnte, was die Herzen so sehr an sie fesselte. Viele segneten „die Lavaterin, die ihnen ihr Selbst wieder gegeben,“ „ihnen ihren Herrn wieder finden gelehrt habe.“ Doch nicht bloß in Herzenssachen war sie mit Rat und Hilfe stets bereit, in hundert Fällen wurde sie zu Rat gezogen, weil sie Rat wusste. Damit erleichterte sie unendlich das schwere Amt ihres Mannes. Als dieser an die große St. Petersgemeinde versetzt wurde, öffnete sich ihr ein weites Feld zu solcher Mithilfe. Bürger und Landleute, zumal die Ärmsten fanden stets offenen Zutritt bei ihr. Sie hatte in Krankheiten, in acht schweren Wochenbetten viel gelitten und gelernt, so konnte sie auch wieder viel raten und trösten. Eine Bäuerin, die durch eine harte Niederkunft sehr gelitten hatte, und ängstlich geworden war, klagte ihr einst ihre Not. Anna Lavater beruhigte mit kräftigem Wort aus Schrift und Erfahrung und gab gerne der guten Frau das Wort, in der wiederkommenden schweren Stunde selber ratend und helfend zugegen sein zu wollen. Die Stunde traf in die Nacht, wo es der Gebrechlichen nicht leicht ward, in die ziemlich weit außer der Stadt liegende Bauerswohnung hinzukommen – allein sie wurde gerufen und der mühsamen Anstrengung ungeachtet wurde treulich Wort gehalten. Es lässt sich denken, welche Anhänglichkeit und Liebe sie sich durch solche Liebe erwarb.

Eine Frau, deren Liebe also auf fremde Leiden und Freuden überfloss, musste unerschöpflich sein im eigenen Hause. Nicht leicht konnte es aber auch eine treuere, treuer namentlich für ihre Kinder betende und dankende Mutter geben. Bei aller Zartheit ihres Gefühls war dabei keine Spur von Verzärtelung ihrer Kinder. Ernst und doch sanften und ruhigen Gemütes kam sie auch nie in Gefahr, ihre Kinder scheu zu machen; ihr stetes Verharren in Bitte und Fürbitte legte das was nicht ihre Sache war, dem Anfänger und Vollender auch aller Erziehung ans Herz. Durch das Leibliche hindurch hatte sie immer das Geistige und Geistliche im Auge; die Erhörung zeitlicher Wünsche und Gebete stellte sie vertrauensvoll dem anheim, der alle Haare auf unserm Haupte zählt. Wie köstlich es für einen Menschen ist, wenn er das Joch in seiner Jugend tragen lernt, hatte sie selbst erfahren, so war sie auch nicht die unglückliche und trostlose Mutter, wenn die Ihrigen schwer litten und z. B. ihre eigene lange Erkrankung sie von dem Krankenlager ihrer lang und schwer darniederliegenden älteren Tochter entfernt hielt. Dafür aber pflegte sie auch mit der ihr eigenen Anmut zu sagen: „Wenn mich der liebe Gott selig machen will, so muss er mir dort einst meine Kinder und Enkel alle, alle wieder schenken. Es darf keins dahinten bleiben.“ Sie tat auch an ihrem Teile Alles, damit sie von den ihr mit gleicher Treue anhängenden Kindern einst sagen könnte: „Siehe hier sind die du mir gegeben hast, ich habe deren keines verloren, die du mir gegeben hast.“

Mit ihrer Einfalt und Treue als Gattin, Pfarrfrau, Mutter und Schwester verband sich eine ausnehmende Naturliebe, Menschenliebe und Wahrheitsliebe. Obwohl in der Stadt geboren und erzogen behielt sie doch von ihrem ländlichen Aufenthalt her eine innige Vorliebe für das Landleben und seine stillen Naturgenüsse. Mit jedem Frühling erwachte ihre Sehnsucht nach der friedenvollen Natur aufs Neue. Konnte sie dieselbe nicht stillen, wie sie gern wollte, so ehrte sie doch dankbar die göttlichen Wege der Vorsehung, die ihr andere Freuden und Leiden beschieden. Ihre tätige Menschenliebe fand Blumenwege auch mitten im Disteln und Dornenfelde städtischen und vaterländischen Elends, das mit der französischen Revolution so traurig hereinbrach. Hier hatte sie namentlich ihre herzhafte Wahrheitsliebe zu erproben als die Gattin eines Mannes, der durch sein mannhaftes Zeugnis gegen Lüge und Sünde sich so vielen Gefahren aussetzte. Oft wurde sie aufgefordert, mit ihrem Einflusse Lavater von solcher Gefahr, namentlich von seinem mannhaften Zeugnisgeben zurückzuhalten. Aber sie kannte jenes Wort an Petrus: „Du denkst nicht was göttlich, sondern was menschlich ist,“ und statt ihrem Manne die Adlersflügel zu knicken mit einem „das widerfahre dir ja nicht,“ nahm sie, wo sie ihres Mannes Entschlossenheit bemerkte, zu wagen, was er für seine Pflicht erkannte, ihre Zuflucht am liebsten zum Gebete, um den mutigen Wahrheitszeugen dem Schutze dessen zu empfehlen, der allein schützen kann.

Mit allen ihren Vorzügen, bei allen der vielen Berührungen ihres Mannes mit den Ersten seiner Zeitgenossen, war sie die bescheidene Zurückgezogenheit selbst. Sie verbarg sich hinter ihrem Gatten, so dass Freunde von ihm, die sie erst lange nach seinem Tode kennen lernten, verwundert fragten: „Warum sprach man so wenig von der edlen Lavaterin? Es ist so viel Großes und Gutes in dieser würdigen Frau!“ Statt sich vorzudrängen, ließ sie sich suchen, oder vielmehr zog sie sich zurück in tiefer Anspruchslosigkeit; wurde sie aber gesucht, so ließ sie auch das finden, was die Frau am ehrwürdigsten macht, nämlich gesunden, gebildeten Verstand, ein Herz, das sich mit heiliger Reinheit und Zartheit jedem öffnete und Allen Alles zu werden suchte, und eine harmlose Frömmigkeit, welche tiefste Hochachtung einflößte. Mit dieser echt weiblichen Zurückgezogenheit, die auf echter Herzensdemut gegründet war, verband sie einen hohen Anstand auch im Äußern; ihr ganzes Benehmen war so kunstlos, nirgends etwas Gemachtes und Unnatürliches. Wenige Frauen konnten weniger Eitelkeit besitzen als sie. Dabei war die größte Reinlichkeit und Ordnungsliebe ihr zur andern Natur geworden – reines Herz, reiner Leib! Ohne allen Aufwand und ohne jede Schaustellung war alles einfach und wohlgeordnet, der vornehmste fremde Besuch (Goethe und der Prinz von Weimar z. B.) durfte unversehens ins Haus kommen, ohne dass die Hausfrau hätte erröten müssen. Anstatt neumodisch aufgeputzter Zimmer fand man eine häusliche geschmackvolle Wohlanständigkeit, die auch in ihrem oft Monatelang sie einschließenden Krankenzimmer niemals und in nichts fehlte. Diesen Sinn für prunklose Schönheit hatte sie als ein Erbgut ihrer Mutter Lavater, der für alles Schöne so hochempfänglich war, als ein köstliches Heiratsgut ins Haus gebracht.

Ein besonderer Zug ihres so freundlichen, milden und zutraulichen Wesens war ihre hohe Würde. Obwohl sie ihren Dienstboten mit mütterlicher Liebe zu Rat und Tat nahe war, sich der kleinsten Angelegenheiten selbst mit Aufopferung annahm, auch das Niedrigste wo es not war, selber verrichtete, und des ihr geschenkten Zutrauens sich freute, so duldete sie doch nirgends eine unziemliche Vertraulichkeit. Ein Wort, ein Blick von ihr steckte der Zudringlichkeit die sicheren Grenzen.

Das Lehrreichste in dem Leben der edlen Frau waren ihre vielen Leiden und Krankheiten. Mehr als die Hälfte ihres Lebens war ein beschwerliches Kränkeln, und über ein halbes Jahrhundert war sie eigentlich nie ganz gesund. Dazu kamen die Krankheiten ihrer Kinder und ihres Mannes, dem z. B. ein Grenadier, den er soeben erquickt hatte, eine Kugel durch den hohlen Leib schoss, an welcher Wunde er lange darniederlag und obgleich äußerlich genesen, doch einen früheren Tod fand. Mehr als ihr eigenes Leiden drang ihr das Leiden ihrer Lieben zu Herzen. Lavater setzte aber auch fast nie die Feder an, um etwas für seine Geliebte zu schreiben, ohne dass Worte der Ermutigung und Tröstung derselben entflossen.

„Harren, dulden, glauben und säen und pflanzen auf Hoffnung,\\
Still das Gute wirken, das Böse dulden mit Stille,\\
Dies ist unser Beruf im Leben der Nacht und der Träume.\\
Lasst uns jeden Tag, den uns auf Erden noch Gott gönnt,\\
Etwas Ewiges tun! Was die Liebe tut, das ist ewig!\\
Lasst uns, segnend einander, und Hand in Hand bis zum Ziele \\
Wandeln den Blumenweg, den Dornenpfad, den uns Gott führt!

So schrieb er ihr zu ihrem achtundfünfzigsten Geburtstage den 8. Juli 1799. Am 2. Jan. 1801 starb Lavater nach schwerstem Leiden, in dem er oft Viertelstunden lang nach einander hell aufschreien musste. Sein letztes Wort war gewesen: „Betet, betet!“ An einem solchen Sterbebette ließ sich die Sterbenskunst wohl lernen. Anna Lavater war schon mehr als einmal dem Tode nahe gewesen; doch nie war sie in so entschiedener Erwartung ihres Heimgehens als im Jahre 1811. Am Pfingstfeste wurde sie von einem heftigen Fieber befallen, dass sie sich nicht rühren und kaum ein Wort sprechen konnte. Gerade die Krankheit, vor der sie sich am meisten fürchtete, die Wassersucht, schien sich einzustellen; doch war ihr Anderes beschieden. In stetiger Erwartung, dass nur der Tod sie endigen werde, zog sich die Krankheit durchs Jahr hin, nur ihr Sohn, ein erfahrener Arzt, ließ die Hoffnung nicht sinken. Als sie sich wirklich gegen Ende des Jahres wieder ziemlich bedeutend zu erholen anfing, ward sie ganz wehmütig, dass sie wieder auf die Erde zurückversetzt sein sollte, nachdem sie so nahe an den Pforten des Paradieses zu sein gehofft hatte. Indessen kam im folgenden März ein neuer heftiger Anfall. Schmerz und Gebundenheit an Leib und Geist war ihr trauriges Los, ihr Antlitz war eingefallen, sie wagte kaum in den Spiegel zu sehen. Doch so ist’s ja recht, so muss es kommen, wenn diese arme Hütte zerbrechen soll. Und wer weiß, ob nicht gerade durch diesen Anblick in einem oder andern, der mich besucht, das Suchen des Unvergänglichen mehr geweckt wird.“ Im Übrigen mochte sie lieber die Hand auf den Mund legen als klagen, wo sie durch die treue Pflege der Ihrigen nur Grund zum Danken vor Tausenden zu finden wusste. Unerschrocken bereitete sie ihre Kinder auf den ihr bevorstehenden Tod vor und trocknete mit eigener Hand die Tränen der Tochter, der solche Worte die Seele durchschnitten. Sie ließ sich zum voraus ihr Totenhemd machen, damit man mit ihrem schweren Körper sich nicht zu sehr bemühen müsse. Als die Näherin kam, sagte sie zu ihrer Tochter: „Geh hinaus, das Herz würde dir zu bange schlagen; mich aber kommt es nicht schwer an, das letzte, das ich auf Erden bedarf, noch selbst zu besorgen.“ Über ihren eigenen Zustand bemerkte sie, sie leide nur körperlich, es sei ihr, als ob Geist und Körper nicht mehr zusammengehörten. Nach oben gerichtet sagte sie: „Der Herr hat mich so wie ausgezogen von Allem, dass ich ja recht arm und verdienstleer vor Ihm erscheinen muss. Es bleibt mir nichts übrig als zu rufen: Herr, erbarme Dich meiner! Alles was allenfalls auch Gutes durch mich getan sein mag, ist meinem Blicke wie verschwunden; nur das Heer meiner Fehler, Übereilungen, Versäumnisse steht jetzt vor mir. O wie wohl ist mir, dass ich einen Versöhner und Begnadiger habe, an den ich mich jetzt ja recht fest anschließen muss, wenn ich ruhig sein will.“

In der zweiten Hälfte des Jahres 1812 kehrte ihr Zustand auf das gewohnte Maß zurück: ohne Gefahr, doch auch nie ohne Leiden zu sein. Am bittersten empfand sie es, dass sie so ganz die Gemeinschaft der Gläubigen im öffentlichen Gottesdienste entbehren musste. Am 19. Sept. 1814 überfiel sie ihre letzte Krankheit, aber noch ein ganzes, langes, banges Jahr musste sie leiden. Mitten in ihrer großen Schwäche hatte sie eine außerordentliche Gemütsruhe und mit heiterem Lächeln empfing sie die Besuchenden, die an ihr ein lebendiges Zeugnis sahen, wie dem Christen, ob auch der äußere Mensch verwese, doch der innere von Tag zu Tag erneuert wird. Das tiefste Leiden ihres Mutterherzens war die Unmöglichkeit, ihre ältere immer ans Bett gefesselte Tochter nicht mehr sehen zu können, obgleich sie nur fünfzig Schritte entfernt wohnte. Ihr einziger Trost war ihr die Nachricht, dass die Tochter sich darin ganz dem Willen Gottes übergebe und so konnte sie selbst den warmen Dank gegen Gott darüber aussprechen und „fest glauben, dass der Herr auch dabei heilige Zwecke habe und dass dieses schwere Entbehren einst zu seligeren Genüssen führen werde.“

Am letzten März war ihr schlimmster Tag. Die linke Seite wurde gelähmt, ihr ganzes Wesen war von unsäglicher Bangigkeit durchzittert, kalter Schweiß bedeckte sie, Stirne und Hände waren todeskalt, es schien nicht möglich, dass sie den Tag überlebe und doch kam noch das Allerschwerste. Der Körper widerstand, der Geist unterlag. Stunden und Tagelang war sie von einer Verirrung des Geistes gebunden, die ans Kindischwerden grenzte. Zwischen die Fieberträume kamen lichte, ja liebliche Augenblicke, aber sie wurden drei schreckliche Monate lang verdüstert durch die sie zu Tod folternde Vorstellung: eine verworfene Person habe sich eingedrängt, ihre Tochter von ihr gestoßen, sich an ihre Stelle gesetzt, die Stimme, Kleidung und Gesichtszüge derselben nachgeäfft und bürde ihr und ihren Kindern Verbrechen auf, deren sie sich und ihre Kinder unfähig wusste. Kam dann ein Augenblick, in dem sie ihre Tochter erkannte, so war die unaussprechliche Freude durch die Angst getrübt, dass sie doch wieder in diesen quälenden Zustand versinken werde. Einst hörte man sie, da sonst Niemand an ihrem Bette war, für eben diese sie quälende Person aufs Innigste beten. „Nur Erbarmung such ich für mich und die Meinen,“ sprach sie ein andermal mit gefalteten Händen. An ihrem letzten 72. Geburtstage betete sie: Wie ein Hirsch schreiet nach frischem Wasser, so dürstet meine Seele nach dem lebendigen Gott ach, Herr, höre in Gnaden, was Dein Kind – darf ich sagen, Dein Kind? – vielleicht am letzten Tag seines Lebens zu Dir fleht!“

Schon im Juli besserte sich der Zustand. Sie konnte wieder an Allem Anteil nehmen, selbst lesen, doch musste sie klagen, dass sie den Zusammenhang nicht mehr recht verstehe. „Aber,“ sprach sie gen Himmel blickend, „nun, Herr, wenn ich nicht mehr zusammenhängend beten kann, so will ich doch stammeln. Du verstehst auch das Stammeln.“ Als am 7. August die eidgenössische Bundesbeschwörung statt hatte, ließ sie sich ans Fenster setzen, von wo sie den Zug in die Kirche sehen konnte und betete mit Inbrunst für das teure irdische Vaterland, das sie nun bald verlassen durfte.

Sie war täglich einige Stunden im Lehnstuhle, selbst was ein ruhiger Schlaf und eine gute Nacht sei, konnte sie am 19. September wieder mit dankbarer Rührung erfahren. Für alle teilnehmende Liebe war sie offen, für jede kleinste Aufmerksamkeit voll Dank. Einer Freundin konnte sie sagen: „Der Herr hat mich wahrlich gewürdigt, Ihm nach über den Kidron hinaus nach Gethsemane zu gehen.“ Auch einige auswärtige Freunde besuchten sie noch, der letzte war der würdige Prediger Steinkopf aus London mit seiner Gattin.

Gleich darauf am 22. September 1815 befiel sie ein heftiges Fieber und von Stund an sprach sie kein Wort mehr. Am 24. Abends siegte endlich der entfesselte Geist; es war vollbracht.