Martin Chemnitz, geboren den 9. November 1522, als Theolog der zweiten und dritten Generation nach der Reformation angehörig, ist einer der bedeutendsten Gelehrten und Kirchenmänner des 16. Jahrhunderts. Seine Zeit forderte die Gründung fester in ächt protestantischem Geiste gehaltener Ordnungen, nachdem lange genug die Willkür bald der Laien bald der Pastoren, am meisten aber die Parteiungen einander anfeindender Theologen die protestantische Kirche erschüttert und in ihrem friedlichen Wachsthum und Ausbau gestört hatten.
Er ist aus dem altwendischen adelichen Geschlechte der Kemnize (die Familie leitete den Namen von Kamien, Stein, ab; das zahlreiche Geschlecht habe sich genannt, die vom Stein, die Kamiemiten oder Kemenitzen) entsprossen. Seine adelichen Vorfahren saßen in Pommern und hatten in ihrem Wappenschild drei rothe Rosen, aber der Zweig, von dem Martin Chemnitz stammt, zog sich von seinen Burgen in Städte, besonders Pritzwalk, und konnte Vermögens halber eine adeliche Stellung nicht behaupten, doch soll das Dorf Kemnitz ihnen noch lange zugehört haben. Sein Urgroßvater verheirathete sich zu Brandenburg, starb aber bald nach der Geburt seines Sohnes Claus Chemnitz. Die überlebende Witwe verehelichte sich zum zweiten Mal mit einem angesehenen Bürger der Stadt, Schüler, dessen Enkel Georg Schüler oder nach seinem gewöhnlichen Namen Georg Sabinus ist, der Dichter und Professor in Frankfurt an der Oder, später Königsberg, Melanchthons Schwiegersohn, mit welchem also Chemnitz mütterlicherseits verwandt war. Der genannte Claus fiedelte sich nach Treuenbrietzen in der Mark Brandenburg als Kaufmann über. Sein Sohn Paul, Vater unseres Chemnitz, verband mit der Handlung das Tuchmachergewerbe und heirathete Euphemia Koldeborn, die ihm drei Kinder gebar, von welchen Martin der jüngste war. Seine eigene treuherzig erzählte Lebensgeschichte reicht nur bis zum Jahr 1555. Wir wollen danach einige Hauptpunkte berichten. Zwar zeigte sich bei ihm frühe „ein sonderlich ingenium“ und ein Lehrer Lorenz Bartold, die große Lernbegier des Knaben gewahrend, redete der Mutter zu, ihn für das Studium zu bestimmen; aber der Knabe hatte sich durch einen Sturz von einem Steg ins Wasser, ohne sonst weiteren Schaden zu nehmen, eine Nervenschwäche zugezogen, in Folge deren er stotterte, im Schlaf wandelte u. dergl. Diese Uebel wurden erst nach mehreren Jahren gehoben. Es gelang nun zwar dem Zureden Bartolds, daß ihn die Mutter (der Vater war schon 1533 gestorben) im 14ten Jahr auf die Trivialschule zu Wittenberg sandte (1536), wo er Luthern manchmal predigen hörte, in der Schule selbst aber nicht viel gewann, daher ihn nach einem halben Jahr die Mutter zurücknahm, wo ihm jedoch Bartold, dessen guter Wille besser war als eine Kenntnisse, wenig helfen konnte. Statt ihn nun nach einem Wunsch und Bartolds Rath auf eine andere Schule zu schicken, forderte man von ihm, er solle ein Handwerk erwählen. Sein Bruder Matthäus besonders war mit ihm, dem Liebling der Mutter, wenig zufrieden und so sollte er beim Handwerk des Tuchmachens helfen. Aber „da hatte er keine Lust zu, machte auch nichts guts“, konnte auch kein ander Handwerk ausdenken, das ihm gefallen wollte. Inzwischen trieb er unermüdet Latein und suchte sich durch Uebersetzen und Lectüre einen guten Stil anzueignen. Als schon alle Hoffnung, durch Bitten und Fürbitten die Scheu der Mutter vor den Kosten des Studierens zu überwinden, verschwunden war, fügte es sich, daß ihm ein entfernter Verwandter Peter Niemann, Secretär des Rathes in Magdeburg, mit Benedict Köppen, Schöppenschreiber daselbst zum Helfer in der Noth ward. Er legte ihnen ein lateinisches epistolium mit einem Distichon vor und der hoffnungsvolle Jüngling wurde nun 1539 nach Magdeburg genommen, wo er drei Jahre klassische, dialektische, rhetorische und astronomische Studien trieb, mit besonderer Luft die letzteren, und das Studium der griechischen Sprache. Da ihm aber nun wieder die Mittel zum Universitätsstudium fehlten, so mußte er zweimal Schulstellen in Kalbe und später Writzen übernehmen um sich wieder etwas zu erwerben, wenn ihm die Mittel ausgegangen waren. Sein Studium, das er 1543 in Frankfurt an der Oder begann, war so ein sehr unterbrochenes. Besser schien es sich erst für ihn zugestalten, als er durch Vermittelung von Sabinus und Bürgermeister von Brück nach Wittenberg und mit Melanchthon in Beziehung kam (1545). Er beschäftigte sich hier mit griechischer Sprache, Mathematik, Astronomie und besonders Astrologie. Luthern hörte er in Vorlesungen, Predigten, Disputationen, aber ohne sonderliche Aufmerksamkeit, da er andere Studien trieb. Schon wollte Melanchthon ihn zum Magister promovieren, hatte ihn auch schon für eine Lehrerstelle dem Fürsten von Anhalt bestimmt, als der Schmalkaldische Krieg die Universität Wittenberg zerstreute. So ist durch Armuth und häufige Wanderungen seine Jugendbildung vielfach gestört worden. Aber von Jugend auf zu selbstständigem Privatfleiß geneigt, wußte er die Mängel vollständig zu ersetzen, indem er an den Universitäten besonders eine richtige Methode der Forschung und des Studiums zu beobachten und diese dann in selbstständigem Privatfleiß durchzuführen suchte. Da inzwischen Sabinus nach Königsberg an die neue Universität berufen war, folgte er diesem dahin 1547, wo er zuerst als Hauslehrer, dann 1548 als Lehrer an der Kniphoffschen Schule zu Königsberg lebte. Zu der ersten solennen Promotion philosophischer Doctoren daselbst wurde unter Andern er auserlesen; der Herzog Albrecht trug die Kosten (1548). Seine astronomischen Kenntnisse (er machte dem Herzog mehrere Jahre den Kalender) und noch mehr eine astrologischen Studien und Vorhersagungen, mit welchen er Glück hatte, brachten ihn in steigendes Ansehn bei dem Hofe und Fürsten. Aber eine Pest veranlaßte ihn 1549 mit Sabinus nach Saalfeld in Preußen zu ziehen, und eine Schulstelle aufzugeben. Die klassischen Studien jammt Astronomie und Astrologie befriedigten ihn immer weniger; in der Stille war das theologische Interesse in ihm immer mehr erwacht, und er wünschte Preußen zu verlassen, um sich ganz den theologischen Studien hinzugeben: besonders als inzwischen Sabimus nach Wittenberg gezogen war. In Saalfeld hatte er eifrig Luthers Werke und besonders dessen Methode und Sprache, auch den Lombarden studiert und sich durch Sabinus in einem Schreiben an Melanchthon bereits nach der besten Art und Weise erkundigt, wie er das theologische Studium einzurichten habe, worauf ihm dieser erwiederte: die richtige Unterscheidung von Gesetz und Evangelium gebe das vornehmste Licht und die beste Methode zum Studium der Theologie an die Hand. Aber der Herzog hielt ihn unter günstigen Bedingungen fest als Bibliothekar für seine ausgesuchte große Bibliothek. Jetzt war er äußerlich in ganz sorgenfreier, bequemer Lage, innerlich in seinem Elemente, und entwarf sich einen großartigen Plan für eine umfassende und gründliche Lectüre. Er wollte. Alles aus dem Fundamente erlernen und dadurch zu einem selbstständigen einsichtigen Urtheile sich befähigen. Mangel an Büchern hatte ihn bisher gehindert, sich ganz der Theologie hinzugeben, zu der immer sein Gemüth neigte, indem er in ihr Nahrung für seine Frömmigkeit suchte. Jetzt wurde die Theologie das Alles ordnende Centrum seiner Studien. Er las zuerst der Reihe nach die biblischen Bücher unter Vergleichung aller alten und neuen Uebersetzungen und Commentare, die er auf der Bibliothek fand. Ueber alles Bemerkenswerthe machte er sich Aufzeichnungen. Darauf las er die Väter von der ältesten Zeit an mit fortlaufenden Auszügen. Endlich durchlas er genau die wichtigsten Schriften, die den Grund zu der Reformation legten, die Schriften über die Streitfragen der Gegenwart, die Gründe der Papisten, Anabaptisten u.s.w. und suchte sich die beste Art der Behauptung der evangelischen Wahrheiten und der Widerlegung der Irrthümer deutlich zu machen. In diesen drei sorgenlosen Jahren, die er zu den schönsten seines Lebens rechnete, bis Anfang des Jahres 1553 hat er sich einen Schatz ausgebreiteter Gelehrsamkeit angelegt, der bald ihm und der Kirche herrlich zu Satten kommen sollte. Allmälig kehrte aber die Sehnsucht mächtiger in ihm wieder, in sein Vaterland zurückzukehren. Der Herzog entließ ihn ungern aber ehrenvoll und er wandte sich nach Wittenberg, wo er jetzt Commensalis Melanchthons wurde und ihn aufmerksam hörte, weil er ihn jetzt erst recht verstand. Er wurde 1554 in die philosophische Facultät aufgenommen und alsbald Examinator der zu Graduierenden. Im Mai begleitete er Melanchthon auf den Theologenconvent zu Naumburg und dieser, seine große Belesenheit wahrnehmend, forderte ihn auf theologische Vorlesungen zu halten, führte ihn auch bei den Studierenden ein. Er begann mit dogmatischen Vorlesungen (9. Juni 1554 über die Loci communes). Die Menge der Zuhörer war so groß, daß Melanchthon, welcher der ersten Vorlesung beiwohnte, die Zuhörer in das collegium novum ausziehen ließ. Diese Zuhörerschaft blieb ihm auch treu so lange er las. Aber schon im August schrieb der Superintendent von Braunschweig D. Mörlin, der ihn in Königsberg kennen gelernt hatte, wo sie zusammen dem Andreas Osiander sich entgegensetzten: es sei die Coadjutor-Stelle in Braunschweig erledigt, er möchte einmal gen Braunschweig „spazieren“. Er kam und nach einer Predigt daselbst wurde er zum Coadjutor berufen. Fast alle Professoren riethen ihm ab und Melanchthon suchte ihn durch anderweite Beförderungen festzuhalten, aber er entschloß sich, nach Braunschweig zu ziehen, wo er, nachdem ihn Bugenhagen, unter Erlassung des Examens, ordiniert hatte, am 4. Dec. ankam, am 15. Dec. das Amt antrat. Von 1554 an lebte und wirkte er nun bis zu seinem Tode in Braunschweig. Er verheirathete sich 1555 mit Anna Ingers, Tochter eines Rechtsgelehrten aus Arnstadt, der in Braunschweig lebte. Herzog Albrecht sandte ihm als. Hochzeitsgeschenk ein vergüldetes Becherlein. Seine Gattin gebar ihm zehn Kinder, worunter drei Söhne, von welchen zwei Martin und Paul ihn überlebten. Sein Ehestand war ein überaus glücklicher. In Braunschweig war die Sitte, öffentliche Vorlesungen über verschiedene Gegenstände zu halten. Chemnitz, dessen Lehrgabe eminent war, las über die theologischen Hauptlehren (loci communes), die er in Wittenberg nur bis zur Trinitätslehre fortgeführt hatte, vollständig in freier Rede. Viele schrieben nach, besonders aber ein College Zanger suchte ein zusammenhängendes Ganzes daraus zu bilden. Da aber die Correctur dem Chemnitz viele Mühe machte, so fing er selbst an, das Abgehandelte aufzuschreiben. Schon hier faßte er den Entschluß, daraus ein sorgfältiger gearbeitetes Werk zu bilden. Aber erst nach seinem Tode ist diese Frucht einer Arbeiten von Polycarp Leiser in Frankfurt 1591 herausgegeben. Chemnitz verband in der seltensten Weise eine ausgezeichnete wissenschaftliche Begabung mit praktischer Weisheit und Tüchtigkeit. Er hatte ein helles Verständniß sowohl für die praktischen Bedürfnisse der Einzelgemeinde als der Kirche im Großen, welche letzteren in der That zu einer Zeit so sehr wie je die Vereinigung praktischer und theoretischer Talente erforderte. Wir beginnen mit seinen wissenschaftlichen Leistungen. Dahin gehören von Werken über die Glaubenslehre neben den schon erwähnten Loci communes, eine Schriften über das heil. Abendmahl (1560) und über die Person Christi und endlich ein Hauptwerk, das noch jetzt klassische Buch: Prüfung der Kirchenversammlung zu Trient (examen concili Tridentini 1565-73). Im J. 1562 hatte Chemnitz eine jesuitische Schrift, welche sich befliß, die anstößigsten römischen Lehren auf die Spitze zu treiben, durch ein Büchlein über die Hauptlehren jesuitischer Theologie bestritten. Einige Jahre darauf schrieb, wie er angiebt, auf Ermahnen der Väter der tridentinischen Kirchenversammlung, Andradius, einer der vornehmsten Theologen des Concils, ein größeres Werk über die religiösen Streitpunkte beider Kirchen, theils zur Widerlegung der Chemnitzischen Schrift, theils zur Empfehlung des kurz zuvor geschlossenen tridentinischen Concils. Chemnitz erhielt zu gleicher Zeit das Buch des Andradius und die Beschlüsse des Concils und so schien ihm darin ein göttlicher Wink zu liegen, daß er die nöthig erscheinende Antwort auf das Buch des Andradius nicht so wohl gegen diesen zu richten, sondern eine selbstständige Prüfung der Decrete des Concils selbst zu unternehmen habe. So begann er das genannte herrliche Werk 1565, dessen ersten Theil er Albrecht Friedrich von Preußen dedicirte. Noch in demselben Jahr erschien der zweite Theil, 1573 der dritte und vierte. Hier kam ihm eine ausgebreitete Gelehrsamkeit, die er vollkommen beherrschte, aufs trefflichste zu Statten. Er widerlegt aus h. Schrift und Kirchenvätern aufs Eingehendste die römischen Lehren als neuernde Abweichungen von der alten Kirche und der Schrift, und beweist die Ursprünglichkeit und das Alterthum der evangelischen Lehre vom Heil. Das Buch ist häufig wieder herausgegeben, auch ins Deutsche übersetzt worden. Durch seine Lectüre sollen viele katholische Theologen, selbst Jesuiten, zur evangelischen Ueberzeugung gebracht worden sein, jedenfalls hat es sich auch bei Gegnern die größeste Achtung erworben und das protestantische Bewußtsein wie kaum ein anderes Werk des Jahrhunderts gestärkt und befestigt. Dazu trug neben der gründlichen Gelehrsamkeit und Schlagfertigkeit, nicht wenig die Einfachheit, die Durchsichtigkeit und der maßvolle ruhige Ton einer Darstellung bei. Das Werk gehört noch jetzt zu den Fundgruben für die streitende Theologie und kein späteres seiner Art ist ihm an Ansehn und Wirkung gleichgekommen. Wenn dieses große Hauptwerk von Chemnitz, das seinen Namen unsterblich gemacht hat, ihm auch bei seinen Gegnern hohe Achtung und Anerkennung erwarb, so haben dagegen jene beiden Schriften über das heil. Abendmahl und die Person Christi ihn bei seinen lutherischen Glaubensgenossen als einen der einsichtsvollsten, eifrigsten und zugleich besonnensten Vertreter der lutherischen Lehre zum höchsten Ansehn gebracht. Es fehlt zwar Chemnitz der originale Geist, die Poesie und die lebendige auch wissenschaftlich fruchtbare Glaubensanschauung Luthers; (er bekennt von sich, daß seine Versuche der Verification die Spuren des Mühsamen und Gezwungenen an sich tragen). Aber wenn ihm die Gabe der christlichen Gnosis versagt war, so ist er dabei auch vor den Gefahren willkürlicher Speculationen bewahrt geblieben und hat hierin, Melanchthon ähnlich, einen feinen Takt für das Gemeinverständliche und das mit klaren Gründen zu Vertretende und zur kirchlichen Gemeinlehre sich Eignende bewiesen. Theils ein lebendiger historischer Sinn und eine hohe Ehrfurcht vor Luther, theils ein mehr als in Melanchthon lebendiger mystischer Zug ließ ihn im Wesentlichen der Abendmahlslehre Luthers sich zuwenden. Er hielt an der wesentlichen und auch leiblichen Gegenwart im heil. Abendmahl fest, aber nicht wie eine Zeitlang Luther und wie noch mehr die schwäbischen Theologen, an der Allgegenwart der Menschheit Christi, welche er vielmehr bestritt, weil sie einem verständigen klaren Denken die Grenze zwischen dem Menschlichen und Göttlichen zu verwischen schien, sondern auf Grund der Einsetzungsworte, durch deren einfache Erklärung uns jene Gegenwart verbürgt sei. Seine Schrift über die Person Christi geht in ihrer Bestreitung der Allenthalbenheit der Menschheit Christi jedoch nur so weit, daß er dabei eine solche Vorstellung von Christus im Stande der Erhöhung fordert, wornach ihn nichts im Himmel oder auf Erden hindern könne, seinem Verheißungsworte gemäß bei jedem Abendmahl auf Erden leiblich, d. h. nach einer ganzen Person, gegenwärtig zu sein auf eine für uns unbegreifliche Weise. Er wollte über die Art und Weise dieser Gegenwart lieber gar nicht disputiert sehen und hat diesen Standpunkt auch in einer 1570 erschienenen Schrift über das heilige Abendmahl festgehalten. Ueber die Mittheilung der göttlichen Eigenschaften an die Menschheit Christi denkt er überhaupt mehr dem Melanchthon als Luthern ähnlich. Sorgsam hütet er die bleibenden Grenzen und Unterschiede der menschlichen Natur von der göttlichen, ja hält jene nicht für fähig, göttliche Eigenschaften zu eigen zu erhalten, will es auch nicht einer der Menschheit zu eigen gewordenen Kraft zuschreiben, daß Christus im h. Abendmahl an mehreren Orten zugleich ein könne, sondern allein der Allmacht des die Menschheit so wie er will bestimmenden und verwendenden Sohnes Gottes. Mit dieser überwiegenden Richtung auf die bleibende Unterschiedenheit des Verschiedenen (der beiden Naturen) hängt endlich auch zusammen, daß er die räumliche Einschließung des Leibes Christi im Abendmahl, die Vermischung der sichtbaren Elemente mit Christi Leib und Blut bestimmt ablehnt und keinerlei Veränderung durch die Consecration will, sondern die leibliche Gegenwart Christi für die Handlung des Darbietens, Nehmens und Genießens, nicht aber außer diesen lehrt. Kein Wunder, daß seine Lehre vom Abendmahl auch von den dem Calvinismus günstigen Wittenbergern gebilligt wurde, wie auch eine Schrift von der Person Christi in ihrem größten Theil denjenigen Reformierten zusagte, welche nicht der Zwinglischen, sondern der Calvinischen Lehre von der Person Christi huldigten. In der That wenn irgend Einer so wäre Martin Chemnitz nach Melanchthon und noch mehr als dieser geeignet gewesen, Frieden und Eintracht zwischen den beiden evangelischen Schwesterkirchen herzustellen. Seine Lehre von Christi Person und dem heil. Abendmahl nimmt eine mittlere Stellung ein zwischen der Luthers mit den Schwaben und der Calvins. Allein seit dem unseligen Streite zwischen Westphal und Calvin herrschte gegen letzteren ein ungerechtes, wenn auch historisch wohl erklärbares Mißtrauen, als wäre seine Lehre nur durch schön gefärbte Worte von der Zwinglis verschieden; und diesem Mißtrauen, das in seiner ganzen Umgebung und den niederdeutschen Städten herrschte, entzog sich auch Chemnitz (mit Mörlin freundschaftlich verbunden) nicht. Der mächtiger werdende Einfluß der Reformierten in Nord-Deutschland, besonders Bremen, hatte, ähnlich wie im Süden das Eindringen der Reformierten in die Pfalz, die Wirkung, den Blick für den Unterschied Calvins von Zwingli und für des ersteren größere Aehnlichkeit mit Luthern zu trüben, was sich auch bei mehreren öffentlichen Handlungen gegen Reformierte wie Albert Hardenberg u. A. zeigte, an welchen Chemnitz betheiligt war. Doch dies führt uns zu der unmittelbar kirchlichen Thätigkeit von Chemnitz. Endlose, immer wieder neu auftauchende Lehrstreitigkeiten verwirrten, besonders seit Luthers Tod, in bedrohlichster Weise die lutherische Kirche. Jede Schulstreitigkeit wurde zur Störung des Kirchenfriedens und bemächtigte sich bei der Nichtunterscheidung der Schule von der Kirche auch der Laienwelt. Es mußte, wenn die lutherische Kirche sich nicht in einen Tummelplatz leidenschaftlicher Theologen auflösen sollte, von welchen jeder seine Lehrmeinungen als die allein berechtigten der Kirche aufdrängen wollte, eine Zusammenfassung der Individualität lutherischer Kirche in sich erfolgen, mochte auch eine vorläufige Verengerung und Selbstbeschränkung hiervon die Folge sein. Nur so konnte, wie die Dinge lagen, der lutherische Typus der Lehre als charaktervolle Gestalt sich behaupten und als eine geschichtliche Macht das wirken, wozu sie berufen ist. Chemnitz gehört zu denen, die das Bedürfniß der Zeit verstanden. Er bewährte sich in den hier in Betracht kommenden Aufgaben nach Charakter und Geist als einer der edelsten Kirchenmänner, deren die evangelische Kirche sich zu erfreuen gehabt hat. Ungemein ausgebreitet ist die Thätigkeit gewesen, die der hochangesehene Mann durch Gutachten, Verhandlungen, Reisen nach nahe und fern zur Schlichtung entstandener einzelner Streitigkeiten ausgeübt hat. Aber noch viel bedeutsamer ist dasjenige, was er zur Gründung bleibender Ordnungen der Lehre, des Cultus, der christlichen Sitte und der Schule daheim und auswärts für einzelne Kirchen und für das große Ganze erstrebt und gewirkt hat. Er hat mehr als vielleicht irgend ein Anderer sich an der Bildung der Lehrordnungen und corpora doctrinae betheiligt, welche einerseits, wie zuerst Melanchthon erkannte, von der einreißenden Lehrwillkür und Streitsucht als Heilmittel und Schranke gefordert waren und welche andererseits dem Lebensgesetz der evangelischen Kirche gemäß, das von den Einzelkreisen aufzusteigen gebietet, die natürliche Vorstufe ja Vorarbeit für das weit größere Werk waren, nemlich die Einigung der ganzen lutherischen Kirche zu einhelligem und öffentlich anerkanntem Bekenntniß so wohl in Betreff der lutherischen Symbole älterer Formation (bes. der Augsburg. Confession, Apologie sowie der Schmalkaldischen Artikel) als in Betreff der neu aufgekommenen zahlreichen Streitpunkte, welche die Kirche verwirrten und in den verschiedenen Lehrkörpern oder Lehrordnungen eine ungleiche Behandlung gefunden hatten. Nachdem in Braunschweig schon unter Joachim Mörlin, dessen Coadjutor Chemnitz bis zu dessen Abgang nach Königsberg 1567 blieb, die Lehrfragen festgeordnet waren, so wurde Chemnitz 1567 nach Preußen berufen, um den kirchlichen Frieden herzustellen, zu welchem Ende er das corpus doctrinae Pruthenicum mit Mörlin zu Stande brachte. Als 1568 Herzog Julius die Regierung antrat und ein Land Braunschweig-Wolfenbüttel reformieren wollte, berief er zu dem Ende Chemnitz (neben ihm Jakob Andreä aus Schwaben) aus der zwar nominell Julius gehörigen aber gar selbstständigen Stadt Braunschweig, in welcher Chemnitz seit Mörlins Abgang an der Spitze der Geistlichkeit als Superintendent stand. Auch hier gehörte es zu dem Ersten, daß Chemnitz ein corpus doctrinae (Julium) und eine Lehrordnung, die der Kirchenordnung (1569) einverleibt wurde, feststellte. Das Reformwerk des Fürstenthums führte er nun so durch, daß eine Kirchenvisitation, die auch die Klöster umfaßte und deren Aebte die Augsb. Conf. zu unterschreiben hatten, darauf eine theologische Prüfung sämmtlicher Geistlichen des Landes, die allmälig nach Wolfenbüttel vor Chemnitz und Andreä berufen wurden, veranstaltet, die Kirchenordnung eingeführt, das Land in 5 General-Superintendenzen unter einem Consistorium getheilt, endlich auch das niedere und höhere Schulwesen geordnet wurde. Das Letztere geschah durch die Klostergüter vermöge der „Klosterordnung“, um welche Jak. Andreä besondere Verdienste hatte. Nach dem herrlichen Vorbilde Herzogs Christoph von Württemberg wollte auch Herzog Julius sich schlechterdings nichts von den Klostergütern aneignen. Es wurden damit für gelehrte Schulen, ja für die Gründung der Universität Helmstedt im J. 1574 die Mittel gefunden, und auch hiebei hat Chemnitz mit Rath und That treulich und erfolgreich geholfen. So lebendig auch die Theilnahme Chemnitzens an dem Stand benachbarter oder entfernterer Schwesterkirchen war, so hätte doch er für sich den umfassenden Plan der Paciscirung der ganzen lutherischen Kirche nicht gefaßt. Seiner Art entsprach es, jedesmal die zunächst vorliegenden Aufgaben zu bearbeiten und nicht ins Große, Weite zu schweifen. Er concentrierte seine praktische Thätigkeit eigentlich lieber auf sein geliebtes Braunschweig, einen begrenzten Punkt, in welchem er eine musterhafte Einigkeit der Geistlichen unter einander durch ächt collegialischen Sinn bei aller Ueberlegenheit und ein ebenso musterhaftes Verhältniß zwischen dem bürgerlichen Gemeinwesen mit seinen Oberen und zwischen dem kirchlichen mit dem geistlichen Amte (das er auch in inneren Fragen, wie Kirchenzucht, von Laien in geordneter amtlicher Weise unterstützen ließ) herzustellen wußte. Braunschweig stand durch ihn in der That als eine wohlgeordnete Musterkirche in dem lutherischen Deutschland da. Die Reinheit und Selbstlosigkeit eines von allem pfäffischen Wesen freien Eifers, verbunden mit Weisheit und maßhaltender Klugheit, machte auf Jeden den Eindruck, daß es ihm rein um die Sache, nicht um den Triumph eigener Lieblingsgedanken, nicht um einen gesetzlichen Rigorismus, der so oft nur Scheinfrüchte erzielt, zu thun sei. Darum wandte sich ihm das Vertrauen der Gemeinde, der Collegen, der Obrigkeit in fast unbeschränktem Maße zu, und durch das Mittel des geschickt geführten Wortes wußte er eine Menge von Uebelständen abzuschaffen, löbliche Sitten und Einrichtungen einzuführen. So suchte er der Bettelei zu steuern, brachte es durch eine Predigt dahin, daß die Frauen zum heil. Abendmahl nicht mehr in Seide, Gold und Perlen kamen, sondern in schlichten schwarzen und weißen Kleidern erschienen. So setzte er trotz anfänglichen Widerspruchs ein angemessenes Maß von Kirchenzucht bleibend durch, indem er nicht, wie Andere an einer Stelle gethan hätten, dem schwierig gewordenen Rathe gegenüber auf dessen Versprechungen pochte, welche dem Chemnitz fast vertragsweise in dieser Beziehung von dem Rathe gemacht waren, als er sich entschloß, einen ehrenvollen Ruf nach Preußen auszuschlagen; sondern er entwaffnete die Aufregung und den Verdacht geistlicher Herrschsucht der Pfarrherren der Stadt dadurch, daß er den Rath gleichsam zum Mitarbeiter gewann, indem er ihn bat, sich auszusprechen, wie er denn von seinem Standpunkte aus eine christliche Ordnung der Sittenzucht denke und wünsche? wovon die Folge war, daß der Rath in freier entschiedener Zustimmung sich zu dem bekannte, worauf es auch Chemnitz ankam. Es scheint ein Gedanke in Beziehung auf das große Ganze der lutherischen Kirche gewesen zu sein, daß der sicherste Weg für ihre Ruhe und Blüthe sei, wenn die einzelnen Theile derselben, zumal die einzelnen tonangebenden Städte in eine gute innere und äußere Verfassung gesetzt seien und dem Guten oder Besseren Raum bleibe, sich als Muster in weiteren Kreisen freie Geltung zu verschaffen. Sein Kirchenideal war also, daß die Einzelkirchen als wohl organisierte kräftige Monaden in das Verhältniß der Conföderation zu einander treten sollen. Von ganz anderen Gesichtspunkten ging der genannte Kanzler Jak. Andreä aus, der für seine großen Plane der Pacification der ganzen lutherischen Kirche von einem weit stärkeren Streben geleitet war, dieselbe als kräftige Einheit in der Einhelligkeit des Bekenntnisses über alle streitig gewordenen Punkte hervortreten zu lassen. Chemnitz stellte seine Bedenken ernstlich entgegen. Er fühlte, daß jener Richtung auf die sichtbare Einheit, auf die äußere förmliche Bekenntnißeinheit auch ein gar großes Interesse beiwohnen müsse, die Majorität auf ihre Seite zu stellen durch Mittel und Künste vielleicht, durch die doch kein in Gottes Augen werthvolles, von Heuchelei freies Resultat erzielt werde. Möglich, daß er auch neue Spaltungen von einem künstlichen Concordienwerke fürchtete, voreilige Krisen und Ausscheidungen, mochte auch er selbst noch so vollständig von der alleinigen inneren Berechtigung einer Lehrweise in einer lutherisch sein wollenden Kirche überzeugt sein. Allein die Gewandtheit und Beredtsamkeit Andreäs, der Anklang, den dessen Vorschläge bei mehreren angesehenen Fürsten, vor allen bei Herzog Julius fanden, besonders aber ohne Zweifel der jähe Sturz der dem Calvinismus heimlich huldigenden Wittenberger, durch den die Besorgniß vor einer mächtigen Opposition gegen Andreäs Friedenswerk sich gar sehr verminderte; diese und andere Umstände bewirkten, daß Chemnitz, wenn auch nur achte, sich näher mit Andreä einließ; zunächst nur so, daß als jener im Namen der Schwaben eine die Zeitfragen betreffende Confession vorlegte, Chemnitz mit seinen Freunden sich nicht weigerte, ein und der Niederdeutschen Urtheil über die Sache in bekenntnißartiger Form mitzutheilen, woraus es nun nicht so schwer war, ein einträchtiges Bekenntniß zu bilden, das die Einigkeit der niedersächsischen und schwäbischen Kirchen constatierte. Ebenso konnte Chemnitz nichts dagegen haben, daß auch andere Kirchen sich solchem Bekenntniß- oder Einheitswerk anschlossen und wenn sie Bedenken hatten, Verständigung mit ihnen suchen. Auf das Nähere der Geschichte, der Bildung und Einführung der Eintrachtsformel können wir hier nicht eingehen. So viel aber steht fest, daß ohne das Gewicht des Namens und Einflusses von Chemnitz das Werk nicht zu Stande gekommen wäre. Er blieb ihm treu, obwohl Manches ihn hätte wankend machen können. So das Verfahren. Andreäs, der seine Lieblingsmeinung von der Allenthalbenheit der Menschheit Christi doch schließlich noch der Eintrachtsformel durch eroberte Gutheißung der dafür günstigen Schriften Luthers, wenn auch mit zweideutigem Erfolg, einzuverleiben wußte. So der Streit, der durch diese Zweideutigkeit in seiner nächsten Nähe auf der Universität Helmstedt gegen die Eintrachtsformel entbrannte und gar frühe die ursprünglichen Befürchtungen bewahrheitete, die in Chemnitz gegen das Werk aufgestiegen waren. Endlich die Ungunst des Herzogs Julius, der sich vor Abschluß des Werkes von demselben gänzlich abwandte. Aber Chemnitz war es Gewissensache, nachdem es so weit gediehen war, das Unternehmen nicht scheitern, nicht zum Denkmal unheilbarer Uneinigkeit der lutherischen Kirche werden zu lassen. Er schrieb daher mit Selnecker und Kirchner eine Vertheidigung der Eintrachtsformel (1581). Nicht bloß hierin gingen die Wege von Herzog Julius und Chemnitz später auseinander, sondern die Gunst des Herzogs verlor er später auf eine für ihn ehrenvolle Weise, indem er des Herzogs Plan, einen Sohn Heinrich zur Erwerbung des Bisthums Halberstadt gewissen katholischen Ceremonien, z. B. der Tonsur, zu unterwerfen, entschieden mißbilligte. Sein reiches mühevolles Tagewerk hatte seine Kräfte schon 1583 so verzehrt, daß er nicht mehr predigen konnte und in gewissenhafter Besorgniß für die Bedürfnisse einer Gemeinde ein Amt im folgenden Jahr niederlegte, um sich noch theologischen Arbeiten zu widmen. Aber Leiden und Krankheit nahmen zu, bis er den 8. April 1586 getröstet durch das Wort Gottes, das er von Collegen sich vorlesen ließ, besonders durch sein Lieblingswort Gal. 2,19. 20, gottselig entschlief. Die Trauer um ihn war eine große in Deutschland, und in Niedersachsen vornemlich, am meisten aber in Braunschweig, welcher Stadt er mit so großer Treue mehr als ein Menschenalter hindurch seine Kräfte gewidmet hatte, daß er zahlreiche und ehrenvolle Berufungen nach außen (nach Halle 1565, Göttingen 1566, Küstrin und Königsberg 1567, zusammen mit Mörlin, und abermals nach Königsberg als Bischof von Samland und Nachfolger Mörlins, nach Wien u.s.w. ausschlug. Er ist begraben im Chor der Martinskirche zu Braunschweig; sein Lieblingsspruch ist zu einer Grabschrift gewählt. J. A. Dorner in Göttingen, jetzt in Berlin.