Martin Chemnitz

Martin Chemnitz, geboren den 9. November 1522, als Theolog der zweiten und dritten Generation nach der Reformation angehörig, ist einer der bedeutendsten Gelehrten und Kirchenmänner des 16. Jahrhunderts. Seine Zeit forderte die Gründung fester in ächt protestantischem Geiste gehaltener Ordnungen, nachdem lange genug die Willkür bald der Laien bald der Pastoren, am meisten aber die Parteiungen einander anfeindender Theologen die protestantische Kirche erschüttert und in ihrem friedlichen Wachsthum und Ausbau gestört hatten.

 

Er ist aus dem altwendischen adelichen Geschlechte der Kemnize (die Familie leitete den Namen von Kamien, Stein, ab; das zahlreiche Geschlecht habe sich genannt, die vom Stein, die Kamiemiten oder Kemenitzen) entsprossen. Seine adelichen Vorfahren saßen in Pommern und hatten in ihrem Wappenschild drei rothe Rosen, aber der Zweig, von dem Martin Chemnitz stammt, zog sich von seinen Burgen in Städte, besonders Pritzwalk, und konnte Vermögens halber eine adeliche Stellung nicht behaupten, doch soll das Dorf Kemnitz ihnen noch lange zugehört haben. Sein Urgroßvater verheirathete sich zu Brandenburg, starb aber bald nach der Geburt seines Sohnes Claus Chemnitz. Die überlebende Witwe verehelichte sich zum zweiten Mal mit einem angesehenen Bürger der Stadt, Schüler, dessen Enkel Georg Schüler oder nach seinem gewöhnlichen Namen Georg Sabinus ist, der Dichter und Professor in Frankfurt an der Oder, später Königsberg, Melanchthons Schwiegersohn, mit welchem also Chemnitz mütterlicherseits verwandt war. Der genannte Claus fiedelte sich nach Treuenbrietzen in der Mark Brandenburg als Kaufmann über. Sein Sohn Paul, Vater unseres Chemnitz, verband mit der Handlung das Tuchmachergewerbe und heirathete Euphemia Koldeborn, die ihm drei Kinder gebar, von welchen Martin der jüngste war. Seine eigene treuherzig erzählte Lebensgeschichte reicht nur bis zum Jahr 1555. Wir wollen danach einige Hauptpunkte berichten. Zwar zeigte sich bei ihm frühe „ein sonderlich ingenium“ und ein Lehrer Lorenz Bartold, die große Lernbegier des Knaben gewahrend, redete der Mutter zu, ihn für das Studium zu bestimmen; aber der Knabe hatte sich durch einen Sturz von einem Steg ins Wasser, ohne sonst weiteren Schaden zu nehmen, eine Nervenschwäche zugezogen, in Folge deren er stotterte, im Schlaf wandelte u. dergl. Diese Uebel wurden erst nach mehreren Jahren gehoben. Es gelang nun zwar dem Zureden Bartolds, daß ihn die Mutter (der Vater war schon 1533 gestorben) im 14ten Jahr auf die Trivialschule zu Wittenberg sandte (1536), wo er Luthern manchmal predigen hörte, in der Schule selbst aber nicht viel gewann, daher ihn nach einem halben Jahr die Mutter zurücknahm, wo ihm jedoch Bartold, dessen guter Wille besser war als eine Kenntnisse, wenig helfen konnte. Statt ihn nun nach einem Wunsch und Bartolds Rath auf eine andere Schule zu schicken, forderte man von ihm, er solle ein Handwerk erwählen. Sein Bruder Matthäus besonders war mit ihm, dem Liebling der Mutter, wenig zufrieden und so sollte er beim Handwerk des Tuchmachens helfen. Aber „da hatte er keine Lust zu, machte auch nichts guts“, konnte auch kein ander Handwerk ausdenken, das ihm gefallen wollte. Inzwischen trieb er unermüdet Latein und suchte sich durch Uebersetzen und Lectüre einen guten Stil anzueignen. Als schon alle Hoffnung, durch Bitten und Fürbitten die Scheu der Mutter vor den Kosten des Studierens zu überwinden, verschwunden war, fügte es sich, daß ihm ein entfernter Verwandter Peter Niemann, Secretär des Rathes in Magdeburg, mit Benedict Köppen, Schöppenschreiber daselbst zum Helfer in der Noth ward. Er legte ihnen ein lateinisches epistolium mit einem Distichon vor und der hoffnungsvolle Jüngling wurde nun 1539 nach Magdeburg genommen, wo er drei Jahre klassische, dialektische, rhetorische und astronomische Studien trieb, mit besonderer Luft die letzteren, und das Studium der griechischen Sprache. Da ihm aber nun wieder die Mittel zum Universitätsstudium fehlten, so mußte er zweimal Schulstellen in Kalbe und später Writzen übernehmen um sich wieder etwas zu erwerben, wenn ihm die Mittel ausgegangen waren. Sein Studium, das er 1543 in Frankfurt an der Oder begann, war so ein sehr unterbrochenes. Besser schien es sich erst für ihn zugestalten, als er durch Vermittelung von Sabinus und Bürgermeister von Brück nach Wittenberg und mit Melanchthon in Beziehung kam (1545). Er beschäftigte sich hier mit griechischer Sprache, Mathematik, Astronomie und besonders Astrologie. Luthern hörte er in Vorlesungen, Predigten, Disputationen, aber ohne sonderliche Aufmerksamkeit, da er andere Studien trieb. Schon wollte Melanchthon ihn zum Magister promovieren, hatte ihn auch schon für eine Lehrerstelle dem Fürsten von Anhalt bestimmt, als der Schmalkaldische Krieg die Universität Wittenberg zerstreute. So ist durch Armuth und häufige Wanderungen seine Jugendbildung vielfach gestört worden. Aber von Jugend auf zu selbstständigem Privatfleiß geneigt, wußte er die Mängel vollständig zu ersetzen, indem er an den Universitäten besonders eine richtige Methode der Forschung und des Studiums zu beobachten und diese dann in selbstständigem Privatfleiß durchzuführen suchte. Da inzwischen Sabinus nach Königsberg an die neue Universität berufen war, folgte er diesem dahin 1547, wo er zuerst als Hauslehrer, dann 1548 als Lehrer an der Kniphoffschen Schule zu Königsberg lebte. Zu der ersten solennen Promotion philosophischer Doctoren daselbst wurde unter Andern er auserlesen; der Herzog Albrecht trug die Kosten (1548). Seine astronomischen Kenntnisse (er machte dem Herzog mehrere Jahre den Kalender) und noch mehr eine astrologischen Studien und Vorhersagungen, mit welchen er Glück hatte, brachten ihn in steigendes Ansehn bei dem Hofe und Fürsten. Aber eine Pest veranlaßte ihn 1549 mit Sabinus nach Saalfeld in Preußen zu ziehen, und eine Schulstelle aufzugeben. Die klassischen Studien jammt Astronomie und Astrologie befriedigten ihn immer weniger; in der Stille war das theologische Interesse in ihm immer mehr erwacht, und er wünschte Preußen zu verlassen, um sich ganz den theologischen Studien hinzugeben: besonders als inzwischen Sabimus nach Wittenberg gezogen war. In Saalfeld hatte er eifrig Luthers Werke und besonders dessen Methode und Sprache, auch den Lombarden studiert und sich durch Sabinus in einem Schreiben an Melanchthon bereits nach der besten Art und Weise erkundigt, wie er das theologische Studium einzurichten habe, worauf ihm dieser erwiederte: die richtige Unterscheidung von Gesetz und Evangelium gebe das vornehmste Licht und die beste Methode zum Studium der Theologie an die Hand. Aber der Herzog hielt ihn unter günstigen Bedingungen fest als Bibliothekar für seine ausgesuchte große Bibliothek. Jetzt war er äußerlich in ganz sorgenfreier, bequemer Lage, innerlich in seinem Elemente, und entwarf sich einen großartigen Plan für eine umfassende und gründliche Lectüre. Er wollte. Alles aus dem Fundamente erlernen und dadurch zu einem selbstständigen einsichtigen Urtheile sich befähigen. Mangel an Büchern hatte ihn bisher gehindert, sich ganz der Theologie hinzugeben, zu der immer sein Gemüth neigte, indem er in ihr Nahrung für seine Frömmigkeit suchte. Jetzt wurde die Theologie das Alles ordnende Centrum seiner Studien. Er las zuerst der Reihe nach die biblischen Bücher unter Vergleichung aller alten und neuen Uebersetzungen und Commentare, die er auf der Bibliothek fand. Ueber alles Bemerkenswerthe machte er sich Aufzeichnungen. Darauf las er die Väter von der ältesten Zeit an mit fortlaufenden Auszügen. Endlich durchlas er genau die wichtigsten Schriften, die den Grund zu der Reformation legten, die Schriften über die Streitfragen der Gegenwart, die Gründe der Papisten, Anabaptisten u.s.w. und suchte sich die beste Art der Behauptung der evangelischen Wahrheiten und der Widerlegung der Irrthümer deutlich zu machen. In diesen drei sorgenlosen Jahren, die er zu den schönsten seines Lebens rechnete, bis Anfang des Jahres 1553 hat er sich einen Schatz ausgebreiteter Gelehrsamkeit angelegt, der bald ihm und der Kirche herrlich zu Satten kommen sollte. Allmälig kehrte aber die Sehnsucht mächtiger in ihm wieder, in sein Vaterland zurückzukehren. Der Herzog entließ ihn ungern aber ehrenvoll und er wandte sich nach Wittenberg, wo er jetzt Commensalis Melanchthons wurde und ihn aufmerksam hörte, weil er ihn jetzt erst recht verstand. Er wurde 1554 in die philosophische Facultät aufgenommen und alsbald Examinator der zu Graduierenden. Im Mai begleitete er Melanchthon auf den Theologenconvent zu Naumburg und dieser, seine große Belesenheit wahrnehmend, forderte ihn auf theologische Vorlesungen zu halten, führte ihn auch bei den Studierenden ein. Er begann mit dogmatischen Vorlesungen (9. Juni 1554 über die Loci communes). Die Menge der Zuhörer war so groß, daß Melanchthon, welcher der ersten Vorlesung beiwohnte, die Zuhörer in das collegium novum ausziehen ließ. Diese Zuhörerschaft blieb ihm auch treu so lange er las. Aber schon im August schrieb der Superintendent von Braunschweig D. Mörlin, der ihn in Königsberg kennen gelernt hatte, wo sie zusammen dem Andreas Osiander sich entgegensetzten: es sei die Coadjutor-Stelle in Braunschweig erledigt, er möchte einmal gen Braunschweig „spazieren“. Er kam und nach einer Predigt daselbst wurde er zum Coadjutor berufen. Fast alle Professoren riethen ihm ab und Melanchthon suchte ihn durch anderweite Beförderungen festzuhalten, aber er entschloß sich, nach Braunschweig zu ziehen, wo er, nachdem ihn Bugenhagen, unter Erlassung des Examens, ordiniert hatte, am 4. Dec. ankam, am 15. Dec. das Amt antrat. Von 1554 an lebte und wirkte er nun bis zu seinem Tode in Braunschweig. Er verheirathete sich 1555 mit Anna Ingers, Tochter eines Rechtsgelehrten aus Arnstadt, der in Braunschweig lebte. Herzog Albrecht sandte ihm als. Hochzeitsgeschenk ein vergüldetes Becherlein. Seine Gattin gebar ihm zehn Kinder, worunter drei Söhne, von welchen zwei Martin und Paul ihn überlebten. Sein Ehestand war ein überaus glücklicher. In Braunschweig war die Sitte, öffentliche Vorlesungen über verschiedene Gegenstände zu halten. Chemnitz, dessen Lehrgabe eminent war, las über die theologischen Hauptlehren (loci communes), die er in Wittenberg nur bis zur Trinitätslehre fortgeführt hatte, vollständig in freier Rede. Viele schrieben nach, besonders aber ein College Zanger suchte ein zusammenhängendes Ganzes daraus zu bilden. Da aber die Correctur dem Chemnitz viele Mühe machte, so fing er selbst an, das Abgehandelte aufzuschreiben. Schon hier faßte er den Entschluß, daraus ein sorgfältiger gearbeitetes Werk zu bilden. Aber erst nach seinem Tode ist diese Frucht einer Arbeiten von Polycarp Leiser in Frankfurt 1591 herausgegeben. Chemnitz verband in der seltensten Weise eine ausgezeichnete wissenschaftliche Begabung mit praktischer Weisheit und Tüchtigkeit. Er hatte ein helles Verständniß sowohl für die praktischen Bedürfnisse der Einzelgemeinde als der Kirche im Großen, welche letzteren in der That zu einer Zeit so sehr wie je die Vereinigung praktischer und theoretischer Talente erforderte. Wir beginnen mit seinen wissenschaftlichen Leistungen. Dahin gehören von Werken über die Glaubenslehre neben den schon erwähnten Loci communes, eine Schriften über das heil. Abendmahl (1560) und über die Person Christi und endlich ein Hauptwerk, das noch jetzt klassische Buch: Prüfung der Kirchenversammlung zu Trient (examen concili Tridentini 1565-73). Im J. 1562 hatte Chemnitz eine jesuitische Schrift, welche sich befliß, die anstößigsten römischen Lehren auf die Spitze zu treiben, durch ein Büchlein über die Hauptlehren jesuitischer Theologie bestritten. Einige Jahre darauf schrieb, wie er angiebt, auf Ermahnen der Väter der tridentinischen Kirchenversammlung, Andradius, einer der vornehmsten Theologen des Concils, ein größeres Werk über die religiösen Streitpunkte beider Kirchen, theils zur Widerlegung der Chemnitzischen Schrift, theils zur Empfehlung des kurz zuvor geschlossenen tridentinischen Concils. Chemnitz erhielt zu gleicher Zeit das Buch des Andradius und die Beschlüsse des Concils und so schien ihm darin ein göttlicher Wink zu liegen, daß er die nöthig erscheinende Antwort auf das Buch des Andradius nicht so wohl gegen diesen zu richten, sondern eine selbstständige Prüfung der Decrete des Concils selbst zu unternehmen habe. So begann er das genannte herrliche Werk 1565, dessen ersten Theil er Albrecht Friedrich von Preußen dedicirte. Noch in demselben Jahr erschien der zweite Theil, 1573 der dritte und vierte. Hier kam ihm eine ausgebreitete Gelehrsamkeit, die er vollkommen beherrschte, aufs trefflichste zu Statten. Er widerlegt aus h. Schrift und Kirchenvätern aufs Eingehendste die römischen Lehren als neuernde Abweichungen von der alten Kirche und der Schrift, und beweist die Ursprünglichkeit und das Alterthum der evangelischen Lehre vom Heil. Das Buch ist häufig wieder herausgegeben, auch ins Deutsche übersetzt worden. Durch seine Lectüre sollen viele katholische Theologen, selbst Jesuiten, zur evangelischen Ueberzeugung gebracht worden sein, jedenfalls hat es sich auch bei Gegnern die größeste Achtung erworben und das protestantische Bewußtsein wie kaum ein anderes Werk des Jahrhunderts gestärkt und befestigt. Dazu trug neben der gründlichen Gelehrsamkeit und Schlagfertigkeit, nicht wenig die Einfachheit, die Durchsichtigkeit und der maßvolle ruhige Ton einer Darstellung bei. Das Werk gehört noch jetzt zu den Fundgruben für die streitende Theologie und kein späteres seiner Art ist ihm an Ansehn und Wirkung gleichgekommen. Wenn dieses große Hauptwerk von Chemnitz, das seinen Namen unsterblich gemacht hat, ihm auch bei seinen Gegnern hohe Achtung und Anerkennung erwarb, so haben dagegen jene beiden Schriften über das heil. Abendmahl und die Person Christi ihn bei seinen lutherischen Glaubensgenossen als einen der einsichtsvollsten, eifrigsten und zugleich besonnensten Vertreter der lutherischen Lehre zum höchsten Ansehn gebracht. Es fehlt zwar Chemnitz der originale Geist, die Poesie und die lebendige auch wissenschaftlich fruchtbare Glaubensanschauung Luthers; (er bekennt von sich, daß seine Versuche der Verification die Spuren des Mühsamen und Gezwungenen an sich tragen). Aber wenn ihm die Gabe der christlichen Gnosis versagt war, so ist er dabei auch vor den Gefahren willkürlicher Speculationen bewahrt geblieben und hat hierin, Melanchthon ähnlich, einen feinen Takt für das Gemeinverständliche und das mit klaren Gründen zu Vertretende und zur kirchlichen Gemeinlehre sich Eignende bewiesen. Theils ein lebendiger historischer Sinn und eine hohe Ehrfurcht vor Luther, theils ein mehr als in Melanchthon lebendiger mystischer Zug ließ ihn im Wesentlichen der Abendmahlslehre Luthers sich zuwenden. Er hielt an der wesentlichen und auch leiblichen Gegenwart im heil. Abendmahl fest, aber nicht wie eine Zeitlang Luther und wie noch mehr die schwäbischen Theologen, an der Allgegenwart der Menschheit Christi, welche er vielmehr bestritt, weil sie einem verständigen klaren Denken die Grenze zwischen dem Menschlichen und Göttlichen zu verwischen schien, sondern auf Grund der Einsetzungsworte, durch deren einfache Erklärung uns jene Gegenwart verbürgt sei. Seine Schrift über die Person Christi geht in ihrer Bestreitung der Allenthalbenheit der Menschheit Christi jedoch nur so weit, daß er dabei eine solche Vorstellung von Christus im Stande der Erhöhung fordert, wornach ihn nichts im Himmel oder auf Erden hindern könne, seinem Verheißungsworte gemäß bei jedem Abendmahl auf Erden leiblich, d. h. nach einer ganzen Person, gegenwärtig zu sein auf eine für uns unbegreifliche Weise. Er wollte über die Art und Weise dieser Gegenwart lieber gar nicht disputiert sehen und hat diesen Standpunkt auch in einer 1570 erschienenen Schrift über das heilige Abendmahl festgehalten. Ueber die Mittheilung der göttlichen Eigenschaften an die Menschheit Christi denkt er überhaupt mehr dem Melanchthon als Luthern ähnlich. Sorgsam hütet er die bleibenden Grenzen und Unterschiede der menschlichen Natur von der göttlichen, ja hält jene nicht für fähig, göttliche Eigenschaften zu eigen zu erhalten, will es auch nicht einer der Menschheit zu eigen gewordenen Kraft zuschreiben, daß Christus im h. Abendmahl an mehreren Orten zugleich ein könne, sondern allein der Allmacht des die Menschheit so wie er will bestimmenden und verwendenden Sohnes Gottes. Mit dieser überwiegenden Richtung auf die bleibende Unterschiedenheit des Verschiedenen (der beiden Naturen) hängt endlich auch zusammen, daß er die räumliche Einschließung des Leibes Christi im Abendmahl, die Vermischung der sichtbaren Elemente mit Christi Leib und Blut bestimmt ablehnt und keinerlei Veränderung durch die Consecration will, sondern die leibliche Gegenwart Christi für die Handlung des Darbietens, Nehmens und Genießens, nicht aber außer diesen lehrt. Kein Wunder, daß seine Lehre vom Abendmahl auch von den dem Calvinismus günstigen Wittenbergern gebilligt wurde, wie auch eine Schrift von der Person Christi in ihrem größten Theil denjenigen Reformierten zusagte, welche nicht der Zwinglischen, sondern der Calvinischen Lehre von der Person Christi huldigten. In der That wenn irgend Einer so wäre Martin Chemnitz nach Melanchthon und noch mehr als dieser geeignet gewesen, Frieden und Eintracht zwischen den beiden evangelischen Schwesterkirchen herzustellen. Seine Lehre von Christi Person und dem heil. Abendmahl nimmt eine mittlere Stellung ein zwischen der Luthers mit den Schwaben und der Calvins. Allein seit dem unseligen Streite zwischen Westphal und Calvin herrschte gegen letzteren ein ungerechtes, wenn auch historisch wohl erklärbares Mißtrauen, als wäre seine Lehre nur durch schön gefärbte Worte von der Zwinglis verschieden; und diesem Mißtrauen, das in seiner ganzen Umgebung und den niederdeutschen Städten herrschte, entzog sich auch Chemnitz (mit Mörlin freundschaftlich verbunden) nicht. Der mächtiger werdende Einfluß der Reformierten in Nord-Deutschland, besonders Bremen, hatte, ähnlich wie im Süden das Eindringen der Reformierten in die Pfalz, die Wirkung, den Blick für den Unterschied Calvins von Zwingli und für des ersteren größere Aehnlichkeit mit Luthern zu trüben, was sich auch bei mehreren öffentlichen Handlungen gegen Reformierte wie Albert Hardenberg u. A. zeigte, an welchen Chemnitz betheiligt war. Doch dies führt uns zu der unmittelbar kirchlichen Thätigkeit von Chemnitz. Endlose, immer wieder neu auftauchende Lehrstreitigkeiten verwirrten, besonders seit Luthers Tod, in bedrohlichster Weise die lutherische Kirche. Jede Schulstreitigkeit wurde zur Störung des Kirchenfriedens und bemächtigte sich bei der Nichtunterscheidung der Schule von der Kirche auch der Laienwelt. Es mußte, wenn die lutherische Kirche sich nicht in einen Tummelplatz leidenschaftlicher Theologen auflösen sollte, von welchen jeder seine Lehrmeinungen als die allein berechtigten der Kirche aufdrängen wollte, eine Zusammenfassung der Individualität lutherischer Kirche in sich erfolgen, mochte auch eine vorläufige Verengerung und Selbstbeschränkung hiervon die Folge sein. Nur so konnte, wie die Dinge lagen, der lutherische Typus der Lehre als charaktervolle Gestalt sich behaupten und als eine geschichtliche Macht das wirken, wozu sie berufen ist. Chemnitz gehört zu denen, die das Bedürfniß der Zeit verstanden. Er bewährte sich in den hier in Betracht kommenden Aufgaben nach Charakter und Geist als einer der edelsten Kirchenmänner, deren die evangelische Kirche sich zu erfreuen gehabt hat. Ungemein ausgebreitet ist die Thätigkeit gewesen, die der hochangesehene Mann durch Gutachten, Verhandlungen, Reisen nach nahe und fern zur Schlichtung entstandener einzelner Streitigkeiten ausgeübt hat. Aber noch viel bedeutsamer ist dasjenige, was er zur Gründung bleibender Ordnungen der Lehre, des Cultus, der christlichen Sitte und der Schule daheim und auswärts für einzelne Kirchen und für das große Ganze erstrebt und gewirkt hat. Er hat mehr als vielleicht irgend ein Anderer sich an der Bildung der Lehrordnungen und corpora doctrinae betheiligt, welche einerseits, wie zuerst Melanchthon erkannte, von der einreißenden Lehrwillkür und Streitsucht als Heilmittel und Schranke gefordert waren und welche andererseits dem Lebensgesetz der evangelischen Kirche gemäß, das von den Einzelkreisen aufzusteigen gebietet, die natürliche Vorstufe ja Vorarbeit für das weit größere Werk waren, nemlich die Einigung der ganzen lutherischen Kirche zu einhelligem und öffentlich anerkanntem Bekenntniß so wohl in Betreff der lutherischen Symbole älterer Formation (bes. der Augsburg. Confession, Apologie sowie der Schmalkaldischen Artikel) als in Betreff der neu aufgekommenen zahlreichen Streitpunkte, welche die Kirche verwirrten und in den verschiedenen Lehrkörpern oder Lehrordnungen eine ungleiche Behandlung gefunden hatten. Nachdem in Braunschweig schon unter Joachim Mörlin, dessen Coadjutor Chemnitz bis zu dessen Abgang nach Königsberg 1567 blieb, die Lehrfragen festgeordnet waren, so wurde Chemnitz 1567 nach Preußen berufen, um den kirchlichen Frieden herzustellen, zu welchem Ende er das corpus doctrinae Pruthenicum mit Mörlin zu Stande brachte. Als 1568 Herzog Julius die Regierung antrat und ein Land Braunschweig-Wolfenbüttel reformieren wollte, berief er zu dem Ende Chemnitz (neben ihm Jakob Andreä aus Schwaben) aus der zwar nominell Julius gehörigen aber gar selbstständigen Stadt Braunschweig, in welcher Chemnitz seit Mörlins Abgang an der Spitze der Geistlichkeit als Superintendent stand. Auch hier gehörte es zu dem Ersten, daß Chemnitz ein corpus doctrinae (Julium) und eine Lehrordnung, die der Kirchenordnung (1569) einverleibt wurde, feststellte. Das Reformwerk des Fürstenthums führte er nun so durch, daß eine Kirchenvisitation, die auch die Klöster umfaßte und deren Aebte die Augsb. Conf. zu unterschreiben hatten, darauf eine theologische Prüfung sämmtlicher Geistlichen des Landes, die allmälig nach Wolfenbüttel vor Chemnitz und Andreä berufen wurden, veranstaltet, die Kirchenordnung eingeführt, das Land in 5 General-Superintendenzen unter einem Consistorium getheilt, endlich auch das niedere und höhere Schulwesen geordnet wurde. Das Letztere geschah durch die Klostergüter vermöge der „Klosterordnung“, um welche Jak. Andreä besondere Verdienste hatte. Nach dem herrlichen Vorbilde Herzogs Christoph von Württemberg wollte auch Herzog Julius sich schlechterdings nichts von den Klostergütern aneignen. Es wurden damit für gelehrte Schulen, ja für die Gründung der Universität Helmstedt im J. 1574 die Mittel gefunden, und auch hiebei hat Chemnitz mit Rath und That treulich und erfolgreich geholfen. So lebendig auch die Theilnahme Chemnitzens an dem Stand benachbarter oder entfernterer Schwesterkirchen war, so hätte doch er für sich den umfassenden Plan der Paciscirung der ganzen lutherischen Kirche nicht gefaßt. Seiner Art entsprach es, jedesmal die zunächst vorliegenden Aufgaben zu bearbeiten und nicht ins Große, Weite zu schweifen. Er concentrierte seine praktische Thätigkeit eigentlich lieber auf sein geliebtes Braunschweig, einen begrenzten Punkt, in welchem er eine musterhafte Einigkeit der Geistlichen unter einander durch ächt collegialischen Sinn bei aller Ueberlegenheit und ein ebenso musterhaftes Verhältniß zwischen dem bürgerlichen Gemeinwesen mit seinen Oberen und zwischen dem kirchlichen mit dem geistlichen Amte (das er auch in inneren Fragen, wie Kirchenzucht, von Laien in geordneter amtlicher Weise unterstützen ließ) herzustellen wußte. Braunschweig stand durch ihn in der That als eine wohlgeordnete Musterkirche in dem lutherischen Deutschland da. Die Reinheit und Selbstlosigkeit eines von allem pfäffischen Wesen freien Eifers, verbunden mit Weisheit und maßhaltender Klugheit, machte auf Jeden den Eindruck, daß es ihm rein um die Sache, nicht um den Triumph eigener Lieblingsgedanken, nicht um einen gesetzlichen Rigorismus, der so oft nur Scheinfrüchte erzielt, zu thun sei. Darum wandte sich ihm das Vertrauen der Gemeinde, der Collegen, der Obrigkeit in fast unbeschränktem Maße zu, und durch das Mittel des geschickt geführten Wortes wußte er eine Menge von Uebelständen abzuschaffen, löbliche Sitten und Einrichtungen einzuführen. So suchte er der Bettelei zu steuern, brachte es durch eine Predigt dahin, daß die Frauen zum heil. Abendmahl nicht mehr in Seide, Gold und Perlen kamen, sondern in schlichten schwarzen und weißen Kleidern erschienen. So setzte er trotz anfänglichen Widerspruchs ein angemessenes Maß von Kirchenzucht bleibend durch, indem er nicht, wie Andere an einer Stelle gethan hätten, dem schwierig gewordenen Rathe gegenüber auf dessen Versprechungen pochte, welche dem Chemnitz fast vertragsweise in dieser Beziehung von dem Rathe gemacht waren, als er sich entschloß, einen ehrenvollen Ruf nach Preußen auszuschlagen; sondern er entwaffnete die Aufregung und den Verdacht geistlicher Herrschsucht der Pfarrherren der Stadt dadurch, daß er den Rath gleichsam zum Mitarbeiter gewann, indem er ihn bat, sich auszusprechen, wie er denn von seinem Standpunkte aus eine christliche Ordnung der Sittenzucht denke und wünsche? wovon die Folge war, daß der Rath in freier entschiedener Zustimmung sich zu dem bekannte, worauf es auch Chemnitz ankam. Es scheint ein Gedanke in Beziehung auf das große Ganze der lutherischen Kirche gewesen zu sein, daß der sicherste Weg für ihre Ruhe und Blüthe sei, wenn die einzelnen Theile derselben, zumal die einzelnen tonangebenden Städte in eine gute innere und äußere Verfassung gesetzt seien und dem Guten oder Besseren Raum bleibe, sich als Muster in weiteren Kreisen freie Geltung zu verschaffen. Sein Kirchenideal war also, daß die Einzelkirchen als wohl organisierte kräftige Monaden in das Verhältniß der Conföderation zu einander treten sollen. Von ganz anderen Gesichtspunkten ging der genannte Kanzler Jak. Andreä aus, der für seine großen Plane der Pacification der ganzen lutherischen Kirche von einem weit stärkeren Streben geleitet war, dieselbe als kräftige Einheit in der Einhelligkeit des Bekenntnisses über alle streitig gewordenen Punkte hervortreten zu lassen. Chemnitz stellte seine Bedenken ernstlich entgegen. Er fühlte, daß jener Richtung auf die sichtbare Einheit, auf die äußere förmliche Bekenntnißeinheit auch ein gar großes Interesse beiwohnen müsse, die Majorität auf ihre Seite zu stellen durch Mittel und Künste vielleicht, durch die doch kein in Gottes Augen werthvolles, von Heuchelei freies Resultat erzielt werde. Möglich, daß er auch neue Spaltungen von einem künstlichen Concordienwerke fürchtete, voreilige Krisen und Ausscheidungen, mochte auch er selbst noch so vollständig von der alleinigen inneren Berechtigung einer Lehrweise in einer lutherisch sein wollenden Kirche überzeugt sein. Allein die Gewandtheit und Beredtsamkeit Andreäs, der Anklang, den dessen Vorschläge bei mehreren angesehenen Fürsten, vor allen bei Herzog Julius fanden, besonders aber ohne Zweifel der jähe Sturz der dem Calvinismus heimlich huldigenden Wittenberger, durch den die Besorgniß vor einer mächtigen Opposition gegen Andreäs Friedenswerk sich gar sehr verminderte; diese und andere Umstände bewirkten, daß Chemnitz, wenn auch nur achte, sich näher mit Andreä einließ; zunächst nur so, daß als jener im Namen der Schwaben eine die Zeitfragen betreffende Confession vorlegte, Chemnitz mit seinen Freunden sich nicht weigerte, ein und der Niederdeutschen Urtheil über die Sache in bekenntnißartiger Form mitzutheilen, woraus es nun nicht so schwer war, ein einträchtiges Bekenntniß zu bilden, das die Einigkeit der niedersächsischen und schwäbischen Kirchen constatierte. Ebenso konnte Chemnitz nichts dagegen haben, daß auch andere Kirchen sich solchem Bekenntniß- oder Einheitswerk anschlossen und wenn sie Bedenken hatten, Verständigung mit ihnen suchen. Auf das Nähere der Geschichte, der Bildung und Einführung der Eintrachtsformel können wir hier nicht eingehen. So viel aber steht fest, daß ohne das Gewicht des Namens und Einflusses von Chemnitz das Werk nicht zu Stande gekommen wäre. Er blieb ihm treu, obwohl Manches ihn hätte wankend machen können. So das Verfahren. Andreäs, der seine Lieblingsmeinung von der Allenthalbenheit der Menschheit Christi doch schließlich noch der Eintrachtsformel durch eroberte Gutheißung der dafür günstigen Schriften Luthers, wenn auch mit zweideutigem Erfolg, einzuverleiben wußte. So der Streit, der durch diese Zweideutigkeit in seiner nächsten Nähe auf der Universität Helmstedt gegen die Eintrachtsformel entbrannte und gar frühe die ursprünglichen Befürchtungen bewahrheitete, die in Chemnitz gegen das Werk aufgestiegen waren. Endlich die Ungunst des Herzogs Julius, der sich vor Abschluß des Werkes von demselben gänzlich abwandte. Aber Chemnitz war es Gewissensache, nachdem es so weit gediehen war, das Unternehmen nicht scheitern, nicht zum Denkmal unheilbarer Uneinigkeit der lutherischen Kirche werden zu lassen. Er schrieb daher mit Selnecker und Kirchner eine Vertheidigung der Eintrachtsformel (1581). Nicht bloß hierin gingen die Wege von Herzog Julius und Chemnitz später auseinander, sondern die Gunst des Herzogs verlor er später auf eine für ihn ehrenvolle Weise, indem er des Herzogs Plan, einen Sohn Heinrich zur Erwerbung des Bisthums Halberstadt gewissen katholischen Ceremonien, z. B. der Tonsur, zu unterwerfen, entschieden mißbilligte. Sein reiches mühevolles Tagewerk hatte seine Kräfte schon 1583 so verzehrt, daß er nicht mehr predigen konnte und in gewissenhafter Besorgniß für die Bedürfnisse einer Gemeinde ein Amt im folgenden Jahr niederlegte, um sich noch theologischen Arbeiten zu widmen. Aber Leiden und Krankheit nahmen zu, bis er den 8. April 1586 getröstet durch das Wort Gottes, das er von Collegen sich vorlesen ließ, besonders durch sein Lieblingswort Gal. 2,19. 20, gottselig entschlief. Die Trauer um ihn war eine große in Deutschland, und in Niedersachsen vornemlich, am meisten aber in Braunschweig, welcher Stadt er mit so großer Treue mehr als ein Menschenalter hindurch seine Kräfte gewidmet hatte, daß er zahlreiche und ehrenvolle Berufungen nach außen (nach Halle 1565, Göttingen 1566, Küstrin und Königsberg 1567, zusammen mit Mörlin, und abermals nach Königsberg als Bischof von Samland und Nachfolger Mörlins, nach Wien u.s.w. ausschlug. Er ist begraben im Chor der Martinskirche zu Braunschweig; sein Lieblingsspruch ist zu einer Grabschrift gewählt. J. A. Dorner in Göttingen, jetzt in Berlin.

Martin Chemnitz

Martin Chemnitz wurde am 9. Nov. 1522 dem Tuchmacher und Handelsmann Paul Chemnitz zu Treu-Briezen in der alten Mark Brandenburg geboren. Laurentius Barthold, damals Schulmeister, später Prediger des Ortes, entdeckte bald die grossen Anlagen des Knaben, „der immer mehr lernte, als ihm aufgegeben war.“ Leider trug sich, wie er später selbst erzählt, „ein sonderlicher Casus“ zu. „Ich war in des Grossvaters Hause gewesen, und musste über ein kleines Bächlein, so durch die Stadt fleusst, gehen. Ich versah es aber und fiel hinein, und wiewohl ich am Leibe keinen Schaden bekam, denn die Nachbarn retteten mich bald, so erfolgte doch aus dem Schrecken, dass ich hernach anfing gar sehr zu stammeln oder stottern, also, wenn ich etwas reden sollte, dass ich kein Wort nicht machen konnte und nicht vier Worte ungestammelt reden. Darüber die Mutter gar sehr betrübt und mit gemeldetem Schulmeister oft geredet, Solches würde zum Studiren nicht dienen. Nun war es ein wunderlich Ding, am Lesen hinderte mich der Unfall gar nicht, sondern ich konnte wohl ein ganz Blatt fertig ungestammelt hinweglesen, daher gemeldeter Schuldmeister gute Hoffnung gab, weil mir’s nicht wäre angeboren, es würde sich wohl ändern, wie auch Gottlob geschehen. Allein in pueritia währte das Stammeln wohl drei oder vier Jahre. Aus obgemeldetem Schrecken war auch das erfolgt, dass ich im Schlaf aufstand und ging; aber dasselbe ward bald gewendet.“ An den lauten Spielen der Knaben nahm Martin keinen Antheil. „Sie haben mich,“ sagt er, „oft damit vexiret, dass ich nicht hätte wollen mit andern Kindern auf den Gassen spielen, sondern wäre still für mich hin gewesen, hätte etwa in ein Winkelchen mich gesetzt und allein eigen Spiel gehabt, daneben gemelancholisiret und mit mir selber geredet.“

Martin verlor den Vater schon in seinem eilften Lebensjahre. Auf den dringenden Rath des Lehrers schickte ihn die Mutter, die ihn vor allen ihren Kindern liebte, drei Jahre später auf die Schule zu Wittenberg, wo sie Verwandte hatte. Martin hörte dort Luther predigen und machte in den Wissenschaften gute Fortschritte, musste aber schon nach einem halben Jahre auf Ersuchen der Verwandten, die ihn nicht mehr unterstützen konnten, nach Briezen zurückkehren. Hier suchte er den mangelhaften Schulunterricht dadurch zu ersetzen, dass er ohne Anleitung das Deutsche ins Lateinische übersetzte, worin er es zur Verwunderung seiner Lehrer sehr weit brachte. Barthold verliess 1538 seinen Schuldienst und gab seinem ausgezeichneten Schüler noch ein halbes Jahr lang Privatunterricht. Die Unvollkommenheit desselben erkennend, drang er fortwährend in Frau Chemnitz, ihren Sohn auf eine auswärtige Schule zu schicken. Aber der Bruder Matthäus, welcher nach des Vaters Tode dem Geschäfte vorstand, scheuete die Kosten, und Martin musste das Tuchmacherhandwerk erlernen. Durch die neue Thätigkeit unbefriedigt, übte sich der lernbegierige Jüngling in den Freistunden nach Anleitung einer lateinischen Stylistik fortwährend im Lateinschreiben, indem er sich bemühte, denselben Satz in dreifacher Form zu übertragen. Auch lag er fortwährend die verschiedensten Leute mit Bitten an, ihn wieder zum Schulbesuch zu verhelfen. „Aber da war immer die Antwort, es koste zu Viel, dass ich mich auch endlich der Schule fast begeben hätte. Da begab es sich aus sonderlicher Gottesschickung, dass anno 1539 Petrus Niemann, des Raths zu Magdeburg Secretarius, so mir Etwas verwandt, item Benedictus Köppen, damals Schöppenschreiber zu Magdeburg, hinüber kamen gen Briezen. Weil nun die Beiden mir Etwas mit Freundschaft verwandt, setzte ich mich nieder und schrieb an sie ein lateinisch epistolium, so gut ich’s von mir selber gelernt hatte, machte auch darunter ein Distichon nach der Prosodia, so ich gelesen hatte. Weil sie nun daraus spürten ein ingenium, das gern fortgewesen wäre, nahm sich sonderlich der fromme Mann Petrus Niemann meiner mit allen Treuen an, beredete die Mutter, es sollte nicht Viel kosten, er wollte mir einen freien Tisch zu Wege bringen und auch zu Büchern Förderung thun; – welches er mir auch mit allen Treuen geleistet hat. Denn demselben Petro Niemann habe ich’s nach Gott fürnehmlich zu danken, dass ich ad studia wiederum kommen. Also bin ich in die Schule zu Magdeburg kommen anno 1539 nach Michaelis, habe die ganze Zeit freie Tische gehabt bei ehrlichen Bürgern, als N. Grundeis und N. Zelle.“ (Chemnitz bei Rehtmeyer.) In Magdeburg trieb Chemnitz vorzüglich Lateinisch, Griechisch, Dialectik, Rhetorik, Astrologie und Metrik. Die Verse aber wollten ihm nicht von Innen fliessen, und er erkannte, dass ihm die poetische Ader fehlte, weshalb er auch, eingedenk der Vorschrift “tu nihil invita dices faciesve Minverva,“ zu dichten aufhörte.

Nach drittehalbjähriger Schulzeit war er reif zur Universität; aber aus Mangel an Geldmitteln übernahm er vorläufig, auf seines Rectors Wolfersdorp Empfehlung, eine Collaboratur an der Schule zu Calbe. Hier unterrichtete er von Johannis 1542 bis Ostern 1543 im Lateinischen und Griechischen mit grossem Erfolge und ging darauf mit dem erworbenen Geldvorrathe, den seine Mutter um ein Kleines vermehrte, auf die Universität zu Frankfurt a.O. Sein Verwandter Georg Sabinus, Melanchthon’s Schwiegersohn, war es, der dort durch gründliche und geschmackvolle Erklärung der römischen Redner und Dichter vorzugsweise auf ihn wirkte. „Wie aber“ – so erzählt Chemnitz – „mein Geldchen verzehrt war, musste ich abermal auf einen Dienst gedenken, und es trug sich zu, dass bei Frankfurt in einem Städtlein, Wriezen an der Oder, da ein grosser Fischhandel ist, der Schulmeister abzog. Denselben Dienst bekam ich 1544 und war daselbst anderthalb Jahr. In der Zeit kaufte ich mir viele Autoren und studirte sie fleissig. Nun war das ein ziemlicher Dienst; denn es war dabei annectirt die Schreiberei im Fischzoll, und wurden mir vorgeschlagen Mittel und Wege, dass ich da wohl hätte bleiben könne, und mein Bruder rieth sehr dazu. Aber meine Gedanken standen immer noch ferner. Derwegen, weil ich etlich Geld bei dem Dienst colligiret hatte, habe ich mich gen Wittenberg begeben anno 1545.

Melanchthon, durch Sabinus mit Chemnitz verwandt und durch die Uebersetzung einer Demosthenischen Rede, welche ihm letzterer überreichte, für ihn günstig gestimmt, nahm ihn in seinen väterlichen Schutz. Er ermunterte ihn auch zum Studium der Mathematik, und Chemnitz hörte eifrig Reinhold’s Vorlesungen über den Euklid, noch begieriger aber trieb er unter Anleitung desselben Gelehrten Astrologie. Ganz in diese Studien versunken, brachte er sich, was er nachher bereuete, um den vollen Genuss Luther’s. Doch hörte er ihn predigen, lesen und disputiren. Der Schmalkaldische Krieg veranlasste ihn, Wittenberg zu verlassen und nach Königsberg zu ziehen, wo kurz vorher Sabinus Anstellung gefunden hatte. „Und zu der Reise“ – so erzählt er – „hat mir die Mutter mitgegeben zwanzig Thaler, welches das Meiste ist, so mir auf ein Mal von den Meinen vorgestrecket, und waren doch nicht gar willig dazu. Anno 1547, den 18. Mai, bin ich zu Königsberg in Preussen ankommen. Und hat mir D. Sabinus zugeweiset in disciplinam etliche junge polnische Herren und Edelleute, davon ich etwas zur Steuer gehabt.“ Die Astrologie blieb auch in Königsberg sein Lieblingsstudium. Am 31. Mai 1548 wurde er Rector der Domschule zu Königsberg „im Kniphofe“ und am 27. Sept. desselben Jahres auf Kosten des Herzogs von Preussen zum Magister promovirt. Eigene Neigung und der Wunsch seines Landesfürsten veranlassten ihn zur Herausgabe zweier astrologischer Kalender auf die Jahre 1549 und 1550. Doch beschlich ihn dann und wann eine Ahnung von der Unsicherheit der Astrologie und von der fest gegründeten Herrlichkeit der Theologie. Als er 1549 mit Sabinus nach Wittenberg gereiset war, schrieb er dort einen griechischen Brief an Melanchthon mit der Bitte, ihn über das theologische Studium zu berathen. Melanchthon erwiderte unter Anderm, die Beobachtung des Unterschiedes zwischen Gesetz und Evangelium sei das vorzüglichste Licht und die beste Methode in der heiligen Wissenschaft. Bald nach Chemnitz’s Rückkehr brach in Königsberg die Pest aus. Er zog desshalb mit Sabinus in das Städtchen Salfeld und las dort mit grossem Eifer die Sentenzen Petrus des Lombarden und die Postillen Luther’s. In letzteren achtete er genau auf die Definitionen, Eintheilungen, Begründungen, Ausdrucksweisen, Bilder und Uebergänge. 1550 kehrte er nach Königsberg zurück, und der Herzog, der ihm wegen des Kalenders sehr geneigt war, ernannte ihn zum Bibliothekar der fürstlichen Bibliothek. „Das halte ich“ – erklärt Ch. – „für das grösste Glück, das mir Gott zur Zeit meines Studirens gegeben hat.“ Es war der reiche Bücherschatz, der ihn so glücklich machte. Mit unersättlicher Lernbegierde vergrub er sich in die Bibliothek. Zuerst las er die Bibel mit den dort vorhandenen Uebersetzungen und Auslegungen, sodann die Bücher der Väter und zuletzt die Streitschriften gegen die Ketzer seiner Zeit, immer mit der Feder in der Hand. „Diese schöne, gute Gelegenheit“ – sagt er – „habe ich drei ganzer Jahre fleissig gebraucht, und habe daneben damals die allerbesten Herrentage gehabt. Denn vom Herzoge hatte ich Tisch, Wohnung, Holz, Licht, Kleidung und eines famuli Unterhaltung. Beim Herrn Burggrafen, auf dessen Kinder ich Aufsehen hatte, war mein Tisch herrlich, da assen Kanzler, Marschall und die vornehmsten Räthe; bei denen hatte ich grosse Gunst, kriegte Geschenke, hatte nirgends mit zu thun, sondern studirte mit Lust. Und wäre in Preussen wohl geblieben, wenn nicht Osiander da die Kirchen turbiret hätte.“ Ch. trat in einer öffentlichen Disputation gegen Osiander auf und setzte ihm mit bündigen Gegengründen siegreich zu. Die dadurch erbitterten Osiandristen suchten ihn bei dem Herzoge in Ungnade zu bringen; aber dessen grosse Vorliebe für die Astrologie schützte ihn. Weil er jedoch die beschwerliche Vorherrschaft des Osiandrismus, die er nicht zu brechen vermochte, nicht mehr ertragen konnte, nahm er seinen Abschied und ging mit reichen Geldgeschenken von Herzog Albrecht und vom Markgrafen Joachim von Brandenburg, den er in Küstrin besuchte und mit astrologischen Berechnungen bediente, nach Wittenberg. Sobald er, am 29. April 1553, hier angekommen war, wurde er Melanchthon’s Tischgenoss und eifriger Schüler. Schon im Anfange des folgenden Jahres trat er als lehrendes Mitglied in die philosophische Facultät ein und empfing das Amt eines Examinators Behufs der Magisterpromotionen. Am 17. Mai zog er mit Melanchthon auf den Convent zu Naumburg. Auf der Reise that jener einen Blick in die tiefen patristischen Kenntnisse seines Begleiters und forderte ihn sofort zu theologischen Vorlesungen auf. Ch. gehorchte und eröffnete sie, auf Melanchthon’s Wunsch, mit Vorträgen über dessen loci communes. Melanchthon, welcher der ersten Vorlesung selbst beiwohnte, musste bei dem ungewöhnlich starken Andrange, den Zuhörern ein anderes Auditorium anweisen, welches bis zur letzten Vorlesung gefüllt blieb. Diese erfolge, zur grossen Betrübniss der Wittenberger, schon am 20. October 1554; denn Ch. hatte auf Mörlin’s Veranstaltung einen Ruf zum Coadjutor nach Braunschweig angenommen. Die günstigsten Anerbietungen waren nicht im Stande gewesen, ihn zu halten; „denn“ – so sagt er, „Gott inclinirte mir das Herz gar auf Braunschweig.“ Am 25. November wurde er von Bugenhagen ordinirt, und am 4. December gelangte er in Braunschweig an. Hier übte er in Gemeinschaft mit dem berühmten Superintendenten Mörlin sofort eine segenvolle Wirksamkeit. Schon im April 1555 begann er seine Vorlesungen über Melanchthon’s loci communes. Johannes Zanger, Pastor zu St. Petri, schrieb sie eifrig nach und übergab sie ihm zur Revision. Weil diese aber zu beschwerlich wurde, arbeitete er sie selbst aus. Erst 1591 gab sie Polykarpus Leyser in Druck. Seit 1556 leitete Chemnitz zum Besten der städtischen Theologen auch halbjährliche öffentliche Disputationen, „welches dem Superintendenten D. Mörlino so wohl gefallen, dass er in der ersten Disputation seine Freude mit Thränen darüber öffentlich bezeuget und Gott gedanket, dass er ihn den Tag erleben lassen, da die Gewohnheit, so sonst allein auf die Akademie gehörte, auch in dieser Stadt und Kirche eingeführet wäre.“ Mörlin wurde 1567 zum samländischen Bischofe nach Königsberg berufen, und Chemnitz, der bereits zahlreiche Vocationen ausgeschlagen, war sehr geneigt, ihm als Pfarrer dorthin zu folgen; „denn er wollte sich von ihm nicht gern trennen lassen, weil sie ein Paar Herzensfreunde waren, als etwa Lutherus und Melanchthon im Anfang gewesen.“ Doch auf anhaltende Bitten des Rathes, der ihm zu bedenken gab, „dass er Gottes Willen nicht länger widerstreben möchte,“ entschloss er sich, unter Vorbehalt des freien Strafamtes der Geistlichkeit, die Braunschweigische Stadtsuperintendentur zu übernehmen. Seine Auctorität zu verstärken, sandte ihn die Stadt auf ihre Kosten zur theologischen Doctorpromotion nach Rostock. „Ob nun zwar Chemnitius unter guten Freunden bezeuget, dass er die Doctorwürde nicht sonderlich gesucht, so hat er doch Solches wollen geschehen lassen, damit er desto freimüthiger von der Wahrheit zeugen und schreiben könnte, weil den creirten Doctoribus öffentlich anbefohlen würde, die christliche Lehre zu erweitern.“ (Rehtmeyer.) Seine am 28. Juni zu Rostock gehaltene Disputation von der Person und dem Amte Christi erregte Verwunderung und trug zugleich der Stadt Braunschweig grosse Ehre ein. Mit Würde und Entschiedenheit erfüllte Ch. seinen oberhirtlichen Beruf. Trotz mancherlei, selbst im Rathe, versuchten Widerspruches behauptete und übte er die gesetzlich zugestandene Kirchenzucht gegen öffentliche Sünder. So mussten die Todtschläger und Ehebrecher nach ihrer Aussöhnung mit der Obrigkeit vor dem Colloquium in Gegenwart der Kastenherren erscheinen und dort die Versöhnung mit der christlichen Kirche begehren. Kein noch so starkes Geschrei von Wiederaufrichtung des päpstlichen Bannes vermochte ihn zu hindern, diese heilsame Zucht durchzusetzen. Auch wurde auf seine Veranlassung von den Kanzeln abgekündigt, „dass die Jungfern und Frauen, wenn sie zum heil. Abendmahle gehen, sich nicht sollten mit Gold, Silber, Demanten und Perlen zieren, sondern, ihre wahre Busse und Demuth an den Tag zu legen, im schwarzen oder weissen Habit, wie bei der Leiche üblich wäre, einhergehen und ihres Seelenschmuckes desto mehr wahr nehmen.“ Ausnahmlos kam man dieser Verfügung nach. Mit mehr Schwierigkeiten wurde 1570 eine strenge Copulationsordnung durchgeführt, „wozu denn im folgenden Jahre ein gemeiner Schluss von den Copulationen der geschändeten Jungfrauen gemacht wurde, dass solche nicht im Hause, wie wohl geschehen, sollten copuliret werden, auch nicht in Kranz- und Haarbinden, sondern unter einem Tuch- und Regenlaken nach der Kirche gehen und allda im Beisein etlicher weniger Personen sich in der Stille trauen lassen, damit solcher Bosheit dadurch gewehret würde.“ Auch veranlasste Chemnitz die Einrichtung von Sing-Currenden und zur Steuer des unbefugten Bettels die Anstellung von Bettelvögten. Immer mehr erkannten die Braunschweiger die Wahrheit des Wortes, welches Mörlin von Königsberg (am 8. Juli 1568) an den Magistrat schrieb: „E. E. lassen Ihnen ja den kleinen, aber grossen Mann, meinen liebsten Freund und Gevatter, Doctor Chemnitium, treulich empfohlen sein, und zweifele nicht, sie habe an ihm und dem ganzen Colloquio den höchsten Schatz, so Euch Gott geben kann.“

Aber nicht bloss die Stadt Braunschweig, sondern das ganze Land und das Ausland genossen früh die Früchte seiner tief eingehenden Thätigkeit. Unmittelbar nach seinem Regierungsantritte beschied ihn Herzog Julius nach Wolfenbüttel, um mit ihm, Andreä und Ulmer über die Durchführung der Reformation in seinen Landen Rath zu halten. Nach einer durch jene drei Theologen vollzogenen Kirchenvisitation wurden sämmtliche Prediger nach Wolfenbüttel berufen, um von Chemnitz und Andreä geprüft zu werden. Die bei dieser Gelegenheit gemachten traurigen Erfahrungen veranlassten Chemnitz, sein Handbüchlein der christl. Lehre in Frage und Antwort zu schreiben. 1569 erschien auf fürstlichen Befehl die von ihm und Andreä ausgearbeitete Kirchenordnung, deren Einleitung unter dem Titel “Declaratio, oder kurzer, einfältiger und nothwendiger Bericht von etlichen fürnehmen Artikeln der Lehre, wie dieselbigen mit gebührlicher Bescheidenheit und Erbauung fürgetragen und wider alle Verfälschung verwahret werden mögen,“ von Chemnitz allein ausgearbeitet ist. Nachdem Selneccer später den Herzog von der Zweckmässigkeit eines vollständigen Abdrucks der in jener Kirchenordnung nur citirten Bekenntnissschriften überzeugt hatte, wurde hier auf fürstlichen Befehl von Chemnitz das im braunschweigischen lande noch jetzt verbindliche Corpus doctrinae Julium besorgt und 1576 herausgegeben. Es enthält ausser der genannten Declaratio noch eine ganz andere, das ganze Werk beschliessende Schrift von Chemnitz, betitelt: Wohlgegründeter Bericht von den fürnehmsten Artikeln christlicher Lehr, so zu unseren Zeiten streitig geworden sind etc.

In vorzüglichem Grade nahm der Herzog die Thätigkeit des gelehrten Chemnitz für die Gründung der Julia Carolina in Helmstädt, „mit der er“ – wie er sagte – „des Abends zur Ruhe ging und des Morgens vom Lager sich erhob,“ in Anspruch. Unter den Männern, welche im Kloster Riddagshausen die Universitätsstatuten ausarbeiteten, nahm Chemnitz die erste Stelle ein, und am 15. Oct. 1576 hielt er die Einweihungspredigt über Luc. 6.12.13. Sie hat folgendes Thema: Nachfolgende Hauptpunkte sollen näher, so viel die Zeit leiden und dieses fürstehenden Werkes Gelegenheit erheischen will, kürzlich behandelt werden: Erstlich, wie alle Weg in den christlichen Kirchen von Anfang neben wohl bestellten Kirchen auch wohlgeordnete Schulen gewesen und gehalten sind worden, als im alten und auch im neuen Testamente von Christo selbst und hernach von den Aposteln, darnach auch zur Zeit der lieben Väter, die man Patres nennt, item von Stifts- und Klosterschulen, und wie an derselben Statt endlich in Deutschland die hohen Schulen aufkommen. Zum Andern wollen wir auch Etwas davon melden, wie der leidige Satan zu allen Zeiten den Schulen feind gewesen, und wie die Kirche Gottes durch fleissig Aufsehn und durch christliche, gottselige Mittel und Wege die Schule wiederum in recht gottseligen Stand und Gebrauch gebracht hat. Zum Dritten wollen wir sonderlich darauf Acht geben, aus was Ursachen der Sohn Gottes, da er seine apostolische Schule anrichten will, so fleissig zuvor betet und vom Gebet seine Schule anhebet, also und mit solchem Ernst, dass er die ganze Nacht im Gebet verharret. Zum Vierten wollen wir diese ganze Lehre ziehen, richten und appliciren auf dies jetze vorstehende Werk der Aufrichtung, Einführung und Bestätigung Unser hohen Juliusschule zu Helmstädt.

Von der grössten Bedeutung ist Ch.’s Antheil an der Abfassung der Concordienformel: Schon die erste Grundlage derselben, die schwäbische Confession, war von ihm zur schwäbisch-sächsischen Concordie ausgestaltet (1575). Das aus derselben grossentheils hervorgegangene Torgauische Buch war zumeist gleichfalls seine Arbeit (1576), und in Kloster Bergen, wo 1577 die Concordienformel vollendet wurde, gehörte er zu den einflussreichsten Redactoren. Noch in demselben Jahre erfolgte von Seiten des Herzogs Julius und der braunschweigischen Geistlichkeit die Unterschrift. Und dennoch scheiterte ihre Einführung. Heinrich Julius, des Herzogs Sohn, war schon als zweijähriges Kind von dem Domcapitel zu Halberstadt zum Bischofe gewählt; doch hatte sich dasselbe auf zwölf Jahre die Aufnahme der Einkünfte ausbedungen. Zum allgemeinen Ärgerniss der evangelischen Fürsten und Theologen liess der Herzog nach Ablauf der zwölf Jahre am 5. Decbr. 1578 den Prinzen vom Abte zu Huyseburg nach katholischem Ritus zum Bischofe weihen und zugleich den jüngeren Prinzen Philipp Sigismund und Joachim Karl die Tonsur ertheilen. Frei und entschieden rügte Chemnitz diesen Schritt seines Landesfürsten in einem an ihn geschriebenen Briefe, und als am 1. Advent sämmtliche Prediger der Stadt sich gegen das anti-evangelische Verfahren öffentlich Luft gemacht hatten, nahm er sie in einer besonderen Schrift in Schutz. Sofort wurde er als herzoglicher Consistorialrath entlassen, und unterliess deshalb, von dem Convente zu Jüterbock (1579), wohin er in Angelegenheiten der Concordienformel eingeladen war, an Julius zu berichten. Dieser, von den concordienfreundlichen Fürsten und Theologen eines Theils bitter getadelt, andern Theils bei den Eintrachtsverhandlungen ebenso bitter übergangen, zog sich von dem ganzen Unternehmen verstimmt zurück, und während er noch am 1. Julius 1578 an Chemnitz geschrieben hatte: „Es biege oder breche, es warne, falle oder erkalte von Chur- und Fürsten, wie es wolle wegen der Formulae concordiae, so kann ich mich doch Nichts dafür grausen lassen, denn Gott ist mächtig genug, sein Selbstwerk zu handhaben, das beständig fortzusetzen, bei denen er Solches gönnen will, zu behalten;“ so sprach er jetzt von Schulwörtern, um die er nicht mehr zanken wolle. Seine Theologen zu Helmstädt kamen ihm zu Hilfe, indem sie die zu Dresden 1580 gedruckte Concordie mit der unterschriebenen Ausgabe von 1577 in Widerspruch fanden, und so geschah es, dass im braunschweigischen Lande die Verpflichtung auf die Concordienformel einging, jedoch mit Ausnehme der Stadt Braunschweig, wo sie bis zur Eroberung derselben durch den Herzog Rudolph August, u.J. 1671, in Kraft blieb.

Chemnitz blieb ungeachtet der zahlreichen ehrenvollen Vocationen, die durch seine bei verschiedenen und zwar immer in den schwierigsten Fällen von dem Auslande in Anspruch genommene Thätigkeit veranlasst waren, bis an sein Lebensende in Braunschweig. Bedeutende Abnahme der Körperkraft und des Gedächtnisses nöthigte ihn, 1584 sein Amt niederzulegen. „Es nahm aber“ – so berichtet Rethmeyer – „die Krankheit des schwachen Chemnitii im Jahre 1586 in der Fastenzeit dergestalt zu, dass er seinen längst gewünschten Abschied aus dieser Zeitlichkeit vermuthete. Desswegen liess er seinen Beichtvater holen und empfing von ihm nach gethaner Beichte die Absolution und Tags darauf das heilige Abendmahl, dabei er mit dem alten Tobia (Cap. 3, V. 6.) seufzte: Ach Herr, erzeige mir Gnade und nimm meinen Geist weg in Frieden; denn ich will lieber todt sein, denn leben. am Donnerstage nach Ostern kam ihn ein Fieberfrost an, weshalb man ihn auf das Siechbette brachte, wo er die Nacht über sehr gefährlich darnieder lag. Des Morgens darauf wurden um 5 Uhr M. Joh. Lossius, Pastor zu St. Martin, und Joh. Gasmerus, Pastor zu St. Catharinen, zu ihm gefordert, welche ihn Eins um’s Andere den ganzen Tag über aus dem Worte Gottes, insonderheit aus denjenigen Psalmen und Schriftstellen, die er am meisten zu gebrauchen pflegte, trösteten, da er denn fleissig zuhörte, und, was er nicht mitreden konnte, mit Winken zu verstehen gab. Wobei Gasmerus bezeuget, dass sie die ganze Zeit über keine Anfechtung und empfindliche Schmerzen oder Zeichen einiger Ungeduld an ihm gespüret, sondern so ruhig gewesen sei, dass er fast keine Hand oder Finger gereget. Gegen Abend zeigten sich einige Merkmale des Todes an ihm, da sie denn desto mehr mit Beten anhielten und ihn seines Heilandes erinnerten. Darauf er um 12 Uhr des Nachts, den 8. April 1586, unter ihrem Gebete und Zurufen der Seinigen, gar sanft in dem Herrn entschlief, seines Alters 64 und Amtes 32 Jahr.“ Ueber seinen theuersten Spruch „ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebet in mir,“ hielt ihm der Coadjutor Joh. Zanger die Gedächtnispredigt, als man ihn am 10. April im Chor der St. Martinus-Kirche begrub. Ch.’s Gattinn Anna, des Rechtsanwaltes Hermann Jeger’s Tochter, mit der er sich 1555 verheirathet hatte, starb erst i.J. 1603. Von seinen drei Söhnen ist besonders Martin bedeutend. Anfangs Rath zu Braunschweig, wurde er später Professor der Rechte zu Rostock und starb als Canzler zu Schleswig 1627. Mit dem Erbe der Frömmigkeit gesegnet, vertiefte er sich gern in Balduin’s und Meisner’s Meditationen und las Sonntags vor dem öffentlichen Gottesdienste die Evangelienharmonie seines Vaters.

Des alten Chemnitz Predigten gehören zu den gehaltreichsten ihrer Zeit. Mörlin rühmte von ihnen, dass sie nicht Worte allein, sondern immer eitel res seien, und trieb die jungen Prediger und Schullehrer eifrig an, sie zu hören und nachzuahmen. Bei dem grossen Schatze gründlicher Gottesgelehrsamkeit, den sie darbieten, sind sie durchaus populär. Die Methode ist in der Regel die, dass aus dem Texte verschiedene Lehrstücke gezogen und ohne Thema nach einander behandelt werden. Die meisten Predigten sind sehr lang, was sich in Bezug auf die Postille daraus erklärt, dass Neukirch aus vielen Predigten eine gemacht hat.

Ch.’s bedeutendste Schrift ist sein examen concilii Tridentini quadripartitum, in quo praecpruorum capitum totius doctrinae papisticae firma et solida refutatio est collecta. 4 Tomi (1565-1573). Francf. 1574 in 8. Dieses Werk wurde durch die gegen seine Schrift theologiae Jesuitarum praecipua capita, Lips. 1562. 8. erschienen Repliken veranlasst und trug ihm den begründeten Ruf des grössten Theologen der lutherischen Kirche nach Luther und Melanchthon ein. Es fand seinen Bewunderer selbst unter den Katholiken und brachte nicht wenige von ihnen zur Erkenntniss. Einst fragte – so erzählt Rhetmeyer nach Gasmerus – ein Cardinal zu Trident den Lüneburgischen Gesandten Joachim Götzen nach dem grössten Theologen in Deutschland. „Als nun D. Götzen etliche erzählet, habe er geantwortet, es wäre einer unter ihnen, Martinus Chemnitius genannt, ein Lehrer der Kirche zu Braunschweig, welchen er für den vornehmsten unter den deutschen Theologen hielte. Er hätte das sehen, dass viele schreckliche Irrthümer durch die Nachlässigkeit der Bischöfe in die Kirche eingeschlichen wären. Sonst sei Niemand unter den deutschen Theologis nach Lutheri Tode gewesen, welcher der römischen Kirche mehr geschadet, als Chemnitius mit seiner Schrift, und müsste er bekennen, er hielte den Mann sehr hoch und wünsche Nichts mehr, als dass er sich einmal mit ihm unterreden möchte.“ Ausserdem schrieb Ch. u.A.: Christliches Bedenken auf Doctor Majors Repetition. Eisleben 1568. 8. Die fürnehmsten Hauptstücke der christl. Lehre, wie darin die Pastores examiniret und unterwiesen werden. Wolfenb. 1569. 8. Auch unter dem Titel: Handbüchlein der fürnehmsten Hauptstücke der christlichen Lehre. Heinrichsstadt 1574. 8. Corpus doctrinae Prutenicum. Eisleben 1568. 8. Kirchenordnung, wie es mit Lehr und Ceremonien des Fürstenthums Braunschweig, Wolfenbüttelschen Theils, gehalten werden soll. Wolfenb. 1569. 4. De duabus naturis in Christo. Jenae. 1570. 8. Corpus doctrinae (Julium), d.i. die Summa, Form und Fürbild der reinen christl. Lehre. Wolfenb. 1576. fol. Loci theologici, quibus Philippi Melanchthonis loci communes explicantur, cura Polycarpi Lyseri. Francof. 1593. 4. Harmonia evangelica, a Polycarpo Lysero edita. Francof. 1593. 4. Postilla oder Auslegung der Evangelien etc., durch Melchior Neukirch, Pastor zu St. Peter in Braunschweig, publiciret. Magdeb. 1594. 2 Thle in Fol. (Mit Vorrede von D. Polycarp Leyser). Verschiedene einzelne Predigten, darunter: Eine Predigt bei der Einführung der Julius-Universität zu Helmstädt, 1576. Helmst. 1579. 4.

S. Gasmeri oratio de vita et obitu Martini Chemnitii. Braunschw. 1588. 4. Rehtmeyer, Kirchenhistorie der Stadt Braunschweig. Th. 3. S. 213 ff. Lentz, de causis non receptae in terris Brunsvicensibus formulae concordiae. Brunsvigae 1837. 4. Derselbe: Die Concordienformel im Herzogthum Braunschweig, in Niedner’s Zeitschrift für d. histor. Theol. 1848. H. 2. S. 265. Derselbe: Martin Chemnitz. Braunschw. Magazin 1853. Stück 11. 13. und 1854. Stück 8. 9. 10. Vgl. Henke, Georg Calixt, Halle 1853, Bd. 1. S. 12. ff.

Die bedeutendsten Kanzelredner der lutherschen Kirche des Reformationszeitalters, in Biographien und einer Auswahl ihrer Predigten dargestellt von Wilhelm Beste, Pastor an der Hauptkirche zu Wolfenbüttel und ordentlichem Mitgliede der historisch-theologischen Gesellschaft zu Leipzig Leipzig, Verlag von Gustav Mayer. 185