Nächst der Erscheinung Christi selbst ist die Persönlichkeit der von ihm gewählten Apostel von der größten Bedeutung für unser Glaubensleben. Als menschliche Vorbilder sind sie uns gegeben. Wir wissen, daß sie dem göttlichen Erlöser in Liebe und Treue nachgewandelt und in voller Selbstvergessenheit um seines Namens willen Trübsal und Verfolgungen geduldet haben. Gern möchten wir nun auch im Einzelnen ihre gesammte Geschichte kennen lernen und in ihr, wie in einem Spiegel, uns zeigen lassen, wie ein Christ sein Tagewerk auf Erden beginnt, fortführt und beendet. Und doch klagen wir nicht, daß uns die echten Quellen der heiligen Geschichte nur wenige Züge ihres Bildes überliefern! Zu Ihm allein haben sie die Welt führen sollen, diese Aufgabe haben sie gelöst; wir sehen das Werk selbst vollbracht, die Werkzeuge der Gnade aber zurückgetreten; Ihm allein, dem Herrn, haben sie das Feld überlassen.
In der That nur einige wenige Augenblicke, möchte man sagen, aus dem Leben des Andreas sind es, auf denen unsere Erinnerung an seine Person beruht: und auch daß wir diese gewinnen, dazu bedarf es des Durchgehens sämtlicher Evangelien, von denen Jedes sein Steinchen zu dem kleinen Bau beiträgt. Während Lukas in seinen beiden Werken nur im Verzeichniß der Apostel des Andreas namentlich gedenkt, lassen uns Matthäus und Markus schon mehr sehen, und vor allen ist es Johannes, der selbst mit Andreas in innigerer Verbindung gelebt und dessen Gegenwart bei dem Herrn öfter bezeugt hat. Alle diese geringen Berührungen aber reichen nur hin, um einen fernen Blick in das innere Leben dieses Apostels zu werfen, den die alte christliche Kirche als den Erstberufenen ehrte und liebte.
Die geistlich Armen hat der Herr selig gepriesen: ein solcher war auch Andreas; es ist das große Wunder, welches Christus an ihm, wie an allen seinen Mitjüngern vollbrachte, daß er aus ungelehrten Leuten und Laien Märtyrer der Wahrheit gemacht hat. Die evangelische Geschichte hat uns ein theures Wort des Herrn aufbewahrt (Matth. 4,18 ff. Marc. 1,16 ff.,) das zunächst für Andreas und seinen Bruder bestimmt, die mächtige Lebensumwandlung, welche diese beiden erfuhren, klar und verständlich zur Anschauung bringt.
Andreas war aus Bethsaida gebürtig, jenem kleinen oft genannten Oertchen am See Genezareth, in reizender Gegend gelegen; hatte sich früh nach dem Beispiel seines Vaters Jona dem Berufe eines Fischers gewidmet und trieb dies Gewerbe in den Jünglingsjahren in Gemeinschaft mit seinem, wir wissen nicht ob älteren oder jüngeren Bruder Simon (Petrus). So war er einem Lebenskreise angehörig, welcher dazu zu führen pflegt, daß Jemand, fern von wissenschaftlicher Ausbildung in einfacher stiller Beschäftigung des engsten häuslichen Lebens, unbemerkt von der Geschichte, seine Tage hinbringt. Segen Gottes genug, wenn ohne große Gefahren und Wechselfälle das Geschäft der Familie gedeiht und für die Befriedigung leiblicher Bedürfnisse genügt. Wider menschliches Denken griff aber eine höhere Hand mächtig ein und wies ihm einen ganz anderen, ungleich schöneren und schwereren Lebensberuf an.
Es war im Anfange seines Missionswerkes, als der Herr einst am galiläischen Meer wandelte und sein Blick auf die Beiden fiel, welche mit ihren Netzen beschäftigt waren. „Folget mir nach“ sprach der Herr, “ ich will euch zu Menschenfischern machen.“ Rasch und ohne Zögern waren die beiden Brüder entschlossen; ohne ein Wort zu sagen, folgten sie dem Rufe: das Bild, welches das Wort des Herrn in ihre Seele gelegt hatte, bezeichnete ihnen in unvergeblicher Weise das hohe Lebensziel, dem sie entgegengingen. Aus den Wogen des See’s rief Jesus sie in die Wogen des Menschenlebens, aus der Stille und Verborgenheit zur Unruhe und Oeffentlichkeit, aus dem Umgange mit ihres Gleichen zur heiligenden Nähe des Welterlösers: durch ihn geleitet, sollten sie erst selbst dem Reiche Gottes zugeführt werden und sodann auch lernen, die Pforten dazu dem gesammten Menschengeschlecht zu eröffnen.
Aber dies Zusammentreffen mit dem Herrn war zwar das für sie entscheidende, in Folge dessen sie mit unzerreißbaren Banden an den Meister gefesselt wurden; das erste Zusammentreffen war es nicht gewesen: wunderbarer noch wäre sonst dieses rasche Folgen, dieser entschlossene Uebergang zu einem so ganz verschiedenen Lebenswerke. Jesu Wahl setzt eine tiefere Anlage, eine innere Vorbereitung voraus, und diese hatte auch schon eine höchst wichtige und merkwürdige Entwickelung erfahren.
Die Jugend des Andreas fiel in eine bewegte, große Zeit, welche mitten in der unheilvollen Epoche römischer Knechtschaft die nahe Erfüllung der herrlichen Verheißungen ahnen ließ, die Israel zu Theil geworden waren. Johannes der Täufer trat auf und machte sich zu einem großartigen Mittelpunkte messianischer Hoffnungen. Nach Galiläa drang schnell sein Ruf. Dort in ihrer Heimath fanden Andreas und Simon noch eine andere Familie, welche durch die Gemeinschaft desselben Berufes mit der ihrigen verbunden war, Luc. 5,10, die Familie des Zebedäus, aus welcher zwei Söhne, Jacobus und Johannes, mit ihnen aufgewachsen waren. Diese jungen Fischer kannten außer ihrem Gewerbe noch andere, höhere Bestrebungen, welche ihre jugendliche Seele mit großer Gewalt ergriffen: sie eilten zum Jordan, nahmen den ganzen Eindruck dieser wunderbaren Persönlichkeit in sich auf, waren Zeugen seiner Taufe, und vernahmen die ernsten, strengen Mahnungen aus seinem Munde, mit denen er Hohe und Niedrige, Gelehrte und Ungelehrte strafte und zur Umkehr rief. Die Nothwendigkeit der Buße und die frohe Aussicht auf die nahe Erscheinung des Himmelreichs erfüllte ihre jugendliche Seele: als Jünger des Johannes hatten sie die Vorstufe erstiegen, von welcher aus sich ihnen unmittelbar das Heiligthum selbst eröffnen sollte.
Einst stand der Täufer am Jordan und Andreas und ein anderer Jünger neben ihm: da sah Johannes Jesus wandeln und brach in jene schon einmal gesprochenen, tiefsinnigen Worte aus: „siehe, das ist Gottes Lamm“. Jene zwei hörten es, folgten sofort dem Herrn nach, und da er sich umwendete, sie bemerkte und fragte: „was suchet ihr?“ antworteten sie mit der Frage: „Rabbi, wo bist du zur Herberge?“ da er sie aber mit den kurzen Worten: „Kommet und sehet es“ zu sich einlud, blieben sie sogleich bei ihm und genossen zum ersten Mal seines Umgangs. Kaum hatte Andreas am andern Tage seinen Bruder Simon getroffen, als er ihm mit dem Rufe entgegentrat: „Wir haben den Messias gefunden“ and so Jesu den zuführte, auf welchen dieser wie auf einen Felsen seine Kirche gründen wollte. Andreas war so der erste glückliche Evangelist. Wohl kehrte er später wieder in das Vaterhaus zurück; aber nun bedurfte es auch nur jener vorher erwähnten Aufforderung des Herrn: er eilte, sich dem Kreis des Messias für immer anzuschließen.
Diesem Anfang konnte nur ein glücklicher Fortgang folgen; fortan genoß Andreas die ganze Freude der Jünger des Herrn in vorzüglichem Maße. Die beiden Brüderpaare und Philippus, der auch aus Bethsaida stammte, blieben, wie unter einander in der innigsten Verbindung, so in der nächsten Umgebung des Herrn, und weilten mit demselben, als er sich nach Kapernaum begeben hatte, vorzüglich gern in der dortigen Gegend. Wenn auch Andreas als Bruder des Petrus vorzugsweise an der ganzen Bedeutung dieses Felsenmannes Theil nahm, so gebührt ihm doch eben wegen seines sanfteren Charakters und der stillern, innigern Theilnahme am Herrn sein eigenes unläugbares Verdienst. Alle bedurften der liebenden Einwirkung des Meisters und empfingen sie, jeder in der Weise, wie es nach seiner Eigenthümlichkeit ihm zum Heil war.
Andreas bedurfte, wie seine Mitapostel, der allerdeutlichsten Wunderzeichen, um sich die ganze Fülle der Messiasidee zu lebendigem Bewußtsein zu bringen. Wieder waren sie einst am galiläischen Meer. Viel Volks hatte sich um den Herrn versammelt: Er, der ihre geistigen Bedürfnisse so herrlich befriedigte, gedachte auch der Nothwendigkeit leiblicher Nahrung. „Wo kaufen wir Brod, daß diese satt werden?“ sprach der Herr zu Philippus, und als dieser von der aufzuwendenden Summe sich zurückschrecken ließ, blieb auch Andreas der Herrlichkeit des Messias uneingedenk und bemerkte: “ es ist ein Knabe hier, der hat fünf Gerstenbrode und zwei Fische, aber was ist das unter so Viele?“ Kaum aber hatte er dies gesprochen, so ließ der Herr Alle sich lagern, und eben der bezeichnete Knabe mit seinem geringen Vorrath war es, dessen er sich zu der wunderbaren Speisung bediente.
Andreas bedurfte auch der weiteren Belehrungen des Herrn, und er fühlte das selbst. Aufmerksam gemacht auf den Prachtbau des Tempels, hatte Jesus mit Wehmuth darauf hingewiesen, daß all diese Herrlichkeit schnell in den Staub sinken werde. Als sie nun bald darauf auf dem Oelberge waren und sich gegenüber den Tempel erblickten, nahte Andreas mit Petrus, Jacobus und Johannes, Mark. 13,3, dem Herrn mit der Frage, wann sich ereignen werde, was er angekündigt habe, und erhielt eine eingehende, ausführliche Belehrung.
Des Vertrauens Jesu erfreute sich Andreas in hohem Grade und trug das Bewußtsein davon in sich. Als kurz vor Jesu Leiden Hellenisten sich einfanden und durch Philippus Vermittlung den Herrn zu reden begehrten, verband sich Philippus mit Andreas und erfüllte mit dessen Hülfe den Wunsch der Fremden.
So vorbereitet, erlebte Andreas seines erhabenen Meisters Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt, empfing bald darauf mit den andern Aposteln die Gabe des heiligen Geistes und erfüllte sodann das Wort des Herrn, welches ihm gebot, ein Menschenfischer zu werden. Wie dies aber im Einzelnen geschehen, darüber schweigt die Schrift; um so lauter aber und ausführlicher reden mannigfache Traditionen, welche leider so wenig zuverlässig sind, ja zum Theil so den Charakter sectirerischer Erdichtung an sich tragen, daß man ihnen fast nichts mit Sicherheit entnehmen kann. Ist etwas Wahres an den Nachrichten, welche aus verschiedenen Quellen zu uns herübertönen, so ist es dies, daß er das Evangelium vorzüglich unter den Scythen gepredigt und in Patra in Achaja den Märtyrertod erlitten hat. Als Constantin der Große in der nach ihm benannten Stadt eine Kirche der Apostel weihte, ließ er Andreas muthmaßliche Gebeine aus Patra holen und unter der Apostelkirche am 30. November feierlich begraben, wo auch Kaiser Justinian bei einem Neubau des Gotteshauses für ihre Bewahrung Sorge trug.
Zu allen Zeiten hat Andreas eine große Verehrung gefunden. Dafür zeugen auch die unächten Schriften, welche unter seinem Namen bekannt sind, eine ausführliche Erzählung von seinem Kreuzestode und eine Schilderung seiner Thaten, welche in einem alten Angelsächsischen werthvollen Gedichte ihren Widerhall gefunden hat. Zwei Ritterorden, in Rußland und Schottland, haben von ihm den Namen: der Orden des goldenen Vließes ist neben der Maria seinem Dienste geweiht; ganze Reiche, wie Rußland und Polen, Städte, Handwerkerinnungen, fromme Brüderschaften verehren ihn als Patron. Eine besondere Form des Kreuzes (in der Gestalt einer römischen Zehn X) wird nach ihm (Andreaskreuz) genannt. Unzählige Reliquien von ihm sind in der Welt verbreitet; seine Gedächtnißfeier stammt schon aus dem vierten Jahrhundert und hat sich bis auf unsere Tage erhalten.
Wir aber, indem wir uns an das lautere Evangelium halten, sehen an ihm, von welchen Ausgangspunkten der Glaube beginnt, wie er von Gnade zu Gnade führt und in der ewigen Gemeinschaft des Herrn seinen Lohn findet. Andreas, der Fischersohn, ist uns ein Zeugniß der göttlichen Liebe, welche die Demuth kindlicher Gesinnung dahin leitet, daß sie Gott schaut und das Himmelreich ererbt.
F. Ranke in Berlin.