In der altberühmten Stadt Siena in Italien lebte der edle Bonatacha Sansedone mit einer Gattin Justina in gutem Frieden. Er wie sie stammte aus einer kriegerischen Familie, welche im Kampfe mit den Saracenen groß und reich geworden war. Am 16. April 1220 wurde die Frau in Abwesenheit des Gatten durch die Geburt eines Sohnes mehr betrübt als erfreut. Denn das Kind war sehr mißgestaltet, Arm und Bein verwachsen, das Gesicht schwarz und häßlich. Als einmal vor der Hausthüre, wo die Amme das Kind im Schoße hatte, ein alter Mann dasselbe scharf ansah, wollte die Amme es schnell der Neugierde entziehen; der Greis aber rief ihr weissagend zu: sie solle das Kind nicht verhüllen, der ungestalte Knabe werde noch das Licht und die Zierde der Stadt werden. Die inbrünstigen Bitten seiner Mutter erlangten es auch, daß der übelgeborene Sohn sich wohl entwickelte und nach Leib und Seele zu ihrer Freude heranwuchs. Frühe zeigte sich in ihm ein Trieb nach Höherem. Nichts war dem Knaben wichtiger, als einen Geistlichen zu sehen und Bücher waren eine Unterhaltung früh und spät. Spielten die Kinder mit einander, so baute er am liebsten kleine Altärchen mit Kreuzen, vor denen er kindlich kniete und betete. Im Lernen machte er bald die größten Fortschritte; namentlich lernte er schon Psalmen und behielt ganze Predigten auswendig, ehe er sieben Jahre alt war. Sah er Fremdlinge oder Arme, so nahm er sie bei der Hand und führte sie in’s älterliche Haus, um sie zu laben und zu bedienen. Mit neun Jahren begann er an den heiligen Tagen zu fasten und mitten in der Nacht zum Gebete aufzustehen. Am liebsten ging er mit Geistlichen um. Von einem reichen Vater erbat und erhielt er die Erlaubniß, an jedem Sonntage fünf Pilger bewirthen und beschenken zu dürfen. Da stellte der fromme Schüler sich Sonnabends an das Thor der Stadt, wo die von den Gegenden jenseits der Alpen herkommenden Fremden eingehen mußten. Aus der Zahl derer, welche um ein Almosen baten, wählte er fünf aus, führte sie in die dazu bereitete Kammer, bediente sie, zog ihnen die Schuhe aus und reinigte dieselben, wusch ihnen die Füße und half sie entkleiden. In der Früh weckte er sie und ging mit ihnen zur Messe; nach einem Gang durch die Hauptkirchen der Stadt führte er sie zum Frühstück, gab ihnen noch einen Zehrpfennig und entließ sie, nachdem er sich ihrer Fürbitte empfohlen. Gleiche Theilnahme bewies er den im Gefängnisse Schmachtenden. An jedem Freitage besuchte er fiel und wenn er Arme darunter fand, versah er sie an einem Wochentage heimlich mit Speise und Geld. Jeden Sonntag besuchte er auch das Spital der Stadt, um bei der Pflege der Kranken zu helfen und letztere leiblich und geistlich zu erquicken. Auch zu den Hausarmen ging er mit vollen Händen. Wo Jemand im Unglück war, da kam der edle Jüngling als freundlicher Tröster.
Eine ganz besondere Freude hatte er daran, wenn er Aergernisse heben und Feinde versöhnen konnte. Zwischen manchen Todfeinden hat er Frieden gestiftet. Angefochtene Wittwen zu vertheidigen, mißhandelte Waisen zu schützen war er nicht weniger eifrig.
Heiligen Sinnes wich der heranwachsende Jüngling den Verführungen der Jugend gründlich aus. Statt zu Gesellschaften und Hochzeiten ging er an einsame Plätze. Als er nun einmal die Einladung zur Hochzeitsfeier eines Verwandten abgelehnt hatte und zu einem außerhalb der Stadt gelegenen Cisterzienser Kloster sich begab, begegnete ihm ein alter Mann in der Tracht eines Dominikanermönchs, der ihn um ein Almosen bat und dabei folgenderweise ansprach. „Glaubst du bei Gott mehr zu verdienen und besser für dein Seelenheil zu sorgen, wenn du von weltlichem Umgang und der Feier einer heiligen Eheschließung dich zurück zieht? Ich sage dir, größere Gnade und größeres Verdienst bei Gott wirst du haben, wenn du mit deinen Alters-Genossen umzugehen nicht verschmäht; denn es gilt mehr bei Gott, gegen die Versuchungen und Gefahren der Seele zu kämpfen, als in der Stille ein sicheres Leben zu führen, wie du es vorhat. Glaube nicht die göttliche Gnade zu erlangen, wenn du nicht gegen die Fallstricke des Feindes tapfer kämpfen willst; das aber wird besser geschehen, wenn du im Umgang mit deinen Altersgenossen Gelegenheit findet, den Versuchungen durch festen Willen zu widerstehen. Leicht wirst du in Hochmuth gerathen durch solche Zurückgezogenheit von allen Gesellschaften. Du willst unverheirathet bleiben? Bist du auch von Gott dazu bestimmt? Wie willst du das Heil deiner Seele schaffen, wenn du ohne den Gottgeordneten Ehestand die Versuchungen des Fleisches zu überwinden nicht vermagst? Es ist eine freie Gabe Gottes, wenn er Einigen das Vermögen, ein keusches Leben außer der Ehe zu führen, verleiht. Willst du aber durch menschliche Kraft Keuschheit bewahren“?….
Also war auch mitten in jenen mönchischen Zeiten die klare Stimme evangelischer Freiheit und Weisheit selbst noch auf der Gasse zu finden. Aber allermeist ließ man sie auf der Gasse stehen und ging lieber in Klöster und Klausen nach der längst geheiligten unevangelischen Sitte der Zeit. Die Erscheinung jenes freisinnigern weisen Mannes selbst wurde von den Zeitgenossen für eine verlarvte Erscheinung des Satans angesehen, welcher den frommen Jüngling habe versuchen wollen. Ambrosius habe auch sogleich das Kreuz davor gemacht, sei in das Kloster geflohen, wo er unruhevoll mehrere Tage zubrachte, bis er in einer Nacht im Schlafe die Stimme gehört: „Laß die Worte des Versuchers; bleib deinem Vorsatz treu; Gottes Hülfe wird dir nicht fehlen.“ Die Aeltern wünschten, der junge Mann solle in die Ehe treten. Er aber erklärte, er wolle auf Alles verzichten und um Gott besser dienen zu können, Mönch werden. Der Vater gab nach und setzte auf des Sohnes Bitten ein großes Kapital zum Besten der Armen und besonders zur Ausstattung edler, armer Töchter aus. Am 16. April 1237 als an seinem 17. Geburtstage trat Ambrosius in den Prediger-Orden zu Siena. Nicht ein träges, sondern ein thätiges Leben wollte er haben. Er wünschte in Paris seine theologischen Studien zu vollenden unter dem berühmten deutschen Kirchenlehrer Albert dem Großen. Unterwegs befiel ihn ein schweres Fieber. Ein Einsiedler, dem schon andere glückliche Heilungen gelungen waren, wurde zu dem Kranken gerufen. Auch dieser wollte ihn bewegen, lieber umzukehren von dem Wege, auf welchen ihn nicht Gott berufen habe. Er solle lieber die Rechte studieren zu Nutz seiner Vaterstadt, zur Ehre Gottes und zur Freude seiner Aeltern. Aber auch in dieser Stimme erkannte Ambrosius nur eine teuflische Versuchung. Er ließ nicht zu, daß der Einsiedler die Hand auf ihn lege und befahl sich lediglich in Gottes Hand, die ihn denn auch bald wieder gesund machte und glücklich nach Paris kommen ließ. Im Studium der Weltweisheit wie der Gottesgelahrtheit machte Ambrosius so große Fortschritte, daß er bald den Ehren-Grad eines Baccalaureus erhielt, obschon er demütig sich ihn verbat. Nach zwei Jahren begann er auch zu predigen. Alles strömte dem begabten und gesalbten junge Manne zu. Nebenbei hielt er Bibelstunden und erklärte schwierigere Stellen der Schrift so trefflich, daß selbst die gelehrten Doktoren ihm zufielen. Doch ward ihm die Unruhe zu lästig, er bat, in der Stille als Mönch leben zu dürfen. Aber bald mußte er wieder herfürtreten und öffentliche theologische Vorlesungen halten, was er nur unentgeltlich that, drei Jahre lang. Selbst die angesehensten Lehrer, wie Thomas von Aquino, der größte unter den italienischen, und Albertus Magnus, der größte unter den deutschen Gottesgelehrten jener Zeit, saßen zu den Füßen des frommen und weisen Bruders von Siena, der auch einige gelehrte Werke herausgab.
Von seinen Obern als Lehrer der Theologie nach Köln geschickt, hielt er sich mehrere Jahre daselbst auf und lernte deutsch, um auch dem Volke predigen zu können. Von Pabst Gregor X. zu einem Gesandten ernannt, reiste er predigend, namentlich durch Deutschland, stiftete Frieden zwischen Fürsten und Völkern und forderte zum Kreuzzug gegen die Tartaren auf, gegen welche der ungarische König Bela IV. damals wiederholt siegreich zu Felde zog.
Indessen hatte Pabst Clemens IV. die Stadt Siena wegen ihrer Anhänglichkeit an den deutschen Kaiser Friedrich II. mit dem Interdikt (Versagung alles Gottesdienstes) belegt. Da wurde Ambrosius gerufen, dem Unheil ein Ende zu machen. Unter großem Zulaufe des Volkes, dessen Menge von keiner Kirche gefaßt wurde, predigte er auf dem Kirchplatze, versöhnte die von Parteien zerrissenen Familien und erhielt vom Pabste, an den er von seiner Vaterstadt abgesandt wurde, die Aufhebung des Bannes. Sofort erhielt er den Auftrag, als päbstlicher Gesandter das Kreuz in Frankreich zu predigen. Zum Lohn für seine Treue sollte er ein Bisthum bekommen, Ambrosius aber lehnte solche Würde wiederholt in Demut ab. Dafür ließ Innocenz IV. ihn nach Rom kommen als Lehrer der Theologie. Drei Jahre lang wirkte er hier auf dem Lehrstuhl und auf der Kanzel mit großem Erfolge. Hierauf brachte er fünfzehn Jahre in verschiedenen italienischen Klöstern in stiller Zurückgezogenheit zu. Wer so viel ausgab, wie er, mußte ja wohl in heiliger Sammlung auch wieder einnehmen aus dem Quell frommer Betrachtung und gläubigen Gebetes. Zu seiner Schule zurückgekehrt, erhielt er zumal nach dem Tode des großen Thomas von Aquino immer größern Zulauf von Schülern.
Im Jahre 1267 kam der letzte Hohenstaufe Konradin von Schwaben mit Heeresmacht nach Italien. Nach einem Triumpheinzuge in Rom wurde der vom Pabst Gebannte und Verfolgte durch Karl von Anjou geschlagen und gefangen. Aus dem Kerker zu Neapel suchte der unglückliche Heldenjüngling durch Ambrosius die Gnade des Pabstes nach, und auf die Bitte des beredten Friedensmannes wurde sie alsbald gewährt. Innocenz V. sandte den Ambrosius auch nach Florenz, um es zum Frieden mit Pisa zu bewegen. Der hinreißenden Predigt des Mönches gelang es, die Parteien zu versöhnen, nachdem auf seine Fürsprache das päbstliche Interdikt über Florenz aufgehoben war. Auch in Venedig und Genua hatte er ein gleiches Friedenswerk begonnen, als der Pabst starb. So konnte auf Bruder Ambrosius recht das Wort angewandt werden: „wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Boten, die da Frieden verkündigen.“ War er doch die Liebe und Milde, die Demut und Sanftmut selber. Alle Ehre lehnte er ab, weil sie allein Gott gehöre. Stets machte er eine Reisen zu Fuß. Am liebsten war er mit Armen und Geringen zusammen. Feind war er jeder Schaustellung der Frömmigkeit. Schüchtern im gewöhnlichen Verkehr war er in öffentlicher Rede unerschrocken wie ein Prophet Gottes. Für den Predigerorden war er ein unschätzbarer Gewinn. Fürsten und Vornehme bewog er zur Stiftung von Dominikanerklöstern. Auch viele fromme, namentlich Frauen-Vereine gründete er zu gemeinsamem Leben und zur Pflege der armen Kranken. Hart gegen sich selbst war er mild gegen Andere. Versöhnung, Vergebung, Friede war das Ziel seines Lebens und Wirkens. Enthaltsam im Essen und im Schlafe, anhaltend und oft ganz entzückt im Gebete, streng in der Selbstzüchtigung gab er ein Muster „heiligen“ Lebens nach katholischem Zuschnitt. Er trug stets einen bleiernen Gürtel um die Hüften auf bloßem Leibe. Als er einst in der Fastenzeit zu Siena mit gewohntem Feuer-Eifer predigte, bekam er Nachts einen Blutsturz. Trotz allen Bitten der Brüder predigte er des andern Tags ebenso eifrig gegen den Wucher. Ein neuer Blutsturz überzeugte ihn, daß sein Ende nahe sei. Die darob weinenden Brüder hieß er vielmehr sich freuen. Er betete inbrünstig, verlangte das heilige Abendmahl, empfing es trotz seiner Schwäche auf den Boden kniend, ließ sich dann wieder ins Bette heben und mit der letzten Oelung versehen. Die Umstehenden tröstend und einen nach dem andern zum Abschiedskuß umarmend verschied er sanft den 20. März 1287. Ganz Siena huldigte dem Verstorbenen, das Volk riß sich um Stücke von seinen Kleidern, auf öffentliche Kosten wurde ihm ein herrlicher Marmorsarg bereitet, Wunder über Wunder sollen an seinem Grabe gewirkt worden sein. Doch wurde er von Pabst Bonifacius nicht heilig gesprochen, weil seine Familie gibellinisch (kaiserlich) und nicht welfisch (päbstlich) gesinnt war. Erst Eugen IV. erlaubte es 1443, daß, zumal in den Dominikanerklöstern von Siena, das Fest des seligen Ambrosius gefeiert werden dürfe, als ob er förmlich heilig gesprochen worden wäre. Am Grabe des frommen Mannes, des von Kind an eifrigen innern Missionärs, des demütigen Gelehrten, des feurigen Predigers, des im Dienste des Gekreuzigten sich verzehrenden Boten der Liebe und Versöhnung sprechen auch wir Evangelischen, die wir auf Alles Acht haben sollen, was uns reizen kann zur Liebe und guten Werken, über Ambrosius von Siena das große Wort unseres Meisters nach: „Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“
- v. Merz in Schwäbisch Hall, jetzt in Stuttgart.